Aristoteles
Nikomachische Ethik
Aristoteles

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Neuntes Kapitel.

Man zweifelt auch, ob der Glückliche Freunde bedarf oder nicht. Man sagt, wer glücklich sei und sich selbst genüge, brauche keine Freunde, da er alle Güter schon besitze. Indem er sich selbst genug sei, bedürfe er nichts weiter, während doch der Freund, als ein zweites Selbst, einem das verschaffen solle, was man durch sich selbst nicht vermöge. Daher jener VersEuripides »Orest«, Vers 667. :

»Wer braucht wohl Freunde, wenn der Himmel hold ihm ist?« –

Aber es sieht wie eine Ungereimtheit aus, dem Glücklichen alle Güter zuzuteilen und ihm keine Freunde zu geben, die doch als das größte aller äußeren Güter erscheinen. Und wenn es dem Freunde eher zukommt, gutes zu erweisen als zu empfangen, wenn ohne dieses Wohltun der Tugendhafte und die Tugend nicht denkbar sind, und es sittlich schöner ist, dasselbe gegen Freunde zu üben als gegen Fremde, so wird der brave Mann Freunde bedürfen, denen er wohltun kann. Darum wirft man auch die Frage auf, ob man Freunde mehr im Glück oder im Unglück bedarf, da einerseits der Unglückliche der Wohltäter bedürfe, andererseits die Glücklichen solcher, denen sie gutes erzeigen können. Es ist auch vielleicht ungereimt, den Glücklichen zu einem Einsiedler zu machen; niemand möchte allein stehen, wenn ihm auch alle Güter der Welt zugehören sollten. Denn der Mensch ist von Natur ein geselliges Wesen und auf das Zusammenleben angelegt; daher kommt dieses Zusammenleben dem Glücklichen zu, da er ja alle natürlichen Güter besitzt. Es ist aber offenbar besser, mit befreundeten und trefflichen Menschen zu leben als mit fremden und gewöhnlichen Leuten. Mithin braucht der Glückliche Freunde.

Was ist nun an jener ersten Meinung stichhaltiges, und inwiefern ist sie richtig? Sie ist es wohl insofern, als die Menge diejenigen als Freund betrachtet, die einem Vorteil bringen. Solche Freunde hat der Glückliche freilich nicht nötig, da es ihm an Hab und Gut nicht fehlt. Auch der Lust wegen bedarf er der Freunde entweder gar nicht, oder doch nicht in besonderem Grade. Denn da sein Leben bereits genußreich ist, so bedarf dasselbe einer weiteren, von außen ihm zugebrachten Lust mitnichten. Er braucht also solche Freunde nicht, und so braucht er scheints überhaupt keine.

Indessen möchte dieses doch nicht richtig sein. Wir haben eingangs erklärt, daß die Glückseligkeit eine Tätigkeit ist. Die Tätigkeit ist aber offenbar ein Geschehen, ein Vorgang; sie existiert nicht nach Weise eines bleibenden Dinges, z. B. eines Besitztums. Wenn nun die Glückseligkeit in Leben und Tätigsein besteht, und die Tätigkeit des guten Menschen, wie eingangs bemerkt worden, an sich gut und genußbringend ist, wenn ferner einem jeden das ihm Eigentümliche und Zugehörige Genuß gewährt, und wir endlich unseren Nächsten leichter beobachten können als uns selbst und fremde Handlungen leichter als unsere eigenen, so folgt daraus, daß für den Tugendhaften die Handlungen anderer guten Menschen, die seine Freunde sind, genußbringend sein müssen. Denn beides, das Gute (1170a) und das Befreundete, birgt das in sich, was von Natur angenehm und genußreich ist. So wird denn der Glückliche solcher Freunde bedürfen, wenn anders er ein sittliches und ihm verwandtes Handeln gerne sieht, und ein solches Handeln in einem guten und befreundeten Manne ihm entgegentritt. Man meint ja auch, das Leben des Glücklichen müsse freudenreich sein. Nun ist aber für einen alleinstehenden Menschen das Leben schwer. Denn es ist nicht leicht, für sich allein beständig tätig zu sein, dagegen ist es mit anderen und für andere schon leichter. So wird demnach die an sich mit Lust verbundene Tätigkeit um so anhaltender werden, und so muß es beim glücklichen Menschen sein. Der rechtliche Mann hat als solcher an tugendhaften Handlungen Gefallen, an Handlungen dagegen, die aus Schlechtigkeit hervorgehen, hat er Mißfallen, ähnlich wie ein musikalisch Gebildeter über schöne Weisen Lust, über häßliche aber Unlust empfindet. Auch gestaltet sich das Zusammenleben mit trefflichen Menschen zu einer Art Tugendschule, wie schon TheognisTheognis, berühmter griechischer Spruchdichter aus dem 6. Jahrhundert. Hier ist auf Vers 35 seiner Gnomen hingezielt:

»Denn von Edlen lernst du Edles; den Schlechten gesellet
Büssest auch das du noch ein, was an Vernunft du gehegt.«
Übers. nach Lasson.

Aus diesem Vers stehen auch einige Worte am Schlusse dieses Buches. Theognis wird 1179b 6 noch einmal citiert. Vgl. auch V, Kap. 3, Anm. 117.

bemerkt.

Betrachtet man die Sache mehr vom naturphilosophischen Standpunkt, so erscheint ein tugendhafter Freund für einen Tugendhaften als von Natur begehrenswert. Wir haben gesagt, daß das von Natur Gute von selbst für den Tugendhaften gut und genußreich ist. Das Leben aber bestimmt man bei den Sinnenwesen als Vermögen der Wahrnehmung, beim Menschen als Vermögen der Wahrnehmung und des Denkens. Das Vermögen wird nun auf die Tätigkeit zurückgeführt, die das eigentlich Wertvolle und Maßgebende ist, und so muß denn als eigentliches Leben das Wahrnehmen oder Denken erscheinen. Das Leben aber gehört zu dem an sich Guten und Genußreichen, sofern es bestimmt und umschrieben ist, und die Bestimmtheit zur Natur des Guten gehört – was aber von Natur gut ist, das ist es auch für den Tugendhaften –, und eben darum findet jeder das Leben süß und angenehm. Man darf hier aber an kein lasterhaftes, verdorbenes oder mit Unlust verbundenes Leben denken; denn ein solches ist ebenso wie das, was ihm anhaftet, unbestimmt und unumschrieben, wie das im folgenden, wo von der Unlust die Rede sein wird, genauer erklärt werden soll. Wenn nun das Leben an sich gut und angenehm ist – wie auch daraus hervorgeht, daß alle nach ihm begehren, und am meisten die Tugendhaften und Glücklichen, weil für sie das Leben am begehrenswertesten und das Lebenslos am glücklichsten ist –, wenn ferner der Sehende wahrnimmt, daß er sieht, der Hörende, daß er hört, der Gehende, daß er geht, und so im übrigen immer etwas ist, womit wir unsere Tätigkeit wahrnehmen, so daß wir also wahrnehmen dürften, daß wir wahrnehmen, und denken, daß wir denken, was wieder so viel ist als Wahrnehmen oder Denken, daß wir sind – Sein hieß uns ja Wahrnehmen oder Denken –; wenn ferner die Wahrnehmung, daß man lebt, etwas an sich Angenehmes (1170b) ist, sofern das Leben von Natur ein Gut und es angenehm ist, das Gute in sich vorhanden zu fühlen; wenn außerdem noch das Leben begehrenswert ist, besonders für den Guten, weil das Sein für ihn gut und angenehm ist, sofern das Bewußtsein des an sich Guten ihm Freude macht; wenn endlich der Tugendhafte wie zu sich selbst ebenso auch zum Freunde sich verhält, der ja sein anderes Ich ist, – nun denn, so wird, wie das eigene Dasein von jedem begehrt wird, ebenso oder ähnlich das Dasein des Freundes von ihm begehrt. Das Dasein aber erschien als begehrenswert wegen des Bewußtseins der eigenen Güte, das wir aus ihm schöpfen, ein Bewußtsein, das an sich eine Quelle der Lust ist. Mithin bedarf es auch eines Bewußtseins vom Dasein des Freundes, und ein solches wird vermittelt durch das Zusammenleben und den Austausch der Worte und Gedanken. In diesem Sinne ist ja doch das Zusammenleben bei Menschen zu verstehen, nicht wie beim lieben Vieh vom Weiden auf einer Trift. Wenn also für den Glücklichen das Dasein an sich begehrenswert ist, weil es von Natur ein Gut und eine Lust ist, und ähnliches von dem des Freundes gilt, so muß auch der Freund zu den begehrenswerten Dingen zählen. Was der Glückliche aber begehrt, das muß er haben, sonst geht ihm in diesem Punkte etwas ab. Mithin wird man, um glücklich zu sein, tugendhafte Freunde haben müssen.


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