Aristoteles
Nikomachische Ethik
Aristoteles

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Fünfzehntes Kapitel.

Aus dem Gesagten erhellt nun auch, ob man sich selbst Unrecht tun kann oder nicht.

Recht in einem Sinne ist was vom Gesetze in Bezug auf jede einzelne Tugend geboten ist. Nun gebietet das Gesetz aber z. B. nicht, sich selbst zu tödten; was es aber nicht zu tödten gebietet, das zu tödten verbietet es.

Ferner, wenn man jemanden freiwillig wider das Gesetz schädigt, ohne damit eine erlittene Schädigung zu rächen, so tut man Unrecht. Freiwillig handelt aber wer da weiß, gegen wen die Handlung gerichtet ist, und womit sie vollzogen wird. Wer aber aus Zorn sich selbst entleibt, tut freiwillig gegen die rechte Vernunft was das Gesetz nicht zuläßt, tut also Unrecht.

Aber wem? Nicht etwa dem Gemeinwesen, sich aber nicht? Er leidet ja freiwillig, und niemand leidet freiwillig Unrecht. Darum straft ihn auch die Obrigkeit und haftet dem Selbstmörder, als einem Menschen, der sich am gemeinen Wesen versündigt hat, eine Makel an.

Es kann aber auch wer nur Unrecht tut und nicht ganz schlecht ist, in dem, worin er ungerecht ist, sich nicht selbst Unrecht tun – dieses (Ungerechtigkeit nach einer bestimmten Seite) ist nämlich mit jenem (gesetzlicher Ungerechtigkeit überhaupt) nicht einerlei. Ein solcher Ungerechter ist ungefähr in der Weise schlecht wie der Feige, also nicht als haftete ihm die ganze Schlechtigkeit an, und demnach tut er auch nicht in diesem Sinne Unrecht –.

Denn sonst könnte einem etwas gleichzeitig entzogen worden und zugefallen sein, was unmöglich ist: Recht und Unrecht setzt immer ein Verhältnis von mehreren voraus.

Ferner (ist das Unrechttun) freiwillig und vorsätzlich und früher (als das Unrechtleiden). Denn wer ein Unrecht erlitten hat und dem anderen dafür dasselbe wieder antut, scheint kein Unrecht zu tun. Um aber sich selbst Unrecht zu tun, müßte man etwas zugleich leiden und tun.

Ferner könnte man freiwillig Unrecht leiden.

Überdies tut niemand Unrecht, ohne eine einzelne ungerechte Handlung zu begehen; nun kann aber niemand mit seiner eigenen Frau die Ehe brechen oder in sein eigenes Haus einen Einbruch verüben oder seine eigene Habe stehlen.

Die vollständigste Lösung der Frage wegen der Möglichkeit sich selbst Unrecht zu tun, ergibt sich immer vom Gesichtspunkte der früheren Bestimmung, nach der niemand freiwillig Unrecht leiden kann.

Es leuchtet auch ein, daß zwar beides, Unrechtleiden und Unrechttun, vom Bösen ist. Denn bei dem einen hat man weniger als die Mitte, bei dem anderen mehr; die Mitte aber ist dem ähnlich, was in der Heilkunst die Gesundheit, in der Gymnastik die gute Leibesbeschaffenheit ist; aber es ist doch schlimmer, Unrecht zu tun. Denn Unrechttun führt Schlechtigkeit mit sich und ist tadelnswert, und jene Schlechtigkeit ist entweder die vollendete und schlechthinnige oder steht ihr doch nahe – denn nicht alles Freiwillige ist ungerecht –; das Unrechtleiden aber führt keine Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit mit sich. Also an (1138b) sich ist Unrechtleiden weniger schlimm, mitfolgend aber kann es gar wohl das größere Übel sein. Darum aber bekümmert sich die Wissenschaft nicht. Für sie ist eine Lungenentzündung ein schlimmerer Fall als eine Verstauchung, gleichwohl kann es mitfolgend auch einmal umgekehrt kommen, wenn der Verstauchte durch seinen Fall in die Hände der Feinde gerät und von ihnen getödtet wirdSo kann man durch eine kleine Ungerechtigkeit zu einer größeren gereizt werden. .

Im übertragenen Sinne aber und im Sinne einer gewissen Ähnlichkeit gibt es allerdings ein Recht nicht der Person gegen sich selbst, aber doch des einen Teils von ihr gegen die anderen, ein Recht jedoch, das nicht mit allem Recht, sondern nur mit dem des Herrn gegen die Sklaven oder des Hausvaters gegen seine Kinder zu vergleichen ist. Nach diesen Verhältnissen nämlich bemißt sich der Abstand zwischen dem vernünftigen und dem unvernünftigen Seelenteil. Im Hinblick hierauf meint man alsoPlato meinte, man tue sich selbst Unrecht, wenn man aus böser Lust oder Zorn tue was die Vernunft verbietet. , es gebe auch eine Ungerechtigkeit gegen sich selbst, weil es nämlich durch die Macht der Affekte geschehen kann, daß man etwas gegen das eigene Begehren erleidet. Wie es sonach ein Recht zwischen Herrscher und Untertan gibt, so soll es auch ein Recht zwischen den verschiedenen Seelenteilen geben.

So mag denn von der Gerechtigkeit und den anderen sittlichen Tugenden in dieser Weise gehandelt sein.


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