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Die Mami schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als der Franzl an einem gewöhnlichen Wochentag mit seinem Binkerl und einem eingefatschten Auge mit einem hellen: »So, da bin i«, zur Türe hereinkam. Hinter ihm die Nettl mit dem Einkaufszöger am Arm. Der Vater war im Geschäft, wo er mit Hingabe seines Amtes, Packeln zu schupfen, waltete, der Hansl und der Karli waren noch immer in der Kost.
Die Mami war so aufgeregt, daß sie die Fragen, mit denen sie den Franzl bestürmte, sich überschreiend herausbrachte, die Nettl war auch nicht schwach auf der Lunge und der Franzl mußte die beiden noch überbrüllen, um sich verständlich zu machen. Sonst hätte sich die Mami nicht so leicht über die Ausreißerei ihres Buben beruhigt, und sie hatte es ihm schon gehörig gesagt, daß man nicht so mir nichts dir nichts die Flinte ins Korn wirft, daß man ausharren muß, weil das Leben schon einmal so ist. Aber so, wie der Franzl hereing'schneit gekommen war, – das kranke Auge! – vergaß sie, ihm die Leviten zu lesen und war in die Haut froh, daß es nicht ärger ausgefallen. Und der Franzl bemerkte zum ersten Male, was die Nettl für ein sauberer Fratz geworden war.
»Aber Sorgen macht's mir doch, was jetzt mit dir sein wird«, beschloß sie den mehr menschlichen Teil der stürmischen Unterredung, um die Angelegenheit von der volkswirtschaftlichen Seite zu betrachten.
»Ka Angst, Mami,« beruhigte sie der Franzl, »die Welt is weit und groß und i bin jung und hab Muskeln, da schau dir s' amal an,« und er krempelte die Hemdärmeln auf und ließ seine Muskulatur spielen, »verlaß dich auf mich.«
»Wenn uns nur unser Herrgott nicht ganz verlaßt, du Unband. G'rad jetzt ist wieder so eine schwere Zeit, wo die kräftigsten Männer spazieren gehn und Gelsen fangen müssen, wenn sie Fleisch essen wollen.«
Und die Nettl gab ihren Kren dazu: »Bevor man net was anderes hat, laßt man net was Sicheres aus.«
Der Vorwurf kränkte den Franzl. »Was verstehst denn du von solche Sachen, du Urschel,« verwies er die Schwester, »is ihr Lebtag das Nesthäkerl g'wesen und red't was«, das sagte er absichtlich geschraubt »vom Ernst des Lebens«.
»Schau, Franzl,« begann wieder die Mami, »es is nur, weil's uns grad jetzt wieder rundum net zusammgeht. Mir haben nämlich erst in der vorigen Wochen den...«
»Jessas Nettl,« schlug sich die Mami vor die Stirn, »ich hab in den Tod hinein vergessen, daß ich kein Reibsand mehr hab, geh g'schwind um ein.«
Die Nettl nahm wieder den Zöger, machte ein Schnoferl und brummte im Abgehen: »Immer, wenn's interessant wird, schicken s' mich weg. überall sagen doch die Leut schon Fräulein zu mir.« Draußen war sie.
»Weißt,« knüpfte die Mami den abgerissenen Satz wieder an, »bis vorige Woche haben wir den Jeschek auf'n Bett g'habt, ein Gulden hat er die Wochen zahlt, das war a Rausreißer, der uns jetzt abgeht.«
»No und was is mit'n Jeschek passiert?« frug der Franzl.
»Aufkündigen haben mir 'n müssen. Ist uns eigentlich echt leid um ihm, war soweit ein ganz anständiger Mensch und hat pünktlich jeden Samstag das Bettgeld hergelegt, aber auf einmal bemerk ich, daß der Kerl auf unser Menscherl, auf d' Nettl, so eigene Augen macht. ›Herr Jeschek,‹ hab ich da zu ihm g'sagt, ›ich habe Ihnen in Verdacht, daß Sie ein Kinderverzahrer sind, ich bemerk schon d' längste Zeit, daß Sie in der Früh, wenn sich unser Nettl wascht, immer im Zimmer herumschleichen. Das kann eine anständige Mutter nicht angehn lassen und darum ist's g'scheiter, wir gehn im Guten auseinand, bevor noch ein Unglück passiert.‹ Er hat g'leugnet und bei alle Heiligen g'schworen, daß ihm so was nie im Schlaf eing'fallen wär, und er ist kein solcher und er hat eine Braut. Aber sicher ist sicher, hab ich mir denkt und fort hat er müssen. Jetzt hab ich ein solides Mädel aufs Bett nehmen wollen, denn mit ein Mann riskier ich's nimmer, solang die Nettl z' Haus ist, und jetzt geht auch das wieder nicht ... wegen dir.«
Die gute Frau, die von den Sorgen nie los kam, erinnerte sich gleich wieder, daß einem Sohne, wenn er schutzsuchend ins Vaterhaus kommt, ein freundlicherer Empfang gebührt, und sagte unter Lachen und Weinen: »Die Hauptsach ist, du lebst und es ist dir nicht viel g'schehn.«
In einem der Reithofferhäuser wohnte der Schuhmachermeister Köck. Im Parterre hatte er seinen Laden und daneben die Werkstätte, in der er mit Gesellen und Lehrbuben Fußbekleidungen fabrizierte. Im ersten Stock war die Wohnung, recht wohlhabend eingerichtet, denn das Schuhmacherhandwerk nährte noch seinen Mann. Schuhfabriken und Schuhgeschäfte gab es noch nicht, und wer Schuhe brauchte, mußte zum Meister gehen, der nach Altväterart Maß nahm, indem er in einem an den Fuß angelegten Papierstreifen Einrisse machte. Und dann mußte man probieren und noch einmal probieren kommen, bis das Zeug nicht mehr auf die Hühneraugen drückte. Die Familie Köck bestand aus dem Herrn Meister und Haushaltungsvorstand Johann Sebastian Köck, der Gattin Ludmilla, geborene Bohacek, dem Sohne Paul, der auch das väterliche Handwerk erlernt hatte, weil er, wenn dem Herrn Vater heut oder morgen einmal was passiert, wie diese hübsche Redewendung lautet, das Geschäft übernehmen sollte – aber er hatte es der strengeren Zucht wegen bei einem fremden Meister erlernt – und dem Töchterlein Gisela kurz, die Gisl genannt, die 16 Jahre alt und lieblich anzuschauen war wie ein junger Maienmorgen. Der Paul war eben ausgelernt und sollte sich ein wenig ausrasten, ehe er in das väterliche Geschäft eintrat. Die Gisl lernte Kochen, Haushalten, Klavierspielen und sich auf den Märchenprinzen vorbereiten, der da kommen sollte, um aus der Jungfrau eine junge Frau zu machen.
Den Köckischen ging es gut. Der Alte war fleißig, die Alte verstand es, die Kreuzer zusammenzuhalten. Hier sei eingefügt, daß weder der Alte noch die Alte alt waren. Der Vater Köck war im besten Mannesalter, in dem das Herz manchmal noch rebellisch wird, und die Mutter Köck eine recht stattliche Frau, auf die ein grüner Jüngling, der für reife Früchte schwärmt, noch ganz gut fliegen könnte. Nach heutigen Begriffen waren beide noch lange nicht für das alte Eisen reif gewesen. Aber damals, wer schon halbwegs erwachsene Kinder hatte, zählte nichts mehr.
In der Familie Köck herrschten, was auch dazumal schon etwas Seltenes war, noch recht patriarchalische Verhältnisse. Der Vater war der unumschränkte Herr, dem sich die übrigen Familienmitglieder bedingungslos beugten. Vor ihm zitterten sie, vor ihm hatten sie ihre ängstlich behüteten Geheimnisse. Es gab keine fürchterlichere Drohung als die: »I sag's dem Vater.«
Der Paul und die Gisl markierten den Gehorsam eigentlich nur. Hinter Vaters Rücken taten sie doch was sie wollten. Die Mutter Köck aber hätte es einfach nicht verstanden, wenn man ihr gesagt hätte, es sei gar nicht Gottes Wille, daß ein Eheweib bloß dienende und gehorchende Magd zu sein habe. Sie war da grundverschieden von der Marietant und der Meisterin Großkopf, noch vom ganz alten Schlag.
Arbeit und Verdienst gab es hinreichend. Gab es doch genug Füße, die sich in Schuhen und Schühlein schöner machten als ohne. Vom grauen Morgen bis zum Anbruch der Nacht mußte gearbeitet werden. Kürzere Arbeits- und längere Feierzeit gab es nur vom Tage Maria-Lichtmeß, der auf den 2. Februar fällt, weil nach damaligem Brauch vom Lichtmeßtage an nur mehr bei Tageslicht, also vom vollen Tagesanbruch bis zum Eintritt der Dämmerung gewerkt wurde.
Der Köck-Paul hatte also Urlaub und viel Zeit. Der Schuhmeier-Franzl ditto, obwohl sein Urlaub anderer Art war. Der Köck-Paul verfügte außerdem über etwas Taschengeld, mit dem er gerne klimperte, der Schuhmeier-Franzl hätte eins nötig gehabt. Er lief wohl herum, um Arbeit zu finden, suchte auf Bauten und in Fabriken, sie haben aber nirgends auf ihn gewartet. Der Vater Schuhmeier meinte nämlich, daß der Franzl schon zu alt wäre, sich eine neue Lehre zu suchen. Er müsse ans Verdienen denken, um der Familie nicht im Sack zu liegen.
Mit dem Köck-Paul wurde der Franzl bekannt, weil dieser, so oft er fortging, ein Buch unter dem Arm trug. Die Bücher gingen dem Franzl ab. Darum machte er sich an den Köck-Paul heran. Der Köck-Paul schloß gerne Freundschaft mit dem um einige Jahre jüngeren Franzl. Er besaß bisher keinen Kameraden, der ihm die Urlaubszeit verkürzen geholfen hatte. Und deshalb legte er sich oft auf einer Wiese auf den Bauch und verschlang Gedrucktes. Aber er zog menschliche Ansprache den Büchern vor. Und seine Bücher stellte er dem Franzl bereitwillig zur Verfügung.
Es war eine Enttäuschung. Der Bücherschatz des Köck-Paul war außerstande, die Tausende von Fragen, die der Franzl zu stellen hatte, zu beantworten. Von Rinaldo Rinaldini, die Geschichte von Rosza-Sandor und anderen edlen Räubern, die den Reichen nahmen, um es den Armen zu geben, von Indianerhäuptlingen, die heldenmütig lebten und an vergifteten Pfeilen starben, erzählten diese Bücheln. Der Franzl verschlang auch die und bekam einen hochroten Kopf davon, weil er fand, daß es eigentlich das Beste wäre, die, die zu viel haben, um einiges zu erleichtern und das denen, die zu wenig haben, zu schenken, auf daß es keine Armen und keine Not mehr gebe.
Wenn er darüber mit dem Köck-Paul redete, tat dieser einen höhnischen Lacher und sagte wie ein Ganzgescheiter zu einem Ganzdummen: »Hörst, Bua, bist du aber blöd. Arme und Reiche hat's immer 'geben, net, und wirds immer geben. Wer denen Reichen was wegnimmt, wird eing'sperrt, net, und wer denen Armen was gibt, kommt nach Brünnlfeld in 'n Narrenturm, net?«
»Woher weiß man's, daß es so sein muß?« meldete sich die Fürwitzigkeit des Franzls.
»Das bemerk i schon,« fuhr ihm der Köck-Paul ins Wort, »das Pulver hast du net erfunden. Wenn sich wer sein ganzes Leben geplagt hat, net, wie zum Beispiel meine Leut, net, so muß er doch was davon haben, net, das ist doch klar? Zu was braucht man sich dann das ganze Leben plagen, net?«
Der Franzl dachte angestrengt nach: Dann sagte er: »Ja, aber mei Mutter plagt sich auch ihr ganzes Leben, und wie auch noch, und hat gar nix, oft net amal rechtschaffen was zum Essen, warum hat denn die nix davon?«
Jetzt mußte auch der Köck-Paul nachdenken. Das Resultat dieses Denkprozesses war: »Da mußt schon ein G'scheiteren fragen, net, aber eins is sicher, mir werden das net ändern, Gott sei Dank, net?«
Der Franzl klappte zusammen, wie einer, der seine schönsten Träume zerstört sieht.
Der Köck-Paul ging aber gleich zu praktischen Dingen über. »Wann's bei dir z' Haus stier san, i weiß dir a G'schäft.«
»I bin dabei«, meinte der Franzl.
»Mir gehn Finkenfangen, net?«
»Finken? Vogerln? Is das ka Tierquälerei?«
»Aber Tschaperl, mir heben Junge aus die Nester aus, net, und der Vogelkramer gibt uns für jedes Manderl zehn Kreuzer und für a Weiberl fünfe, net? Das is a prima Hacken für uns zwa.«
Der Franzl war schon gewonnen: »Wo müssen mir da hingehen?«
»Oben, in Schönbrunn, hinter der Gloriette, gibt's Buchfinken massenhaft. Zeitlich in der Früh müssen wir dort sein, wenn die Alten auf Futter aus san, net, i kraxel auf die Baum, du machst den Aufpasser, net, und auf ja und na bist a Kapitalist.«
Sie vereinbarten für den nächsten Morgen die erste Geschäftstour und redeten dann von anderen Dingen. Plötzlich gab es dem Köck-Paul einen Riß. Er packte den Franzl am Arm, zerrte ihn mit und sagte während des Laufens: »Komm mit, der Falott is schon wieder in unser Haus 'neingangen. Den fangen mir ab und haun ihn erst windelweich, net, und dann übergeben mir ihm ein'n Wachmann, net?«
»Was denn, wer denn, wie denn?« erkundigte sich der Franzl keuchend im Laufen.
»Der rote Hund teilt schon wieder in unserem Haus Zetteln aus zum Leutaufhetzen.«
»Was für Zetteln?«
»Na so Zetteln von die Sozi, wo drinnen steht, daß s' unzufrieden sein und mit den Reichen teilen sollen. Der g'hört doch g'haut wie a Büffel, net?«
Und sie liefen.
»Warum g'hört er deswegen g'haut,« wollte der Franzl, dem die Untugend der Neugierde eingeboren war, schon wieder wissen, »wissen die Leut net von selber, daß 's ihnen elendig geht?«
Sie waren schon im zweiten Stock. Dort schlich ein Mann herum, mit aufgestelltem Rockkragen, den Hut tief ins Gesicht gedrückt. Wie einer, der Böses im Schilde führt, benahm er sich, vor jeder Wohnung blieb er stehen, äugte ängstlich herum, griff dann rasch in die innere Rocktasche, zog ein bedrucktes Stück Papier heraus und steckte es behutsam, um ja nur kein Geräusch zu machen, zwischen die Türen.
Der Köck-Paul machte sich von hinten an den Mann heran, faßte ihn am Kragen und rief: »Hab i dich endlich, du roter Hund, du arbeitsscheuer Strizzi, du Herrgottschänder, i werd dir geben, die Leut aufhussen ...« und schon klatschte die Hand des Köck-Paul erst auf der einen, dann auf der anderen Wange des Flugzettelverbreiters. Der drehte sich um, holte aus und prompt hatte der Köck-Paul seine beiden Ohrfeigen zurück. Es entstand eine wüste Balgerei. Die beiden Ringer wälzten sich der Stiege bedenklich nahe und schon schien es, als sollten sie, wie ineinander verbissen, die Treppe hinunterkollern. In diesem Augenblick schrie der Franzl, der bisher passiver Zuschauer gewesen: »Halt, halt, aufpassen, die Stiegen ...«
Aus dem einen Knäuel wurden wieder zwei Menschen. Sie erhoben sich und rangierten ihre Toilette. Und jetzt erst konnte der Franzl das Gesicht des fremden Mannes sehen. Es war der Alois Kragel, der Bombenjongleur vom Gärtnerhause in Matzleinsdorf.
Der erkannte seinen einstigen jungen Freund sofort.
»Aha,« meinte er mit verbissener Mundstellung, »du g'hörst auch schon zu der Rass' und Klass'? Haben s' dich auch schon so weit? Na ich gratulier.«
Der Franzl fühlte sich nicht behaglich in seiner Haut.
»I bin nur ganz zufällig da, Herr Kragel,« entschuldigte er sich, »i hab Ihnen nix g'macht.«
Der Bombenjongleur sagte nur noch: »Du verstehst noch nix von der Welt, Jüngling, aber hüt dich und halt ja net mit die Burschoa. Denen geht's an den Kragen und allen denen, die sich von ihnen kaufen lassen. Hüt dich.«
Und er ging wie einer, der seiner Sache sicher ist. Unten beim Haustor stand der Hausmeister und paßte auf den frechen Eindringling. Der Hausmeister vertrat hier die Autorität. Er hieb dem Bombenjongleur mit der Faust auf die Nase, daß Blut daraus spritzte. Der also Mißhandelte durfte sich nicht wehren, mußte froh sein, wenn er nicht auch noch an die K. K. Behörde ausgeliefert wurde. Die Weltordnung hielt sich ihre Kettenhunde und fütterte sie mit abgenagten Knochen von den Tischen der Herren.
»Solche Bekannte hast?« forschte der Köck-Paul.
»Das is der Herr Kragel,« erklärte der Franzl, »wie ich noch ganz klein war und bei der Marietant g'wohnt hab, hat er mir Taubenfüttern g'holfen. Aber jetzt hab ich ihn schon lang net g'sehn.« Er war so feinfühlend zu verschweigen, daß der Herr Kragel auch schon eingesperrt war.
»Hüt dich vor solche Freunderln,« warnte der Köck-Paul eindringlich, »die Verbrecher kommen alle auf 'n Galgen, net, und wer an die nur anstreift, ditto, net? Hüt dich.«
Und er ging wie einer, der seiner Sache noch sicherer ist, weil hinter ihr der Wachmann steht.
Der junge Tag mußte mit der retirierenden Nacht noch fest raufen, um sich Platz zu schaffen, als der Köck-Paul und der Schuhmeier-Franzl aufbrachen.
Sie wanderten dem jungen Morgen entgegen, der sie strahlend begrüßte, und am Ziel schwangen sie sich über eine Mauer in den kaiserlichen Fasangarten, der sich hinter der Gloriette gegen Hetzendorf zieht. Die Sonne war schon aufgegangen in ihrer ganzen leuchtenden Pracht und die Wipfel uralter Baume streichelte behutsam, wie ein gütiger Vater, der sanfte Morgenwind. Das gab ein feierliches Rauschen durch das sattgrüne Laub, durch das sich goldene Strahlen stahlen, die auf dem taufeuchten Grün der Wiesen lustig tanzten, und unter der Erde, im Gras, auf den Ästen und in der Luft erwachte tausendfältiges Leben. Aus Erdlöchern krauchten die Wühltiere und die Käfer hervor, um zu frühstücken, in den Zweigen und im Ätherblau sang und schlug und pfiff und scharrte das bunte Gefieder und weiter drinnen hörte man es in den Büschen knacken, wenn Kleinwild auf die Pirsch ging.
Und dieses Wunder, wohl nur ein winziger Farbenklecks auf der Palette der Schöpfung, gehörte einem, einem einzigen Menschen, dem Kaiser.
Hatte der, der dies alles mit so viel Liebe erschaffen, in der Stunde des Schöpferdranges nur an den einen gedacht?
Der Köck-Paul beschwerte sich nicht viel mit solchen zwecklosen Gedanken. Ihm war das alles Pomade. Er suchte Finkennester. Und weckte den Franzl: »Also los, gehn mir's an, net?« Und unterwies den Neuling im Vogelnesterausheben: »Erst horchen mir auf 'n Schlag von die alten Finken, bevor s´ ausfliegen, net, und wo die Alten den schönsten Schlag haben, dort holen wir uns die Brut, net? Siehst, da droben, die kugelrunden Nester, das san denen Finken ihre. Und daß du a Ahnung hast von der Finkologie, es gibt Doppelschlager, Schmalkalder, dann ein scharfen und ein schlechten Weingesang und halt so, net. Für Doppelschlager kriegt man das meiste.«
»Ja, aber«, wendete der Franzl ein, »die Jungen können doch noch gar net schlagen, wie kennt das der Vogelkramer, was für Schlager so a Finkensäugling einmal wird?«
Der Paul entgegnete branchenkundig: »Kennen kann er´s net, net? Aber wann i ihm sag, das is a solchener, so glaubt er's, weil er mich kennt und weiß, daß i ihm net anschmier, net? Das tu ich auch net, wegen ein andersmal. Ich sag ihm akkurat, das is a guter Schläger und das is a schlechter, wie's wahr is.«
»Nimmt er die schlechten auch?«
»Freilich nimmt er s'. Die zieht er auf, und wenn s' a bissel fett san, werden Brateln draus g'macht, net?«
»Was, Finken werden 'gessen?« frug der Franzl perplex.
»Das hast auch noch net g'hört?« belehrte ihn der Paul, »das Fleisch von die Finken is a Sympathiemittel gegen die hinfallende Krankheit.«
»Grauslich,« schüttelte es den Franzl, »daß die Leut noch immer so abergläubisch san.«
»Siehst,« redete der Paul altklug, »dafür muß es Dumme geben, damit die G'scheiten von der Dummheit leben können.«
»I glaub halt, daß man die Dummen net auswurzen, sondern g'scheiter machen sollt. Das müßt doch gehen. Wann man sich so ein Dummen hernimmt und ihm expliziert, schau, das is dumm und die Dummen lacht man net nur aus, man beutet sie auch aus, so wird er doch...«
»So wird er doch«, fiel ihm der Paul ins Wort, »hergehn und dir eine 'runterhaun, net, und sagen, daß das dich ein Schmarrn angeht und er kann so dumm sein als er will.«
»Das werden mir erst sehn«, blieb der Franzl bei seiner Meinung.
»Weißt, i bin dir a guter Freund«, sagte mit ironischem Unterton der Paul, »und drum wünsch ich dir, du sollst so lang leben, bis der letzte Dumme stirbt. Dann lebst nämlich ewig. So und jetzt lassen wir die Dummheiten, net, und jetzt aufpassen.«
Sie hatten die Schuhe ausgezogen und schlichen von Baum zu Baum.
»Hörst,« flüsterte der Paul, »das da oben ist a gute Familie. Hörst den Schlag? Immer zwei gehörig abgeschlossene Strophen, net? Das san die richtigen.«
Der Franzl paßte gut auf, aber besonders gefiel ihm dieses Handwerk nicht. Da gab es glückliche Vogeleltern, sicher nicht weniger glücklich als Menscheneltern, die werden nun fortfliegen, um für ihre schreienden Kleinen Futter zu suchen, und bis sie zurückkommen werden, wird das Nest leer sein, werden ihre kleinen Vogelherzen so schwer, und das Brüten und alle Pflege und Liebe und Sorgfalt wird umsonst gewesen sein, weil da unten zwei Räuber auf der Lauer waren, die mit dem Liebsten, was so ein Vogelpaar hat, schnödes Geld verdienen wollen. Das behielt der Franzl freilich für sich, denn das wußte er schon, daß ihn sein Spießgeselle nur auslachen würde, wenn er ihm mit solchen Faxen käme.
Sie erwischten steinerweichend schreiende junge Buchfinken, aber auch anderes Vogelzeug verschmähten sie nicht, Amseln, Kohlmeisen und Schwarzblatteln schubsten sie in die Leinwandsackerln, die der Paul mitgebracht hatte.
Der Vogelkramer prüfte jedes Stück sachkundig, bot für dieses Exemplar mehr und für jenes bedeutend weniger und sperrte die armen, in der Freiheit zur Freiheit geborenen künftigen Sänger in leere Käfige. Es waren keine Vögel mehr, es war Ware. Der Paul handelte um jedes Stück langmächtig herum, wollte in jedem Falle mehr haben, als der Handelsmann geben wollte, und begründete seine Forderungen so: »Sie füttern s' a bisserl auf und werden ohne viel Arbeit reich. Mir aber müssen die Viecher unter Lebensgefahr zusamm'fangen, und wann mir von der Behörde erwischt werden, kriegn mir unser Fetten. Und dafür wollen S' uns a Butterbrot geben?«
Für die Begriffe des Franzl machte es eine ganz hübsche Summe aus, die der Paul einsteckte und mit ihm ehrlich teilte. Nur ein wenig gönnerhaft tat er das, wie einer, der Wohltaten übt und dies anerkannt sehen will.
Nach Geschäftsabschluß lud der Paul den Franzl ein, ins Wirtshaus auf ein Viertel Wein mitzukommen. Der Franzl lehnte dankend ab. Das Geld kriegte die Mami. Er nannte es das Bettgeld. Und die Mami war froh, die Nettl brauchte dringend neue Schuhe.
»Daß du nur kein Anstand mit der Polizei hast«, besorgte sie, ließ sich aber gerne und leicht beruhigen.
Sie gingen alle Tage Nester ausheben, der Paul und der Franzl. Der Franzl war aber so eigentümlich. Den Paul interessierte dabei nur das Geld, den Franzl die Lebewesen. Sie haben ihn ja schon im Gärtnerhause den Viechernarren geheißen. Aber er tat mit, weil er sich zu Hause nicht aushalten lassen wollte und weil er sich ein paar Kreuzer beiseitelegen und Bücher kaufen konnte. Die große, weite Welt, die ihm verschlossen war, wollte er vorläufig wenigstens aus Büchern kennen lernen. Von den berühmten großen Städten wollte er lesen, von den Bergen, deren Häupter in die Wolken ragen, von den Wäldern und seinem Getier, das sich gegenseitig auffressen muß, um zu leben, vom großen, schiffetragenden Meer, das zu schauen seine größte Sehnsucht war, und selbst von den Gestirnen über uns, die bei Tag nicht da sind und des Nachts so rätselhaft leuchten und funkeln. Und nicht zuletzt Bücher über den Menschen selbst. Über das Räderwerk in uns, das keine Sekunde stillestehen darf, weil wir sonst umfallen und tot sind, ohne daß es einen Uhrmacher gäbe, der es wieder in Gang bringen könnte; wie sie zusammengelebt haben in grauer Vorzeit und wie das alles so geworden ist, wie es heute ist. Das studierte er, nachdem er tage- und oft wochenlang alle Antiquariate abhausiert, um das Gesuchte zu finden.
Die schönsten seiner piepsenden Gefangenen trug er aber nach Hause. Wo er in der Nachbarschaft einen alten, außer Gebrauch stehenden Vogelbauer wußte, bettelte er sich ihn aus. Und in der Küche der Mami spektakelte es nun von früh bis spät, daß der Vater Schuhmeier seinem ältesten Sohne fast täglich drohte, er werde ihn samt seiner Vogelkramuri hinausschmeißen, weil er sich zu Hause nicht einmal mehr ordentlich ausschlafen könne. Jeder Vogel hatte seinen Namen und der Franzl freute sich wie ein Kind und die Mami und die Nettl mit ihm, wie die Tierchen immer zutraulicher wurden. Und das vielstimmige Konzert, das dieser Vogelgesangsverein gab, war ihnen Ohrenschmaus.
Einmal sagte der Paul zum Franzl: »Heut lassen mir einmal die Vogerln in Ruh, net? Heut gehn mir auf d' Schmelz und schaun den Soldaten exerzieren zu.«
»Warum?«
»Weil mir doch auch bald in den Verein kommen, net, damit mir dann schon was können.«
Sie trabten hinaus auf das große Luftreservoir im Westen Wiens, auf die Schmelz, auf der vormittags unsere wackeren Vaterlandsverteidiger sich im Gewehrklopfen und Marscheinspracken übten, die nachmittags den Frauen mit ihren Kindern und Hunden und Ziegen und Hühnern als Sommerfrische und Weideplatz diente, abends, wenn es dunkelte, die süße Last für immer oder nur vorübergehend verliebter Pärchen zu tragen hatte und wo nachts unheimliche Gestalten schattenhaft geisterten, sich Pfeifsignale gaben, Messer auf Steinen wetzten und mit Luchsaugen nach Opfern zum Abstieren spähten.
Auf dem nördlichen Rande der Schmelz war es schon lebendig. Kommandos wurden geschnarrt, der Boden dröhnte unter dem Kommißstiefeltritt feldmäßig bepackter Soldaten, die Artillerie fuhr Kanonen auf und seitwärts standen die Herren Offiziere auf eigenen Beinen oder saßen auf gesattelten Pferderücken. Es wurde für die Kaiserparade gedrillt.
Die Soldaten schwitzten und die geschniegelten Herren Offiziere rauchten Zigaretten und kokettierten mit den prachtvoll modellierten Ottakringer Mädeln, die sich im zuschauenden Publikum befanden. Diese Vorstadtmädeln fühlten sich beglückt und begnadet, wenn ein Herr Leutnant ein Auge wohlgefällig auf sie zu werfen geruhte, weil sie erstens das feine bunte Tuch und der scheppernde Säbel rebellisch machte, und zweitens, weil das einer aus einer höheren Sphäre war, zu der die von Ottakring und Umgebung damals noch ehrfürchtig aufblickten. Da schmolzen sie hin wie Wachs und die Herren Leutnants, denen der Kaiser nicht zuletzt der Mädel wegen so schillerndes Gefieder gab, hatten leichtes Spiel und konnten mitten im Frieden die schönsten Siege erringen.
Der Franzl und der Paul setzten sich ins zertretene und zerliebte Gras und schauten zu, wie sie die Kaiserparade und zugleich den nächsten Krieg vorbereiteten. Es war wie auf dem Theater. Man durfte nur nicht hinter die Kulissen schauen, denn dann verflog der Zauber. Natürlich nur für die, denen kommandiert wurde, für die, die kommandieren durften, blieb es immer schön.
»Wenn aber kein Krieg mehr kommt,« sagte der Franzl zum Paul, »dann is die ganze Plag umsonst und das viele Geld, was das kost, auch.«
»Bimpf,« bemitleidete ihn der Paul, »glaubst, das Militär is nur für 'n Krieg da?«
»Zu was denn?«
»Zu unserm Schutz. Wann die Hungerleider, so wie dein Bekannter einer is, den i neulich g'salzen hab, frech werden und zum Teilen anfangen wollen, kriegen s' von denen da blaue Bohnen, daß ihnen der Neid und das Atemschöpfen vergeht, net? Dazu zahln mir ja so viel Steuer.«
»Schau amal dort hin, bitt dich, schau amal dort hin,« rief später aufgeregt der Paul und zeigte mit dem Finger nach dem Platze, wo die Herren Offiziere beisammen waren, »siehst den einen Leutnant, der dort, der Lange, wie er zu dem Madel dort, net, was den Sonnenschirm aufg'spannt hat, hingangen is, und wie er in sie 'neinredet. Die machen sich was aus.«
»Ein Rendezvous? I hab auch schon bemerkt, daß die Offizier bei die Weiber mehr Glück haben als Zivilisten«, verriet der Franzi schmunzelnd sein Wissen um diese Dinge.
»Weil s' blöd san, die Frauenzimmer,« konstatierte der Paul, »nachher sitzen s' da mit 'n Klapetz und müssen sich erst hinterher ein Vater dazu suchen, der sein Stammhalter fertig ins Haus geliefert kriegt.«
Der Paul fuhr fort: »Mir haben z' Haus auch unser G'frett mit meiner Schwester, mit der Gisl, auf die müssen mir aufpassen wie die Haftelmacher. Erst unlängst hab i s' auf der Mariahilferstraßen erwischt, die dumme Urschel. Mit ein Dragonerleutnant is sie eing'hängt daherstolziert, a Baron soll er sein und in Geld soll er nur so schwimmen. I hab's dem Vater g'sagt, das muß ich doch, net, i bin doch der Bruder, und da hat s' ihrn Teil kriegt, daß s' drei Tag net die Augen aufbracht hat. G'heult hat s', daß im Zimmer bald a Überschwemmung g'wesen war, und sie hat ihm so gern, hat s' g'schluckt und er wird s' heiraten, der Herr Baron die Schusterstochter, wie im Kaiser-Joseph-Roman. Jetzt därf s' nimmer allein fort und drum trotzt s', das Nockerl.«
»Die Gisl?« frug der Franzl und brachte schier den Mund nicht mehr zu. Die Gisl? Die auch? Die hat er immer für das Feinste und Unnahbarste gehalten und sie hatte er sich nie anzureden getraut, trotzdem in ihm immer etwas los war, wenn er sie sah, ein halb freudiges, ein halb banges Gefühl, und so warm war ihm immer nachher und er wußte es nicht zu deuten. War er von ungefähr in ihrer Nähe, wollte er davonlaufen, sah er sie nicht, zog es ihn zu ihr. Und er traute sich kaum, sie zu grüßen, weil er meinte, sie mit seinem Proletengruß zu entweihen. Schon in mancher Nacht hat er wachend von ihr geträumt.
Und jetzt hörte er das da. Sein Heiligenbild lag im Staub. Er mühte sich, sie vor sich zu entschuldigen, sie zu begreifen, um das Bild wieder rein zu kriegen.
Ein Brüllen rief ihn in den Vormittag und auf die Schmelz zurück. Die Kiebitze, die im Grase saßen oder halb lagen, sprangen auf und drängten der Stelle zu, wo es den Krawall gab.
Einer von der Artillerie muß gepatzt oder sonst was getan haben. Ein Unteroffizier stand vor dem Mann, stieß mit seiner Nase an die des Sünders und schrie, daß ihm die Augen herausquollen: »Kerl, steh net da wie a Spatzenschrecker, stier mich net so blöd an! Habtacht! Verstanden? Habtacht! Dich werd ich karniffeln. Du Urtepp, der unserem Kaiser für nix und wieder nix das Brot wegfrißt. Dich laß ich wippen, bist d' auf die Knie Hühneraugen kriegst. Eins – zwei – auf – nieder – auf – nieder – was tust, brummen tust? Da hast fürs Brummen.« Und zum Entsetzen der Zuschauer hieb der Unteroffizier dem Gemeinen mit der Faust auf den Mund, Blut rann heraus, und der Mann fiel hin wie ein Stück Holz. Alle waren entsetzt, aber niemand wagte sein Entsetzen zu äußern.
Der Franzl zitterte vor Erregung und wendete sich an den Paul: »Teufel noch einmal, darf denn das sein?«
Der Paul war viel ruhiger und antwortete: »Ja, das is der k. k. Zwirn, mein Lieber, net? Nur so kommt a Disziplin unter die Klacheln. So verschaffen sich die Oberen vor die Unteren Respekt. Und ohne den geht's amal net, net?«
Der Franzl sagte absichtlich laut: »Wenn i bei den Verein wär und so ein Stehaufmandel mir das tät, der könnt sein Testament machen.«
Der Paul stupfte seinen fürwitzigen Freund in den Bauch. »Bist net ruhig, wenn dich wer anzeigt, kannst ein paar Jahrln bei Wasser und Brot über Patriotismus nachdenken, net?«
Inzwischen waren einige Offiziere auf den Schauplatz der aufregenden Handlung geeilt und fuchtelten dort mit den weißbehandschuhten Händen herum.
»Jetzt kriegt aber der Schinderknecht sein Teil«, freute sich der Franzl.
Der »Schindersknecht« stand vor den Offizieren stramm, rapportierte etwas und dann wurden zwei Mann herbeigerufen, die den halb Ohnmächtigen aufhoben, zu einer der Kanonen schleppten und ihn an das Rad der Lafette so anbanden, daß er auf den Zehenspitzen stehen mußte. Das nahm sich von weitem aus, als wäre wieder einer ans Kreuz geschlagen worden. Die Zuschauer murrten. Aber so, daß keiner etwas gesagt haben konnte.
»Und das darf sein? Das darf sein?« schrie der Franzl empört, »und da schauen so viel erwachsene Menschen zu und keiner geht hin und haut die Bestie nieder? Wann keiner hingeht, geh halt i...«
Und allen Ernstes wollte er hinrennen. Der Paul erwischte ihn noch rechtzeitig am Hosenboden und zog ihn zurück. Gleichzeitig kamen im Laufschritt Soldaten mit vorgehaltenen Gewehren und drohenden Bajonetten darauf und vertrieben die Zivilisten gegen den Schmelzer Friedhof zu. Und noch immer hing einer am Kreuz...
»Hörst,« sagte auf dem Heimweg der Paul zum Franzl, »hörst, du bist aber ein narrischer Kerl. Was regst dich denn so auf? Dafür is das doch das Militär, net?«
»Aber der arme Kerl is doch auch a Mensch...«
»Beim Militär gibt's keine Menschen, beim Militär gibt's nur Material. Das wirst schon begreifen lernen.«
»Das werd i nie begreifen,« bockte der Franzl, »wenn einer a Katz so martert, wird er wegen Tierquälerei eing'sperrt...«
»Aber wirst dich schon beruhigen, wie sich noch jeder beruhigt hat«, schnitt der Paul diese zwecklose Debatte ab und begab sich in die Tabaktrafik, wo er fünf Dramazigaretten einhandelte und davon eine dem Franzl anbot. Das war dessen erster Rauchversuch. Die erste Zigarette, wenn diese auch noch dazu von der billigsten Sorte ist, tut immer üble Wirkung. Und so drehte sich vor dem Franzl, gleich nach den ersten Zügen, die Häuser, die Wagen und die Menschen und er wurde käsebleich und warf die halbe Giftnudel weg.
»Meine Herrn, is mir schlecht«, gestand er dem Paul, was aber bei diesem keineswegs Mitleid, sondern innige Schadenfreude auslöste.
So waren sie vors Reithofferhaus gekommen. Vor diesem stand, sonntäglich geputzt und zum Hineinbeißen appetitlich das Fräulein Gisela Köck, die Gisl. Und gerade jetzt war dem Schuhmeier-Franzl so sterbenselend, daß er hätte heulen mögen und alles, sogar die Gisl, nur wie durch einen Schleier sah.
»Ah,« begrüßte sie der Bruder Paul und gab seinen Worten einen ironischen Unterton, »das gnädige Fräulein geruht auszugehn? Wer is denn heut der Glückliche, wenn ein ganz ordinärer Schuster fragen därf?«
»Kümmere dich um deine Sachen, ja?« verwies ihn das gnädige Fräulein höchst ungnädig.
»Wo du hingehst, will i wissen«, frug der Paul nochmals, diesmal schon strenger.
»Schmecks hab ich heut noch nicht g'sagt«, gab die zur Antwort. Es gab und gibt Exemplare unter der Weiblichkeit, die anzuschauen sind wie überirdische Wesen, für die diese Welt zu rauh ist – solange sie nicht den Mund aufmachen. Tun sie ihn auf, werden unterirdische Wesen draus.
Das gab der brüderlichen Autorität des Köck-Paul einen derben Stoß.
»Wann du net auf der Stell umkehrst und 'naufgehst,« herrschte er das überirdische Wesen wütend an, »leg i dich vor alle Leut übers Knie, du Offiziersschlamperl du. I werd dir helfen mit die uniformierten Pflastertreter auf 'n Strich gehn.«
Da versetzte die Gisl ihrem Bruder eine Maulschelle: »So, da hast, du ordinärer Kerl du.«
Das konnte sich der Paul natürlich nicht bieten lassen. Schließlich war er ein Mann. In seiner ganzen Größe wollte er sich auf die schlagfertige Gisl stürzen. Aber da wurde der Franzl, der während dieser idyllischen Familienszene an die Mauer gelehnt stand und verzweifelt mit seinem herausdrängenden Mageninhalt kämpfte, nüchtern, ganz nüchtern. Er warf sich zwischen das Geschwisterpaar und deckte die Gisl mit seinem Leibe. »Pfui, schäm dich,« donnerte er dem Paul ins haßverzerrte Gesicht, »ein Mäd... eine Dame schlagen. Das duld i net, das is niedrig.«
Jetzt war er ein Ritter, der eine Dame – bald wäre ihm das für dieses Objekt zu banale Wort: Mädel herausgerutscht – beschützen konnte. Noch dazu die Dame, die sein erstes Herzklopfen verursacht hatte.
Das versetzte den Paul in noch größere Wut. Er packte den Franzl an der Hemdbrust und zerrte ihn weg, um das Ziel für seine hiebbereite Faust freizubekommen. Doch als es endlich gelang, die lebendige Mauer fortzuschieben, war dahinter – nichts mehr. Die Gisl war hinter des Schuhmeier-Franzls breitem Rücken – abgefahren.
»Na wart nur, wannst z' Haus kommst, freu dich, heut sag i's aber dem Vater«, drohte der Paul nach allen vier Windrichtungen. Wendete sich dann an den Franzl und sagte kurz: »Geh mit 'nauf.«
Der lehnte indes wieder an der Mauer und hauchte wie ein Sterbender. »Meine Herrn, is mir schlecht.«