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Der Wahlkampf setzte mit aller Vehemenz ein, um jede Seele wurde gerauft. Die Privilegierten übten einen nicht für möglich gehaltenen Terror aus. In Wien besorgten das die Christlichsozialen Arbeiter, die organisiert waren, wurden gemaßregelt, den Frauen wurde in den Kirchenpredigten Angst gemacht, daß die Sozialdemokraten die freie Liebe einführen, die Ehe brechen und die Familie zerstören wollen. Industrielle und Handwerksmeister befahlen ihren Arbeitern, ihre Stimmzettel zum Ausfüllen mitzubringen, die Arbeiterinnen mußten die Stimmzettel ihrer Männer bringen. Für den Weigerungsfall wurde sofortige Entlassung angedroht. Die Hausherren drohten ihren Parteien mit Kündigung und Delogierung, wenn sie rot wählten. Seine Durchlaucht der Prinz Alois von und zu Liechtenstein verdächtigte die Arbeiterführer, daß sie nur deshalb Streiks anzetteln, um die Streikkassen ausrauben und hinterher sagen zu können, der Streik habe alles Geld verschlungen. Auf dem Lande erzählten sie, daß die Roten die Dörfer in Brand stecken und die Bauern von ihrer Scholle verjagen wollten.
Trotzdem war alles in der Partei voll Siegeszuversicht. Niemand wollte glauben, daß Arbeiter ihr den Klassenfeinden abgetrotztes Recht dazu mißbrauchen könnten, diesen Klassenfeinden zu noch größerer Macht und zu nie erträumtem Triumph zu verhelfen. Die Wählerversammlungen der Partei waren überfüllt, die Stimmung eine begeisterte, tausende Genossen und Genossinnen leisteten Tag und Nacht freiwillige Wahlarbeit und viele kamen tagelang nicht aus den Kleidern.
Aber die christlichsoziale Partei, neben der es in Wien keine andere bürgerliche Partei mehr gab, hatte zu alledem auch noch den Wahlapparat in der Hand. In ihrem Belieben lag es, in die Wählerliste aufzunehmen, wen sie wollte, und nicht aufzunehmen, wer ihr als Roter verdächtig war. Sie nahm ferner in die Wählerliste massenhaft langst tote Wähler hinein, deren unbestellbare Legitimationen am Wahltag von ihren Agitatoren zur Stimmenabgabe benützt wurden. Und trieb noch sonst allerlei. Auch ihre Versammlungen, besonders die, wo er, der Abgott, der Dr. Lueger, auftrat, hatten riesigen Zulauf. Sobald er erschien, raste ein freilich geschickt aufgepulverter Fanatismus durch den Saal.
In einer solchen Versammlung, beim Dreher auf der Landstraße, peitschte der Dr. Lueger gerade wieder alle spießbürgerlichen Leidenschaften auf. Wieder war »darr Jud« an allem schuld, was die Zuhörer hinriß: »Außi mit eahner«, »aufhängen«, »derschlagen«, zu brüllen; wieder wollten die Judensozi mit arm und reich teilen, nicht nur mit dem Gelde, sondern auch mit den Weibern, den guten Kaiser verjagen und einen polnischen Juden mit Kaftan und Pajes auf den Thron setzen und wieder wollten sie dem Volke sein Heiligstes, die Religion, aus dem Herzen reißen. Und dann kam der Clou. Gestern erst habe ein sozialdemokratischer Agitator in der Wohnung eines christlichen Arbeiters, der sich weigerte, rot zu wählen, das Heiligenbild von der Wand gerissen und es, teuflische Fratzen schneidend, zertreten. Wo das war, sagte er nicht. Die Zuhörer waren auch gar nicht neugierig auf solche Details. Ein Wutschrei durchschnitt den Saal. Fäuste fielen schwer auf Tischplatten.
Da rief es ganz rückwärts: »Das ist nicht wahr.«
Lähmende Stille. Den Dr. Karl Lueger wagte einer öffentlich der Unwahrheit zu zeihen? Alles erhob sich, wollte die Plätze verlassen und auf den Verwegenen stürzen. Der Dr. Lueger aber machte oben eine Handbewegung, wie wenn man etwas Lästiges beiseiteschiebt, und sagte mit süßsaurem Lächeln: »Gehn mir weiter. Das andere wird schon besorgt werden«, und setzte seine Rede fort.
Den Zwischenrufer haben sie hinausgetragen in den Hof. Fünfzig Fäuste hoben sich, um auf das Opfer niederzusausen.
»Halt, den überlaßt's mir«, schrie da einer, noch ehe die anderen mit der Exekution begannen.
Und der, der sich erbötig gemacht, die Strafe ganz allein zu vollziehen, packte den Zwischenrufer am Rockkragen, blitzte ihn haßerfüllt an und stieß heiser hervor: »Hab ich dich, du roter Rund, du arbeitsscheuer Strizzi, du Herrgottschänder, i werd dir geben, unsern Lueger ein Lügner zu heißen. Jetzt saldier ich endlich die Rechnung.«
Die Hiebe, die der Mann austeilte, waren von guten Eltern. Der Verprügelte blutete aus der Nase und sein ohnehin nicht mehr ganz neuer Anzug war an verschiedenen Stellen zerfetzt.
Die anderen bewunderten den Helden achtungsvoll. Der Hauende und der Gehaute standen sich keuchend gegenüber. Der erstere war der Herr Alois Kragel, der gewesene Bombenjongleur, und der letztere der Köck-Paul, der Schuhmachermeistersohn von Fünfhaus und gewesene couragierte Verteidiger der bestehenden Ordnung.
Das war eine merkwürdige Geschichte. Einmal hat der Herr Alois Kragel diese Ordnung in die Luft sprengen wollen und ist dafür vom Köck-Paul gezüchtigt worden. Und jetzt hat derselbe Herr Alois Kragel denselben Köck-Paul gezüchtigt, weil dieser einen Zwischenruf gemacht hat, aus dem sich schließen ließ, daß er an dieser Ordnung keinen sonderlichen Gefallen mehr fand.
Der Herr Alois Kragel war längst mit der Ludmilla Jerzabek aus Podebrad vermählt. Die Greißlerei ging gut, und wenn der gutsituierte Gemischtwarenverschleißer und Hausherrnkandidat Herr Alois Kragel nun mit der blauen Vorsatzschürze hinter dem Quargelsturz stand und von da aus die Welt betrachtete, fand er sie nicht nur gut, sondern hielt er es für ein Kapitalverbrechen, an ihr herumzunörgeln. Langsam wurde er als Geschäftsmann vom Grund auch der hohen Ehre teilhaftig, im Wirtshaus im Extrazimmer mit dem Bäcker- und Selchermeister und dem Hausherrn vom Eck an einem, natürlich weiß gedeckten Tische sitzen zu dürfen. So wurde er zur Freude seiner Ludmilla ein guter Bürger und braver Christlichsozialer, hing dem Dr. Lueger mit geradezu religiöser Verehrung an und seine Wahl zum Armenrat stand schon bevor. Das sollte nur das erste Sprießel auf der Leiter seiner politischen Karriere werden. Und gleichzeitig stieg ein Haß gegen die »roten Hund« in ihm auf, von denen er sich auch einmal, als er noch jung und dumm gewesen, hatte blöd machen lassen, aber jetzt hatte er sie gründlich durchschaut.
Es kommt eben darauf an, von welchem Standpunkte aus man die Dinge sieht.
War der Herr Alois Kragel hoch hinaufgestiegen, war der Köck-Paul tief hinuntergefallen. Nach der Geschichte mit der Gisl mußten sie die Mutter ins Irrenhaus bringen, wo sie bald nachher im Wahnsinn gestorben ist. Der Vater hat zu saufen angefangen, um seinen Schmerz zu vergessen, ist immer mehr herunter und in liederliche Gesellschaft gekommen, die ihn auswurzte, bis nichts mehr da war, und dann ist der alte Köck hergegangen und hat sich doch auf dem Fensterkreuz erhängt.
Nun war der Paul ein armer Schlucker und mußte in die Schuhfabrik. Wenn man von der Schuhfabrik aus die Welt betrachtet, findet man sie nicht gut und sieht es als ein Kapitalverbrechen an, sie mit Feuer und Schwert so, wie sie ist, erhalten zu wollen. Langsam geriet er in die Gesellschaft von Sozialdemokraten, in die Gewerkschaft und in den Bildungsverein; und zu seinem ehemaligen Freunde Franz Schuhmeier, dem er überall nachging, wo der sprach, blickte er voll Verehrung auf. Er war auch schon Vertrauensmann und gleichzeitig stieg ein Haß gegen alle die in ihm auf, die alle Schätze der Erde für sich monopolisiert hatten, zu denen er, wie er damals glaubte, auch einmal gehören werde und von denen er sich verblenden ließ. Aber jetzt hatte er sie gründlich durchschaut.
Es kommt eben darauf an, von wo aus man die Dinge betrachtet. Die überwiegende Mehrheit der Menschen steht dort, von wo die Welt sich nicht gut ausnimmt. Es handelt sich nur darum, alle, die dort stehen, richtig schauen zu lehren.
Der Wahlkampf 1897 erreichte seinen Höhepunkt. Immer schwerer wurde es der Partei gemacht, zu wer ben. Die Genossen, die in die Häuser gingen, um Wahlaufrufe in die Türen zu stecken, wurden von den Hausmeistern und auch von Parteien abgefangen, gepufft und die Treppen hinuntergeworfen.
Im V. Wiener Wahlkreise kandidierte für die Christlichsozialen der Kellner Karl Mittermayer gegen den Schuhmeier. Dieser Mittermayer, der nicht einmal seinen Namen richtig schreiben konnte, hielt nur geschlossene Versammlungen ab, weil er, wie er vorgab, mit dem »ungebildeten Hausknecht Schuhmeier« nicht zusammentreffen wollte.
Der Schuhmeier nannte Mittermayer öffentlich einen »schäbigen Charakter«, der »Dreck am Stecken« habe, und enthüllte, daß dieser Mann, den der große Doktor Lueger würdig befunden hatte, das Volk von vier Wiener Bezirken in der Gesetzgebung zu vertreten, einem Arbeitskollegen die Brieftasche gestohlen und Riskonti gefälscht hatte, um die Auszahlung eines Lotterietreffers zu erschwindeln.
Mittermayer konnte diese Tatsachen nicht direkt bestreiten. Er wand sich wie ein Wurm. Aber rächen wollte er sich. Und es gelang ihm, den gefährlichen Gegner Schuhmeier an seiner verwundbarsten, an seiner menschlichsten Stelle zu treffen. In einer Versammlung behauptete Mittermayer, der glänzend bezahlte Parteisekretär und Kirchenstürmer Schuhmeier lasse seine alte Mutter an Kirchentüren betteln.
Das hat den Schuhmeier gepackt. In der »Volkstribüne« läßt er diese Aufforderung erscheinen: »Karl Mittermayer, der Zählkandidat der ›vereinigten Antisemiten‹, wird aufgefordert, den Namen jenes niederträchtigen Buben bekanntzugeben, der ihm schrieb, meine Mutter lebte vor Jahren nur von dem, was sie bei den Kirchentüren in Reindorf und bei den Geistlichen erbettelte. Meine Mutter gilt mir als das Heiligste auf Erden, und wer diese ohne jeden Grund beleidigt, ist in meinen Augen ein total verkommener Strolch, der verdient, mit der Hundspeitsche gezüchtigt zu werden, und hier habe ich es mit solchen zu tun. Existiert der Briefschreiber, ist er der Strolch. Ist der Brief eine Erfindung Karl Mittermayers – wie das Kaffeehaus – dann ist es dieser. Also heraus mit dem Namen!
Franz Schuhmeier.«
Darauf gab Mittermayer keine Antwort, blieb sie auch auf eine zweite Aufforderung schuldig. Der Schuhmeier wollte in Mittermayers Versammlungen, um ihn zu stellen, konnte ihn aber nicht erwischen.
Daß der christlichsoziale Kandidat Hermann Bielohlawek, ein gewesener Greißler und von Schuhmeier der dumme August der Christlichsozialen genannt, den Franz mit Beziehung auf seine vorübergehende Beschäftigung in der Knabenzeit in diesem Wahlkampf und später wiederholt einen »Hutschenschleuderer« nannte, verursachte keinerlei Aufregung.
So siegessicher fühlten sich die Sozialdemokraten im V. Wiener Wahlkreis, daß der Schuhmeier den Mittermayer als »Zählkandidaten« ansprechen konnte. Die Gegner wieder unterschätzten sich und boten alles auf, um nur nicht allzu schlecht abzuschneiden. In Neulerchenfeld wurden die Frauen aufgefordert, am Sonntag vor dem Wahltage ihre Männer in die Kirche zur Predigt mitzubringen, damit ihnen von der Kanzel herab gesagt werden könne, wen sie wählen sollen. Lueger verlangte von der Regierung für den Wahltag Militär.
Am Dienstag, den 9. Mai 1897, wählte die V. Kurie. Der Wahltag brachte eine furchtbare Enttäuschung. Ganz Wien wählte christlichsozial. Auch der Schuhmeier war mit 20.920 gegen 24.773 Stimmen, die der »Taschelzieher und Riskontofälscher« Mittermayer erhielt, unterlegen. Selbst Engelbert Pernerstorfer, der das erstemal als Sozialdemokrat in Neunkirchen kandidierte, blieb auf der Strecke.
In ganz Österreich erhielt die Partei von den 72 Mandaten der V. Kurie nur vierzehn. Sieben waren in Böhmen, drei in Mähren, zwei in Galizien und je einer in Schlesien und Graz gewählt. In Ottakring haben tausende Männer vor Wut und Enttäuschung geweint. In Ottakring hatten sie ja die Mehrheit, 11.095 gegen 7885 Stimmen, aber in den anderen drei Bezirken des Wahlkreises hatten die Gegner einen großen Vorsprung.
Der Michel zitterte am ganzen Körper vor Erregung und drohte fortwährend: »Unter so blöden Menschen hat's kein Sinn, Mensch zu sein. I geh z' Haus und häng mich auf. Der Messermayer is g'wählt.«
Der Schuhmeier richtete sie alle wieder auf. Bei der »Bretzn« sagte er zu den auf das Wahlresultat Wartenden: »Es fällt kein Baum auf den ersten Schlag. Diese Niederlage mußte kommen, um uns zu zwingen, uns fester zu organisieren, uns fester zusammenzuschließen.«
In der »Volkstribüne« schrieb er: »Als ich nach den Wahlen vom 9. März in einem vergilbten Buche blätterte, fand ich folgende goldene Worte, die ich nicht umhin kann, unseren Genossen zur Kenntnis zu bringen. Die Worte sagen uns:
›Die Überzeugung ist des Mannes Ehre,
Ein golden' Vlies, das keines Fürsten Hand
Und kein Kapital um die Brust ihm hängt,
Die Überzeugung ist des Kriegers Fahne,
Mit der er fallend nie unrühmlich fällt.
Der Ärmste selbst, verloren in der Masse,
Erwirbt durch Überzeugung sich den Adel,
Ein Wappen, das er selbst zerbricht und schändet,
Wenn er zum Lügner seiner Meinung wird.‹
Proletarier! Prägt diese Worte eurem Gedächtnis ein.«
Die Arbeiterzeitung schrieb am Tage nach der Wahl: »Die Sozialdemokratie hat ihre erste Wahlschlacht in Wien verloren. Dr. Lueger ist der Herr von Wien und der Herr der Wahlurnen. Hoch die Herzen! Die Fahnen hoch! Dreimal hoch! Es lebe die internationale Sozialdemokratie!«
Nach der Wahl klagte Mittermayer den Schuhmeier wegen der Behauptungen, er habe Riskonti gefälscht und einem Arbeitskollegen die Brieftasche gestohlen. Schuhmeier wurde wegen erbrachten Wahrheitsbeweises freigesprochen. Mittermayer blieb christlichsozialer Reichsratsabgeordneter.
Bei der Märzfeier vor dem Obelisk der Märzgefallenen sagte Dr. Ellenbogen über den Wahlausgang: »In Wien hat die Dummheit gesiegt.«
Die Partei ging mit Eifer daran, die Lehren der verlorenen Wahlschlacht zu nutzen. Es wurden Sektionen – Unterteilungen der Bezirksorganisationen – errichtet, Häuservertrauensmänner bestellt und bald war ganz Wien wie mit einem Netz umzogen. Bei der nächsten Wahl kannte man fast schon jeden Wähler und wußte, wie er dachte.
Und die Konsumvereinsbewegung wurde groß. Die Greißler und Mehlmesser und Fleischhauer und die Schuster und Schneider hatten alle christlichsozial gewählt. Da sagten sich die Arbeiter, daß es dumm wäre, den ärgsten Feinden das Geld hinzutragen, mit dem sie dann bekämpft werden, und traten den Konsumvereinen bei.
Im April 1897, wohl als Folge des großen Wahlsieges, wurde Dr. Karl Lueger neuerlich mit 93 von 132 Stimmen zum Bürgermeister der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien gewählt.
Nach seiner Wahl führte er aus: »Sollten Se. Majestät der Kaiser allergnädigst geruhen, meine heutige Wahl zu bestätigen, um welche Gnade ich hiemit in Ergebenheit bitte...«
Und der Kaiser hatte die Gnade. Er bestätigte. Am Abend nach der Bestätigung war Wien illuminiert. Alle Bürger stellten Lichter, Transparente und Luegerbilder in die Fenster und die Straßen durchflutete eine glückstrahlende Menge. »Hoch Lueger!« gröhlten auch noch beim Morgengrauen die zahlreichen Freudenrauschbesitzer. Sie hatten ihn.
Der Michel sah dem Treiben zu und murrte: »Neugierig bin i, ob's uns jetzt besser gehn wird.«
Im Mai 1897 beantragten die deutschen Abgeordneten, es sei die Regierung Badeni wegen ihrer Sprachenverordnungen für Böhmen und Mähren in den Anklagezustand zu versetzen. Die nichtdeutschen Abgeordneten stellten einen Antrag auf Übergang zur Tagesordnung, der mit 203 gegen 163 Stimmen angenommen wurde. Darauf eröffneten die Deutschen die Obstruktion. Erst redeten sie. Der Abgeordnete Doktor Lecher sprach zwölf Stunden ohne Pause. Dann setzte die technische Obstruktion mit Pfeiferln und Pultdeckelkonzerten ein. Da der Präsident Abrahamowicz unter Verletzung der Geschäftsordnung die Obstruktion mit Gewalt brechen will, erstürmen sozialdemokratische und deutschnationale Abgeordnete die Präsidententribüne. Polizei erscheint zum ersten Male im Sitzungssaale des hohen Hauses und schleppt Abgeordnete hinaus. Tags darauf stehen Wiens Arbeiter vor dem Parlament und verlangen, daß Badeni gehe. Er demissioniert. Nachdem der Kaiser die Demission angenommen, erscheint Dr. Lueger und verkündet den Sturz Badenis als sein Werk. »Wie der komische Mann im Zirkus hat er das g'macht, der Bürgermeister«, hat der Michel konstatiert.
Ministerpräsident wird Freiherr von Gautsch.
Nach dem Linzer Parteitag 1898 schied der Schuhmeier von der Funktion eines Reichsparteisekretärs. Es zog ihn zu seiner »Volkstribüne« zurück. Vielleicht waren auch noch andere Gründe hierfür ausschlaggebend. Er war ein eigenwilliger Mensch, der nicht ruhig bleiben konnte, wenn er etwas der breitgetretenen Meinung Entgegengesetztes zu sagen hatte, und Bindungen und Rücksichten auf Personen, Amt oder Stellung lagen ihm nicht. Er war zu seiner Zeit der einzige in der Partei, der Meinungsverschiedenheiten grundsätzlicher Art mit Parteigenossen nicht hinter den Kulissen, sondern öffentlich austrug und dabei oft sehr heftig wurde und in der Hitze des Gefechtes manchmal den Boden der gebotenen Objektivität verlor.
Auf dem Linzer Parteitage war Engelbert Pernerstorfer der Meinung, daß es gut wäre, im Kampfe gegen die Deutschnationalen den deutschen Standpunkt der deutschen Sozialdemokraten besonders herauszustreichen.
Dem trat Schuhmeier energisch und opportunitätsfeindlich entgegen: »Ich halte dieses Rezept für schlecht. Nie und nimmer dürfen wir vergessen, daß wir internationale Sozialdemokraten sind, die sich weniger auf den Standpunkt des deutschen Volkes, sondern vielmehr auf den Boden des proletarischen Klassenkampfes zu stellen haben. Die Arbeiter haben an den deutschen Phrasen kein Interesse. Nur wer schön reden kann und über eine wohlklingende Stimme verfügt, kann mit diesem Rezept Erfolge erzielen. Unsere Pflicht ist es aber, den Arbeitern entgegen der Agitation der Deutschnationalen als deutsche Männer zu erklären, daß wir uns um das Deutschtum nicht in erster Linie sorgen. Hauptsache ist uns die wirtschaftliche Besserstellung der Arbeiterschaft... Das Bürgertum besitzt den Grund und Boden, die Werkzeuge und Maschinen. Es hat das Interesse, für eine recht lange Arbeitszeit einen kurzen Lohn zu bezahlen. Wir Arbeiter haben das umgekehrte Interesse: für angemessene Arbeitszeit einen würdigen Lohn. Mit diesen Argumenten müssen wir die Arbeiter aufklären. Es wäre wirklich sehr schlimm, wenn jeder Genosse eine so stark quellende deutsche Krampfader hätte wie Genosse Pernerstorfer. Ich warne Sie vor seinem Rezept.«
Dr. Ellenbogen mußte diesen Streit schlichten, indem er vermittelnd ausführte: »Die Polemik Schuhmeiers gegen Pernerstorfer beruht auf einem Mißverständnis. Es gibt keine klügere Taktik, als wenn man dem Gegner beweist, daß er sein Programm nicht einhält. Was heißt nationale Politik? Eine Nation auf ein hohes Kulturniveau bringen. Wir weisen nun nach, daß die Deutschnationalen als eine kapitalistische Partei mithelfen, alle Keime in den Massen zu töten, Tausende von Talenten, die im Volke schlummern, zu ersticken. Verfolgen wir diese Taktik, so handeln wir im höchsten Sinne national und sozialdemokratisch.«
Aus der Polemik Schuhmeiers geht wieder hervor, daß er – damals wenigstens noch – die Menschen und die Massen stark überschätzt, eine unverdient gute Meinung von ihnen gehabt hat. Er konnte es sich nicht denken, daß sich ihrer Stellung in der menschlichen Gesellschaft bewußte Arbeiter von »schönen Reden und wohlklingenden Stimmen«, von schmetternden Phrasen verlocken lassen könnten, ihre Metzger selber zu wählen. Er wurde bald darauf seinen großen Irrtum gewahr und würde auch heute noch aus dem Staunen und Kopfschütteln nicht herauskommen.
Mit Pernerstorfer geriet er noch einigemal aneinander. Nicht nur in politischen Fragen. Nach der Premiere des Volksstückes »Familie Wawroch« von Adamus im Deutschen Volkstheater schrieb Pernerstorfer in einer Besprechung des Stückes in der Arbeiterzeitung, daß der Dichter sehr viel Begabung habe.
In einem gegen seine sonstige Gewohnheit mit Namen gezeichneten Artikel in der »Volkstribüne« fuhr der Schuhmeier auf: »Es muß Staunen erwecken, daß Engelbert Pernerstorfer in der Arbeiterzeitung dem Dichter Adamus, der in ›Familie Wawroch‹ die Maifeier und einen Kohlenarbeiterstreik verhöhnt, ›sehr viel Begabung‹ nachrühmt.«
Auf dem niederösterreichischen Landesparteitag in Hainfeld wurde an der Schreibweise der »Volkstribüne« Kritik geübt. Pernerstorfer war der Ansicht, daß für den Aufschwung der »Volkstribüne« der Administration großes Lob gebühre. Eine Zeitung müsse nach oben ziehen und manche Ausdrücke in der »Volkstribüne« können ihm nicht gefallen. Schuhmeier habe das Talent zur Demagogie und habe es mißbraucht.
Schuhmeier antwortete: »Ich hin nicht grob und ordinär, wenn irgend eine Wahrheit, die gesagt werden muß, mit dem richtigen Namen bezeichnet wird. Wir schreiben eben die Sprache der Arbeiter, und wenn wir grob werden, dann ist der Fall, um den es sich handelt, daran schuld, denn wir bemühen uns nicht, grob zu sein.«
Das Erstarken der Konsumvereinsbewegung nach der verlorenen Wahlschlacht gab Anlaß zu allerlei Neugründungen. Nicht immer aus idealen Motiven. Im Arbeiterkonsumverein »Brüderlichkeit« war vieles nicht in Ordnung. In der Partei war man für gründliches Ordnungmachen, aber ohne Aufsehen. Der Schuhmeier packte die Sache öffentlich in der »Volkstribüne« an, nannte jedes Ding beim rechten Namen und prangerte Schädlinge ebenso öffentlich an. Und so war bald Ordnung.
In Wiener-Neustadt hatte ein Dr. Berstel das Heft der politischen Organisation in der Hand. Dr. Berstel fügte sich Parteibeschlüssen nicht und ließ sich Eigenmächtigkeiten zuschulden kommen. Es war gegen ihn nichts auszurichten, weil er über einen großen Anhang verfügte. Das war was für den Schuhmeier. Er nahm die Geschichte in die Hand und nicht allzulange danach war der Dr. Berstel kaltgestellt. Die Liebenswürdigkeiten, die der Schuhmeier von Dr. Berstels Anhang an den Kopf geworfen bekam, warf er ebenso liebenswürdig zurück.
Nach dem Linzer Parteitag hat die Linzer »Katholische Arbeiterzeitung« behauptet, Schuhmeier, der »ehemalige Hausknecht«, habe sich ein Haus erhungert.
Schuhmeier veröffentlicht folgende ›Schenkung‹: »Das mir von der in Linz erscheinenden ›Katholischen Arbeiterzeitung‹ in der Nummer 1 des IV. Jahrganges zugesprochene er-hungerte Haus schenke ich hiemit freiwillig, ohne daß es mir abgeschlichen wäre, der Gesellschaft ›zum guten Hirten‹ in Linz. Herr Dr. Rudolf Hiptmair, der Direktor dieser frommen Gesellschaft, möge sich die nähere Adresse meines Hauses von der Redaktion des vorhin erwähnten Blattes geben lassen und das Haus für die Gesellschaft ›Zum guten Hirten‹ in Empfang nehmen.
Eigenhändig gefertigt am 1. Februar 1898.
Franz Schuhmeier.«
Nach der Ermordung der Kaiserin Elisabeth in Genf durch den italienischen Anarchisten Luccheni trieben die Wiener Patrioten eine frischfröhliche Hetze gegen die italienischen Erdarbeiter, die »Katzelmacher«, und verlangten deren Abschiebung.
Schuhmeier schrieb in der »Volkstribüne« über den Mord: »Geradezu unbegreiflich ist es, daß die Herren aus dem Gefolge der Kaiserin sich um ihre Monarchin nicht kümmerten und die kranke Frau lediglich unter dem Schutze einer anderen schwachen Frau ließen. Sind denn unsere Hofschranzen schon derart unfähig, daß sie nicht einmal zur Beschützung einer Frau zu gebrauchen sind? Diese Herren, welche ihre Kaiserin allein ließen, sollten sich – schämen.«
Und über den Anarchismus und Sozialismus läßt er sich bei dieser Gelegenheit aus: »Die Kampfesweise des Anarchismus ist rein bürgerlich. Beide Richtungen hantieren in gleich verächtlicher Weise mit Menschenleben, während der Sozialismus das Leben jedes Menschen geschützt wissen will.«
Das Ministerium Gautsch hatte, so wie alle Vorgänger, seine Schwierigkeiten. Es warf den Krempel hin und überließ das Geschäft dem neuen Kabinett des Grafen Thun.
In einer Versammlung hatte der Schuhmeier gelästert: »Der Landtag, wie er heute beisammen ist, ist nichts als Lug und Trug.« Deswegen wird er angeklagt, in erster Instanz freigesprochen, in der zweiten zu vierzehn Tagen Arrest verurteilt.
Die »Wüstlich-sozialen« im Rathause, die sich immer ungenierter den Besitzenden als der festeste, ja der einzige Schutzwall »gegen die sich heranwälzenden Wogen der sozialdemokratischen Bewegung« empfehlen, haben die Lehrer Seitz, Drögsler, Hawel, den bedeutenden Volksdichter, Hellmann, Sonntag, Jordan, Katschinka, Knopf, Müller, Riese, Täubler und Wichtrei gemaßregelt. Teils aufs Pflaster geworfen, teils präteriert, weil sie nicht so wollten wie der Dr. Lueger und die Seinen. Der von der Maßregelung bedrohte Lehrer Peyrl erschießt sich im Lehrmittelzimmer seiner Schule.
Lueger verkündet: Sozialdemokraten und Schönerianer werden nicht befördert. Angestellt natürlich schon gar nicht.
Den Sozialdemokraten verweigert er die Volkshalle des Rathauses zur Abhaltung von Versammlungen.