Robert Ascher
Der Schuhmeier
Robert Ascher

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Siebentes Kapitel

Wien weitete sich. Die meisten der Baudenkmäler, die jahrzehntelang neben den Wiener Frauen, der Wiener Musik und der einmaligen Umgebung den Weltruf dieser Stadt ausmachten, entstanden anfangs der Siebzigerjahre. »Unter der glorreichen Regierung Franz Josefs I.«, wie es in hundert servilen Marmortafeln eingemeißelt steht, trotzdem der Kaiser nichts anderes dazu getan hatte, als es nicht verhindert zu haben. Es wurde projektiert und gegründet und gebaut, und wer es verstand, konnte über Nacht an der Börse nichtstuend steinreich werden.

Nach dem Deutsch-Französischen Kriege gab es wieder Arbeit für viele. Nicht für alle, Vazierende blieben immer noch genug, unter denen der Vater Schuhmeier nach wie vor zu finden war.

Die Gründerzeit sollte durch ein gigantisches Werk gekrönt werden, das die Augen der ganzen Welt auf das Kaisertum Österreich und die Kaiserstadt an der Donau zu lenken bestimmt war. Hunderttausende sollten von überall herbeiströmen und staunen und jenes Geld dalassen, das die Gründer und Projektanten und Spekulanten brauchten, um zu bezahlen, was sie ohne Geld, bloß in Anhoffnung eines reichen Fischzuges, begonnen.

Die Weltausstellung. Sie bedurfte jahrelanger Vorbereitung. Im Prater wurde 2,500.000 Quadratmeter Grundfläche verbaut, um der Weltausstellung einen würdigen Rahmen zu geben. Ein Industriepalast, eine Maschinenhalle, eine Kunsthalle, ein Kaiserpavillon und noch mehrere hundert Pavillone, Gastwirtschaften und Kaffeehäuser schossen in die Höhe. Sieben Millionen Gulden waren für den Ausstellungsbau veranschlagt, zwanzig Millionen Gulden hat alles in allem wirklich gekostet. Alle Gebäude, die für die Weltausstellung errichtet wurden, sind bald wieder verschwunden, geblieben ist nur der Industriepalast mit seiner Rotunde.

Am 1. Mai 1873 wurde die Weltausstellung durch den Kaiser in prunkvoller Weise eröffnet. Sie zeigte, was der Arbeitshände Fleiß, der Forscher und Techniker Geist und der Heimaterde Schoß hervorzubringen vermochte. Aber die Weltausstellung brachte nichts den Gründern und nichts den Wienern. Ein ungewöhnlich kaltes Frühlingswetter hielt den Fremdenstrom fern. Doch nicht nur das. In der Welt draußen war es ruchbar geworden, daß die Wiener ihre Gäste nicht nur freudig empfangen, sondern auch tüchtig wurzen wollten. Eigens wegen der Weltausstellung sind prächtige Hotels errichtet worden und diese und alle sonstigen Vermieter verlangten geradezu irrsinnige Zimmerpreise. Auch die Preise aller Lebensmittel und Bedarfsgegenstände wurden auf Fremdenverkehr hinaufnumeriert.

Die Wiener konnten sich dagegen nicht wehren und mußten alles viel teurer bezahlen und weniger essen. Die Fremden aber wehrten sich, indem sie einfach nicht kamen. Den Text gab der Weltausstellung der Börsenkrach, der bald nach ihrer Eröffnung hunderte Gründungen, Banken und Geschäfte wegrasierte, als wären sie nie gewesen. Sie hatten sich überessen und sind aufgeplatzt. Reiche wollten noch reicher, geldbesessene Habenichtse wollten Kapitalisten werden. Einigen, die das Jahr vorher noch neben den Absätzen gehatscht sind, ist es zufällig geglückt, statt Landesgerichtspensionäre Millionäre zu werden, und deshalb entstand eine wilde Jagd nach den Millionen.

Das brach zusammen wie ein Kartenhaus und begrub alles unter sich. Lange Krisenjahre folgten dem Krach von 1873. Der alte, gesättigte Reichtum feixte. Er war wieder unter sich. Einer von ihnen, der alte Baron Königswarter witzelte: »Nicht jeder, der eine Million gewinnt, ist deshalb schon ein Millionär.«

Als im Jänner 1875 dem Eisenbahngründer Ritter von Ofenheim der Prozeß gemacht wurde, verteidigte er sich mit dem Satze, der das innerste Wesen dieser Ordnung wie ein Blitz beleuchtet: »Mit Sittensprüchlein baut man keine Eisenbahnen.«

Am 24. Oktober 1873 fand die feierliche Eröffnung der Hochquellenleitung statt. Damit bekam Wien gutes Trinkwasser. Bei dieser Gelegenheit wurde der Hochstrahlbrunnen auf dem Schwarzenbergplatz in Tätigkeit gesetzt.

Am Abend des 2. Dezember desselben Jahres war Wien festlich illuminiert. Es galt dem 25jährigen Regierungsjubiläum Franz Josefs. Ganz Wien war auf den Beinen. Es gab auch viel zu schauen. Auf dem Donaukanal schwammen dekorierte Boote, die bei Einbruch der Dunkelheit bengalisch beleuchtet wurden und Leuchtkugeln ausspieen, was sich auf dem Wasserspiegel nochmals abzeichnete und feenhaft wirkte.


Mit der Arbeiterbewegung ging es nicht vorwärts. Hader und Eifersüchteleien entzweiten die führenden Männer und statt gegen den gemeinsamen Feind gingen sie aufeinander los. Das Blatt der Radikalen, die »Gleichheit«, beschimpfte die Gemäßigten und das Organ der Gemäßigten, der »Volkswille«, schmähte die Radikalen.

Viele treue Anhänger der Sozialdemokratie zogen sich angeekelt vom Parteileben zurück. Indifferente sagten sich, wie immer, wenn zwei, die dasselbe wollen, sich gegenseitig befetzen, daß beide Lumpen seien, und wurden zur leichten Beute er Reaktion.

Der Wiener Börsenkrach verursachte eine schwere Absatz- und Geldkrise, die den Weg auch über andere Länder Europas nahm und bis nach Amerika übergriff. Fabriken und Werkstätten sperrten, hunderttausende Arbeiter waren brotlos. Das radikalisierte die von der Arbeiterbewegung erfaßten und ihr treu gebliebenen Massen. Und das verstärkte wieder den Druck von oben. Wenn sich ein Versammlungsredner unterfing, das Wort »Sozialdemokrat« auszusprechen, erhob sich der Regierungsvertreter, setzte seine Kappe auf und erklärte die Versammlung für aufgelöst.

Wie arg sie es getrieben haben, mag man daraus erkennen, daß es im Jahre 1872 zwischen Arbeitern, die von einem Sonntagsausflug auf die Kordonwiese zurückkehrten, und der Polizei zu blutigen Zusammenstößen kam, weil ein Arbeiter das unerhörte Verbrechen beging, eine rote Fahne zu entrollen.

Die Gemäßigten forderten, da an ein Wahlrecht für die Rechtlosen nicht zu denken war, die Errichtung von Arbeiterkammern mit parlamentarischer Vertretung – auch die Handelskammern der Unternehmer entsendeten ihre Abgeordneten in das Parlament –, was von den Machthabern natürlich schroff abgelehnt wurde. Die Radikalen nannten das Verrat. Sie erhofften sich vom Parlamentarismus keinerlei Rettung aus ihrer unmenschlichen Lage. Sie erhitzten sich für die Propaganda der Tat. Sie anarchistelten. Es gäbe nur ein Mittel, meinten sie, den Klassenfeind in die Knie zu zwingen: ihn in ständiger Furcht zu erhalten. Regierende, höhere Polizeiorgane und Großkapitalisten abzuknallen, die letzteren auch auszuplündern, um mit der Beute Arme zu beteilen und den Kampffonds des Proletariats zu stärken – so primitiv stellten sie sich die Überwindung dieser Gesellschaftsordnung vor.

Da hatten die von der Polizei in die Reihen der Radikalen geschmuggelten Lockspitzel leichte Arbeit.

Es fehlte nicht an Versuchen, die Entzweiten zu einigen, Dr. Hyppolit Tauschinsky war wieder auf den Plan getreten. Er berief einen Einigungskongreß nach Baden bei Wien ein, der verboten wurde. Auch Oberwinder, dem man nicht mehr recht traute, war gegen diesen Kongreß. Der Kongreß fand dann in Neudörfl in Ungarn statt, wo man damals die Gesetze etwas liberaler handhabte, weil Ungarn selbst noch von keiner »sozialistischen Gefahr« bedroht war. Es wurde beschlossen, die Zentrale der Gemäßigten nach Graz zu verlegen. Doch auch dieser Kongreß und ein Delegiertentag in Marchegg im Jahre 1875 brachten die so bitter notwendige Einigung nicht zustande. Der Marchegger Delegiertentag wurde übrigens von dem Konzipisten der Staatspolizei, dem späteren Polizeirat Bernhard Frankl, ausgehoben. Dieser karrierebeflissene Polizeibüttel hat späterhin der Arbeiterbewegung noch viel zu schaffen gemacht und viele ihrer Besten dem berüchtigten Holzinger, dem Vorsitzenden des politischen Strafsenates ausgeliefert. Diese beiden erbarmungslosen Verfolger der Arbeiterbewegung und ihrer Funktionäre, Frankl und Holzinger, wurden, nachdem sie ihre Schuldigkeit getan, kaltgestellt und endeten durch Selbstmord.

Es wurde mancherlei versucht, um zu verhindern, daß die Tätigkeit der Arbeiterorganisationen und ihrer Presse gänzlich unterbunden werde. Es spannen sich Fäden zu den bürgerlichen Demokraten und es wurde sogar an eine Fusion mit ihnen gedacht. Auf diese Weise hoffte man das allgemeine und gleiche Wahlrecht und sozialpolitische Reformen zu erreichen. Die eifrigsten Befürworter der Fusion auf Seite der Demokraten waren Dr. Schrank, Dr. Kronawetter und – Dr. Karl Lueger, der nachmalige erzreaktionäre christlichsoziale Parteichef, der damals Sozialdemokraten, die unter Anklage des Hochverrats standen, als Rechtsanwalt verteidigte.


Im Borinskyschen Stall war es dunkel und duftete nicht nach Veilchen, draußen aber lachte die liebe Frühlingssonne und blühte schon der alte Nußbaum. Es war nach Ostern. Trotzdem ließ sich der Franzl nicht draußen von der lieben Frühlingssonne bescheinen, was nach langer Winteröde den Gliedern doppelt wohl tut, sondern er lag drinnen im Stall auf einem Bündel Stroh. Und er war blaß und traurig. An der Stelle, an der das Strohbündel lag, war immer sein guter Freund, der Ziegenbock Meckerl wiederkauend gestanden. Jetzt stand er nicht mehr dort. Er stand überhaupt nirgends mehr. Seine sterblichen Überreste schickten sich an, ins Schwarze Meer zu schwimmen.

Der Meckerl war alt geworden, die Augen trüb und die Beine steif, und er taugte nicht mehr zum Lastenziehen. Unnütze Fresser duldete die Marietant nicht. Ein ausgetretenes Hufeisen wirft man ins alte Eisen, ein ausgewerkeltes Haustier sticht man ab.

Dieser Vergleich ging dem Franzl nicht ein. Das Hufeisen ist eine tote Sache, der Meckerl aber ein Lebewesen, das so gerne da ist, wie alles, was atmet, das um seiner selbst willen erschaffen wurde und nicht dazu, daß es der Marietant ihr Wagerl ziehe und, wenn es abgenützt ist, zum Lohn für seine treuen Dienste gewalttätig umgebracht werde.

Die Marietant blieb solchen Einwänden gegenüber unzugänglich. Sie hieß den Franzl einen weltfremden Sterngucker. Das hatte sie irgendwo aufgefangen. Sie sah das alles anders. Sogar der tote Meckerl mußte noch was eintragen. Er wurde zum Osterbraten.

Der Borinsky-Onkel fand ihn zwar zähe wie eine zehnmal gedoppelte Stiefelsohle, aber er würgte seinen Teil von dem alten Ziegenbock in anerzogener Disziplin hinunter.

Der Franzl hätte dieses Festtagsgericht um nichts m der Welt angerührt. Lieber hätte er sich totschlagen lassen. Schon der bloße Geruch des auf dem Herde prasselnden Fleisches, das er lebend gekannt und so gern gehabt, machte ihm das Herz schwer. Am österlichen Mittagstisch fehlte er. Er lag im Stall und weinte.

Die Marietant schimpfte wie ein Rohrspatz auf den Buben, der bei einem Nachtgeschirr mit goldenem Monogramm aufgezogen worden sei und der es, wie sie prophezeite, noch viel billiger geben werde.

Drei Tage hat der Bub nichts gegessen und noch länger hat er seinem vierbeinigen Gefährten nachgetrauert und es seiner Mörderin nachgetragen. Seither bestand ein gespanntes Verhältnis zwischen dem Franzl und seiner Ziehmutter.

Der Franzl hörte seinen Namen rufen. Unwillig begab er sich in den Hof.

»Franzl, spinnst schon wieder?« So empfing ihn die Marietant. »Ich rat dir,« setzte sie fort, »laß das Trotzen sein, das vertrag ich net, geh in die Einfahrt, dort steht der Herr Kooperator und küß ihm schön die Hand!«

Im Hausflur stand der Herr Kooperator von der Matzleinsdorfer Pfarrkirche. Er war bei der Frau Bramesberger gewesen, um sich um das Befinden des achtzigjährigen Weibleins zu kümmern.

Der Herr Kooperator strich dem Buben gütig durch das Haar. Dann setzte er sein Gespräch mit der Frau Reitmaier, einer der Nachbarinnen der alten Bramesberger, fort. Der Franzl hörte zu.

»Gesundes Blut, diese Frau Bramesberger,« sagte er, »die kann noch lange unter uns bleiben.«

»Mein Gott, Hochwürden,« entgegnete die Frau Reitmaier, »was kann man denn wissen, bei so ein Alter!«

»Unser Herrgott hat eben die Frau Bramesberger gern, darum schenkt er ihr ein langes Leben.«

Die Frau Reitmaier empfahl sich, und als der Priester sich zum Gehen wendete, kam ihm die junge Frau Riegler in die Quere, die ebenfalls im Gärtnerhause wohnte. Sie war in tiefer Trauer.

Der Herr Kooperator redete sie freundlich an: »Noch immer untröstlich, Frau Riegler? Jetzt könnten Sie sich schon in das Unabänderliche gefügt haben. Ihr Gatte ist gut aufgehoben. Bedenken Sie doch, was der Arme gelitten hat!«

Die Frau Riegler begann zu schluchzen: »Dank vielmals Hochwürden für die Teilnahme, aber is das net schrecklich, so jung war er noch, der Ferdinand, erst zweiunddreißig Jahr, und hat schon sterben müssen.«

Wie ein Vater redete der Priester der Verzweifelten zu: »Liebe Frau Riegler, es muß sie der Gedanke trösten, daß unser Herrgott Ihren Gatten so gern gehabt hat, daß er ihn frühzeitig zu sich nahm.«

Der Franzl hatte beides gehört, warum die Frau Bramesberger so alt werden durfte und der Herr Riegler so jung sterben mußte.

Alle waren schon fort, nur der Bub rührte sich noch immer nicht vom Fleck. Wie war das? Wen...?

Das ist dem Franzl nicht mehr aus dem Kopf gegangen.


Im April 1876 haben sie die Organisation der Radikalen, den Verein »Volksstimme«, aufgelöst, der unter der Leitung Andreas Scheus stand, weil »die im Verein 'Volksstimme' vertretene Arbeiterpartei die statutarisch bestimmten Grenzen ihrer Tätigkeit überschritten hat und wegen Verfolgung jener sozialdemokratischen Tendenzen, welche bereits wiederholt als staatsgefährlich bezeichnet wurden, den Bedingungen seines rechtlichen Bestandes als Verein nicht mehr entspricht«.

Die Besitzenden und die Bevorrechteten haben sich gestört und belästigt gefühlt und die Behörden haben ihnen Ruhe und gute Verdauung verschafft.


Serbien und die Türkei hatten wieder einmal miteinander gerauft. Österreich blieb neutral. Aber kaum war zwischen beiden Streitteilen ein Waffenstillstand abgeschlossen, als sich Rußland dreinmischte und ein Ultimatum stellte. Und dann kam es zum Krieg zwischen den Russen und der Türkei. Die Türkei hieß damals in der Diplomatensprache »der kranke Mann« und die Erbschleicher ringsum wollten sich jeder rasch einen Fetzen Landes holen, ehe der kranke Mann starb. Rußland rückte in die europäische Türkei ein, Plewna fiel, und der Friedensschluß von San Stefano, am 3. März 1878, war nur ein provisorischer. Rußland durfte seine Beute nicht ohne weiteres einstecken, das ließ die Eifersucht und Habgier der anderen Mächte nicht zu.


Der Franzl blieb durch alle sechs Klassen der Vorzugsschüler. Das Schuljahr 1876/77 ging seinem Ende zu.

Der Oberlehrer Walter ließ den Franzl zu sich in die Kanzlei kommen. »Schuhmeier,« redete er den aufgeschossenen Dreizehnjährigen an, »setz dich daher und paß auf, was ich dir sag.«

Der Franzl wurde blaß. Wenn der Herr Oberlehrer so feierlich kommt, ist das verdächtig. Was kann's nur sein? Der Oberlehrer Walter putzte umständlich seine Brille mit einem Lederfleck, setzte sie wieder auf und begann: »Du bist ein gescheiter Bub, Schuhmeier, um dich wär schade, wenn du ein Handwerker werden müßtest. Jünglinge mit deinen Fähigkeiten sollen nicht in das Proletariat hinabsinken. Solche Fähigkeiten dürfen der Menschheit nicht verlorengehen. Ich habe also mit dem Herrn Pfarrer über dich gesprochen, Schuhmeier. Wir sind übereingekommen, daß du Geistlicher werden sollst. Du kommst in das Priesterseminar, und weil du das Kind armer Leute bist, bekommst du einen Freiplatz.«

Hier machte der Herr Oberlehrer eine Pause, um die Wirkung seiner Mitteilung zu prüfen.

Der Franzl – zuerst war er froh, daß es keinen Rüffel gab. Dann war er stolz, daß ihn der Herr Oberlehrer so lobte, und dann war er verzagt, denn an alles hätte er eher gedacht, als ein Geistlicher zu werden. Einmal hat er ja Tramwaykondukteur werden wollen, aber das war längst wieder vorüber und viel hat er sich über seine Zukunft noch nicht den Kopf zerbrochen und die im Gärtnerhause auch nicht. Noch weniger die in der Hirschengasse, die hatten andere Sorgen.

»Na was sagst du dazu, Schuhmeier?« forschte der Herr Oberlehrer, »ein geistlicher Herr, der ist was, der gilt was, der genießt Ansehen, hat Macht über die Menschen und so einer wie du kann es weit bringen, Bischof kann er werden, wenn er halbwegs Glück hat.«

Dem Franzl wurde es schwummerlich. Alles konnte er sich vorstellen, nur nicht, daß er einmal in der Soutane würdevoll einhergehen und frühen Tod und langes Leben auf die gleichen Ursachen zurückzuführen verpflichtet sein würde. Es widersprach seiner Wesensart, etwas zu behaupten, was er nicht zu beweisen imstande war. Die Klerisei war ihm eigentlich bloß erst in Gestalt des Herrn Katecheten seiner Schule nähergekommen und den hatte er, so wie übrigens alle Schüler der Matzleinsdorfer Schule, riesig gern. Das war ein wohlgenährter, rotbackiger Herr mit lustigen Äuglein, der den Kindern das Wissen um die Dinge des Glaubens so gemütlich und spielerisch beizubringen wußte, daß die Religionsstunde immer eine höchst angenehme Abwechslung im Unterrichtsbetriebe war. In Matzleinsdorf hieß er der »Zuckerlkatechet«. Die Taschen seines Überrockes waren immer mit Kaffeebohnen aus Schokolade gefüllt, und wer im Religionsunterricht eine Frage gut beantworten konnte oder welches Kind auf der Straße ihm die Hand küßte, dem steckte er ein Zuckerl in den Mund und gab ihm noch einen wohlgemeinten Backenstreich drauf, damit es besser schmecke. Die genäschigen Kinder paßten den Zuckerlkatecheten immer ab und nicht selten drängte sich einer oder eine zehnmal zum Handkuß, gewiß auch der süßen Lutscherei wegen, aber ebenso, weil sie alle in diesen gütigen, kinderliebenden Mann Gottes, der im Hauptamte Seelsorger im Wiener Landesgericht gewesen ist, auf ihre Weise vernarrt waren.

Der Herr Oberlehrer drängte zur Entscheidung.

»Ich weiß nicht, Herr Oberlehrer, ich muß erst zu Hause fragen.«

»Gut«, sagte dieser, »besprich das zu Hause, am besten ist, du schickst mir deine Tante her, damit wir uns ausreden können, ich lasse sie bitten, herzukommen.«

Der Franzl stolperte gedankenvoll heimwärts. Mittenwegs wurde er angerufen.

»He, hallo, Sterngucker!«

Er drehte sich um. Der Zuckerlkatechet war es. Der steckte dem Franzl zwei Zuckerln auf einmal in den fischartig geöffneten Mund.

»Wovon träumen wir denn wieder he, vom vorjährigen Schnee?« frug der hochwürdige Herr lachend.

»Ich bitte,« antwortete der Franzl, »ich bitte, Hochwürden, der Herr Oberlehrer hat gesagt, ich soll auf Geistlich studieren.«

»So, so, hat er das gesagt, der Herr und was sagt der Sterngucker dazu?«

»Ich bitte, ich weiß noch nicht.«

»Dann laß es bleiben. Ein Bub wie du, der gehört in die Welt, an der ist auch noch viel zu richten, verstanden? Servus!«

»Marietant,« berichtete der Bub zu Hause, »Sie sollen morgen zum Herrn Oberlehrer kommen, er laßt Sie vielmals bitten.«

»I soll zum Herrn Oberlehrer? Was hast denn wieder angestellt, Bua? Gesteh's lieber gleich, dann geht's vielleicht glimpflicher aus für dich und dann weiß i wenigstens, was i in der Schul reden soll.«

»Der Herr Oberlehrer will, ich soll auf Geistlich studieren.«

»Wirklich, hat er das g'sagt?« rief die Marietant, hochrot vor Freude, »wirklich, das hat er g' sagt, und du Bua, wirst ein hochwürdiger Herr?«

»Frau Schestak, Frau Schestak«, schrie sie dann in den rückwärtigen Hofteil, wo eben besagte Frau Schestak frisch gewaschene Wäsche über eine Leine zum Trocknen breitete.

»Wer is g'storben?« schrie die schwerhörige Frau Schestak zurück.

»Denken S' Ihnen, unser Franzl studiert auf Geistlich. Hab i's net immer g'sagt, daß aus dem Buam noch was wird? Wann i wem unter meine Hand nimm...«

In der Nacht wälzte sich der Franzl in seinem Bette herum und stöhnte.

Der Borinsky-Onkel, der gerade – eine Stunde nach Mitternacht war es – hereingewackelt kam, weckte seine bessere Hälfte auf.

»Hörst, Marie – hupp – schlaf net wia a Tote – hupp – wach auf – hupp – der Franzl hat mir scheint a Fieber.«

Die Marietant zürnte, daß man sie so brutal aus süßem Schlummer riß. »Was is – wer hat a Fieber? Der Franzl hat a Fieber? Mir scheint, du hast eins im Hirn, du alter Badschwamm, a Geistlicher wird er, unser Franzl, und jetzt träumt er von alle Heiligen.«

Der Borinsky-Onkel war plötzlich nüchtern: »A Geistlicher wird er – der Franzl? Der Franzl? Der wird so a Geistlicher wie i a Wassertrinker. Mir scheint, Alte, heut hast du an Rausch.«

Dann war Friede im Hause Borinsky.


Die Marietant ging mit dem Franzl zur Schule.

Der Herr Oberlehrer Walter empfing die Frau und ihren Neffen aufs freundlichste: »Also, liebe Frau Borinsky,« begann er, »Sie werden ja schon wissen, worum es sich handelt. Ist ein braver, kluger Bub, Ihr Neffe, wir haben ihn alle recht lieb und wollen aus ihm einen Priester machen.«

»Jessas, Herr Oberlehrer,« unterbrach die aufgeregte Frau, »i bin ja so stolz, i bin ja so froh, wie soll i Ihnen danken? Wir sind eine streng christliche Familie und da ist's uns a hohe Ehre. – Na, daß unser Franzl Geistlich wird, i kann's noch immer net glauben.«

Der Franzl, um den es eigentlich ging, war bisher stumm dagestanden. Auf einmal gab er sich einen Ruck, stellte sich vor die Erwachsenen hin und erklärte mit einer erstaunlichen Festigkeit: »Ich bitte, Herr Oberlehrer, ich will nicht auf Geistlich studieren.«

Den zwei Erwachsenen verschlug es die Rede. Der Herr Oberlehrer faßte sich zuerst wieder:

»Warum willst du nicht, mein Kind?«

»Ich bitte, Herr Oberlehrer, ich kann es nicht sagen, warum ich nicht will, aber ich will nicht.«

»Was sagt er? Was erlaubt sich der Bua?« keuchte die Marietant, »sein Wohltäter erlaubt er sich zu widerreden? A hochwürdiger Herr kann er werden und schlagt's aus? Entweder du wirst Geistlich oder du wirst a Schuster. Mir bleibt der Verstand stehen.« Und rang nach Luft.

»Beruhigen Sie sich, liebe Frau,« beschwichtigte der Herr Oberlehrer, »der Bub versteht doch noch gar nicht, um welch wichtige Entscheidung für sein ganzes Leben es sich handelt.«

»Bitte, Herr Oberlehrer, ich verstehe es schon, aber ich will nicht.«

»Also was denn möchtest du eigentlich werden, Schuhmeier, hast du schon einen Plan?«

»Bitte, Herr Oberlehrer, ich habe schon nachgedacht, ich möchte auch Lehrer werden.«

»Nicht übel, Junge, vielleicht taugst du wirklich zum Lehramt besser. Vielleicht läßt sich auch das machen.«

Die Marietant fuhr wieder in die Höhe: »Hat die Welt schon so was g'sehn? Ein geistlichen Herrn könnten mir in unser Familie kriegn und wir hätten ein Fürbitter und der Lausbua will net? Legen S' ihm übers Knie, Herr Oberlehrer!«

»Das werde ich nicht tun«, gab dieser zurück. »Wen es nicht selber drängt, Priester zu werden, der soll die Hand davon lassen. Offen gestanden, ich hätte auch einer werden sollen und bin's nicht geworden, trotzdem ich meiner gottseligen Mutter dadurch viel Schmerz bereitet habe.«

»Dein Glück, daß du net mir g'hörst, sonst wüßt i, was i z' tun hätt«, schimpfte die Marietant, indem sie den Franzl am Rockärmel fortzerrte.

Er kriegte an dem Tag weder zu Mittag noch abends zu essen und mußte im Stalle übernachten. Der Borinsky-Onkel, als er zwei Stunden nach Mitternacht angetorkelt kam, schluckte: »Heut is sie ganz schief – hupp – ganz schief g'wickelt – hupp – heut geh i ihr – hupp – lieber aus dem Weg«, und legte sich in den Stall neben dem Franzl schnarchen.


Die Marietant schämte sich vor dem ganzen Hause, daß sogar sie einmal ihren Willen nicht hat durchsetzen können, und es kränkte sie, daß sie wegen der Starrköpfigkeit dieses Buben nicht mit einem hochwürdigen Neffen Staat machen konnte.

Dem Herrn Oberlehrer Walter ließ es keine Ruhe. Er besprach sich mit Franzls Klassenlehrer Blaschke und der sprach am nächsten Sonntag bei der Familie Borinsky vor, die gerade um den Mittagstisch saß.

»Der Franzl«, begann er, »will Lehrer werden. Ist zwar ein aufreibender Beruf, zu dem viel Liebe und Selbstverleugnung gehört, aber dafür elend entlohnt wird, aber wenn er das Zeug dazu in sich fühlt, soll er. Der Herr Oberlehrer hat durch den Herrn Schulinspektor erwirkt, daß der Bub im Lehrerseminar in St. Pölten einen Halbfreiplatz bekommt, sofern er die Aufnahmsprüfungen besteht, was mir nicht zweifelhaft scheint. Das halbe Schulgeld muß allerdings bezahlt werden und die vorgeschriebene Ausstattung an Kleidern und Wäsche muß er mitbringen.«

Der Borinsky-Onkel, der eben einen Knochen von dem gebackenen Schweinernen abnagte, das dem Sonntag zu Ehren serviert worden war, redete aus vollem Munde: »Sehn S' Herr Lehrer, das i a G'schäft für 'n Franzl. Mit 'n spanischen Röhrl kann er eh schon gut umgehen, und die schlimmen Buam trischacken, das hat er schon von seiner Frau Tant g'lernt.«

Ein strafender Blick der Marietant machte ihn verstummen und sich ducken. »Von mir aus,« sprach die in tiefster Seele Gekränkte, »von mir aus soll er werden, was er will. Von mir aus ein Rastelbinder.«

»Das ist vernünftig«, mengte sich wieder der Herr Lehrer Blaschke ein. »Jeder Mensch muß selber wissen, wozu er Lust hat und taugt. Die unglücklichsten Menschen sind die mit einem aufgezwungenen Beruf. Gewiß ist der Lehrerberuf der heikelste. Der Schuster verarbeitet Leder, der Tischler Holz, der Lehrer aber Menschen.«

»I hab schon g'sagt,« so die Marietant, »i misch mich nimmer drein.«

»Schön, gnädige Frau,« kam wieder der Herr Lehrer zu Wort, »aber es handelt sich zunächst um das halbe Schulgeld und um die Ausstattung.«

»Was geht das mich an, was sagen S' das mir? I bin, Gott sei Dank, net seine Mutter, i bin ja nur die Tant, die nix zu reden hat.«

»Also was das anbelangt," wagte sich der Borinsky-Onkel zu äußern, »das werden wir noch z'sammbringen, uns hat ja der Esel auch net im Galopp verloren.«

»Untersteh dich«, so fuhr sie auf ihn los. Er unterstand sich nicht. Er spuckte, was er eben im Munde hatte, auf den Teller und ging in den Stall zum Peter.

»Mit dem Roß kann man wenigstens ein g'scheites Wort reden«, brummte er unterwegs.

Dem Herrn Lehrer Blaschke wurde es unbehaglich. Er rutschte noch eine Weile auf dem Stuhl hin und her, endlich erhob er sich und sagte noch: »Überlegen Sie sich's halt noch, gnädige Frau, aber überlegen Sie sich's gut, vielleicht, wenn es damit auch nichts werden sollte, könnte er etwas beginnen, wo er sein Zeichentalent verwerten kann.« Und dann machte er sich davon. Die frische Luft draußen tat gut.

Der Franzl mochte noch so viel bitten, die Marietant blieb hart. »Studier auf Geistlich,« beharrte sie, »dann ja, für alles andere nicht ein luckerten Kreuzer.«

Er schlich in die Hirschengasse zu der Mami. Die Mami konnte nur mitfühlen, mehr konnte sie nicht tun. Vater Schuhmeier gefiel der Hausfrau schon lange nicht mehr und sie ließ ihn das spüren. Und der Vater Schuhmeier war auch nicht höflich. So standen sie auf dem Sprung, auch noch den Hausmeisterposten zu verlieren.

Die Mami konnte nicht helfen. Sie konnte nicht einmal sich selber helfen. Sie konnte ihren Buben nur trösten: »Nur nicht verzagen, Franzl, unser Herrgott verlaßt uns nicht. Aus dir wird einmal was, das laß ich mir nicht nehmen, und richt der Marietant einen schönen Gruß von mir aus und sei artig zu ihr und sei brav!«

Getröstet ging der Franzl nach Matzleinsdorf hinüber. Um eine Hoffnung ärmer, um neue Hoffnungen reicher. Es blieb ein gespanntes Verhältnis zwischen der Marietant und ihm. Und noch zwei Jahre mußte er die sechste Volksschulklasse wiederholen, weil es eine höhere Klasse an der Matzleinsdorfer Schule nicht gab.


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