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Da hinein kamen aus einer ganz anderen Welt der Reumann und der Schuhmeier. Zwei gegen 146. Aber das Bewußtsein, das ganze arbeitende Volk von Wien und dessen Interessen gegen diesen Wall bornierter Feinde unerschrocken und beharrlich vertreten zu müssen, verlieh ihnen Stärke. Sie nahmen ihre Aufgabe ernst. Sie konnten nicht, wie Luegers Marionetten, einfach dasitzen, die Hände hochheben und sich nach dieser Plage zur Stärkung ins feuchtfröhliche Buffet verziehen. Sie waren sich bewußt, daß sie von all den vielen und vielfältigen Dingen, die der Gemeinderat zu behandeln hatte, etwas wissen mußten, wollten sie sich nicht blamieren und sollten sie Erfolge heimbringen können. Deshalb machten sie sich mit Eifer ans Lernen.
Dem Schuhmeier fiel es gar nicht leicht, sich in die Details der vielseitigen kommunalen Angelegenheiten zu vertiefen. Er war nie ein Ressortmensch. Kein Politiker von Format ist Ressortmensch, keiner ist Fachmann, denn der Fachmann ist wieder kein Politiker. Der Politiker muß das Ganze im Auge haben und darf sich nicht an Teile verlieren. Ein solcher Politiker, der das Ganze übersieht, war der Schuhmeier, und trotzdem mußte er jetzt das Schul- und Verkehrs- und Straßenreinigungswesen, die Fragen des Dienstverhältnisses der städtischen Angestellten, der Sonntagsruhe der Handlungsgehilfen, Bau- und Approvisionierungsfragen büffeln, und es gelang ihm und er hat sich nie Blößen gegeben, trotzdem er im Gemeinderat unzählige Male und zu den unmöglichsten Gegenständen reden mußte, zumindest solange sie nur zu zweit waren. Die beiden arbeiteten wunderbar. Wenn der Schuhmeier redete, machte der Reumann Zwischenrufe und umgekehrt.
Das eigenartigste aber war das Verhältnis zwischen dem Dr. Karl Lueger und dem Franz Schuhmeier, dem alternden Volkstribunen von rechts und dem jungen Volkstribunen von links. Der Dr. Lueger haßte die Sozialdemokraten.
Als nach einer Wahl, bei der es den Christlichsozialen gelungen war, den Sozialdemokraten den erwarteten Erfolg wegzuschnappen, Schuhmeier und Reumann den Gemeinderats-Sitzungssaal betraten, begrüßte er sie von der Vorsitzendentribüne mit einem höhnischen »Rrrtsch awidraht«, und dabei schielte er die beiden Sozialdemokraten wie eine Katze an, die mit der Maus noch spielt, sie aber bald mit einem Pfotenhieb umbringen wird.
Nur den Schuhmeier ging er sofort, als er in den Gemeinderat einzog, anders an. Bei dem versuchte er es, wie der Wiener sagt, »mit dem Untermann zu stechen«, dem Schuhmeier kam er katzenfreundlich, weanerisch, biedermännisch, obzwar er diesen roten Hund am liebsten in einem Löffel Wasser ertränkt hätte – vielleicht, weil er sich einige Zeitlang der mehr als trügerischen Hoffnung hingab, diesen ganzen Kerl auf seine Seite hinüberzubringen. Während er den Gemeinderat Reumann wütend anblies, vom Schuhmeier sagte er: »Der Herr Kollege Schuhmeier kann reden und machen, was er will, ich werde ihn nicht ausschließen lassen« und oft wenn er eine Angelegenheit glatt erledigt haben wollte, nahm er vor der Sitzung den Schuhmeier kollegial unter den Arm und redete ihm zu und war auch bereit, in Kleinigkeiten nachzugeben. Aber der Schuhmeier kannte diesen Fuchs. Er ließ sich nicht fangen und nicht schön tun und wußte: da gab es nur Kampf bis zur Vernichtung des einen oder des anderen.
Manchmal freilich fiel der Dr. Lueger auch aus der Rolle und einmal tröstete er die erbosten Seinen so: »Ich bitte um Ruhe, der Reumann und der Schuhmeier werden auch nicht ewig sein. Es wird alles gut werden.«
Gleich in der ersten Sitzung mußte der Schuhmeier in die Arena steigen: Der Vizebürgermeister Dr. Neumayer beantragte in feierlicher Rede, es seien seitens der Gemeinde Wien alle Vorkehrungen zu treffen, um das bevorstehende Fest des siebzigsten Geburtstages des Kaisers würdig zu begehen.
Darauf hielt der Schuhmeier im Gemeinderat seine Jungfernrede. Die Wasteln in den christlichsozialen Banken verdrehten ihre dicken Hälse und spitzten die Ohren. Einen Roten hatten sie noch nie reden gehört, und manche von den Kirchenlichtern glaubten, daß jetzt einer mit Teufelshörnern und einem Pferdefuß aufstehen werde.
Der Schuhmeier sagte zum Gegenstand: »Ich erkläre zunächst, daß es uns nicht einfällt, Ihnen Hindernisse in den Weg zu legen, wenn Sie Ihren Patriotismus bekunden wollen. Aber das eine muß erklärt werden: in letzter Zeit häufen sich derartige Kundgebungen so, daß man endlich auch einmal den Kostenpunkt berühren muß. Bekunden Sie Ihren Patriotismus, wie Sie wollen, aber seien Sie auch davon überzeugt, daß Ihr Patriotismus der Wiener Bevölkerung schon sehr viel Geld gekostet hat.«
Die Wasteln krawallierten. »Därf man denn so was sagen?« frug einer ehrlich erstaunt.
Kaltblütig rief ihnen der Redner zu: »Sie werden sich schon daran gewöhnen müssen, uns zu hören.«
Der Herr Bielohlawek gab diesen Satz von sich: »Gengan S' weiter, Ihna fragt ja niemand.«
Schuhmeier: »Dazu hin ich ja gewählt worden, daß ich die Interessen meiner Wähler vertrete. Ich erlaube Sie darauf aufmerksam zu machen, daß es in Wien noch andere Dinge zu vollbringen gibt, als Feste auf Feste zu veranstalten. Sie geben dem Volke Unterhaltung aber kein Brot.«
In der nächsten Sitzung interpellierte er wegen der Dienstverhältnisse der Lagerhausarbeiter. Die Majorität ging in Saft und warf dem Redner vor, daß er die städtischen Arbeiter gegen ihre Brotgeber, die Gemeinde Wien, aufhetze.
Gemütlich lachte der Schuhmeier die Majoritätler oder, wie er das sagte, die Rathäusler, an: »Nichts für ungut, meine Herren.«
Dr. Lueger apostrophierte ihn vom Bürgermeisterstuhl aus: »Sie sind ja in gemütlicher Mensch, nur manches Mal geht's mit Ihnen durch. Wir sind ja beide Wiener und werden uns gegenseitig nichts tun.«
Einmal meinte der Dr. Lueger in öffentlicher Sitzung augenzwinkernd: »Wenn speziell einer meine Sympathien hat, obwohl er immer über mich schimpft, so sind Sie es, Herr Schuhmeier.«
Der Schuhmeier winkte ebenso augenzwinkernd ab: »Aber Herr Bürgermeister, Sie wollen mich damit ja nur kompromittieren.«
Der Dr. Lueger war nicht immer jovial. Gar nicht selten kam die Spießerbösartigkeit zum Vorschein.
Als in einer Gemeinderatssitzung die Ausspeisung armer Schulkinder und deren Beteilung mit Lernmitteln verlangt wurde, fuhr er los: »Arme Leute hat es früher auch gegeben, ich selbst bin ein Kind armer Eltern. Es hat in früherer Zeit auch keine achtstündige Arbeitszeit gegeben, sondern die Arbeiter haben sich von früh morgens bis spät in die Nacht plagen müssen. Wissen Sie aber, was es gegeben hat? Und da spreche ich aus meiner Erfahrung. Es hat Ehrgefühl im Volke gegeben. Meine Eltern hätten sich geschämt, wenn sie geschenkte Bücher für ihren Buben hätten nehmen müssen. Wenn man meiner Mutter zugemutet hätte, daß ihr Bub sich hätte öffentlich ausspeisen lassen sollen, ich glaube, meine Mutter wäre darüber sehr entrüstet gewesen.«
Zornrot rief ihm der Schuhmeier zu: »Geben Sie den armen Kindern halt Rattengift.«
Bald darauf referierte der Stadtrat Tomola über einen Nachtragskredit von 140.000 Kronen zur Beteilung armer Schulkinder mit Lernmitteln.
Da ging der Schuhmeier ins Zeug: »Vor nicht zu langer Zeit, wo wir für die Erhöhung der eingestellten Summe sprachen, hat einer Ihrer berühmtesten Männer – hier im Zentrum sitzt er – (zeigt auf den Gemeinderat Bielohlawek) – erklärt, er glaube, daß jeder von uns ein Herz hat, aber ihm schienen 200.000 Kronen zu genügen, und er hat darauf hingewiesen, daß der Gemeinderat nicht die Stätte ist für sozialdemokratische Phrasen, sondern für Wahrheit und Recht. (Rufe: Sehr gut.) Sie rufen: Sehr gut. Hören Sie, was nun gekommen ist! Der Herr Bürgermeister hat in derselben Sitzung, wo wir für die Erhöhung der eingestellten Summen gesprochen haben, die Liebenswürdigkeit gehabt, – von seinem Standpunkt aus liebenswürdig, uns ist das absolut nicht erklärlich – zu erklären, daß er auch der Meinung sei, es wäre nicht notwendig, diese Summe zu erhöhen, und er hat sich damals darüber beschwert, daß in dieser Beziehung kein Ehrgefühl mehr vorhanden sei. Der Herr Bürgermeister hat ausdrücklich erklärt, es gebe Ehrgefühl im Volke, und es klang seine Rede so, als ob er der Meinung wäre, wir verlangen deshalb mehr Geld zum Ankauf von Lernmitteln für die armen Kinder, damit das Ehrgefühl sinke. Der Herr Bürgermeister hat damals darauf hingewiesen, daß seine selige Mutter oder sein Vater es nie geduldet hätten, wenn ihr Bub jemals hätte mit Büchern beteilt werden müssen. Es war seither keine Gelegenheit, im Gemeinderat darüber zu sprechen, aber der Herr Bürgermeister sowohl als auch Sie, meine Herren, haben gehört, daß ein Schrei der Entrüstung darüber laut wurde, als der Herr Bürgermeister sich unterfing der Meinung Ausdruck zu geben, daßp kein Ehrgefühl mehr in der Bevölkerung existiere. Die Beteilung der Kinder mit Lernmitteln hat mit dem Ehrgefühl der Bevölkerung nichts zu tun. Pflicht der Gemeinde ist es, zu sorgen, daß die Kinder die notwendigen Lernmittel bekommen.«
Dr. Lueger bestritt hierauf, der Bevölkerung Ehrgefühl abgesprochen zu haben. Ehrlos seien bloß die, die für ihre Kinder sorgen können und die öffentliche Mildtätigkeit in Anspruch nehmen. Ehrlos sei es, wenn die Bevölkerung verleitet wird, die öffentliche Mildtätigkeit in Anspruch zu nehmen.
Ein so meisterhafter Volksredner in großen Versammlungen der Schuhmeier auch war, wenn er im Gemeinderat und auch noch später im Parlament zu Gegenständen zu sprechen hatte, wozu sachliches Wissen nötig war, hatte er es oft mit dem Lampenfieber. Jede solche Rede bereitete er gründlich vor, informierte sich, studierte nächtelang Bücher und Fachzeitschriften, machte sich Notizen, und ehe er in der Sitzung drankam, konnte man ihn hinter den Bankreihen ziemlich aufgeregt auf- und abgehen und immer wieder in den Notizzetteln blättern sehen.
Der Schuhmeier stellte die Anfrage, warum die Professionisten der Straßenbahn keine Lohnerhöhung gleich den übrigen Straßenbahnbediensteten bekommen hatten: Der Herr Bielohlawek plauderte ungeniert aus: »Warum für die Professionisten nichts geschieht? Weil die immer schon a rote Rass' waren.«
Der Schuhmeier rief dazwischen: »Das war wieder ein echter Bielohlawek.«
Bielohlawek: »Rass' ist doch keine Ehrenbeleidigung.«
Schuhmeier: »Dann seid's ihr auch eine Rass', wenn es keine Ehrenbeleidigung ist.«
Bei einer anderen Gelegenheit bekam wieder das Fahrpersonal der Straßenbahn keine Lohnerhöhung. Der Bürgermeister meinte, die kriegten ohnehin genug Trinkgelder.
Dazu sagte der Schuhmeier: »Lueger hat auf das Trinkgeld verwiesen, sogar auf das der Schusterbuben. Aber ein Bürgermeister darf doch den Grundsatz nicht proklamieren, daß eine Amtsperson, ein ausgedienter Militär, auf die Wohltat eines Schusterbuben angewiesen sein soll. Sehen Sie, der die Straßenbahner auf die Kreuzer der Schusterbuben verweist, das ist derselbe Mann, der vor zwei Jahren vom Ehrgefühl sprach, das die Eltern abschrecken soll, für ihre Kinder auch nur die unentgeltlichen Lernmittel zu nehmen. Bei den Tramwayleuten aber weiß der Lueger vom Ehrgefühl nichts. Die werden ihre Ehre nur wahren und ihr Recht erreichen, wenn sie es sich erkämpfen.«
Im Mai 1903 sagte der Dr. Lueger bei der Beratung der Dienstordnung für die Straßenbahner: »Jeder muß erklären, daß er ein kaisertreuer und gut österreichisch gesinnter Mann ist und nicht einer Partei angehört, die republikanischen Tendenzen huldigt. Jeder, der republikanischen Tendenzen huldigt, wird rücksichtslos und nachsichtslos entlassen. So ist es meine Pflicht, Österreich ist eine Monarchie und die Republikaner sollen in eine Republik gehen. In einer Monarchie haben sie nichts zu suchen.«
Dem Dr. Lueger war das Antimonarchistische nicht so wichtig, als das Antikapitalistische, aber es klang schöner und die Dummen kapierten noch weniger, wenn der schwarzgelbe Patriotismus herausgestrichen und die roten Republikaner als Landesverräter angeprangert wurden.
Der Schuhmeier erwiderte dem Bürgermeister: »Durch diese Bestimmung berauben Sie die Tramwaybediensteten ihrer freien Meinungsäußerung. Das Gesetz gibt das Vereins- und Versammlungsrecht; nach Ihrer Meinung nur christlichsozialen Vereinen und Versammlungen. Nach dem Gesetz hat jeder das Recht, seine Meinung frei zu äußern.«
Dr. Lueger ruft dazwischen: »Wo steht denn das, daß einer Tramwaybediensteter werden muß?«
Schuhmeier: »Wo steht denn, daß das Gesetz für Tramwaybedienstete nicht gilt? Sie tun, Herr Bürgermeister, als ob Sie ein Anhang zum Staatsgrundgesetz wären, zum Glück ein noch nicht herausgegebener Anhang. Nach meiner innersten Überzeugung ist es ein Gewaltakt, den Sie da vollführen. Sie werden damit unserer Partei nicht schaden und Ihrer nicht nützen. Sie werden bloß das eine erreichen, daß man lachen wird über die Mittel, die Sie anwenden, um Ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten.«
Tatsachlich mußten die Tramwaybediensteten nach der Verstadtlichung der Tramway, ehe sie in den städtischen Dienst übernommen wurden, das schriftliche Gelöbnis ablegen: »Ich gelobe mit meinem Ehrenworte, Seiner Kaiserlichen und Königlichen Apostolischen Majestät Franz Josef I. und Allerhöchsten Nachfolgern aus dem durchlauchtigsten Hause Habsburg-Lothringen getreu und gehorsam zu sein, der Stadt Wien Ehre und Vorteil nach allen meinen Kräften zu befördern und jeden Nachteil davon abzuwenden. Ich erkläre weiters mit meinem Ehrenworte, daß ich einer Partei, welche republikanische oder sonstige österreichfeindliche Tendenzen verfolgt, weder angehöre, noch angehören werde.«
Die städtischen Angestellten wurden ohnehin nur angestellt, wenn sie als vollkommen parteiverläßlich bekannt und von zehn Bezirksmachern empfohlen waren, außerdem aber wurden sie bespitzelt, ihres Rechtes auf freie Meinungsäußerung auch im Privatleben beraubt und es wurde ihnen ein massiver Maulkorb umgehängt.
Als der Schuhmeier eine Versammlung der städtischen Lagerhausarbeiter einberief, ließ sie der Herr Bürgermeister wissen, er wünsche es nicht, daß sie hingingen, und sie gingen nicht hin.
Straßenbahner wurden über Nacht entlassen, weil sie gesehen worden sind, wie sie in ihrer dienstfreien Zeit die Arbeiter-Zeitung gelesen haben, wurden entlassen, weil sie bei einer Dilettantentheatervorstellung mitgewirkt haben, die auf der Bühne des Arbeiterheims Favoriten stattfand.
Zu allen Wahlen wurden sie, wie wir schon vernommen haben, wie Schafherden getrieben, und da hat der Lueger noch den Mut gehabt, in Beantwortung einer Interpellation Schuhmeiers wegen Ordnungswidrigkeiten bei Verwendung des Personals in den Unterstationen des Elektrizitätswerkes gereizt zu drohen: »Ich wünsche, die städtischen Arbeiter mögen sich das Wohlwollen, das ihnen die Rathausmajorität entgegenbringt, nicht verscherzen.«
Der Bürgermeister ließ sich vom Gemeinderat wieder hohe Summen für Bankette und Empfänge bewilligen. Schuhmeier spricht sachlich dagegen und weist nach, daß in den letzten 10 Jahren für Feste, Feierlichkeiten, Bewirtungen und Empfänge 3,319.731 Kronen ausgegeben wurden, während die Gemeinde 795 Millionen Kronen Schulden hat. Die Christlichsozialen rufen dazwischen, daß solche Bankette und Empfänge den Wiener Geschäftsleuten zugute kämen.
»Mehr Hirn und weniger Magen wäre für die Geschäftsleute besser«, fertigte sie der Schuhmeier ab.
1905, nachdem die Gemeinde Floridsdorf einverleibt und der XXI.. Wiener Gemeindebezirk geworden war, kommt als dritter Sozialdemokrat Anton Schlinger in den Gemeinderat.
Schuhmeier fordert Schulbäder, Schulärzte. »Freilich, was denn,« meinte der Dr. Lueger, »Schulärzte, was denn net noch alles, damit die jüdischen Doktor die Schulmadeln genau untersuchen können.«
Der Schuhmeier gibt seiner Empörung über eine solche Behandlung einer so wichtigen Frage Ausdruck. Die Mehrheit tobt und verlangt Schuhmeiers Ausschluß.
Da wird der Dr. Lueger wieder der Weaner. »Lassen Sie meinen Freund Schuhmeier reden,« ruft er, »ich schließ ihn nicht aus.«
Das mit dem Ausschließen war so: Da bestand ein Disziplinarausschuß. Wenn der Vorsitzende einen Gemeinderat schon dreimal zur Ordnung gerufen hatte und dieser noch immer nicht kuschte, berief der Bürgermeister den Disziplinarausschuß ein. Der konnte den Übeltäter von dieser und den nachfolgenden drei Sitzungen ausschließen. Tat es auch immer, wenn er angerufen war. Natürlich wurde dieser »Hausknechtparagraph« der Geschäftsordnung nur gegen Oppositionelle angewendet.
Im Mai 1906 war wieder Gemeinderatswahl. Diesmal entsandte der IV. Wahlkörper schon sieben Sozialdemokraten. Die Christlichsozialen erhielten 14 Mandate. Die Sozialdemokraten hatten 98.112 Stimmen, die Christlichsozialen 110.950. Das hieß wieder, die Christlichsozialen erhielten für 854, die Sozialdemokraten für 14.016 Stimmen ein Mandat.
Die Majorität war sehr niedergeschlagen. Die rote Flut schwoll an.
Der Schuhmeier kam etwas verspätet in die erste Sitzung nach der Wahl, mit einer roten Nelke geschmückt und grüßte: »Habe die Ehre, meine Herren, habe die Ehre, Herr Bürgermeister.«
Dr. Lueger: »O, schamster Diener, Herr von Schuhmeier. Ein bisserl spät gekommen, Herr von Schuhmeier. Nur immer rechtzeitig, bitte.«
Schuhmeier: »Man muß doch seine Freunde begrüßen.«
Dr. Lueger: »Freilich, freilich. Aber Sie Herr von Schuhmeier, das Telegramm habe ich nicht bekommen.«
»Nicht meine Schuld, Herr Bürgermeister«, antwortete der Schuhmeier.
Das mit dem Telegramm hatte das folgende Bewandtnis: Der Dr. Lueger wollte seinen »Freund« Schuhmeier gern aus dem Gemeinderat draußen haben. Vor der Wahl sagte er in einer Ottakringer Versammlung: »Die Sozialdemokraten wachsen wie die Schwammerln aber sie vergehen auch wie diese. Ottakringer! Macht's mir a Freud. A Telegramm möcht i am Wahltag kriegen: »Ottakring hat gesiegt.«
Sie haben sich auch ehrlich angestrengt, Luegers Ottakringer, dieses Telegramm abschicken zu können, sie haben nach Noten geschwindelt, aber diese roten Schwammerln waren noch rühriger und noch pfiffiger. Unter Leitung Severs, der bereits Bezirksobmann war, wurde beispiellose Wahlarbeit geleistet und insbesondere wurde – gut aufgepaßt.
Die Wahlschwindler, also die, die mit falschen Legitimationen christlichsozial wählen gingen, gaben sich den christlichsozialen Vorsitzenden der Wahlkommissionen zu erkennen, indem sie auf alle Fragen: »Bitte« oder »Bitte schön« antworteten. In den Wahllokalen hielten sich Genossen auf, die diesen Wahlschwindlern rasch mit der Kreide ein Kreuz auf den Buckel zeichneten. Die bekamen dann auf der Straße zu dem Kreuz noch ihre Hiebe auf den Buckel. Schon gegen Mittag traute sich keiner mehr falsch wählen zu gehen, so daß die vielen vorbereiteten falschen Legitimationen nicht »aufgearbeitet« werden konnten. Auch die Ottakringer Frauen taten diesmal schon mit, indem sie die christlichsozialen Agitatoren mit nassen Fetzen aus den Wohnungen und Häusern jagten.
So erhielt der Schuhmeier 13.760, sein Gegner Spalowsky 7885 Stimmen. Sie konnten das Telegramm an »Ihn« nicht abschicken.
Dafür beschlossen die Roten bei ihrer Siegesfeier bei der »Bretze« dem Dr. Lueger zu depeschieren: »Lumpengruß (bezog sich auf Dr. Luegers ›Lumpenrede‹, die noch ausführlich erwähnt wird) zuvor. Wir konnten Ihnen nicht die Freude machen, unseren Schuhmeier fallen zu lassen. Bitten um Gnade, aber Ottakring bleibt rot. Es empfehlen sich Ihre Schmerzenskinder.«
Leider wollte die Post dieses Telegramm nicht befördern.
In einer Gemeinderatssitzung behauptet der Herr Bielohlawek: »Im Arbeiterheim erscheinen die großen und kleinen Pfeiferlbuben, um die Ausführungen der Herren Dr. Adler, Schuhmeier und Konsorten anzuhören.«
Der Schuhmeier braust auf: »Wenn der Bielohlawek hier aufstehen und behaupten kann, daß Pfeiferlbuben bei unseren Versammlungen anwesend sind, und der Vorsitzende diese Beleidigung anständiger Leute gestattet, dann muß ich erklären, daß solche Lausbübereien sich von selbst richten.«
Diesmal fühlte sich der Dr. Lueger selber getroffen. Er durfte schimpfen und verdächtigen, wollte aber ein Blümchen Rührmichnichtan sein. Der Disziplinarausschuß mußte den Schuhmeier von dieser und den nächstfolgenden drei Sitzungen ausschließen.
Als der Schuhmeier den Sitzungssaal verließ, rief ihm einer von der Galerie nach: »Hutschenschleuderer!«
Der Michel ist auch auf der Galerie gewesen, mit der Karte, die er vom Franzl gekriegt hat. Der hat den, der »Hutschenschleuderer« gerufen hat, ein bißchen gehutscht und ein bißchen geschleudert, wie gesagt, nur ein bißchen, denn als er immer noch wollte, haben ihn zwei bärenstarke Ratsdiener gefaßt, hinausgetragen und der k. k. Polizei zur weiteren Amtshandlung übergeben. Vierzehn Tage Arrest hat dem Michel das gekostet und vorher eine Butten voll Schläge auf der Polizeiwachstube.
Nach einer großen Überschwemmung in Ottakring, bei der viele in alten, niederen Häusern gelegene Proletarierwohnungen unter Wasser standen, die armseligen Einrichtungen zugrunde gingen und viele Familien obdachlos waren, legte der Schuhmeier, unterstützt von Sever, Volkert, David und vielen Ottakringer Vertrauensmännern selbst Hand an, um retten zu helfen, was noch zu retten war. Hernach berief er Volksversammlungen ein, um die große Wohnungsnot, die damals herrschte, und die ein erschreckendes Hinaufschnellen der Mietzinse für die engsten Arbeiterbehausungen verursachte, aufzuzeigen und von der Gemeinde Wien Abhilfe zu verlangen.
Im Gemeinderat sprach er über die Wohnungsnot und sah dabei die spätere Gestaltung des Wohnungswesens voraus. Er sagte: »Wie arg es um die Wohnungsnot in Wien bestellt ist, ist sogar einem Beschluß der christlichsozialen Bezirksvertretung von Favoriten zu entnehmen. Dieser besagt, die letzte Volkszählung habe den Beweis geliefert, daß die Wohnungsverhältnisse im X. Bezirke zur Vornahme einer Reform überreif seien. Vor zehn Jahren waren 29.007 Parteien in 2020 Häusern, heute seien 36.024 Parteien in 2184 Häusern.«
»Die Gemeinde«, fuhr er fort, »soll endlich einmal anfangen, selbst zu bauen, um der Wohnungsnot zu steuern. Ich weiß, daß die verehrten Hausherren des Gemeinderates das nicht vertragen. Sie sind auch gegen die Arbeiterhäuser. Sie schänden dadurch Ihr Christentum, und das, was Sie in Ihrer Partei sozial nennen. In diesem Saale wird lediglich Hausherrenpolitik getrieben. Sie verschleppen geradezu das ganze Gemeindevermögen, ohne sich Ihrer großen Aufgabe bewußt zu sein. Die Frage der Wohnungsfürsorge ist Aufgabe der Gemeinde. Sie sprechen immer von der Heiligkeit der Familie. Sie stehen auf dem Standpunkte: was Gott zusammengefügt, darf der Mensch nicht trennen, aber unter Ihrer Wirtschaft muß die Frau mit den Kindern zu Verwandten, der Mann ins Asyl.«
Wenn man weiß, daß von 138 bürgerlichen Gemeinderäten 79 Stück Hausbesitzer waren, wird man sich nicht wundern, daß diese Gemeindeverwaltung ihre Aufgabe, die Wohnungsfrage zu lösen, die Wohnungsnot zu lindern, beharrlich vernachlässigt hat.
Zur Budgetdebatte 1908 im Gemeinderate schreibt er in der »Volkstribüne«: »Im Wiener Rathaus, das entschieden viel zu kostbar und gut ist für jene Bagasche und das politische Gesindel, das sich dort als die herrschende Partei installiert hat und dessen Räume anderen Zwecken dienen sollten als jenen, zu denen sie heute in Anspruch genommen, mißbraucht und verunreinigt werden, von den Bekannten, Freunden, Vettern, Gevattern, Basen und Nichten der bezeichneten Bagasche, hat sich im Verlaufe der letzten Jahre ein ganz persönliches Regiment herausgebildet. Was die Wiener Hofburg für den Kaiser ist, ist das Wiener Rathaus für Herrn Lueger geworden, der sich in seiner kindischen Eitelkeit gewiß von Gott dazu berufen hält, daß er gleich dem Kaiser ein Hoheitsrecht und eine Hofhaltung haben müsse. Daß unmittelbar nach dem Kaiser Herr Lueger kommt, scheint auch die Meinung der gesamten christlichsozialen Partei zu sein, denn Kaiserbilder werden mit Luegerbildern unter einem als Preise gegeben, einem Hoch auf den Kaiser folgt stets auch ein Hoch auf Lueger. Das Recht auf Dummheit ist in der Luegerei ein uneingeschränktes. Dumm kann jeder sein, so viel er will, dumm kann jeder auch vor Lueger sein, schlecht freilich nur hinter ihm.
Die Gefahr dieses persönlichen Regiments wird größer, je länger dieses besteht und je größer das Budget der Stadt Wien wird. 207 Millionen Kronen verwirtschaftet heute schon die christlichsoziale Majorität, ohne einer ernsten Kontrolle von seiten der Opposition im Wiener Gemeinderat unterworfen zu sein. Mit einer Geflissenheit und Beharrlichkeit wird die Opposition von der Verwaltung und Kontrolle ferngehalten, die nichts Gutes ahnen läßt. Die Opposition ist weder im Stadtrat, noch in den vielen Ausschüssen, die alle wichtig sind, noch in den Komitees, noch in den Kommissionen vertreten. Die Luegerei bewilligt alles für sich in sich. Kein fremdes Auge kann irgendwo überwachen. Die Herren sind überall allein – unter sich.«
Bei einer Budgetdebatte trieben die paar sozialdemokratischen Gemeinderäte Redeobstruktion, weil der Stadtrat Hraba bei Punkt Armenwesen diese Rede hielt: »Es wird jeder von Ihnen wissen, daß das Amt eines Armenrates das unangenehmste Amt ist, welches man haben kann. Die Leute, insbesondere die die der sozialdemokratischen Partei angehören, fordern ja diese Armenunterstützung in der niederträchtigsten frechsten Weise, die man sich vorstellen kann. Ich habe immer meinen Revolver auf dem Schreibtische liegen. Ich möchte nur wünschen, daß die Armenväter uniformiert werden, und jeder soll eine ordentliche Hundspeitsche in die Hand kriegen, damit er sich gegen diese frechen Beschimpfungen und Drohungen gewisser Leute wehren kann.«
Der Dr. Lueger hat diese Obstruktion durch einen Gewaltstreich abgebrochen. Der Schuhmeier rief ihm zu: »Herr Dr. Lueger! Bei Philippi sehen wir uns wieder.«