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Jede Freundschaft beruht also, wie gesagt, auf Gemeinschaft. Dabei lassen sich die verwandtschaftliche Freundschaft und die hetärische, d. h. die Freundschaft unter solchen, die mit einander aufgewachsen sind, als besondere Arten abscheiden. Dagegen trägt die Freundschaft unter Mitbürgern, Stammesgenossen, Reisegefährten u. s. w. mehr das Gepräge äußerer Vereinigung, da sie gleichsam auf Vertrag zu beruhen scheint. Dahin kann man auch das Verhältnis unter Gastfreunden rechnen.
Auch die verwandtschaftliche Freundschaft hat offenbar wieder viele Arten, doch hängt sie ihrem ganzen Umfange nach von der väterlichen Freundschaft ab. Die Eltern lieben nämlich ihre Kinder wie ein Stück von sich selbst und die Kinder hinwieder ihre Eltern als die, denen sie ihr Dasein verdanken. Die Eltern wissen aber besser, wer als Kind von ihnen abstammt, als die Kinder, daß sie von ihnen abstammen. Und der Erzeuger steht dem Erzeugten näher, als das Werk seinem Urheber und das Gezeugte seinem Erzeuger steht. Denn was von einem herkommt, gehört dem zu eigen, von dem es ist, wie jedem Menschen seine Zähne, seine Haare oder sonst was zu eigen gehören, dem Erzeugten aber gehört der Erzeuger nicht zu eigen, oder doch weniger. Aber auch die Länge der Zeit begründet einen Unterschied, indem die Eltern ihre Kinder gleich von ihrer Geburt an lieben, diese aber jene erst im Verlauf der Zeit, wenn sie Verstand bekommen oder doch schon so weit beobachten, daß sie ihre Eltern von anderen Leuten unterscheiden. Daraus sieht man auch, warum die Mütter ihre Kinder mehr lieben als die Väter.
Die Eltern lieben nun ihre Kinder gleichsam als sich selbst – denn die von ihnen abstammen, sind durch die Trennung so zu sagen ihr anderes Selbst –, und die Kinder ihre Eltern, als von ihnen geboren; die Geschwister lieben sich unter einander, weil sie von denselben Eltern geboren sind. Denn da sie mit ihnen ein und dasselbe sind, sind sie es auch unter sich, daher man sagt: dasselbe Blut, derselbe Stamm und dergleichen. So sind sie denn, wenn auch in getrennten Personen, gewissermaßen dasselbe Wesen. Zu ihrer Freundschaft hilft auch viel, daß sie zusammen aufwachsen und gleichaltrig sind; denn »gleich und gleich« heißt es, und gleiche Sitten machen treue Gefährten, daher auch die brüderliche Freundschaft der unter Jugendgenossen ähnlich ist.
(1162a) Vettern und sonstige Verwandte sind von den Brüdern her mit einander verbunden. Denn sie sind darum verwandt, weil sie letzthin denselben Ursprung haben. Die einen stehen sich näher, die anderen ferner, je nachdem der gemeinsame Stammvater ihnen näher oder ferner steht.
Das Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern ist, wie das der Menschen zu den Göttern, eine Freundschaft mit dem Guten und Überlegenen. Denn die Eltern haben ihren Kindern die größten Wohltaten erwiesen: sie haben ihnen das Dasein geschenkt und sie ernährt und später für ihre Erziehung Sorge getragen. Auch die Lust und der Nutzen ist in dieser Freundschaft um so größer als in der unter Fremden oder Nichtverwandten, je enger die Lebensgemeinschaft ist, die hier beide Teile mit einander unterhalten.
In der brüderlichen Freundschaft finden sich alle Eigenschaften der hetärischen, besonders wenn die Brüder gleichmäßig brav und sich auch sonst ähnlich sind. Denn Brüder stehen sich besonders nahe und lieben sich von Geburt an; als Kinder derselben Eltern, mit einander aufgewachsen und nach denselben Grundsätzen erzogen, sind sie gleicher Denkungsart und Charakterrichtung, und die Erprobung in der Länge der Zeit ist bei ihnen die stärkste und zuverlässigste.
Analog liegt das Freundschaftsverhältnis unter den sonstigen Verwandten.
Zwischen Mann und Frau scheint von Natur aus ein Verhältnis der Freundschaft oder der Liebe zu bestehen. Denn der Mensch ist von Natur noch mehr zur ehelichen als zur bürgerlichen Gemeinschaft bestimmt, da die Familie früher und notwendiger ist als der Staat und die Fortpflanzung allen Sinnenwesen gemeinsam ist. Bei den übrigen Lebewesen nun beschränkt sich die Gemeinschaft und der Verkehr auf eben dieses letztere, die Menschen aber werden nicht blos durch die Fortpflanzung, sondern auch durch die Bedürfnisse des Lebens zusammengeführt. Die Aufgaben und Verrichtungen der beiden Geschlechter sind von vornherein geteilt und bei dem Manne andere als bei der Frau. Und so sind sie sich gegenseitig genug, indem jedes seine besonderen Gaben in den Dienst der Gemeinschaft stellt. Darum ist in dem ehelichen Verhältnis auch das Nützliche und das Angenehme gleichermaßen anzutreffen. Diese Annehmlichkeit kann aber auch in der Tugend ihren Grund haben, wenn die Gatten brav sind, da jeder Eheteil seine eigentümliche Tugend besitzt, und das kann für sie eine Quelle der Lust sein. Ein weiteres Band zwischen den Ehegatten scheinen die Kinder zu bilden, daher kinderlose Ehen sich leicht lösen. Denn die Kinder sind ein beiden gemeinsames Gut, und das Gemeinsame hält zusammen. Die Frage aber, wie der Mann mit der Frau und überhaupt der Freund mit dem Freunde zusammenleben muß, scheint nichts anderes zu bedeuten als die Frage nach der Beschaffenheit des hier obwaltenden Rechtsverhältnisses. Denn das Recht ist offenbar nicht dasselbe unter Freunden und unter Fremden oder Jugendgefährten oder Mitschülern.