Aristoteles
Nikomachische Ethik
Aristoteles

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Fünftes Kapitel.

Ob wir aber wegen der Lust das Leben begehren oder wegen des Lebens die Lust, stehe für jetzt dahin. Denn diese beiden Dinge scheinen zusammengepaart zu sein und keine Trennung zu gestatten, da ohne Tätigkeit keine Lust entsteht und jede Tätigkeit durch die Lust vollendet wird.

Daher scheinen auch die Lüste der Art nach verschieden zu sein. Denn was selbst spezifisch verschieden ist, das, nehmen wir an, erhält auch durch spezifisch Verschiedenes seine Vollendung. Man sieht das ja auch an den Erzeugnissen der Natur und der Kunst, an Tieren und Bäumen, an Bildern, Statuen, Häusern und Geräten. Ebenso scheints müssen demnach auch spezifisch verschiedene Tätigkeiten durch spezifisch Verschiedenes vollendet werden. Nun sind aber die geistigen Tätigkeiten von den sinnlichen und wieder die einzelnen geistigen und sinnlichen Tätigkeiten unter sich spezifisch verschieden; so müssen es denn auch die Lüste sein, von denen sie ihre Vollendung empfangen.

Man kann das auch daraus abnehmen, daß jede Lust der Tätigkeit, die sie vollendet, verwandt ist. Denn die Tätigkeit wird durch die ihr verwandte Lust gesteigert. Die mit Lust tätig sind, unterscheiden alles schärfer und führen alles genauer durch; gute Geometriker z. B. werden die, die an der Geometrie Freude haben, und solche verstehen alles besser; ebenso machen auch die Freunde der Musik, der Baukunst und so weiter je in ihrem Fach, dank der Freude, die es ihnen macht, Fortschritte. Die Steigerung kommt aber von der Lust, und das Steigernde ist verwandt. (1175b) Was aber spezifisch verschiedenem verwandt ist, das ist auch selbst spezifisch verschieden.

Noch deutlicher aber sieht man das daraus, daß für die eine Art von Tätigkeit eine Lust hinderlich ist, die aus einer anderen Art von Tätigkeit erwächst. Die Freunde des Flötenspiels können keinem Vortrage mehr folgen, wenn sie einen Flötenspieler hören, indem ihnen das Spiel mehr Freude macht als die Tätigkeit, die sie gerade beschäftigte. Somit zerstört die Lust, die das Flötenspiel gewährt, die Tätigkeit des Aufmerkens auf den Vortrag. Und ähnlich geht es überall, wo man mit zwei Dingen zugleich beschäftigt ist: die angenehmere Tätigkeit verdrängt die andere, und das um so mehr, je mehr sie sich durch Annehmlichkeit auszeichnet, so daß jene zuletzt ganz aufhört. Wenn uns daher eine Sache in hohem Grade ergötzt, tun wir nicht leicht etwas anderes, und umgekehrt treiben wir andere Dinge, wenn uns etwas nur geringe Befriedigung bietet, und in den Theatervorstellungen sprechen die Freunde von Naschwerk demselben allemal besonders zu, wenn die Schauspieler nichts taugen.

Da aber die verwandte Lust die Tätigkeiten schärft, anhaltender und besser macht, fremde Lustgefühle aber sie schädigen, so kann man sehen, wie sehr sie von einander verschieden sind. Die fremden Lustgefühle haben fast die gleiche Wirkung wie die verwandten Unlustgefühle. Diese letzteren heben die Tätigkeiten auf, wie z. B. wenn jemanden das Schreiben oder das Rechnen unlieb und verhaßt ist: der eine schreibt dann nicht, und der andere rechnet nicht, weil ihn die Tätigkeit verdrießt. So wird denn auf eine Tätigkeit von den ihr verwandten Gefühlen der Lust und der Unlust eine entgegengesetzte Wirkung ausgeübt; verwandt aber sind die Gefühle, die bei der Tätigkeit an sich entstehen. Von den fremden Lustgefühlen aber haben wir gesagt, daß sie eine ähnliche Wirkung haben wir die Unlust: sie heben die Tätigkeit, wenn auch nicht auf gleiche Weise, auf.

Da sich die Tätigkeiten durch sittliche Güte und Schlechtigkeit unterscheiden, und die einen begehrenswert, die anderen verwerflich, noch andere keins von beidem sind, so ist es ebenso mit den Lustgefühlen bewandt; denn jeder Tätigkeit entspricht eine eigentümliche Lust. Die der tugendhaften Tätigkeit eigentümliche Lust ist sittlich, die der lasterhaften eigentümliche unsittlich. Denn auch die Begierden sind, wenn sie dem sittlich Guten gelten, lobenswert, und wenn sie dem sittlich Schlechten gelten, tadelnswert. Nun sind aber die Lustgefühle, die eine Tätigkeit begleiten, derselben viel näher verwandt als die Begierden. Diese sind von ihr zeitlich und ihrer Natur nach geschieden, jene aber sind mit den Tätigkeiten eng verbunden und von ihnen so wenig geschieden, daß man fragen kann, ob nicht Tätigkeit und Lust dasselbe ist. Dennoch sieht die Lust nicht aus, als ob sie Gedanke oder Wahrnehmung wäre, das wäre ungereimt, aber sie gilt doch hin und wieder für das nämliche, weil sie von der Tätigkeit nicht getrennt ist. Demnach sind, wie die Tätigkeiten, so auch die Lustgefühle verschieden.

Das Gesicht ist von dem Gefühl an Reinheit verschieden, (1176a) wie das Gehör und der Geruch von dem Geschmack. So sind es denn ebenso die Lustempfindungen, sowohl von denen der Sinne die des Geistes, wie auch die einzelnen Lustempfindungen des Geistes und der Sinne je unter sichDie Lust ist um so reiner, je weiter das Tätige und seine Tätigkeit sich von der Materialität entfernt. Die geistige Lust steht darum hoch über aller Sinnenlust. Aber auch im sinnlichen Bereich gibt es Unterschiede, und je mehr hier die Materialität überwunden wird, desto reiner und gleichsam geistiger ist die aus der Sinnestätigkeit entspringende Lust. Die gröbsten Sinne sind Gefühl und Geschmack. Sie erheischen die unmittelbare Verbindung des Sinnes mit dem Objekt und ihre Wahrnehmungen sind mit der stärksten Alteration des Sinnesorgans verbunden. Gesicht und Gehör sind geistiger. Sie nehmen durch ein Medium wahr und werden, namentlich das Gesicht, weniger bei der Wahrnehmung alteriert. Darum hat auch das Auge die vollkommenste und reichste Tätigkeit und nutzt sich über derselben am wenigsten ab. Den Geruch stellte Ar. auch deshalb über das Gefühl und den Geschmack, weil er annahm, die duftenden Objekte bewegten aus der Ferne das Medium, die Luft und das Wasser, und berührten so, ähnlich wie Farbe und Klang, nur durch die Vermittelung des Mediums das Organ. .

Man kann auch sagen, daß jedes Sinnenwesen, wie eine eigene Verrichtung, so eine eigene Lust hat, nämlich die seiner Tätigkeit entsprechende. Man sieht das auch, wenn man die einzelnen Arten der Lebewesen betrachtet. Eine andere ist die Lust des Pferdes, eine andere die des Hundes und eine andere die des Menschen, wie ja auch HeraklitHeraklits 9. Fragment bei Diels. sagt, daß ein Esel die Spreu dem Golde vorziehen würde. Nämlich für Esel ist Futter angenehmer als Gold. Wie also die Wesen selbst, so sind auch ihre Lüste oder Ergötzungen der Art nach verschieden, dagegen ist anzunehmen, daß die von Wesen einer Art nicht verschieden sind.

Nur beim Menschen tritt hier eine große Mannigfaltigkeit hervor. Ein und dasselbe kann den einen ergötzen und den anderen schmerzen, bei dem einen Unlust und Haß, bei dem anderen Lust und Liebe hervorrufen. Dies ist auch beim Süßen der Fall. Nicht das nämliche kommt dem Fieberkranken und dem Gesunden süß vor, und nicht das nämliche erscheint dem Leidenden und dem, der sich wohl befindet, als heiß. In allen solchen Fällen aber scheint das wahr zu sein, was der Tugendhafte dafür hält. Und ist dieser Satz richtig, wie wir annehmen dürfen, und ist die Tugend und der Tugendhafte jedes Dinges Maß, so folgt auch, daß wahre Freuden jene sind, die er dafür hält, und wahrhaft erfreulich das ist, woran er sich erfreut. Wenn aber das, was ihm zuwider ist, einem anderen erfreulich vorkommt, so ist daran nichts Wunderbares; denn der Mensch unterliegt mannigfacher Verderbniß und Schädigung; aber genußreich ist es nicht, außer eben für diejenigen, die sich in solch verderbter Verfassung befinden.

So leuchtet denn ein, daß man die anerkannt schimpflichen Arten der Lust nicht als Lust gelten lassen darf, außer für verderbte Naturen. Dagegen erhebt sich nun bezüglich der als sittlich geltenden Arten von Lust die Frage, welche oder was für eine man für die dem Menschen eigentümliche Lust erklären soll. Die Tätigkeiten werden uns darüber Aufschluß geben müssen; nach ihnen richtet die Lust sich ja. Mag es nun der Tätigkeiten des vollkommenen und glückseligen Mannes nur eine oder mehrere geben, so wird die sie vollendende Lust es sein, die man für die eigentlich und vorzüglich menschliche Lust zu erklären hat. Die übrigen Arten von Lust können dafür erst an zweiter und weiterer Stelle gelten, entsprechend den TätigkeitenAr. führt uns fast unvermerkt von der Lust zur geistigen Tätigkeit als menschlicher Bestimmung. Die Lust ist das Verlangen aller Wesen, weil sie alle nach Tätigkeit begehren. Die Tätigkeit ist die natürliche Vollendung des Tätigen, weil sie alles, was es der Anlage nach in sich hat, zur Entfaltung bringt. Darum schöpft alles aus der Tätigkeit Lust, weil es sich seiner natürlichen Vollendung freut. Und darum begehrt alles, Mensch und Tier, nach Lust, Ende des 4. und Anfang des 5. Kapitels. Es gibt aber Unterschiede in den Lüsten je nach der Bestimmung der einzelnen Wesen, weil nach der Bestimmung sich die Tätigkeit richtet, die jegliches zur Vollendung bringt, und nach der Tätigkeit die Lust. So gilt es denn die Tätigkeit zu ermitteln, die den Menschen zur Vollendung bringt. Sie wird seine Bestimmung ausmachen und ihm die vollkommene Lust gewähren, 5. Kap. .


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