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Der Schuhmeier fährt nach Wagstadt in Schlesien zu einer Volksversammlung. Diesmal nimmt er die Frau Cilli mit, die Kinder bleiben bei der Großmami. Ganz Wagstadt ist auf den Beinen, um den Franzl zu hören, den sie noch als ruhigen, schlichten Burschen gekannt und der seither ein so großer Mann geworden. Die Frau Cilli meint auf der Heimreise: »Alles schön und gut und es freut mich und ich bin stolz, aber a bisserl mehr Ehemann und Vater könntest doch auch sein.«
»Bist arm, ich seh's ein,« begütigte sie der Schuhmeier, »aber die Maschin hat mich und läßt mich nimmer aus.«
Nach Wien zurückgekehrt, ging er wieder einige Strafen absitzen. Schon im Jänner 1896 stand er abermals vor dem Kadi. Wegen einiger Streiflichter in der »Volkstribüne« war er angeklagt wegen Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung, Verletzung der Ehrfurcht gegen den Kaiser und wegen Aufreizung zu Haß und Verachtung wider einzelne Organe der Regierung. Nicht zu wenig auf einmal.
Verteidigt von Dr. Ornstein, wurde der Schuhmeier in geheimer Verhandlung freigesprochen. Dann gleich wieder, weil er der Gewerbegenossenschaft Hamburg vorgeworfen hat, daß es mit ihrer Kassengebarung stinkt. Trotzdem die Geschworenen aussprachen, daß der Schuhmeier im guten Glauben richtig informiert zu sein, gehandelt habe, wurde er zu 14 Tagen mit zwei bitteren Fasttagen verdonnert. Er eröffnete nun in der »Volkstribüne einen rücksichtslosen Kampf gegen den Pressestaatsanwalt Hawlath, den er einen Gedankenscharfrichter hieß.
Auf dem Parteitag zu Prag wurde Schuhmeier in die Parteivertretung gewählt, wobei er von allen Gewählten die meisten Stimmen – 78 – erhielt, – Victor Adler sogar bekam nur 76 Stimmen – und zum Reichsparteisekretär bestellt. Damit war er einer der einflußreichsten Männer in der Partei geworden.
Wenn er jetzt als Redner auftrat, schrieb das christlichsoziale »Deutsche Volksblatt« regelmäßig: »Als Referent sprach der wohlbezahlte Parteisekretär Schuhmeier, der, wie gewöhnlich, die Backen voll nahm.« Gleichzeitig behauptete dieses Blatt, wie die Redner seiner Partei in den Versammlungen, daß er 300 Gulden monatlich aus blutigen Arbeiterkreuzern herauspresse. Als er nachwies, daß er bloß 14 Gulden wöchentlich beziehe, verstummten diese Lügen allmählich.
Anläßlich seiner Bestellung zum Parteisekretär schied der Schuhmeier aus der von ihm gegründeten »Volkstribüne«. Sehr ungern. Er blieb ihr dennoch verbunden und lieferte für jede Nummer auch jetzt noch einen Artikel.
Um diese Zeit trat er entschieden für die Landagitation ein. In der »Volkstribüne« hatte er eine ständige Rubrik »Sozialistische Bauernstube« errichtet. Er hatte als einer der ersten erkannt, daß nach der Bevölkerungsstruktur in Österreich gegen die Landarbeiter und kleinen Bauern ebenso wie gegen die Kleingewerbetreibenden an eine Übernahme der Macht nie zu denken sei.
Die Simmeringer Hauptstraße, die zur Endstation unserer Lebensreise, zum Zentralfriedhof, führt, ist wohl der trostloseste Verkehrsweg Wiens. Von niederen alten Hütten flankiert, gleicht sie einer Dorfstraße ohne Farbe, ohne Leben. Vieleicht stimmt sie uns deshalb so melancholisch, weil man immer denken muß: »Hier wirst du auch einmal mit den Füßen voraus zur Grube gefahren werden.«
Im Quatsch des Märzenschnees, bei grauem Himmel und grauer Stimmung ist diese Straße der Toten noch düsterer als sonst. Heute, am Sonntag, den 15. März 1896, aber hat sie Leben und Farbe. Ein unendlich langer Heerwurm zieht zum Friedhof hinaus und aus ihm leuchten Kränze aus bunten Blumen und mit blutroten Schleifen. Schweigend marschieren sie, ein Meer von Köpfen, aber in allen der gleiche Gedanke. Die Männer und Frauen haben rote Nelken aus Papier angesteckt.
Wie alljährlich um den 13. März herum wallt jener Teil der Wiener Arbeiterschaft zum Grabe der Märzgefallenen, der schon zu eigenem Leben erweckt wurde, der sich nicht mehr stupid vor dem Stirnrunzeln seiner sogenannten Brotgeber und den öffentlichen Gewalten in seine Löcher verkriecht, sondern zeigt, daß er da und gewillt ist, seine Rechte an das Leben zu reklamieren.
Seit die Gebeine der Achtundvierzigeropfer, die ursprünglich auf dem Schmelzer Friedhof beerdigt waren, auf dem Zentralfriedhof unter einem feierlichen Obelisken ruhen, zogen an einem Märzsonntag von Jahr zu Jahr immer größere Massen hinaus, um sich trotzig zu diesen Märtyrern der Freiheit zu bekennen. Um die Unvergeßlichen, die für das Volk gestorben sind, zu ehren, sind die Volksmassen nicht etwa mit der Straßenbahn hinausgefahren. Von überall her, von Margareten ebenso wie von Döbling und Ottakring und Floridsdorf sind sie den endlosen Weg zu Fuß gewandert und haben sich bei der Marxerlinie zu einem einzigen Zuge vereinigt.
Die stärkste Gruppe im Zuge stellten, wie immer, die Ottakringer. Vom Sitz des Wahlvereines in der Lindauergasse sind sie ausgezogen, an der Spitze ihr Führer Franz Schuhmeier. Wie er seiner Schar voranschritt, den hageren Leib in den Havelock gehüllt, den braunhaarigen Revoluzzerhut auf dem Haupte, den Blick einladend auf Gleichgestimmte und herausfordernd auf frostig Zugeknöpfte werfend, – jeder wußte gleich: das ist ein Mann aus einem Guß und der weiß, was er will, und dem muß man glauben, was er sagt, mag man sich noch so dagegen wehren.
Die Ottakringer marschierten. Sonst ging es über Thalia-, Lerchenfelderstraße durch die Lastenstraße und über den Rennweg nach Simmering. Heute wurde bekannt, daß die Lerchenfelderstraße bespickt sei mit Polizei zu Fuß und zu Pferd. Pickelhaube an Pickelhaube glänzte. Sie mußten aufpassen, ob nicht rote Fahnen mitgetragen wurden, die als staatsgefährlich galten, ob die vorgeschriebenen Viererreihen eingehalten wurden, und sollten überhaupt einschreiten, damit das Volk nicht vergesse, daß es einen strengen Vormund habe.
Bei dieser Nachricht blitzten die Augen Schuhmeiers keck auf. Zum Freund und Kampfgefährten Albert Sever sagte er: »Weißt was, Albertl, lassen mir s' warten. Wenn's ihnen zu fad wird, nachher gehn s' z'haus und die armen Teufeln sollen auch ihr bisserl Sonntagsruh haben.«
»Gilt schon«, schmunzelte verständnisinnig Freund Sever, schwang seinen Spazierstock, der an Demonstrationstagen zum Feldherrnstabe wurde, und führte den Zug an den verdutzten Gesetzesaugen vorbei durch den 7. Bezirk. Und die Demonstranten sangen:
»Der Staat ist in Gefahr, der Staat ist in Gefahr, der Staat, der niemals sicher war...«
Die Menschenschlange näherte sich ihrem Ziele. »Wer wird denn reden?« wurden die Eingeweihten gefragt.
»Der Franzl.«
Es muß einer schon sehr populär sein, wenn man nicht der »Schuhmeier«, nicht »der Franz«, sondern »der Franzl« sagt und jeder Mensch weiß, wer gemeint ist.
»O je,« bedauerten die Frager, »schad, daß man nur ein Stückerl hören kann.«
Vor dem Obelisk loderten Brandfackeln, Ordner mit Armbinden umsäumten ihn. Rückwärts standen die Sänger. Langsam flutete der Zug vorbei, die roten Nelken aus den Knopflöchern und Mantelausschnitten wurden zu Füßen des Monumentes geworfen.
Auf dem Sockel stand entblößten Hauptes Franz Schuhmeier. Er sprach. Hätte er sich nicht geregt, man hätte das erzerne Standbild eines Tribunen im alten Rom zu sehen geglaubt. Zorn flammte aus seinen Augen und besessen von der Idee, der er Worte verlieh, sprach er:
»Diejenigen, die mit dem Blute der unter diesem Obelisk Begrabenen ihre Macht kitteten, haben diese Taten schon längst vergessen. Das Bürgertum, das sich auf dem Rücken des arbeitenden Volkes und der an dieser Stätte Ruhenden zur Macht emporschwang, hat keine Gefühle mehr für die ersten Opfer der Freiheit in Österreich, die auf dem Straßenpflaster am 13. März 1848 ihr Leben aushauchten. Das Bürgertum hat mit Hilfe der Arbeiter erreicht, was es erreichen wollte, es ist zu Ansehen gelangt und wirkt heute gegen das arbeitende Volk, das um die wahre Freiheit für alle kämpft. Die unter diesem Marmorblock sind lange noch nicht alle Opfer, die das Jahr 48 kostete. Viele Opfer fielen noch durch die Waffen, die das befreite Bürgertum gegen die Freiheitskämpfer erhob. Nach einer Volksvertretung sehnte sich das Volk schon 1848 und für diese und andere Forderungen kämpften die Arbeiter auf den Barrikaden. Aber was errungen wurde, hat das Bürgertum für sich allein in Anspruch genommen. Und es mußten neue Kämpfer erstehen, um dieses Recht auch dem übrigen Volke zu erstreiten. Ein Teil von ihnen ist heute hier versammelt.
Sozialdemokraten! So wie uns der März das Herannahen des Frühlings anzeigt, so kündigen uns jene tausend und abertausend Proletarier, die alljährlich im März an diesem Denkmal ihre Kränze niederlegen, das Herannahen des Völkerfrühlings an. Das Proletarierherz beginnt lauter zu schlagen im Gedanken an die endliche Befreiung. Diese ungezählten Scharen mögen den Herrschenden zeigen, daß der Gedanke an die Freiheit und das ernste Streben, sie zu erringen, im Volke nicht erstickt ist.
Umleget nicht den Ozean
Mit einem Bretterzaun!
Die Schranke, die vor Sturm euch feit,
Ist ein zerbrechlich' Joch.
Ihr wähnt, sie trotzt der Ewigkeit,
Und sie bewegt sich doch!
Diese Worte rufe ich vom Grabe der Märzgefallenen den heute Herrschenden zu. Denen aber, die wir besuchten, deren Gedanke an die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in uns fortlebt, bringe ich ein dreimaliges Hoch! Das Werk, das sie begonnen, wollen wir vollenden!«
Über 30.000 Menschen haben an diesem Märzgang teilgenommen. Für damalige Begriffe eine imponierende Zahl.
Graf Badeni hatte der rechtlosen Arbeiterschaft, wie Victor Adler sagte: »einen Knochen zugeworfen«. Er setzte eine V. Kurie durch, dasselbe was das Ministerium Windischgrätz wollte und worüber es gestolpert ist. Zu den 353 privilegierten Abgeordneten, die blieben, kamen 72 neue hinzu, die in der sogenannten allgemeinen Kurie zu wählen waren. In ihr waren wahlberechtigt alle männlichen Staatsbürger, die das 24. Lebensjahr erreicht hatten und mindest sechs Monate ununterbrochen am Wahlorte wohnten. Wer aus öffentlichen Mitteln eine Armenversorgung erhielt, also wessen Kind in der Schule Armenlehrmitteln, auch nur ein einziges Mal, bekommen hatte, blieb vom Wahlrecht ausgeschlossen. In der V. Kurie waren aber nicht etwa nur die wahlberechtigt, die es in den anderen privilegierten Kurien nicht waren, also die bisher Rechtlosen – nein, – auch die, die in den Städte- und Landgemeindekurien, in den Kurien der Handelskammern und des Großgrundbesitzes wählten, wählten in der V. Kurie noch einmal mit. Es gab also ein doppeltes und dreifaches Wahlrecht. Besser konnten sich die Privilegierten gar nicht mehr vor der »roten Flut« schützen. In der Praxis sah das aus: In der V. Kurie hatten 872 Wählerstimmen so viel Gewicht wie 168 Stimmen in der Landgemeinden-, 46 in der Städtekurie und eine Stimme in der Kurie der Großgrundbesitzer.
Der Schuhmeier sagte zu diesem Machwerk nichts als: »Pfui Teufel«. Dennoch ging die Partei daran, diesen Bettel von einem Recht auszunutzen. Sie bereitete ihren ersten Wahlkampf vor. Zum erstenmal sollte die Arbeiterschaft in Österreich zur Urne schreiten. Für den V. Wiener Wahlkreis, bestehend aus den Bezirken Ottakring, Hernals, Währing und Döbling, den man in der Partei für einen der aussichtsreichen in ganz Österreich, ja für einen absolut sicheren hielt, wurde Franz Schuhmeier als Kandidat aufgestellt.
Sechs Maifeiern waren musterhaft verlaufen, die Beteiligung war von Jahr zu Jahr gestiegen.
Der 1. Mai 1896, der siebente 1. Mai also, ein Freitag, sollte eine Ausnahme machen. Am Vormittag fanden in allen Bezirken Massen- und Branchenversammlungen statt und nachmittags folgte der Gang in den Prater.
Das Etablissement Swoboda im Prater war von der Partei boykottiert worden, weil es seinen Saal für Arbeiterversammlungen nicht hergeben wollte. Beim Swoboda gab es den Fünfkreuzertanz, wo bei Trompetengekreisch die Wehrmacht aller österreichischen Zungen vom Feldwebel abwärts mit dienenden Libussatöchtern so lange Polka tanzten, bis sie sich aus lauter Liebe mit Säbeln und Bajonetten die Schädel einhieben. Außerdem war das Etablissement Swoboda der größte Lieferant des Findelhauses. Als die Arbeiter an diesem Lokal vorbeikamen, begannen sie drinnen provokatorisch eine Polka zu blasen. Hitzköpfe wollten den Saal stürmen und warfen mit Steinen die Fenster ein. Auch aus dem Gasthaus Domansky, das von Arbeitern überfüllt war, flogen Steine. Im Nu war Polizei da, fuchtelte mit Säbeln herum und der Wirbel, der absichtlich arrangierte, war fertig.
Aus dem Gewirre von zivilen und uniformierten Leibern tauchte eine den Arbeitern wohlbekannte Gestalt auf: Franz Schuhmeier.
»Aufhören,« schrien Besonnene, »der Franzl ist da, der wird's schon leimen.«
Der Schuhmeier ging auf den Polizeikommissär zu und forderte ihn energisch auf, die Säbel versorgen und die Polizeimannschaft abziehen zu lassen, da die polizeiliche Einmischung keinen Zweck habe. Bisher seien sechs Maifeiern würdig verlaufen, weil sich eben die Polizei abseits gehalten habe. Dann hielt er einen eben vorbeifahrenden Einspänner an, bestieg denselben und rief in die Menge: »Ich ersuche euch, mir von hier weg in den Prater zum ›Hirschen‹ zu folgen, und zwar treten wir den Marsch an mit dem Lied der Arbeit.«
Das wirkte. Mit wenigen Worten und mit den ihm eigenen Blicken hatte er sie gebändigt und unvorstellbares Unglück verhütet.
»Stimmt an das Lied der hohen Braut...«, so zogen sie zum »Hirschen«.
Aber weiter unten ging's wieder los. Aus einer anderen Ursache. Es lag heute schon in der Luft.
Wieder hieb die Polizei drein und bald war auch Militär da. Ein Bataillon Kaiserjäger und zwei Bataillone Bosniaken. Die Bosniaken, wilde Gesellen von den Felsennestern an der Narenta, die kein Wort deutsch verstanden und sich im Lande der Eroberer ihrer Heimat in Feindesland fühlten, wurden immer losgelassen, wenn es gegen das Volk ging. Die hieben und schossen bedenkenlos und besinnungslos drein. Wußten sie ja nie, warum. Eine unabsehbare Katastrophe drohte. Aber schon war der Einspänner mit dem Schuhmeier-Franzl da, auf den sich auch noch Engelbert Pernerstorfer schwang.
Schuhmeier mahnte nach links, Pernerstorfer nach rechts. Der Wagen setzte sich in Bewegung und fünftausend Menschen, eben noch in ein sinnloses Handgemenge mit Polizei und Militär verwickelt gewesen, folgten wie die braven Kinder.
Der 1. Mai 1896 kostete 19 Verletzte und 42 Verhaftete.
Im Oktober 1896 war er schon wieder wegen Majestätsbeleidigung angeklagt. Ein Omnibuskutscher mußte auf seiner Tour einen k. u. k. Offizier, der mitten auf der Straße stand und nicht ausweichen wollte, zum Beiseitegehen auffordern. Der k. u. k. Offizier zog seinen Säbel und hieb dem Kutscher den kleinen Finger ab. Das Militärgericht sprach den k. u. k. Offizier frei, weil er in Verteidigung seiner besonderen Offiziersehre gehandelt habe und gar nicht anders handeln durfte.
Auf den Fall stürzte sich. der Schuhmeier voll Wut. Und das trug ihm die Klage wegen Majestätsbeleidigung ein. Nach einer glänzenden Selbstverteidigung sprachen ihn die Geschworenen frei. Die besondere k. u. k. Offiziersehre hatte eine Watschen übers feixende Gesicht bekommen.