Aristoteles
Nikomachische Ethik
Aristoteles

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Elftes Kapitel.

Sanftmut ist die Mitte bei den Zornesaffekten. Da aber der Mittlere und auch so ziemlich die Extremen unbenannt sind, so beziehen wir die Sanftmut, die doch nach Seiten des gleichfalls unbenannten Mangels neigt, auf den Mittleren. Das Übermaß kann man Zornmütigkeit nennen. Denn der Affekt ist Zorn, was ihn aber hervorruft, ist vieles und verschiedenes.

Wer nun zürnt worüber er soll, und wem er soll, und dazu wie, wann und solange er soll, wird gelobt, und so wäre er denn der Sanftmütige, wenn anders die Sanftmut Lob erhält. Denn der Sanftmütige soll ein Mann sein, der sich nicht verwirren und von seinem Affekt fortreißen läßt, sondern in der Art, in der Veranlassung und in der (1126a) Dauer seines Zornes nur der Vernunft Gehör gibt. Er scheint aber vielmehr nach seite des Mangels zu fehlen, weil der Sanftmütige nicht zur Rache, sondern vielmehr zum Verzeihen geneigt ist.

Der Mangel, mag er nun Zornlosigkeit oder sonst was immer sein, erfährt Tadel. Denn die nicht zürnen worüber sie sollen, und nicht wie sie sollen, noch wann, noch wem sie sollen, scheinen töricht zu sein. Man meint ja, ein solcher Mensch habe keine Empfindung und könne nicht gekränkt werden und sei wehrlos, da er nicht zornig werde. Sich aber Schimpf gefallen zu lassen und seine Angehörigen nicht dagegen zu schützen, verrät knechtischen Sinn.

Das Übermaß kann in allen Beziehungen stattfinden. Man kann zürnen wem man nicht soll, und worüber man nicht soll, und ärger und schneller und länger als man soll. Aber nicht alles findet sich in derselben Person vereinigt. Das wäre unmöglich; denn das Schlechte vernichtet sich selbst und würde in seiner Vollständigkeit unerträglich. Die Zornmütigen werden nun zwar schnell zornig und werden es über wen sie es nicht sollen, und worüber sie nicht sollen, und ärger als sie sollen. Sie hören aber schnell auf zu zürnen, und das ist das beste an ihnen. Dieses widerfährt ihnen, weil sie den Zorn nicht in sich verschließen, sondern wegen ihrer Reizbarkeit offen herausfahren und dann wieder ruhig werden. Übermäßig aufgeregt aber sind die Jähzornigen und bei allem und über alles zum Zorne geneigt; daher auch ihr NameGriechisch ακρόχολοι, von άκρος, extrem. . Die Bittern sind schwer versöhnlich und zürnen lange Zeit. Denn sie verschließen ihren Grimm in sich. Die Ruhe aber stellt sich ein, wenn man Vergeltung geübt hat. Denn die Rache setzt dem Zorne ein Ziel, indem sie Freude an Stelle des Schmerzes hervorruft. So lange dieses nicht geschieht, bleibt der Druck auf ihnen lasten. Denn da ihre Stimmung nicht nach außen tritt, so redet auch niemand ihnen gütlich zu, und um für sich selber den Zorn zu verwinden, braucht es Zeit. Solche Leute sind sich selbst und ihren besten Freunden eine schwere Last. GrimmigGr. χαλεπός, daher χαλεπαίνω, ich zürne schwer oder heftig; lat. difficilis, asper. nennen wir die, die aus unrechtem Anlaß und mehr und länger als sich gehört, zürnen und nicht eher aufhören, bis Rache oder Strafe erfolgt ist.

Zu der Sanftmut stellen wir mehr das Übermaß des Zorns in Gegensatz. Denn einmal kommt dasselbe häufiger vor, da es mehr in der menschlichen Art liegt, sich zu rächen. Und dann ist auch mit den Grimmigen schlechter umgehen als mit denen, die übermäßig milde sind.

Aus dem Gesagten ergibt sich eine Wahrheit, von der wir schon bei früherer Gelegenheit gesprochen haben. Es ist nicht leicht, genau zu bestimmen, wie und wem und worüber und wie lange man zürnen soll, und welches die Grenze des rechten und des verkehrten Verhaltens ist. Denn wer dieselbe nur um weniges überschreitet, sei es nach seiten des Zuviel oder des Zuwenig, erfährt keinen Tadel. Zuweilen loben wir diejenigen die das Zuwenig (1126b) haben und nennen sie sanftmütig; zuweilen loben wir auch die Zornigen als zum Herrschen geeignet. Wie weit also und wie man von der Mitte abweichen muß, um dem Tadel zu verfallen, läßt sich nicht leicht mit Worten angeben, da das Urteil es hier mit dem Einzelnen zu tun hat und dem Sinne anheimfälltVgl. II. Buch, 9. Kapitel, Anm. 55. .

So viel ist jedenfalls klar, daß die Mitte ein lobenswerter Habitus ist, vermöge dessen wir zürnen wem wir sollen und worüber wir sollen, und was sonst noch alles hieher gehört; und daß das Übermaß und der Mangel tadelnswert sind, und zwar wenn beide gering sind in geringem Maße, wenn bedeutender, in höherem, und wenn sehr bedeutend, im höchsten Maße.

Man sieht also, daß man sich an den mittleren Habitus zu halten hat.

Hiermit sind die auf den Zorn bezüglichen Charaktereigenschaften erledigt.


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