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Im Juli 1889 beschloß der Internationale Sozialistenkongreß zu Paris, den 1. Mai zum Weltfeiertag der Arbeit zu erheben. Überall sollte die Arbeit ruhen und die Arbeiter sollten für den Achtstundentag, für das allgemeine Wahlrecht und für gesetzlichen Arbeiterschutz demonstrieren. Victor Adler kam aus Paris zurück und rief das österreichische Proletariat auf, zum ersten 1. Mai zu rüsten. Er stand bereits in hohem Ansehen und sein Führeramt wurde kaum mehr bestritten. Zum Führer machte ihn unter anderem auch seine unfehlbare Menschenkenntnis, seine Fähigkeit, Spreu vom Weizen zu sondern und die richtigen Leute an den richtigen Platz zu stellen. Ehe einer in der Partei an verantwortungsvollen Posten kam, mußte er vor das prüfende Auge Victor Adlers, und das hat sich nur selten verschaut. Wer des Doktors Sanktion hatte, zählte und konnte sich, wenn er es nicht gar zu ungeschickt machte, durchsetzen. Der Doktor sah nicht nur auf geistige, er sah gleichermaßen auf menschliche Qualitäten und für Charaktereigenschaften hatte er eine feine Nase. Und darauf hielt er das meiste, ob einer bloß Schönredner, Schwätzer war, der um des Beifalls, des Angestauntwerdens und des Emporkommens willen so redete, wie es sein Auditorium gerne hörte, oder ob einer nur sagte, was er wirklich glaubte, und für jedes gesprochene Wort die volle Verantwortung zu tragen bereit und fähig war. Vielleicht deshalb war er gegen die Akademiker und Ästheten so mißtrauisch.
In diesem Punkte kannte der Doktor kein Kompromiß. Was die Gegner und ihre Behörden sonst über ihn sagten und dachten, nahm er mit überlegenem Achselzucken hin. Aber daß ein Präsidialist im Ministerium des Innern auf einem Polizeibericht über Victor Adler diese Randbemerkung setzte: »Das Strebertum Dr. Adlers, der jetzt als die Seele der sozialistischen Umsturzbestrebungen in Österreich angesehen werden muß, ist bisher ein sehr erfolgreiches, da alle früheren Arbeiterführer sich vor ihm beugen. Daß aber Dr. Adler nichts anderes ist als ein ehrgeiziger Streber, sollte den sozialistischen Kreisen im Wege der Presse zu Gemüte geführt werden. Dieselben würden dann gewiß ganz oder zum Teil sich von Dr. Adler abwenden und wahrscheinlich in die alte Uneinigkeit zurückfallen, welche gewiß weit weniger gefährlich war, als das jetzt geschlossene Auftreten aller Sozialisten, der Gemäßigten, Radikalen und Anarchisten«, das hat ihn, als er davon erfuhr, aus der Fassung gebracht. Hat es aber dann zu den übrigen k. k. Kretinismen gelegt.
Der Doktor war auf den Schuhmeier aufmerksam geworden. Gesehen hatte er ihn zum erstenmal, als er im »Apollo« einen Vortrag hielt. Und damals hat der Entdecker Schuhmeiers, der Schicker-Franz, dem Doktor gegenüber wie beiläufig die Bemerkung fallen lassen, daß dieser junge Mann, der wie zehn Rösser anziehe und der auch nicht wenig im Schädel drinnen habe, aus der Bude herausgenommen und ganz in den Dienst der Partei gestellt werden sollte.
Victor Adler ließ sich den jungen Mann in die Arbeiter-Zeitung kommen. Jungen Leuten, mit denen er etwas vor hatte, begegnete er so, daß sie nicht befangen wurden. Und die Prüfung fiel so schmerzlos aus, daß der Prüfling gar nicht merkte, einer Prüfung unterzogen zu werden.
Der Schuhmeier war keiner von denen, die klein wurden, wenn sie vor einem Größeren stehen. Vor dem Doktor spürte er jedoch so wie jeder andere: der weiß mehr als ich – und vor Besitz und Rang und Namen nie, aber vor dem größeren Wissen und Können beugte er sich. Unterkriegen ließ er sich deshalb nicht. Viel mehr als sonst Proleten, die nicht in hohen Schulen sitzen durften und tagsüber Lohn schinden müssen, wußten, wußte er und über Lücken, die sich zeigten, voltigierte er mit einem eigenen Witz. Der Doktor hat sich bei seinem ersten Zusammentreffen mit dem Schuhmeier köstlich unterhalten. Er entließ ihn mit den Worten: »Wir werden uns ja noch öfter unterhalten«, enthielt sich aber sonst jedes Urteils.
Zum Schicker-Franz sagte er bei nächster Gelegenheit: »Das wird noch einer«.
Damit war der Schuhmeier gemacht.
Im Februar 1890 wählten die Deutschen ihren Reichstag. Die Sozialdemokratie erhielt 1,342.000 Stimmen, im ersten Wahlgang 23 und in der Stichwahl weitere 16 Mandate. Das war ein unerhörter Erfolg.
Der große Sieg der deutschen Sozialisten tat auch in Österreich seine Wirkung. Die Hoffenden wurden noch hoffnungsfroher, die Schwankenden zuversichtlicher und die Gleichgültigen wurden aufgerüttelt. Die Partei ging in die Breite.
Am 1. Jänner 1890 wurde aus der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien durch Einverleibung der Vororte Groß-Wien. Bisher waren es 10 Bezirke, jetzt 19. Floridsdorf kam erst später dazu, die heutige Brigittenau gehörte noch zum II. Bezirk. Damit verschwanden viele selbständige Gemeinden. Neulerchenfeld und Ottakring waren zwei solche und sind nun der XVI. Wiener Gemeindebezirk geworden. Aus den Gemeinden Hernals, Dornbach, Neuwaldegg entstand der XVII., aus Währing, Weinhaus, Gersthof und Pötzleinsdorf der XVIII. Bezirk usw.
Der Schuhmeier rief den Michel: »Jetzt bist ein Wiener geworden und das mußt feiern. Da hast a Karte fürs Fürsttheater im Prater, geh auf d' Nacht hin und unterhalt dich gut.«
Der Michel antwortete: »Laß mich in Ruh, i hab ka Zeit für solche Dummheiten, heut muß i beim Tanzunterricht in der Kassa sitzen.«
Am 16. Februar 1890 spricht Schuhmeier in einer Versammlung beim Wagner in der Ottakringerstraße 136. Er weist hin auf die Sozialdemokratie als die Urheberin der Idee der Verkürzung der Arbeitszeit und der Sonntagsruhe, deren noch viele Branchen entraten müssen, und fordert die Versammlung auf, den ersten 1. Mai ruhig und würdevoll zu feiern und den Behörden und der übrigen Gesellschaft zu zeigen, daß die Sozialdemokratie eine Partei der Ordnung ist.
Im April spricht er in Rudolfsheim über »Die Lage der Arbeiter«. Er schildert die materielle, geistige und politische Not des Proletariats, klagt über Kinderarbeit und fordert die Verkürzung der Arbeitszeit, damit auch der Arbeiter sich bilden könne.
Am liebsten ging er den Militarismus und den Klerikalismus an. Es hat sich rasch herumgesprochen, was für ein urwüchsiger, temperamentvoller Redner dieser Schuhmeier sei, und daß man, wenn man ihm zuhöre, gar nicht zu Atem komme. Zu Schuhmeier-Versammlungen ließen sich die Indifferentesten, ließen sich auch Gegner schleppen. Und verstanden hat ihn jeder, selbst der Schwerfälligste. Für die Genossen wurde eine Schuhmeier-Versammlung zum Fest und keiner ist gegangen, ehe nicht das letzte Wort verklungen war. Da haben die Ärmsten, die jeden Kreuzer zehnmal umdrehen mußten, ehe sie ihn ausgaben, gerne das gefürchtete Sperrsechserl geopfert.
Einige ganz Verbissene waren immer darunter, die freilich dem, was Schuhmeier sagte, nichts entgegenzusetzen wußten, denen angst und bange vor dem Gehörten wurde und die sich über diese Angst und Bangigkeit so hinüberhalfen: »Der kann leicht plaudern, der lebt ja davon, der mästet sich von blutige Arbeiterkreuzer.«
Und er lebte noch immer von seinem Arbeitslohn.
Der Arbeiter Schuhmeier ist auch in den Studentenverein »Veritas« gekommen. Diese Studenten waren erst bürgerliche Demokraten und sind nur ganz langsam zur Sozialdemokratie gestoßen. Viele waren es ja nicht, aber es waren die besten. Der Schuhmeier beteiligte sich über Einladung an den Festkommersen, sang und kneipte mit und disputierte mit jungen Akademikern über wissenschaftliche Themen.
Der Schuhmeier schämte sich nicht, wie dies viele andere getan hätten, es offen einzugestehen, wenn er einmal nicht mitkonnte. Über solche Themen borgte er sich Bücher aus oder er schlenderte mit einigen Studenten bis zum grauen Morgen durch die Gassen und ließ sich belehren.
Der neugewählte Deutsche Reichstag lehnte eine Verlängerung des Sozialistengesetzes ab. Am 1. Oktober 1890 war das Sozialistengesetz gefallen. In der Nacht vom 30. September zum 1. Oktober beim zwölften Glockenschlag wurden in ganz Deutschland unter ungeheurem Jubel die versteckt und vergraben gewesenen staatsgefährlichen roten Fahnen wieder entrollt.
Beim Gschwandner in Hernals war große Volksversammlung. Sie galt der Vorbereitung des ersten 1. Mai. Sie war bumvoll. Als erster sprach Victor Adler, zweiter Referent war Franz Schuhmeier. Das war sein erstes Auftreten in einer großen öffentlichen Versammlung, und zum erstenmal durfte er neben, sogar nach Adler sprechen, was als hohe Auszeichnung galt. In einer öffentlichen sozialdemokratischen Versammlung sprechen, war in damaliger Zeit eine verflucht schwierige Sache, die viel Geschick und Takt verlangte. So ein Redner durfte sich nicht gehen lassen, der mußte jedes Wort auf die Goldwaage legen, ehe es die Zähne verließ. Das Wort »Sozialdemokrat«, »Sozialdemokratie« oder »sozialdemokratisch« durfte überhaupt nicht ausgesprochen werden. Geschah es doch, wurde die Versammlung sofort aufgelöst.
Über diese Worte, über diese Begriffe mußten sich die Referenten irgendwie hinüberhelfen. Schuhmeier tat dies mit Gesten, die jeder verstand, nur der Regierungsvertreter nicht – manche allerdings wollten sie auch nicht verstehen – und die jedesmal Stürme der Heiterkeit auslösten.
Als Schuhmeier sich durch die Menge zur Rednertribüne wand, sah er an einem Tisch den Bombenjongleur mit einer Frau sitzen. Er grüßte ihn mit einer Handbewegung, der Bombenjongleur dankte mit einem Kopfnicken. Seine Mienen blieben unbewegt.
»Na wart,« nahm sich der Schuhmeier vor, »der soll heut auf seine Rechnung kommen. Der soll sehen, daß man auch mit Worten und nicht nur mit Revolver und Dynamit die Gesellschaft in die Luft sprengen kann. Dem Anarchisten servier ich heut einmal eine paprizierte und keine Wassersuppe. Dem werden wir nicht länger Revolutionäre im Schlafrock abgeben.«
Er redete, wie er noch nie geredet hat. Die Menge raste. Hätte er ihnen nach dieser Rede Gewehre gegeben und sie geheißen, die Gewehre zu schultern und loszugehen, – sie hätten es ohne Überlegung getan. Er schaute dabei nur auf den Bombenjongleur. Für ihn allein sprach er heute. Der saß dort, den Kopf gesenkt, und rührte sich nicht, schrie nicht mit, wenn die anderen schrien, applaudierte nicht, wo die anderen applaudierten. »Zum Kuckuck,« dachte der Redner, »das is dem Herrn Kragel noch immer zu viel Himbeersaft?« und heizte ihm noch mehr ein. Der wurde aber nicht warm und blieb eiszapfig bis zum Schlusse.
Nach der Versammlung, er war wegen dieses Bombenjongleurs ein bißchen verstimmt, stieß der Schuhmeier auf den Michel. Der wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Bist so ang'rührt?« frug der Schuhmeier, nicht etwa selbstgefällig, sondern ironisch.
»Ja,« schluckte der Michel, »heut nachmittag is mir mein Kleinster an Scharlach gestorben.«
»Und da gehst daher und bleibst net z'haus bei der armen Mutter und dem toten Kind?« schalt der Franz.
»I muß doch antauchen helfen,« gab der Michel ganz schlicht, wie selbstverständlich, zurück, »damit bald die Zeit kommt, wo die armen Kinder nimmer an Scharlach verrecken müssen.«
Der Bombenjongleur ging mit der Frau, die in der Versammlung neben ihm gesessen war, Arm in Arm nach Hause. Der Bombenjongleur war zum Schluß schon so rabiat gewesen, daß ihn überhaupt kein Meister mehr nahm und ihn außerdem die Polizei streng überwachen ließ und alle Augenblick einlieferte. In der Zwischenzeit ging er einfach fechten. Von Tür zu Tür. Bei einer Türe bekam er von der dicken Köchin Ludmilla Jeržabek einen Teller Suppe und ein Stück Brot, und weil sie sah, daß er solchen Hunger hatte, gab sie ihm auf Rechnung ihrer Herrschaft noch ein paniertes Schnitzel und auf eigene Rechnung 10 Kreuzer Bargeld drauf. Und sie lud ihn ein wiederzukommen so oft er hungrig sei. Natürlich kam er wieder.
Die dicke Köchin Ludmilla Jeržabek aus Podebrad war 50 Jahre alt, also um 10 Jahre älter als der Herr Kragel. Sie diente seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr, demnach schon 35 Jahre lang, immer treu, fleißig und ehrlich. Als ihre größte Tugend jedoch wollen wir ihre Sparsamkeit ansprechen. Zweitausend ersparte Gulden hatte sie in der Sparkassa liegen. Warum sie mit 50 Jahren – für eine Frau sicher kein hohes Alter, aber für eine Jungfrau immerhin – noch unvermählt war? Weil es allezeit noch hübschere gegeben hat – und sich bloß so mit einem Kerl zu dessen Vergnügen einzulassen, ließen ihre Grundsätze nicht zu.
Deshalb hat sie gespart und gespart und davon geträumt, einmal, wenn genug Erspartes da sein wird, einen Gatten zu freien, – sich einen kaufen würden weniger zartfühlende Romanschreiber sagen – und mit dem Geld ein Greißlergeschäft zu erwerben und es gemeinsam zu führen.
Jetzt hatte sie das Geld, aber jetzt wollten die Männer überhaupt nicht mehr. Fünfzig Jahre müssen schon in mehr Tausender eingewickelt sein, soll einer zugreifen. So hat sie den Herrn Kragel gefangen, der nach reiflicher Überlegung fand, daß es angenehmer sei, mit zweitausend Gulden und dann mit Mehlsackerln und Zwiefel, statt mit Bomben zu jonglieren, und daß es hinter einem Ladenpult schöner sei, als hinter Arrestgittern.
Sie wurden handelseins. Der Herr Kragel ging als zukünftiger bürgerlicher Gemischtwarenverschleißer herum. Das besänftigte sein Rebellentum, beruhigte sein aufgeregtes Gemüt.
Der gewesene Bombenjongleur fand sich drein. Er zog unter seiner Vergangenheit einen dicken Strich und begann im Buche seines Lebens eine neue Seite.
Der erste 1. Mai wurde in Österreich nahezu lückenlos gefeiert. Sogar die Staatsbetriebe hatten den Tag, gewiß sehr widerwillig, freigegeben. Wien war schon Wochen vorher in höchster Aufregung. Die Presse schmeichelte, drohte, rief nach dem Belagerungszustand, nannte es eine Frechheit, daß, sich der Pöbel auf die Gasse wage und sich selber einen Feiertag mache. Das Militär wurde konsigniert und mit scharfen Patronen ausgerüstet. Die Haustore wurden geschlossen. Die vermögenden Wiener waren auf und davon, die Zurückgebliebenen versorgten sich für einige Wochen mit Proviant.
Vormittags fanden in allen Wiener Bezirken und auch in der Provinz Volksversammlungen statt. Schuhmeier sprach neben Hanser beim »Goldenen Luchsen«. Heimann gab eine Maifestschrift heraus, von der über 100.000 Exemplare abgesetzt wurden. Nachmittags zogen die Massen in den Prater. Die Beteiligung war eine überwältigende. Und alles blieb ruhig. Nichts geschah. Von diesem Tage an nahm die Sozialdemokratische Partei in Österreich einen unerwarteten Aufschwung.
Die »Neue Freie Presse« schrieb am 1. Mai 1890 giftig: »Der Heilige, welcher an diesem Tage in allen Ländern gefeiert wird, heißt Karl Marx.«
Die sogenannte gute Gesellschaft hatte allen Grund, empört zu sein. Bisher war im Prater an jedem 1. Mai Nobeltag gewesen. Der hohe Adel und das begüterte Bürgertum sind da in eleganten Karossen die Hauptallee hinauf- und hinuntergefahren, die Damen haben ihre neuen Frühjahrstoiletten zur Schau gestellt und das Volk ist offenen Mundes Spalier gestanden. Und diesmal erfrechte sich das lichtscheue Gesindel aus seinen Höhlen und Löchern hervorzukriechen, den k. k. Prater zu überfluten und ihn den besseren Leuten zu verekeln.
Einer fehlte am ersten 1. Mai. Gerade der, dessen Werk er war, Dr. Victor Adler. Einige Monate vorher war er von dem Holzingerschen Ausnahmegericht, weil er sich der ausgebeuteten Tramwaysklaven anläßlich ihres Hungerstreikes annahm – die Wiener Tramway gehörte damals noch dem Herrn von Reitzes – zu vier Monaten Arrest verurteilt worden. Sie haben es so eingerichtet, daß er zur selben Stunde im Landesgericht brummen mußte, als die Arbeiter von Wien an dem grauen Hause vorbei zum ersten Male in den Prater zogen.
Die Direktion der k. k. priv. Ferdinands-Nordbahn zwang ihre Werkstättenarbeiter, bei sonstiger sofortiger Entlassung, am 1. Mai zu arbeiten. Damit keiner aufmucke, wurden die Nordbahnsklaven an diesem Tage sogar unter militärische Aufsicht gestellt. Sie arbeiteten zähneknirschend. Zum Protest haben sie ausnahmslos den Taglohn, der auf den 1. Mai entfiel, dem Fonds für gemaßregelte Maiopfer gewidmet.
Auch die Alpine Montangesellschaft hat in Donawitz plakatiert, daß am 1. Mai den ganzen Tag gearbeitet werden müsse – sonst Entlassung. Die Alpine glaubte die Donawitzer Arbeiter damit zu trösten, daß sie am Sonntag darauf das Florianifest feiern ließ und dafür 20 Hektoliter Bier spendierte.
Der »Apollo« zählte bereits 2300 Mitglieder. Franz Schuhmeier war seit 1890 sein Obmann. Gleichzeitig übernahm er die Leitung der Unterrichtssektion, da diese Sektion nach seinen Begriffen zu wenig agil war. Er gewann auch bestimmenden Einfluß auf den eben gegründeten »Unterrichtsverband der Arbeiterbildungs- und Fachvereine Wiens«. »Das Proletariat politisch zu organisieren, es mit dem Bewußtsein seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen, es geistig und physisch kampffähig zu machen und zu erhalten«, wie es im Hainfelder Programm hieß, war ihm Lebensaufgabe geworden, in der er ganz aufging.
Unmittelbar nach der ersten 1. Maifeier setzte in ganz Österreich ein Kampf um das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht für alle Männer und Frauen ein.
Das Recht zu wählen und dadurch Einfluß zu nehmen auf das Geschick des einzelnen und der Gesamtheit, war einer dünnen Oberschicht vorbehalten, privilegierten, abgeklärten Staatsbürgern, von denen nicht zu befürchten war, daß sie sich unterfangen könnten, in die Machtsphäre der Krone einzugreifen. Aber selbst diesen Erwählten der Auserwählten wurden noch »Volksvertreter« zugesellt, die niemanden vertraten, die nur dazu da waren, zu apportieren, was Krone und Regierung für gut hielten, die Herrenhäusler.
Das mit der »Konstitution« sah in Österreich so aus: ein Gesetz mußte zuerst vom Abgeordnetenhause beschlossen werden. Von den 26 Millionen Einwohnern Österreichs waren nur 1,732.057 wahlberechtigt. Das Abgeordnetenhaus bestand aus 353 Abgeordneten. Die wurden so gewählt: Etwa dreihunderttausend Wähler in den Städten und Märkten wählten 118 Abgeordnete, annähernd 1,3 Millionen Wähler in den Landgemeinden 128 Abgeordnete, die Handelskammern, die aus 560 Wählern bestanden, wählten noch 21 und einige hundert Großgrundbesitzer abermals 85 Abgeordnete dazu. Was diese Abgeordneten beschlossen haben, war noch lange nicht Gesetz. Dem Beschluß des Abgeordnetenhauses mußte auch das Herrenhaus beitreten.
Das Herrenhaus bestand ausschließlich aus vom Kaiser ernannten Mitgliedern und aus geborenen Herrenhäuslern. Sämtliche großjährigen Erzherzoge gehörten dem Herrenhause an, ferner die erblichen Herrenhausmitglieder, das war der gesamte Hochadel. Starb der Vater, so wurde der älteste Sohn automatisch Gesetzgeber. Solche Gesetzgeber waren auch alle Kirchenfürsten und schließlich auf Lebensdauer ernannte Personen. Darunter gab es wohl auch hervorragende Männer der Wissenschaft und der Wirtschaft sowie Dichter und Künstler, aber nur ganz wenige, sonst saßen als »lebenslängliche« im Herrenhause reiche Leute, hohe Bureaukraten. Und da hatte es der Kaiser noch in der Hand, die Zahl der Herrenhausmitglieder willkürlich durch willfährige Schranzen zu erhöhen, wenn das Herrenhaus einmal unbotmäßig geworden wäre.
Und was Abgeordneten- und Herrenhaus beschlossen hatten, galt erst wirklich, nachdem es vom Kaiser sanktioniert worden war.
Das wirklich schaffende Volk, die Arbeiterschaft, hatte kein Wahlrecht, war nur Objekt der Gesetzgebung. Dieses Volk wäre ein unbequemer Störenfried gewesen. Wohl ist das Wahlrecht im Jahre 1885 auf die »Fünfguldenmänner«, auf alle, die mindestens fünf Gulden direkte Steuer vorgeschrieben bekamen, erweitert worden, aber das war vorläufig noch eine bunt zusammengewürfelte Masse ohne klaren Wunsch und ohne Ziel und das waren lauter gute Patrioten und Veteranenvereinsmitglieder, deren kühnster Traum es gewesen ist, zu ihrer Nachtwächteruniform noch einen Säbel tragen zu dürfen.
Aber vor den Toren des Parlaments stand schon das Volk und forderte Einlaß.
Daß das Volk in Recht- und Einflußlosigkeit gehalten wurde, begründeten sie so; »Wer zahlt, schafft an.« Das war eine große Lüge., denn das rechtlose Volk zahlte mehr, viel mehr als die Bevorrechteten. Es zahlte mit jedem Schluck Alkohol, mit jedem Bissen, den es aß, die indirekten Steuern, die ein weit höheres Erträgnis abwarfen als die direkten, die Rechte verliehen.
Und Franz Schuhmeier prägte in den ersten Wahlrechtsversammlungen das Wort von der Blutsteuer, die das Volk entrichte, indem es unter die Waffen, in des Kaisers Rock, müsse. »Wir müssen«, rief er, »zahlen und bluten und uns den Mund verbinden.«
Im September 1890 hielt der »Apollo« sein erstes Gründungsfest ab. Schuhmeier sollte die Festrede halten. Aber die Polizei verbot nicht nur jede Festrede, jede Ansprache überhaupt, sondern auch die Verlesung von Begrüßungsschreiben und Telegrammen. Es mußten ihr sogar, wie auch lange nachher bei allen Arbeiterfesten, die Texte der Lieder, die gesungen werden sollten, vorgelegt werden. Aus diesen Liedern hat sie manches Wort gestrichen und je nach dichterischer Ader des betreffenden Polizeigewaltigen durch ein anderes, gar nicht hinpassendes ersetzt, so daß oft ein greulicher Blödsinn zusammengesungen werden mußte. Viele Liedertexte hat sie gänzlich verboten. Die Gesangsvereine summten dann nur die Melodie ohne Text.
Der Schuhmeier wußte sich aber zu helfen. Er brachte oberhalb der Tribüne ein Transparent an, auf dem es hieß:
»Es naht der Zeiten Wende,
Es ringt die Zukunft sich los,
Genossen! reicht euch die Hände,
Bedenkt: eure Macht ist groß.«
Und als das Festprogramm zu Ende war, kletterte er schnell, ehe er daran gehindert werden konnte, auf das Podium und rief: »Genossen! Vorläufig erlauben uns die hochlöblichen Behörden nichts als fest zu arbeiten. Aber bald wird man uns neben festarbeiten auch Festreden erlauben.«
Im November 1890 hat sich in den Ressourcesälen der politische Verein »Gleichheit« konstituiert. Obmann wurde Julius Popp. Damit schuf sich die sozialdemokratische Partei in Wien ihre erste politische Organisation. Für eine sozialdemokratische politische Organisation Mitglieder zu werben war nicht leicht, besonders zur Zeit des Ausnahmezustandes. Es mußten damals und auch noch Jahrzehnte nachher die Mitglieder politischer Vereine bei der Polizei angezeigt werden. Diese Mitglieder mußten großjährig und österreichische Staatsbürger sein. Frauen durften überhaupt nicht aufgenommen werden. Man kann sich vorstellen, welches Opfer einer auf sich nahm der sich durch seine Mitgliedschaft bei einer roten politischen Organisation den k. k. Behörden als »Umstürzler« deklarierte.
Im Dezember 1890 forderte der Demokrat Dr. Ferdinand Kronawetter den Präsidenten des Abgeordnetenhauses, Dr. Smolka, auf, die Frage des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes auf die Tagesordnung einer der nächsten Sitzungen zu stellen.
Bei den Reichsratswahlen im März 1891 unterlag dieser aufrechte Bürger im Wahlbezirk Hernals-Ottakring gegen den schwarzen Prinzen Alois Liechtenstein, der kurz darauf, als Pernerstorfer, der bei dieser Wahl in Wiener-Neustadt als »Wilder« gewählt wurde, die Aufhebung des Ausnahmezustandes beantragte, erklärte, daß man für Dynamitarden Ausnahmegesetze brauche. Lueger heimste diesmal noch größere Erfolge ein als bei früheren Wahlen.
Was in Wien noch freiheitlich war, die Arbeiterschaft insbesondere, empfand Unbehagen vor der hereinbrechenden schwarzen Flut und manch einer wollte kleinmütig werden. Franz Schuhmeier richtete sie alle wieder auf. In einer Versammlung, die am Abend des Wahltages im Hernalser Brauhaussaale stattfand, ermutigte er die Massen, indem er in kaustischer Weise die Hintergründe der Luegerei schilderte und die geistige Konstruktion des »kleinen Mannes«, der ihm nachlief, und schloß mit den Worten:
»Abwirtschaften lassen!«
An der Reichstagswahl 1891 beteiligten sich die Sozialdemokraten zum erstenmal mit Zählkandidaten. Die Partei ging ohne jede Hoffnung in den Wahlkampf. Die Arbeiter waren ja nicht wahlberechtigt. Es handelte sich lediglich um eine Demonstration für die Erringung des allgemeinen Wahlrechtes.
Dr. Victor Adler kandidierte in mehreren Wahlbezirken. Die meisten Stimmen erhielt er in Mariahilf. Nämlich 101. Im Wahlbezirk Hernals-Ottakring bekam Jakob Reumann ebenfalls 101 Stimmen. Der böhmische Wahlbezirk Tetschen brachte der Partei 484 Stimmen, Triest gar 510 Stimmen. Der Bezirk Alsergrund ganze 7 Stimmen.
Um diese Zeit wurde der Schuhmeier zu seinem Chef gerufen. Der sagte zu ihm: »Sie werden wohl schon selbst einsehen, daß das nicht so weiter geht. Entweder Goppold und Schmiedl oder Politik.«
Der Schuhmeier wählte die Politik und ging. Als aushilfsweiser Adressenschreiber zur Arbeiterzeitung, die noch immer ein kleines Wochenblatt und arm war. Der Lohn, den der Aushilfs-Adressenschreiber bekam, war auch klein, sehr klein sogar, dafür die Arbeit groß, für ihn war das eine Nebenbeschäftigung, freilich die einzige, die etwas zum Leben eintrug. Die Hauptbeschäftigung blieben der »Apollo« und die Versammlungen im ganzen Reiche und immer noch lernen, um lehren zu können.
»Wenn die Menschen wüßten, was sie wissen sollten,« sagte er oftmals, »wären sie schon viel weiter.«
Im »Apollo« frug der Schuhmeier den Michel: »Wo warst denn gestern?«
»Gestern,« entgegnete der Michel, »gestern war i auf der Wachstuben.«
»Auf der Wachstuben? Was hast denn wieder ang'stellt?«
»G'haut hab i ein'n.«
»G'haut hast ein'n? Und warum?«
»Weil er g'sagt hat, daß du a Streber bist, der's nur auf ein warmen Sessel in ein warmen Amterl abg'sehn hat.«
»Wer wird deswegen gleich hinhauen? Mir is das Butten, was die schwarzen Brüder von mir reden.«
»Es war aber a Unsriger«, gestand der Michel.
Der Schuhmeier schaute ins Leere. Den Posten bei Goppold & Schmiedl hat er aufgegeben und eine Schreiberstelle dafür angenommen, wo er halb soviel der Cilli heimbringen konnte, nur um seiner Idee leben zu können, und da gibt es in den eigenen Reihen Neider, die...
Aber er tat es gleich mit einer verächtlichen Handbewegung ab.
Im Juni 1891 wurde der Ausnahmezustand aufgehoben. Das größte Verdienst daran durfte der »wilde« Abgeordnete Engelbert Pernerstorfer für sich in Anspruch nehmen, der damals noch nicht der Partei angehörte, aber ihr verläßlichster Helfer im Privilegienparlament war.
Lueger, den die »liberale« Regierung hin und wieder schikanierte und Prügel vor die Füße warf, verhöhnte die Partei als »k. k. privilegierte Sozialdemokraten«, und drohte, wenn man nur als »Feind des Eigentums, der Familie und der Religion« etwas erreichen könne, auch Sozialdemokrat, aber einer der gefährlichsten Sorte zu werden.
Man konnte wieder ein bißchen atmen in Österreich, wenn auch die Luft immer wieder verpestet wurde durch die absolutistischen Neigungen und Gewohnheiten der Herrschenden und fast noch mehr ihrer Unterläufel. Aber diese Unterläufel konnte man auch dupieren, denn die waren manchmal gar zu einfältig und lebensfremd. Victor Adler nannte diesen Zustand »Absolutismus, gemildert durch Schlamperei«.
Es gab schon Streiks und erfolgreiche Lohnbewegungen. Die Bäcker streikten und die Buchdrucker, denen man vergeblich drohte, daß Soldaten zur Arbeit in die Druckereien kommandiert werden würden.
Das größte Hindernis für die Ausbreitung von Partei und Gewerkschaften bildete das Verbot, Verbände zu bilden, die sich über das ganze Reich erstrecken. Es waren nur lokale politische Organisationen und lokale Gewerkschaften gestattet. Mit der Zeit wurden Mittel und Wege gefunden, auch dieses Verbot zu umgehen. Der Stein rollte; aufzuhalten war er nicht mehr. Es gab bereits 219 Parteiorganisationen mit 47.166 Mitgliedern. Die Gewerkschaften zählten schon 60.000 Mitglieder.