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Von Clara Rohrbach.
Vor mir liegt eine Anzahl Blätter mit Aufzeichnungen einer Dame, deren Bekanntschaft ich in Windhuk machte. Die Verfasserin hat die Zeit beim Ausbruch des Aufstandes, die noch in allen Erzählungen nachzitterte, als ich unsern Windhuker Haushalt zu führen begann, mit erlebt, und wenn ich einiges von häuslichen Dingen aus dieser Friedensoase in dem damals noch ganz von Krieg erfüllten Lande erzählen soll, scheint es billig, vorher noch einer Frau das Wort zu geben, die die Kugeln im Ernst um sich und die Ihren hat pfeifen hören. Es ist Fräulein Margarete Kühnholdt, gegenwärtig als Pflegeschwester im Dienst des vaterländischen kolonialen Frauenvereins im Regierungshospital zu Tanga, Deutsch-Ostafrika, tätig. Als der Hereroaufstand ausbrach, lebte sie im Hause ihres Schwagers, des Bergwerksdirektors der Otavi-Minen- und Eisenbahngesellschaft, Th. Gathmann, in Otavi. Otavi liegt etwa 90 km von Grootfontein entfernt und wurde 10 Tage, nachdem der Aufstand im Norden ausgebrochen war, durch eine von dem Kommandanten von Grootfontein, dem damaligen Oberleutnant (jetzt Hauptmann a. D.) Volkmann entsandte Hilfsabteilung entsetzt. Die kleine Stationsbesatzung und die übrigen Weißen am Platz sowie der größte Teil des Viehs und der Vorräte wurden glücklich nach Grootfontein gerettet. Aus diesen Tagen stammen die nachstehend als erstes Stück mitgeteilten Notizen, während Nr. 2 und 3 meinen eigenen Windhuker Aufzeichnungen entnommen sind.
Otavi, den 17. Januar 1904. Morgen sind wir sechs Wochen hier, und was haben wir alles erlebt! Vor 8 Tagen schon kamen beunruhigende Nachrichten aus der Grootfonteiner Gegend. Hereros hatten dort, nahe der Grenze gegen den Distrikt Okahandja, eine Farm überfallen. Unter dem Vorwande, etwas kaufen zu wollen, waren vier Hereros in den zur Farm gehörigen Store gekommen, hatten den Besitzer Grünwaldt niedergeworfen, gefesselt, dann Kisten und Kasten erbrochen, auch zwei Gewehre und etwa 100 Patronen erbeutet. Den Farm-Ochsenwagen hatte sich der Kapitän am Morgen geliehen, so daß Grünwaldt, nachdem er sich hatte freimachen können, zu Fuß nach Grootfontein laufen mußte. Einige Tage darauf ist noch eine Farm in der Nähe von Rietfontein (53 km von hier) überfallen und das Vieh geraubt worden, worauf der Besitzer floh. Oberleutnant Volkmann von Grootfontein ist mit 7 Mann unterwegs, um die Schuldigen zu strafen. Inzwischen ist der Aufruhr immer weiter gegangen. Gestern, Sonnabend früh, machte sich eine große Unruhe unter unseren Eingeborenen bemerkbar. Man hörte dann gleich, daß ein Mann von Waterberg mit der Nachricht gekommen war, daß dort alles in hellem Aufruhr sei. Bald darauf verschwanden sämtliche Eingeborene vom Hof, um nach der Werft zu laufen, kamen dann aber zum Teil wieder. Wir ließen, da man hörte, daß das Vieh von der Station und alle Pferde schon von den Hereros fortgetrieben seien, schleunigst allen Proviant, Getränke, Wein etc. nach der Station hinüberschaffen, die besser zu verteidigen ist, als das weitläufige Kompaniegebäude, glaubten aber nicht, daß die Gefahr schon so nahe sei, wie sie war. Herr S. und K. waren gerade auf der Station, Th. und Lene Herr und Frau Direktor Gathmann. auf der Veranda des Wohnhauses und ich noch beim Ausräumen in der Speisekammer, als sich plötzlich dicht neben dem Küchengebäude, hinter der kleinen Umfassungsmauer unseres Grundstücks, im Busch ein wildes Geschrei erhob und ein Schuß fiel. Ich, im Nu die Speisekammer verschließend, einen Topf Milch in der Hand, in vollem Lauf über den Hof, hinter Th., der gerade losdrückt, in die Kammer, wo Lene mit den drei Kindern auf der Erde saß, da die Fenster den Kugeln freien Durchgang boten. Zwei von unseren Eingeborenen waren allein bei uns geblieben und halfen Th., der draußen auf der Veranda ganz ohne Deckung war und schoß. Lene kauerte auf der Erde und lud. Endlich kamen Herr S. und K. von der Station uns zu Hilfe und gaben jeder noch zwei Schüsse ab, worauf die Angreifer feige sich weiter in den Busch zurückzogen und das Schießen aufhörte. Der Reiter Tobias von der Stationsbesatzung kam auch, so daß wir unter Bedeckung nach der Station hinüberflüchten konnten; quer durch den Busch und über die Mauer, jedes eins von den drei Kindern unterm Arm, mit einigen wenigen Sachen, die wir in der Eile zusammenraffen konnten. Inzwischen hatte sich herausgestellt, daß der Gärtner Wichert, der unten im Garten (20. Min. entfernt) arbeitete, überfallen, sein Gewehr und Patronen geraubt und alle unsere sowie die Kompanie- und Stationspferde fortgetrieben waren. Unteroffizier Weber ging mit Tobias und Herrn S. hinunter, um Wichert zu befreien, sie fanden ihn aber nicht, wurden vielmehr selbst auf dem Rückwege vom Garten aus dem Busch beschossen. Der Knall verriet, daß es ein 88 er Gewehr war; das läßt darauf schließen, daß anscheinend die Station Waterberg bereits überfallen und beraubt ist, da 88 er nur vom Militär geführt werden.
Zur allgemeinen Freude kam schließlich nach einigen Stunden Wichert unversehrt in Begleitung mehrerer Eingeborener zurück. Ihn hatten etwa 30 Hereros bei der Arbeit überfallen, zum Teil Leute von Otjonga (70 km von Otavi am Wege nach Waterberg); nachdem sie ihm Gewehr und Patronen geraubt hatten, wollten sie ihn binden und ihm einen Strick um den Hals legen, aber die im Garten arbeitenden Jungen hatten das denn doch nicht zugelassen. So brachten sie ihn auf die Werft zum hiesigen Kapitän Nikodemus, einem Menschen von durch und durch falschem Charakter, der offenbar noch nicht recht wußte, auf welche Seite er sich stellen sollte und schließlich den Mann freiließ.
Morgens früh, vor dem Überfall auf uns, hatten die Hereros bereits versucht, die Soldaten mit List von der Station zu locken, um sie dann einzeln zu überwältigen und die Schußwaffen samt Munition in die Hände zu bekommen. Sie kamen, samt Nikodemus, mit einem Gefangenen, der ein Kalb gestohlen haben sollte, und verlangten, Tobias solle zur Feststellung des Tatbestandes mit ihnen gehen. Volkmann hatte aber die Station bereits gewarnt, und die Leute waren vorsichtig genug, sich nicht überrumpeln zu lassen. Dann versuchten es die Hereros auf die Weise, daß sie uns überfielen und meinten, die Stationsbesatzung würde uns zu Hilfe eilen. Auch das gelang ihnen nicht, da der Befehl von Grootfontein strikt dahin lautete, die Station nicht im Stiche zu lassen. Im Laufe des Nachmittags kam auch der Bote zurück, den wir am 14. nach Waterberg geschickt hatten. Die Hereros hatten ihn gefangen und mit einem Riemen um den Hals mit sich bei dem Überfall auf unser Haus im Busch gehabt; bei ihrer eigenen Flucht ließen sie ihn dann laufen.
Im Laufe des Nachmittags sind wir noch einige Male unter Bedeckung in unserem Hause gewesen, um die wertvolleren Sachen, Wäsche, Kleider usw. hierher auf die Station zu holen. Noch leben wir in der Hoffnung, daß Hilfe von Outjo kommt und wir unter Schutz wieder drüben wohnen können; nach Outjo sind Boten geschickt. Heute ist die Eingeborenenwerft verlassen worden – vermutlich weil Unteroffizier Weber gedroht hatte, sie zu beschießen, wenn das Waterberg'sche Gewehr nicht herausgegeben würde.
Gestern gegen Abend kam plötzlich ein Wagen von Waterberg: der alte Bur Dewet. Die Hereros hatten ihn bei Otjenga ausgeplündert und ihm umzukehren befohlen; er erzählte, daß in Waterberg die Station mit List überfallen und auch Outjo und Omaruru selbst in großer Sorge seien … Übrigens haben wir drüben gefunden, daß der auf Th. abgefeuerte Schuß dicht unterhalb in die Verandabrüstung gedrungen ist. Wie leicht hätte es schlecht ablaufen können!
Den 18. Januar. Die Nacht ist gut verlaufen. Abends war alles ziemlich aufgeregt – eine unheimliche Stille überall, dabei stockdunkel; später fortwährend strömender Regen und starkes Gewitter. Man hörte nichts, was etwa draußen vor sich ging und wir bekamen strikte Ordre, auf keinen Fall unsere Tür zu öffnen. Heute früh zwischen 5 und 6 Uhr plötzlich großer Lärm, doch hörten wir gleich, daß es nichts Feindliches war. Es war eine Patrouille von Grootfontein unter Führung von Roßarzt Hörauf, drei Reiter und zwei Eingeborene. Dort war schon erzählt worden, Otavi sei in den Händen von 200-300 Hereros, die Station gefallen, wir alle höchstwahrscheinlich tot. Auch Oberleutnant Volkmann, den die Hereros tot gesagt haben, ist am Leben. Leider sonst nur schlechte Nachrichten.
Es wird beschlossen, daß wir sämtliche Otavileute nebst Stationsbesatzung nach Grootfontein zurückziehen sollten. Den ganzen Tag haben wir gepackt, und haben doch so manches hier lassen müssen, schweren Herzens. Wer weiß, wie wir alles wiederfinden werden! Heute Nachmittag großer Schrecken: es hieß, die Ochsen seien weg! Tatsächlich sollte die Herde auch schon fortgetrieben werden, aber etwa 1 km entfernt konnte sie noch eingeholt werden. Die Büsche stecken voll feindlicher Spione.
Den 19. Januar. Heute früh 5 Uhr allgemeines Aufstehen und schleuniges Packen; Wagen und Ochsen werden zu Gespannen gesondert. Roßarzt Hörauf reitet mit seinen Leuten die Umgegend ab. Fast alle Eingeborenen sind verschwunden, wohl um zu melden, daß wir nach Grootfontein wollen. Alles war fertig, die Marschordnung bestimmt, die Ochsen größtenteils eingespannt, als ein Ovambo, der am 16. morgens nach Grootfontein geschickt war, mit einem Brief von Oberleutnant Volkmann zurückkam: Roßarzt Hörauf solle den Befehl in Otavi übernehmen, bis Entsatz komme; am 12. Januar sei Hauptmann Kliefoth mit 45 Mann und 1 Geschütz von Outjo nach Waterberg aufgebrochen, in Grootfontein werde zum 18. ein Angriff der Hereros erwartet. Der Bote hat bei Rietfontein viele Hereros gesehen, hier in der Nähe nicht … Unsere Ochsen weiden in Sichtweite, mit fünf Ovambowächtern. Außerdem steht ein Soldat dabei, und die Ovambos sind mit Erschießen bedroht, sobald einer versucht, zu verschwinden. Es regnet zeitweise in Strömen. Die Station ist befestigt worden, Stacheldraht rings herum gezogen, ein Ochsenkraal in unmittelbarer Nähe gemacht. Nachts Wachen; von Hereros keine Spur.
Den 20. Januar. Heute ordentlich ausgeschlafen – noch sind keine bedeutenden Ereignisse eingetreten … Plötzlich hat sich alles geändert. Nachmittags tauchte eine Kavalkade von 23 Reitern aus dem Busch hervor: der Entsatz von Grootfontein – meist Buren, einige Deutsche. Der Krieg ist entbrannt; am 18. haben die Grootfonteiner gefochten und einen großen Erfolg gehabt, leider auch schmerzliche Verluste. Der Weg soll schrecklich sein, fraglich, ob wir mit den Wagen durchkommen. Wir wollen es versuchen; gehts nicht, so muß stehen bleiben, was stehen bleibt. Auf alle Fälle ist für uns eine Mauleselkarre von Grootfontein mit. Wir müssen über Rietfontein und Urupupa, wo auch noch eine Familie abzuholen ist … Heute Vormittag kam eine Karre auf dem Wege von Outjo – ein Farmer Hartmann aus dem Norden, der ganz ahnungslos nach Grootfontein wollte, um sich Kost zu holen. Er ist nun schleunigst umgekehrt, sein Vieh zu sichern. Die Ovambos sollen auch im Anmarsch sein! Morgen früh 4 Uhr soll's von hier losgehen.
Den 21. Januar. Um 3 Uhr aufgestanden. Die Nacht war unruhig; die Ochsen vor den Wagen, die Pferde auf dem Hofe in fortwährender Bewegung. Der Weg nach Grootfontein, landschaftlich sehr hübsch, ist jetzt leider ein stark strömender Fluß, in dessen Bett wir uns vorwärts arbeiten müssen. Die Ochsen sind oft bis an den Leib im Wasser. Die Buren helfen tüchtig, sind auf ihren Pferden bald hier, bald dort. Es gibt fortwährenden Aufenthalt: hier reißt etwas am Treckzeug, dann sitzt ein Wagen fest; viele Ochsen sind nicht eingefahren. Einmal sitzt die Ochsenkarre der Station hinter einem Baum fest, der gefällt werden muß; die Eselkarre muß halten, weil mehrere Esel im Geschirr gestürzt sind. Schließlich sind wir mit unserem Wagen von der Mitte des Zuges an die Spitze gerückt. Halb acht Uhr früh – wir warten hier am Fuß der Berge, deren Spitzen im Nebel verschwinden. Jenseits soll der Weg besser werden – einmal sind wir schon fast umgekippt. Von dem Rest unserer Eingeborenen ist in dieser Nacht wieder die Hälfte desertiert; wenn die Buren nicht so hülfen, kämen wir überhaupt nicht weiter … Vier Stunden hat es gedauert, bis die hinteren Wagen die »Pfort« (ca. 1500 Meter Weg) passiert hatten! Jetzt ist der Weg besser, rechts und links hohe, bewaldete Berge, das Tal eine grüne Wiese voll blühender Blumen. Von Hereros keine Spur. Es wird trotz der vielen Klippen schnell gefahren, doch erreichen wir Urupupa heute längst nicht. Abends noch eine Eßpause, dann weiter durch Nacht, Wasser und Klippen. Um 11 Uhr ausgespannt, Rast bis 2 Uhr früh, dann wieder weiter.
Den 22. Januar. Furchtbarer Regen. Es wird Erbswurstsuppe gekocht und Grog gemacht; gegen 8 Uhr hellt sich der Himmel etwas auf. Sehr schlechter Weg; die Reiter sind alle total durchnäßt und frieren wie die Schneider. Es ist die reine Ironie, in Südafrika im heißesten Monat einen Grog zur Erwärmung nötig zu haben! Die Buren stehen ohne Stiefel und Strümpfe bis ans Knie im Wasser, um uns mit den Wagen vorwärts zu helfen. Ohne sie würden wahrscheinlich alle Gespanne stecken bleiben. 8½ Uhr Weiterfahrt an Guchab vorüber, oben auf dem Berge liegt eine der Kupferminen des Otavidistrikts. Der Weg ist so steinig, daß uns im Wagen die Seekrankheit anwandelt. Gegen Mittag kamen wir in Urupupa an. Es ist wirklich ein schönes Stück von Südwest, das wir bei unserer Kriegsfahrt kennen lernen. Die Farm liegt wunderhübsch, prächtiger Ausblick auf die dunkel bewaldeten Berge im Norden und die weite Fläche im Süden. Wir bleiben bis morgen früh hier, um nicht noch eine Nacht im Freien liegen zu müssen, und weil der Weg jetzt durch den dichten Busch gefährlich wird. Hier wohnen die Farmer Sobolewsky und Siemens, außerdem ist eine Familie Nieuwenhuis von Omambonde hierher geflüchtet, mit zwei kleinen Kindern. Sie sind auch überfallen, total ausgeraubt, Vieh fortgetrieben, Haus zerstört. Auch der Farmer Prion von Rietfontein mit seiner jungen Frau ist hier, mit Sack und Pack. Alles geht mit uns nach Grootfontein. Drei schwer bepackte Wagen stehen bereit – dazu unsere sieben, samt verschiedenen Karren: es wird ein mächtiger Zug. Hier auf der Farm ist ein ganz neues Haus, ein Garten mit jungen Obstbäumen, 150 Morgen junges prächtiges Maisfeld. Wie schwer mag es den Leuten werden, das alles, wo soviel Arbeit von ihnen drinsteckt, im Stich zu lassen! …
Ein wahres Getöse von Menschenstimmen, Rufen, Wiehern, Viehgebrüll. Überall wird abgekocht; ein heute Mittag geschlachteter Ochse ist zerlegt und verteilt … Die Leute erzählten, der »Fechtgeneral« der Hereros, der am 18. gefallen ist, soll aus einem Krieg der Deutschen gegen die Hottentotten von früher her die Tapferkeitsmedaille von uns bekommen haben. Von Süden auch hier keine Nachricht.
Den 23. Januar. Die Nacht in Urupupa ohne Störung. Heute früh halfen die Buren wieder beim Einspannen; es ging mächtig schnell. Um 6 Uhr Abfahrt. Der Weg ist teilweise wieder sehr schlecht; ein »Durchschlag«, in dem die Räder bis zur Achse einsinken, folgt dem andern, doch kommen wir gut vorwärts. Lange Zeit geht der Weg durch dichtes Gebüsch; kurz vor Uitkomst kehrt plötzlich die vorausfahrende Eselkarre um, da der darinsitzende Mann sieben Schüsse gehört hat. Der ganze Zug stockt; wir stellen Koffer und Korb auf die Vorkiste, legen die Kinder platt in den Wagen – aber es waren keine Hereros da, die uns angreifen wollten, sondern nur einige Mais klauende Eingeborene im Garten von Uitkomst, die durch Schüsse in die Flucht gejagt wurden. – – – – Jetzt ist nichts mehr zu befürchten, die Fläche vor Grootfontein ist erreicht, und die Station wird vorn auf der Höhe sichtbar! – – –
Windhuk, den 26. Dezember 1904.
… Was wir hier vom Kriege merken? Direkt wenig. Trotha ist zwar jetzt mit dem Hauptquartier hier; ab und zu sieht man die beladenen Wagenkolonnen an unserem Hause vorbei nach dem Süden ziehen; in unserer Zeitung, die einmal wöchentlich erscheint, stehen in jeder Nummer auch ein paar trockene, zusammenhangslose Notizen über Gefechte und Märsche und lange Listen von Gefallenen, Verwundeten und noch mehr im Lazarett an Typhus Verstorbenen. Dazu kommt die große, selbst für unsere afrikanischen Verhältnisse schwere Knappheit und Teuerung aller Lebensmittel, da die Bahn bis aufs äußerste für den Transport von Kriegsbedarf ausgenützt wird.
Die Krankenziffer in den Lazaretten ist wirklich furchtbar, in Windhuk selbst wie im Felde. Oben am Berge, in der Oberstadt, liegt das große Typhuslazarett mit seinen Nebenbaracken: etwas entfernter die Zelte der Rekonvaleszenten.
Die Leichtkranken unter den Soldaten und die Rekonvaleszenten haben auch ihren Baum bekommen, einen künstlichen natürlich. Die Weihnachtskisten von Hause, die Briefe von den Ihrigen sind da, es wird ausgepackt, gelesen, man freut sich auf Genesung und Heimkehr – da ist noch Weihnachtsfreude! Aber daneben, bei den Schwerkranken, ist's furchtbar, ein Stöhnen und Schreien, daß die Familien, die in der Nähe wohnen, von den offenen Veranden, auf denen man hier in der heißen Zeit fast ausschließlich lebt, ins Zimmer flüchten, um nichts mehr hören zu müssen. Da – eben wieder ein Sterbender, gerade am Weihnachtsabend.
Die wachhabende Schwester tritt heraus auf die Veranda; ein wüstes Gejohl von heiseren Menschenstimmen dringt zu ihr herauf: Junggesellen, die mit dem Abend nichts weiter anzufangen wissen, als ihn gründlich zu versaufen, haben sich zusammengetan.
Weihnachten in Afrika liegt unter glühendem, blendendem, alles erbarmungslos überflutendem Sonnenschein. Wie gern wäre ich durch die maßlos schmutzige Leipzigerstraße bei Tauwetter gestapft, nur um einmal diesem ewigen südafrikanischen Sonnenschein zu entfliehen! Wie bei uns daheim zu Pfingsten, so bekommt man hier zu Weihnachten neue weiße Hüte und Kleider. In friedlichen Zeiten macht man auch Landpartien, aber jetzt im Kriege kann nichts unternommen werden. Die nächste Umgebung von Windhuk ist zwar leidlich sicher, aber für Nichtmilitärs gibt es schon seit Jahr und Tag keine Karre und keine Bespannung mehr. Kein Beamter hat mehr ein Pferd, wo ihm früher drei von dienstwegen zukamen – alles längst requiriert.
Daß bei uns in dieser fremden und trotz alles Sonnenscheins unter den jetzigen Umständen doch recht trüben Welt nicht viel von Weihnachtsstimmung die Rede war, läßt sich denken. In dem größten der hiesigen Stores ist »Weihnachtsausstellung«, ganz nett für Afrika; die Hiesigen kauften auch ganz tüchtig, ich war aber doch froh, daß ich dies Jahr noch nicht viel zu kaufen brauchte; hatte ich doch in der Hauptsache schon zu Hause fürs Fest vorgesorgt. Am Tage vor Heiligabend entdeckten wir irgendwo Äpfel, Pfund 1 Mark. Es war ein großer Genuß, heimisches Obst zu haben. Vor allem roch es dadurch im Zimmer etwas weihnachtlich.
Um doch den Versuch zu machen, uns etwas Feststimmung zu schaffen, wurde beschlossen, auf jeden Fall in die Kirche zu gehen. Da jetzt die längsten Tage sind und man den Weihnachtsbaum doch nicht anzünden kann, solange die Sonne hoch am Himmel steht, ist erst gegen 7 Uhr Andacht. Im Pastorhaus, in einem mit Steinfliesen gepflasterten Saal, finden die Gottesdienste statt. Alle Fenster standen weit auf; in einer Ecke brannte ein großer künstlicher Weihnachtsbaum, die Wände waren mit Palmenzweigen geschmückt. Es gab Liturgie, kurze Ansprache, Gesang. Eigentümlich war es zu singen: Und hat ein Blümlein bracht – mitten im kalten Winter …, denn es war so unmenschlich heiß, wie zu Hause selbst im Hochsommer nie. Darum sind auch die Gottesdienste hier immer kurz und finden, so oft es angeht, frühmorgens im Freien unter den großen Bäumen im sog. Forstgarten statt.
Etwas ganz Unerwartetes hat uns dann im letzten Augenblick doch noch ein Stück rechter Weihnachtsfreude zum Heiligabend gebracht. Andries de Wet, der Afrikaner, mit seiner jungen deutschen Frau und einer mütterlichen Tante waren als Flüchtlinge am selben Tage von Gibeon her angekommen. Sie waren mit genauer Not im Oktober, kaum drei Monate verheiratet, dem Tode entgangen, als der Witbooiaufstand ausbrach, hatten alle drei nur das nackte Leben nach Gibeon hinein gerettet und dort in engster Einschließung eine schreckliche Zeit durchgemacht. Sie haben alles verloren, dazu die Entbehrungen und die stete Lebensgefahr während der langen Fahrt mit der Ochsenkarre von Gibeon bis Windhuk – und nun bekamen sie doch noch unerwartet einen Weihnachtsabend. Sobald wir von ihnen gehört hatten, forderten wir sie natürlich sofort zu uns auf.
Der Zeitunterschied zwischen uns und Berlin ist nur eine Viertelstunde. Um 8 Uhr gab es Christbaum, Punsch und Heimatsgedenken. Den Kindern war gesagt worden: morgen ist Weihnachten! – nach der Kirche wäre es für sie zur Bescherung zu spät gewesen. Der Baum ist auch bei uns ein künstlicher, ein Gestell aus Holz und Draht mit grüngefärbten Federfahnen beklebt. Jeder Drahtzweig läuft am Ende gleich in ein Leuchterchen aus. Außerdem Kuchen, Sterne und Figuren und zwanzig Lichtchen drauf. Der »Onkel« V., der den Buben so gern hat, hatte ihm aus seinem Store eine Tüte voll Schokoladefiguren und Zuckerpuppen spendiert. Aber ach, Afrika! Kaum brannte der Baum, so fingen Puppen und Schornsteinfeger an, sich in der Doppelglut aufzulösen, und schwarzbraun tropfte es von allen Ecken auf das weiße Tischtuch unterm Baum herunter.
Die Weihnachtslieder und die wehmütige Freude der drei Vertriebenen, Heimatlosen, taten es uns dann aber doch noch an. Die guten Menschen, die eben mitten aus Not, Gefahr und Entbehrungen gekommen waren, fühlten so rührend dankbar, als sie mit uns vor dem brennenden Baum und der Krippe standen und alle miteinander das erste Christlied anstimmten, so daß wir aufrichtig glücklich waren über das, was wir ihnen bieten konnten.
Gestern, am ersten Feiertag, war nun erst »richtiger« Weihnachtsabend mit Bescherung für Groß, Klein, Weiß, Schwarz und Gelb. Unsere Eingeborenen mußten natürlich auch »Präsent« zu »Christmas« haben. (Das deutsch-englisch-holländische Kauderwelsch, in dem man sich hier bis auf weiteres mit den dienstbaren Geistern verständigen muß, ist ganz schrecklich.) Für sie war beiseit eine Tafel gedeckt, auf der jeder seinen Teller und sein Häufchen Sachen fand. Unsere beiden Jungen, der Oberbambuse und der Küchenjunge, bekamen weißblau gestreifte Anzüge, Hemden, Arbeitsschürzen, Taschentücher (mehr auf meinen, als auf ihren Wunsch – jedenfalls aber mit Erfolg!), das halbwüchsige Hottentottenmädchen und die Hererowaschfrau Schürzen, Strümpfe, Kopftücher und kleine billige Schmuckgegenstände, jeder einzelne eine Büchse voll Kaffee und Zucker, zwei Platten Tabak und einen halben (mit Schmalz und Korinthen gebackenen) Napfkuchen. Die Freude der Eingeborenen äußerte sich noch außerordentlich urwüchsig, nämlich in einem höchst eilig vollführten Zusammenraffen der Sachen und Abschleppen in die Küche. Aber noch einmal mußten sie antreten. Ich kenne die Melodie, die sie am liebsten singen, schlug an und Deutsch, Nama und Herero klang es zugleich: Vom Himmel hoch, da komm' ich her!
Als ich etwas später in die Küche kam, sah ich unsern Pensmann mit einem Gesicht, das nicht vollste Befriedigung ausdrückte, am Küchentisch stehen. Fragend sehe ich ihn an. »Supi, Missi,« kommt es halb verschämt, halb melancholisch aus seinem Munde. – Also das war's! Vergnügt deutete ich auf seinen Teller, wo unter der Napfkuchenhälfte noch ein Fläschchen – Kurfürstlicher Magenbitter – verborgen lag. »Hast du denn nicht gefunden …?« Ein Griff – und ein strahlendes Hottentottengesicht, so daß ich wirklich froh war, nicht gewissenhaft gewesen zu sein. Denn Branntwein soll den Eingeborenen eigentlich nicht gegeben werden, weswegen wir auch keinen Leuteschnaps im Hause halten. So war er denn noch zu dieser feinen Sorte gekommen. Ohne das Fläschchen wäre für den Hottentottenmagen doch kein rechtes »Weihnachten« gewesen!
Wie immer zu Hause, so hat es auch hier zu Weihnachten geheißen: Friede auf Erden! Wann wir aber wirklich Friede haben werden, das wagt hier niemand zu sagen, und die das Land und die Verhältnisse am besten kennen, wagen es am allerwenigsten. – Wieviel Heldenmut von unsern kämpfenden und entbehrenden Soldaten in diesem Lande und in diesen Verhältnissen gefordert und geleistet wird, weiß zu Hause kaum jemand. Mehr Teilnahme, mehr Gefühl der Verpflichtung und Dankbarkeit bei ihren Landsleuten, das möchte man wohl denen zu Weihnachten wünschen, die doch nichts weniger als ihr Leben einsetzen für Besitztum und Ehre des Landes, dem wir alle, hüben wie drüben, angehören.
Windhuk, den 2. Juni 1905.
Jetzt ist doch gekommen, was man zu Weihnachten, trotz aller Versicherungen derer, die es nun so und so oft erlebt haben, für unmöglich halten wollte: Etwas wie Winter! Der Wechsel war ganz plötzlich. Es war zwar schon seit Anfang April morgens und abends recht kühl gewesen, aber sonst immer noch nach heimischen Begriffen hochsommerlich. Vor einigen Tagen wachte ich einmal morgens mit förmlich erfrorenen Füßen auf, der Sturm heulte ums Haus, und meine Leute kamen zitternd und bebend mit vermummelten Köpfen von der Werft: eiskalt, Missi, eiskalt! Nachts hatten alle Pfützen eine Eiskruste bekommen. Die Kinder müssen jetzt morgens länger im Bett liegen; ich suchte lauter wollenes Zeug hervor. Meinen Morgenkaffee trinke ich jetzt im Zimmer, in eine Reisedecke eingewickelt. Die meisten Häuser haben keine Öfen; auch ist es sehr schwer jetzt Holz zu bekommen. Für gewöhnlich gehen die Weiber und Kinder von den Eingeborenen-Werften hinaus in die Umgegend und sammeln im Busch dürres Holz, das sie dann hereinbringen und in den Häusern, an die sie sich allmählich gewöhnt haben, gegen Entlohnung in Reis oder Mehl abliefern, aber seit mit dem Kriege der Holzbedarf in Windhuk durch das viele Militär und den damit zusammenhängenden Zuzug so vermehrt ist, sind die Holzfrauen so begehrt (und der Preis so gestiegen!) daß die »Konkurrenz« die Holzfrauen meist schon abfängt, bevor sie bis zu uns heraufgekommen sind. Im Notfalle kann man von Frachtführern, die mit leeren Wagen hereinkommen und sich ein Geschäft daraus machen, große Kloben zu kaufen bekommen, ganze trockene Baumstämme, die sie draußen im Felde aufladen und für die Windhuker Holzbedürftigen gegen schweres Geld mitnehmen – aber diese Stämme sind meist eisenhart und kaum zu zerkleinern. Also heißt es: Jungens schleppt Weiber an, sonst müßt ihr selber sägen und hacken!
Das macht ihnen, wie alle wirklich schwere Arbeit, kein Vergnügen (unsere Hottentotten sind auch körperlich weniger geeignet dazu) und so nutzen sie denn in ihrem wie in unserm Interesse ihre Beziehungen auf der Werft möglichst dazu aus, um die Holzsammlerinnen glücklich bis in unser Haus zu dirigieren. Manchmal kommt ein ganzes Dutzend auf einmal, bis zu kaum fünfjährigen kleinen Bengels und Mädchen herab, anmarschiert: jedes mit einem meist sehr winzigen Bündelchen auf dem Kopf und einem Blechtopf für den zu empfangenden Reis, so groß, als ob es ein Familiengericht für die fünf Holzstängel geben sollte.
Meinen frierenden Hottentotten koche ich morgens und abends einen Topf Tee, damit sie warm werden. Dabei kommt es auf die Sorte gar nicht so sehr an: ich nehme, was ich gerade zur Hand habe – Brusttee, Pfeffermünztee, Fliedertee, richtigen Tee; Hauptsache ist nur, daß er heiß ist und etwas Zucker daran.
Neulich eines Morgens kommt der »kleine« Bambuse Hermann ohne Strümpfe an. »Du, ich habe dir doch Strümpfe geschenkt, wo hast du die?« H. kratzt sich hinter den Ohren: »Missi, ja die hat Pensmann (der Oberbambuse) genommen!« Hier ist durchweg bei den Eingeborenen der ältere derjenige, der kommandiert. Leider ist es ein ziemlich aussichtsloses Beginnen, den Leuten allen etwas anständige Kleidung verschaffen zu wollen; erbarmungslos wird alles heruntergerissen, verschenkt, vertauscht, verloren, beim Trocknen auf den von Tausenden von Widerhaken starrenden Dornbüschen zerrissen. Ich werde Pensmann morgen die Leviten lesen und mir nun eine Weile täglich von Hermann die neu spendierten Strümpfe zeigen lassen. Mit der Zeit muß doch etwas Erziehung in diese unausstehliche Lappen- und Lumpenwirtschaft kommen.
Heute sprach ich mit dem hiesigen Missionar darüber, was denn die Leute früher gemacht hätten, ehe wir Europäer Kleidung ins Land brachten. Er sagte: Die Pontoks wären früher besser und wärmer gebaut gewesen. Jetzt machen die Leute sich ihre Hütten aus Kistendeckeln und weggeworfenen Zinkblechen. Früher gingen sie auch von ihrem Feuer nicht fort, solange es kalt war; auszugehen zwang sie ja niemand, als sie noch Herren auf ihren Werften waren. Jetzt, wo sie dienen und morgens früh antreten müssen, sind alle Lebensumstände für sie anders geworden.
Gestern war Himmelfahrt. Wie genügsam man hier doch werden muß in jeder Beziehung – unser Himmelfahrtsvergnügen war, einmal die staubige Storestraße hinunter- und dann oben auf der Bergstraße zurückzuspazieren. Mehr kann man beim besten Willen mit den Kindern nicht unternehmen. Nachmittags zum Kaffee alte Semmel ohne Butter, denn die Büchsenbutter ist nur zum Kochen zu brauchen, und die Kühe, die es früher um Windhuk herum gab, haben die Hereros geraubt. Und Kuchen? Ja, Kuchen! Wie soll man backen, wenn man keine Eier hat und kein Mehl von Swakopmund herauf kommt, sondern nur Hafer, Patronen und Corned Beef für die Truppe. Die Hühner legen jetzt im Winter fast gar nicht, und wenn man überhaupt Eier zu kaufen bekommt, so kosten sie sechs Mark pro Dutzend. Für den Pfingstkuchen, der gebacken werden soll, habe ich übrigens doch ½ Dutzend erwischt.
Ungemütlich ist das Verschobensein aller Begriffe. Jetzt, wo die Tage am kürzesten sind, wo man sich morgens und abends vor Kälte kaum an die Waschschüssel getraut, wo man in ein eiskaltes Bett steigt, wo einem früh beim Feldgottesdienste im Park die Füße fast erfrieren, so daß man am ehesten noch an geheizte Öfen und anzufangende Weihnachtsarbeiten denken könnte, da soll man Pfingsten feiern und sich blühende Flieder, Goldlack und Maiglöckchen daheim vorstellen!
Die Frau, die nach Deutsch-Südafrika geht, muß vieles entbehren, muß alles verstehen, alles selbst machen können, und was sie nicht mitbringt, das hat sie nicht. Die Leute die man bekommt, verstehen meist so gut wie nichts, sind von Natur schmutzig, können nicht begreifen, was Ordnung ist, und wenn sie einem viel entgegen bringen, so ist es guter Wille. Alles muß ihnen erst gezeigt, vorgemacht werden, und nicht einmal, sondern mit großer Geduld immer von neuem. Geschirr wird unendlich viel zerbrochen, Kinderspielzeug, das zufällig auf der Erde liegt, wird besinnungslos ausgefegt, die Waschfrauen stärken, was sie nicht stärken sollen, stecken dunkle Sachen mit in den Waschkessel, so daß alle weiße Wäsche auf ewig blaugekocht bleibt u. s. f. In einem der vielen Bücher über Südwestafrika steht der Satz: Zur richtigen Kolonisation und Verwaltung gehörten hier als erste Erfordernisse eine unendliche Geduld und ein unbegrenztes Wohlwollen. Der Verfasser hätte noch hinzufügen sollen: ein gut Teil praktische Pädagogik. Die Frau, die mit diesen drei Dingen nicht ausgerüstet ist,, soll auf keinen Fall hierher kommen; sie würde kläglich Schiffbruch leiden. Die Leute laufen ihr fort, stellen sich krank, verstecken sich im Pontok, und der geplagte Ehemann kann sich dann auf die Beine machen und die Schlingel mit Hilfe der Polizei zusammensuchen. Und doch sehe ich schon soviel, daß man auch diese Hottentotten und Kaffern mit rechter Behandlung zu ganz brauchbaren Gehilfen machen kann. Wenigstens meine zwei Jungen hoffe ich zu behalten, solange wir hier an diese Scholle gebunden sind. Ganz besonders lieben sie Musik. Pensmann ist etwas schwerfällig und vergißt oft beim Tischdecken dies oder jenes. Da mache ich mir manchmal das Vergnügen und setze mich ans Klavier; ich spiele Irgend eine Melodie, die er von der Missionsstunde her kennt (getauft ist er noch nicht). Ihr solltet einmal sehen, wie der Junge sich im Zimmer zu schaffen macht und sucht und sucht, was wohl noch zu tun wäre, nur um lauschen zu können. An dem Tage fehlt sicher keine Gabel, kein Salzfaß! Also – um gute Leute zu haben, muß man ihnen Klavier vorspielen? Nein, so nicht, aber mit Interesse versuchen, ihre Eigenart kennen zu lernen, um von hier aus den richtigen Weg zur Behandlung zu finden. So erleichtert man sich selbst das Leben hier in dieser Einöde. – Um hier als Frau zu leben, muß man etwas können, etwas gelernt haben, denn gegeben wird einem hier – außer etwas freundschaftlichem Verkehr – so gut wie nichts. Allerdings wenn man diese Vorbedingungen mitbringt, wenn man einigermaßen etwas zu geben hat, findet man auch Menschen, die dafür von Herzen dankbar sind.
Ein Faktor des Lebens, an den Ihr zu Hause wenig denkt, ist die »Herzens«frage. Wer sich hier wohlfühlen soll, muß ein gesundes Herz haben, denn Windhuk liegt fast 1700 m hoch und viele Farmen in der Umgegend noch erheblich höher. Diese Schneekoppenhöhe und die große Trockenheit der Luft fordert im Verhältnis zu Deutschland eine ständige Überarbeit des Herzens. Kommt dann noch reichlicher Biergenuß dazu, so gibt es das übliche »Afrikaherz«, weswegen schon so mancher nach Hause gemußt hat.
Ein wahrer Schatz für den Haushalt ist das heiße Quellwasser, das mit 70 Grad Wärme aus der Erde kommt, also frei von jeglichen bösen Keimen, und ohne erst abgekocht zu werden, zum Trinken wie zu medizinischen Zwecken zu brauchen ist. Dicht neben unserm jetzigen Hause springt solch ein heißer armdicker Strahl. Es ist so sehr angenehm, wenn unerwartet Besuch kommt und man sagen kann: Hermann lauf, hol' heißes Wasser! Aufs Feuer gesetzt, kocht's binnen 5 Minuten, und der Kaffee ist fix bereitet. Unschätzbar ist es zur Wäsche und zum Baden. Anderes als dieses heiße Wasser gibt es von Natur in Windhuk gar nicht, und wir sind alle sehr wenig zufrieden damit, daß es für die Wasserleitung, die jetzt gebaut wird, künstlich abgekühlt werden soll, »um die Röhren nicht zu verderben.« Das Kühlen des Trinkwassers besorgt man sehr einfach im sogenannten Wassersack aus gedichteter Leinwand, der frei im Luftzug aufgehängt wird und durch die Verdunstung der durchsickernden Feuchtigkeit in kurzer Zeit eiskalt wird. Ähnlich, durch Umwickeln mit nassen Tüchern, am offenen Fenster, wo die Luft durchstreicht, kühlt man auch Wein, Bier, Selters und süße Speisen. Selbst Sekt kann auf diese Weise binnen einer Stunde zu einer Temperatur gebracht werden, als ob er im Eiskühler stände.
Eine Sache erleichtert übrigens der vielgeplagten Hausfrau hier den Betrieb: Das viele Kochen mit Konserven. »Büchsenaufmachen« ist eine Hauptarbeit des Küchenjungen. Gemüse gibt es hier nur sehr unregelmäßig, Früchte außer den Weintrauben im Januar und Februar gar nicht, so müssen also die konservierten Schoten, Bohnen, Pilze, Spargel herhalten, und die vielerlei Früchte in Dosen und Gläsern, besonders die verhältnismäßig billigen kalifornischen Früchte. Fleischkonserven sind kaum nötig, da es Fleisch – wenn auch fast immer Hammel – genügend gibt. Merkwürdig gut schmecken Kohl und Kohlrabi hier, zarter und lieblicher als daheim; leider ist der Bestand gar zu gering und die Nachfrage groß. Kartoffeln gibt es von Dezember an, sie kosten anfangs 60, dann später immer noch 30 Mk. der Zentner. Diese hohen Preise sind dadurch bedingt, daß alle Gartenkultur hier auf künstlicher Bewässerung beruht, und diese wiederum eine sehr kostspielige Einebnung des Bodens und meist auch künstliche Hebung des Wassers verlangt.
Also – wundert Euch bitte nicht, wenn das Wirtschaftsgeld hier in Windhuk erheblich höher ist als in Berlin. Ihr könnt Euch mit Leichtigkeit und mäßigem Geldaufwand Gutes und Delikates leisten, während wir hier fast mit dem Dreifachen weniger ohne besondere Abwechselung haben. Ach, nur einmal in der Woche so durch die Berliner Zentralmarkthalle gehen können – was würde ich da alles zusammenkaufen!