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Geschildert von Georg Wislicenus.
Auf weiter Fahrt gewonnene Lebensweisheit und Berufstüchtigkeit begründeten die beispiellosen Erfolge Georg v. Neumayer's. Unter allen deutschen Forschern war er der erste, der schon als Jüngling das Lebensziel wählte, auf weiter Fahrt seemännische und wissenschaftliche Kenntnisse zu erwerben zu Nutz und Frommen seines Vaterlandes, zu Gunsten der Entwicklung unserer Bedeutung zur See.
Dieses kürzlich verstorbenen, hervorragendsten Mitarbeiters unserer Sammlung »Auf weiter Fahrt« hier zu gedenken, ist nicht nur eine ehrenvolle Pflicht gegen ihn, der mir seit zwanzig Jahren Förderer und Freund war. Sein Lebensbild wie sein Lebenswerk verdienen der Nachwelt auch im deutschen Binnenlande bekannt zu bleiben, dem älteren Geschlecht zur Erbauung, dem jüngeren aber zur Nacheiferung. Denn das Leben dieses großen, tatkräftigen und erfolgreichen Mannes war ganz und gar dem deutschen Vaterlande und seinem Seevolke gewidmet. Viel deutsches Blut und Gut ist auf hoher See und an den deutschen Küsten im Laufe eines Menschenalters durch die väterliche Fürsorge dieses einzigen, prächtigen Mannes, dieses echten Seemannsfreundes, dem Vaterlande erhalten worden.
Solange noch Stürme wehen und Nebel dräuen, solange deutsche Kiele die Meere der Erde durchfurchen, werden deutsche Seefahrer Neumayer's Lebenswerk segnen!
In der fröhlichen Rheinpfalz, am Nordabhang des Donnersberges, wurde Georg Balthasar Neumayer in dem idyllischen Kleinstädtchen Kirchheimbolanden am 21. Juni 1826 geboren. Dort wirkte sein Vater als bayrischer Notar und Bürgermeister. Das Geburtshaus, in dem auch die Notariats-Amtsstube lag, trägt völlig den Charakter der Goethischen Zeit, einfach und wohnlich, mit grünen Fensterläden und zahlreichen Giebelfenstern im hohen Schieferdach; es steht an der Ecke der Amtsstraße. Vermutlich kündet jetzt schon eine Gedenktafel von dem gerechten Stolz und der innigen Verehrung der Kirchheimbolander für den größten Sohn und Ehrenbürger ihrer Stadt. Denn die Liebe der Pfälzer für ihren großen Landsmann ist treu und echt und hat sich bei mancher Gelegenheit, in Freud und Leid, wärmer und herzlicher erwiesen, als wir nüchternen Norddeutschen unsere Gefühle auszudrücken imstande sind.
Freilich blieb Neumayer jederzeit ein echter Sohn der Pfalz; konnte doch der regierende Bürgermeister der freien und Hansestadt Hamburg bei der Abschiedsfeier am 24. März 1903 von ihm sagen, daß er sich die sprichwörtliche sonnige Fröhlichkeit seiner pfälzischen Heimat unter Hamburgs nur allzu häufig grauem, wolkenbelasteten, regenschweren Himmel bewahrt habe. Seiner Heimat dankte Neumayer den lebhaften Geist, die sprudelnde Frische seines Gedankenflugs, aber auch seine kernige, zähe Körperkraft. Seine Art glich dem besten Pfälzerwein, herb und rassig, dabei edel und feurig zugleich. Sogar seine Sprache behielt zeitlebens die heimische, süddeutsche Klangfarbe; wenn gar der lebenslustige Greis uns in echt Pfälzer Mundart scherzhafte Gedichte vortrug, dann wälzte sich alles vor Lachen. Auch seine warme Herzlichkeit und seine hinreißende Begeisterungsfähigkeit stammt aus dem schönen Land, wo seine Wiege stand. Doch nicht jeder, dem ganz ohne eigenes Verdienst eine helle und freundliche Kinderstube von der Schicksalslotterie zufällt, versteht mit diesem unbezahlbaren Kapital zu wuchern. Für Neumayer aber wurde das Patengeschenk eines gütigen Geschicks die Grundlage seiner Erfolge.
Im September 1832 siedelte Neumayers Vater nach dem größeren Orte Frankenthal, zwischen Worms und Mannheim gelegen, über. Dort waren bessere Schulen für seine acht Kinder; der lernbegierige Georg machte dort schnell die Volksschule und die Lateinschule durch, wurde dann nach dem nahen Speyer auf das mit Realschule verbundene Gymnasium geschickt. Zur technischen Ausbildung besuchte er ein Jahr lang auch die neu errichtete Kreisgewerbeschule in Kaiserslautern und darauf vier Jahre das königliche Lyzeum in Speyer, ein akademisches Gymnasium, dessen Reifeprüfung Neumayer 1845 bestand. Auf dem Lyzeum weckte der berühmte Geodät, Astronom und Physiker, Professor Friedrich Magnus Schwerd, die vorzüglichen Anlagen Neumayers für alle mathematischen und physikalischen Dinge. In den letzten 15 Monaten seiner Kandidatenzeit waltete Neumayer als Assistent seines verehrten Lehrers. Schwerd war ein freier und vorurteilsloser Vaterlandsfreund, der mit feiner Ironie die Modephilosophen seiner Zeit, Hegel und Schelling ablehnte. Schwerdts Betrachtungen über die Unendlichkeit des Weltraums, über den Zusammenhang der Dinge im Weltall und seine astronomischen Anschauungen fesselten und förderten Neumayer mächtig. Unter der Anregung des hervorragenden Lehrers entstand schon damals bei dem vielseitig vorgebildeten und lebhaften Jüngling der Wunsch, die Welt auf weiter Fahrt zu sehen und sich für den Seedienst vorzubereiten. Dazu aber gehörte mehr technische, als klassische Vorbildung, darüber war bei Neumayer kein Zweifel; deshalb siedelte er nach München über und besuchte dort 1845-1849 die technische Hochschule, um in der Ingenieurwissenschaft und den mathematisch-physikalischen Fächern das Staatsexamen zu machen.
Während seiner lustigen Münchener Studentenzeit gewannen zwei große Männer starken Einfluß auf Neumayer: nämlich Friedrich List und Matthew Fontaine Maury. List, der Vorkämpfer für Deutschlands Seegeltung, der Begründer des deutschen Zollvereins, der Verfasser des berühmten Werkes »Das nationale System der politischen Ökonomie«, wirkte nachhaltig auf Neumayer. Mit scharfen Worten geißelte List »die alte Misere« der vaterländischen Zustände, als er aus einflußreicher Stellung aus Nordamerika in die Heimat zurückkehrte; er zeigte, daß die unselige politische Zerstückelung Deutschlands die Wurzel alles Übels sei, und nach seinen Worten: »vollendet ward das Unglück der deutschen Nation durch die Erfindung des Pulvers und der Buchdruckerkunst, durch das Aufkommen des römischen Rechtes und die Reformation, endlich durch die Entdeckung von Amerika und des neuen Weges nach Ostindien –«. List will damit sagen, daß der reformatorische Charakterzug der Deutschen besonders verhängnisvoll für sie wurde zu der Zeit, da festgefügte Staaten, wie England und Frankreich und andere, den Keim zu ihrer künftigen Blüte legten. In ödem, nutzlosen Pfaffengezänk und blutigen Kriegen um die Ausdeutung der Lehre von der christlichen Liebe gingen für Deutschland Jahrhunderte verloren, während andere, wie die Engländer und Holländer, riesige Kolonialreiche erwarben. Welch gewaltigen Eindruck muß es auf Neumayer gemacht haben, wenn er im Zollvereinsblatt las, was Friedrich List über den Mangel deutscher Seegeltung donnerte:
»Die See ist die Hochstraße des Erdballs. Die See ist der Paradeplatz der Nationen. Die See ist der Tummelplatz der Kraft und des Unternehmergeistes für alle Völker der Erde und die Wiege ihrer Freiheit. Die See ist die fette Gemeindetrift, auf welche alle wirtschaftlichen Nationen ihre Herden zur Mastung treiben. Wer an der See keinen Anteil hat, der ist ausgeschlossen von den guten Dingen und Ehren der Welt – der ist unseres lieben Herrgotts Stiefkind.
In der See nehmen die Nationen stärkende Bäder, erfrischen sie ihre Gliedmaßen, beleben sie ihren Geist und machen ihn empfänglich für große Dinge, gewöhnen sie ihr körperliches und geistiges Auge, in die Ferne zu sehen, waschen sie sich jenen Philisterunrat vom Leibe, der allem Nationalleben, allem Nationalaufschwung so hinderlich ist. Das Salzwasser ist für die Nationen eine längst erprobte Panacee; es vertreibt ihnen die Titelsucht, die Blähungen aller den gesunden Menschenverstand verzehrenden Stubenphilosophie, die Krätze der Sentimentalität, die Lähmungen der Papierwirtschaft, die Verstopfungen der gelehrten Pedanterei und heilt Stubenversessenheit aus dem Grunde. Seefahrende Leute lachen über das Hunger- und Sparsystem am Boden kriechender Nationalökonomen, wohl wissend, daß die See an guten Dingen unerschöpflich ist, und daß man nur Mut und Kraft haben dürfe sie zu holen. –
Die Flagge ist die Seekrone auf dem Haupte der Nationen. Man setze der deutschen Nation diese Krone auf und das übrige wird sich finden. – Nur in dem Streben nach irgend einer Bedeutung zur See äußert sich das wahre, handgreifliche Weltbürgertum, alles andere ist zur Zeit eine Ausgeburt durch zu vieles Sitzen desorganisierter Gehirne.«
Daß solcher Mann, der seiner Zeit weit voraus war, der deutschen Jugend hohe Ziele setzen mußte, liegt auf der Hand. Doch während Friedrich List im kleinen und kurzsichtigen Deutschland der Biedermeierzeit schnell wieder vergessen wurde, bewahrte ihm Neumayer ein treues Andenken sein Leben lang; in einem gedankenreichen Vortrag am 17. April 1900 im patriotischen Gebäude zu Hamburg überlieferte er seine innige Verehrung für Friedrich List, den Vorkämpfer für Deutschlands Größe zur See und für die koloniale Entwicklung, der Nachwelt.
Das Feuer der Flottenbegeisterung war um 1848 in Süddeutschland fast stärker als an der Nordseeküste. Als begeisterter Anhänger List's bekümmerte sich auch Neumayer schon damals um alles, was das Seewesen betraf. Nachdem er im November 1849 sein Staatsexamen bestanden hatte, siedelte er nach dem nahegelegenen Bogenhausen über, um als Assistent des Observatoriums unter den Professoren Reindel und Lamont Astronomie und Erdmagnetismus zu studieren. Auf der Sternwarte lernte er den amerikanischen Hydrographen M. F. Maury kennen, der infolge einer Beinlähmung den Seeoffiziersberuf aufgegeben hatte und seit 1842 das hydrographische Amt der Vereinigten Staaten in Washington leitete. Damals, um 1850, hatte dieser hervorragende Nautiker schon mehrere bahnbrechende Werke über die Wind- und Meeresströmungen, sowie über Abkürzung der Segelschiffsreisen bearbeitet, die nun von Neumayer mit Feuereifer studiert wurden. Maury's Einfluß festigte das Lebensziel Neumayer's. Er wollte fortan wissenschaftliche Erfahrungen im Seewesen sammeln, um im Sinne seiner beiden Leitsterne, List's und Maury's, Deutschlands Geltung zur See zu heben. Das war freilich eine weit schwierigere Aufgabe, als der Amerikaner für sein Land zu lösen im Begriffe war. Denn in Deutschland hatte sich bisher kein einziger Forscher um die Förderung deutscher Seefahrt und deutscher Seegeltung durch wissenschaftliche Arbeit bemüht. Die deutsche nautische Literatur ging nicht über die einfachsten handwerksmäßigen Lehrbücher hinaus. An wissenschaftliche Beobachtungen auf See, wie sie Maury in der amerikanischen Schiffahrt eingeführt hatte, dachte bei uns noch niemand. Es galt also, ein ganz neues, wüstes Feld urbar zu machen und zu befruchten. Dazu gehörte zähe Tatkraft und große Umsicht; Neumayer, der kernige und wagemutige Pfälzer, war mit beiden Eigenschaften ausgerüstet. Der Niedergang der deutschen Flottenbewegung konnte seinen Entschluß nicht erschüttern; als Schüler List's wußte er, daß die einmal geweckten Gedanken und Wünsche nach deutscher Seegeltung doch über kurz oder lang zu kräftiger Entwicklung deutscher Seeschiffahrt führen mußten. Dann wollte er als sachkundiger Fachmann das wissenschaftliche Werkzeug für die deutschen Seefahrer schmieden. Seinem Lieblingsdichter Hölderlin dankte er den Lebensleitspruch:
»Es kann die Lust der goldnen Ernte
»Im Sonnenbrande nur gedeihn;
»Und nur in seinem Blute lernte
»Der Kämpfer frei und stolz zu sein.«
Hölderlins Gedichte, List's Handbuch der Nationalökonomie und ein Abdruck der deutschen Reichsverfassung, das war die auserwählte Reisebibliothek, die Neumayer im Spätsommer 1850 in sein Bündel schnürte. Doch zuvor hatte er seine Studien auf der Sternwarte in Bogenhausen mit der philosophischen Doktorprüfung an der Münchener Universität abgeschlossen. Nun sollte die weite Fahrt beginnen.
Es spricht für Neumayer's tiefpoetisches Gemüt, daß er die Reise rheinabwärts dazu ausnutzte, sich am Anblick der schönsten Punkte Deutschlands zu erfreuen. Meist wanderte er zu Fuß, besuchte unter anderen Burgen die alte Reichsfeste Trifels, den Hohenstaufensitz, wo vor sechs Jahrhunderten Richard Löwenherz gefangen saß; von da schweifte sein Blick über das burgen- und rebenreiche Rheintal bis nach Straßburg hinauf. In seinen Erinnerungen schreibt Neumayer davon: »Hier stand ich und gedachte, wie einst Deutschlands Kraft gebrochen und unser herrliches Vaterland niedergebeugt wurde von fremden Räubern. Ich erblickte die schönen Türme dieser ehemals deutschen Stadt, und über den Horizont hinweg führte mich die Phantasie zu dem Ereignisse bei Eckernförde. Wie schon erwähnt, hatte der Gedanke Wurzel in mir gefaßt, die Schaffung jener so wohltätig wirkenden und in unserem Vaterlande auf dem Gebiete der Schiffahrtskunde beinahe gänzlich fehlenden Übergangskette zwischen Theorie und Praxis zu meiner Lebensaufgabe zu machen. Mit dem herzlichen Gruße meiner Freunde:
»Wohl winkt uns nicht ein fernes Streben fort,
»Doch findet Jeder auch daheim das Seine!
»Was Dich begeistert fern im Süd und Nord,
»Begeistre uns am Donaustrand und Rheine,
»Und dieser Tag soll uns ein Mahner sein,
»Die ganze Kraft dem Vaterland zu weihen!«
verließ ich meine Heimat.«
Das große Ereignis in Eckernförde, die Vernichtung des dänischen Linienschiffes »Christian VIII.« und die Eroberung der Fregatte »Gefion« am 5. April 1849 durch zwei Strandbatterien, hatte ihn schon früher zu einem Gedicht über die deutsche Flotte begeistert; das Gedicht ist leider zu lang, um es hier anzuführen, aber sein Motto ist so bezeichnend für Neumayer's vorausschauenden Blick, daß es nicht übergangen werden kann. Es stammt aus dem »Miltiades« von Seume:
»Athener sind der Wogen nicht gewöhnt,
Sie werden's werden, wenn's das Schicksal will:
Jetzt schwingen sie nur mutig Schild und Speer
Auf festem Boden.«
Man erkennt daran, welche großen vaterländischen Gedanken gerade damals, in der Zeit der alten Misere, wie List es ausdrückte, die jugendlichen Geister bewegte. Trotz der Niederlage der freiheitsliebenden Schleswig-Holsteiner bei Idstedt (am 25. Juli 1850) glaubte Neumayer, als er den Wanderstab zur Hand nahm, felsenfest an bessere Zeiten, an eine glücklichere Zukunft für Schleswig-Holstein, wie für ganz Deutschland. Allerdings waren es damals, in der Zeit der bureaukratischen Reaktion, nur die besten und kühnsten im deutschen Jungvolke, die überhaupt an ein zur See wie zu Lande mächtiges, geeinigtes Deutschland zu denken wagten. Weder Hannover, noch Österreich, noch Preußen begünstigten die Sehnsucht Jungdeutschlands nach Betätigung zur See. Preußen war überhaupt des lieben Herrgotts Stiefkind seit dem Wiener Kongreß, wo englisch-hannöverische Seepolitik dafür gesorgt hatte, daß Ostfriesland mit dem schöngelegenen Hafen von Emden nicht wieder an Preußen zurückfiel, mithin dieser aufstrebende Staat von der Nordsee ausgeschlossen wurde. Die preußischen Ostseehäfen hatten aber wenig Bedeutung für die Hochseefahrt.
Im August 1850 traf Neumayer in Rotterdam ein, wo Freunde von ihm lebten, die ihm dringend davon abrieten, Seedienst zu nehmen; für einen Mann seiner Vorbildung sei das rauhe Matrosenleben »vor dem Maste« nicht geeignet. Das hielt den Wagemutigen nicht im mindesten ab, sich das nächste deutsche Schiff zu suchen, das nach südlichen Breiten segeln sollte. Auf einem Ausflug nach Scheveningen sah er zum ersten Male die offene See. Bald fand sich ein passendes Schiff, die Hamburger Bark »Luise«, Kapitän Wortmann, das im September über England nach Brasilien segelte. Als Leichtmatrose empfand nun Neumayer zum ersten Male die ganze Schwere des Seemannsberufs. Da galt es überall mit anzupacken, beim Segelsetzen hinauf in die Takelung zu entern, auf die Rahen hinaus zu legen, die Segel los zu machen, wieder nieder zu entern und mit den andern Matrosen das Gangspill zu drehen, um den Anker zu lichten usw. Keine Matrosenarbeit blieb ihm erspart; er mußte das Tauwerk teeren und mit Labsalbe schmieren, das Deck scheuern und Geschirr putzen, wie jeder andere. Dazu die Seemannskost, die damals noch weniger als jetzt aus Leckerbissen bestand, es sei denn, daß jemand die exotischen, krabbelnden Würmer im Hartbrot, dem Schiffszwieback, dazu rechnen sollte. Konserven gab es noch nicht, um so mehr scharf gesalzenes, fast ungenießbares Pökelfleisch. Kein Wunder also, daß der Neuling zuweilen bei stürmischem Wetter, in stillem Dahinbrüten Anwandlungen von Reue und Sehnsucht nach frischem Brot und frischer Butter empfand. Aber er erzählt selbst davon, daß ihn dann sein Obersteuermann immer mit einem derben, vertraulichen Schlage auf die Schulter aus seinen Träumen zu wecken verstand und ihm solche Seemannsarbeit zu verrichten gab, wie sie am geeignetsten war, alle Grillen zu verscheuchen. Denn wer in schwindelnder Höhe oben im Maste die Oberbramstänge zu labsalben hat, müßte schon mit Schopenhauerscher Weltverneinung überfüttert sein, wenn er da oben Gedanken weiter spinnen wollte und dabei vergäße sich fest zu halten.
In Rio de Janeiro nahm er sich Urlaub, wanderte durch den Urwald nach einer deutschen Kolonie bei Petropolis und traf dort einen Rheinpfälzer als Besitzer des einzigen Gasthauses; der verbreitete schnell die Kunde von dem frisch aus der Heimat gekommenen Reisenden, abends sammelten sich alle Landsleute um Neumayer, den deutschen Matrosen, der sein Exemplar der neuen Reichsverfassung mitgebracht hatte. In hellem Jubel wurde der junge Seemann auf einen Tisch gehoben; er mußte der Versammlung das denkwürdige Dokument vorlesen und knüpfte daran eine Schilderung der Zustände in Deutschland, die mit größter Wißbegier aufgenommen wurde. Auch draußen in der Fremde war die Hoffnung auf Deutschlands bessere Zukunft rege. Nach stürmischer Fahrt kehrte die »Luise« im April 1851 nach Hamburg zurück.
Unterwegs hatte Neumayer seine Freizeit gut ausgenutzt, sich auch mit der theoretischen Schiffahrtskunde befaßt, deren Studium ihm mit seinen astronomischen, mathematischen und physikalischen Kenntnissen leicht wurde. In Hamburg legte er dem ausgezeichneten Direktor der Sternwarte und Navigationsschule, Charles Rümker, seine auf der ersten Seereise ausgeführten nautischen Beobachtungen und Berechnungen vor; Rümker riet ihm zu kurzem Besuch der Navigationsschule. Nach kaum sechs Wochen bestand Neumayer am 21. Mai 1851 die Seeschifferprüfung in Hamburg, und wurde dann einige Zeit vom Direktor Rümker als Hilfslehrer an der Navigationsschule beschäftigt. Auf den Rat süddeutscher Freunde suchte er dann Dienst in der österreichischen Marine, die nach dem schmählichen venetianischen Aufstand vom jungen Kaiser Franz Josef neu geschaffen wurde. Fürst Metternich, der kein Freund des Seewesens war, hatte die Flotte gänzlich vernachlässigt. Über Istriens prächtige Gebirge wanderte Neumayer also gen Triest, fand dort auch bald eine neue Hilfslehrerstelle für Mathematik und nautische Astronomie an der Triester Seefahrtsschule, aber seine Bestrebungen, als Gelehrter eine passende Stellung in der Marine zu finden, mißlangen. Unbefriedigt kehrte er nach siebenmonatlichem harten Kampfe, getäuscht in seinen Hoffnungen, zu Fuß über den Brenner nach Deutschland zurück. Nach kurzem Aufenthalt bei seinen Münchener Freunden ließ er sich in Hamburg nieder, um dort zunächst durch Vorträge in den Schiffahrtskreisen für nautische wissenschaftliche Arbeiten im Sinne Maury's zur Abkürzung der Seereisen zu wirken. Er hatte aber auch in der besten deutschen Seestadt noch keinen Erfolg.
Aus dem inneren Drang, das Element seiner Studien, das Meer, gründlicher kennen zu lernen, verheuerte sich Neumayer nochmals als Matrose auf der Hamburger Bark »Reiherstieg«, Kapitän Sparbohm, die im März 1852 nach Australien segelte. Die lange Reise bot ihm Gelegenheit, die erforderliche Seefahrtszeit zum Steuermann zu erwerben, außerdem aber auf der südlichen Halbkugel magnetische und meteorologische Beobachtungen zu machen, die er später mit anderen verwertete. Nach langer Seefahrt segelte die »Reiherstieg« am 5. August in Port Jackson, dem Hafen Sydney's, ein. Dort entlief der größte Teil der Mannschaft, vom Goldfieber gepackt; außer Neumayer blieben nur der Obersteuermann und ein Schiffsjunge an Bord. Zwei entlaufene Matrosen überredete Neumayer, als er sie an Land traf, in seiner eindrucksvollen Weise, wieder zurückzukommen und ihren Dienst aufzunehmen. Mit neuer Ladung und frischer Mannschaft segelte das Schiff nach monatelangem Stilliegen nach Melbourne. Dort gelang es Neumayer im Mai 1853, sich ordnungsgemäß abmustern zu lassen, um nun auch selbst im jugendlichen Ungestüm mit dem Schnappsack der Goldsucher auf dem Rücken ins neu entdeckte Eldorado zu wandern. Diesen abenteuerlich-romantischen Lebensabschnitt hat der große Gelehrte in köstlicher Weise im vorigen, fünften Band unserer Sammlung geschildert. Jubelnd wurde er von deutschen Matrosen in den Goldfeldern von Bendigo begrüßt; er war eben kein Stubenhocker und Philister, sondern ein warmblütiger, tatkräftiger Mann, dem nichts Menschliches fremd war, der den Überschuß seiner Jugendkraft auch einmal, ohne den geringsten Schaden an Leib und Seele zu nehmen, auf einem außergewöhnlichen Seitenwege austoben durfte. Bald genug erkannte der junge Gelehrte, daß seine Sinne dem nüchternen Golderwerb nicht lange zugetan blieben. Während seine Genossen ihre Goldklumpen zu ihrem Fetisch machten, ließ das harte, entbehrungsreiche Goldgräberleben unserm edeln Pfälzer noch Muße, selbst zu dichten (siehe Band V, Seite 24) und seine Seeleute an sternenklaren Abenden im Gebrauch der nautischen Instrumente zu unterrichten. Wer dabei seine Aufgabe am besten löste, erhielt als Prämie einen von Neumayer gebackenen Eierkuchen! Auch zu geologischen Untersuchungen fand Neumayer Zeit; sie offenbarten ihm zugleich die wilde Schönheit der australischen Natur. Seine Gedanken waren mitten unter dem Menschengesindel aus aller Herren Länder erfüllt mit Goethischem Geiste; überall begleiteten ihn, wie er selbst erzählt, die herrlichen Worte des Dichterfürsten:
»Doch ist es jedem eingeboren,
»Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,
»Wenn über uns, im blauen Raum verloren,
»Ihr schmetternd Lied die Lerche singt;
»Wenn über schroffen Fichtenhöh'n
»Der Adler ausgebreitet schwebt,
»Und über Flächen, über Seen
»Der Kranich nach der Heimat strebt«.
Am Geburtstage Goethes, am 28. August, verließ Neumayer die Goldfelder. Von Melbourne segelte er mit einem kleinen Schuner nach Port Adelaide, der Hauptstadt Südaustraliens, um von da allein eine Forschungsreise den Murrayfluß aufwärts zu machen. Reich an Kenntnissen über Land und Leute, und mit schöner Ausbeute angesammelter Pflanzen und Gesteinsarten kehrte er nach acht Wochen nach Melbourne zurück. Dort, in der Hauptstadt der Kolonie Viktoria, knüpfte er nun verschiedene wichtige Verbindungen mit Engländern der Kolonie an, um für seinen nächsten Plan den Boden vorzubereiten.
Denn Neumayer wollte Australien nur verlassen, um mit allem wissenschaftlichen Rüstzeug dahin zurückzukehren. Melbourne hatte er sich auserwählt für ein von ihm zu begründendes nautisches Observatorium, weil der Verkehr dieses Hafens mit Europa und Amerika nur durch lange Segelschiffsreisen vermittelt wurde. Die schwierigen, von genauer Kenntnis der Winde und Strömungen im Atlantischen und Indischen Ozean abhängigen Seglerwege boten die beste Gelegenheit, dort, in Melbourne, die Segelanweisungen Maury's wissenschaftlich zu prüfen und zu verbessern. Auf die Unterstützung der Kolonialregierung durfte er hoffen, weil diese großen Wert auf die Abkürzung des langen Seeweges legen mußte. Als Deutscher durfte Neumayer auch erwarten, der aufblühenden deutschen Kolonie sowohl, wie den deutschen Fachgelehrten in der Heimat mit wissenschaftlichen Untersuchungen auf der wenig erforschten südlichen Halbkugel nützlich zu werden. Bei alledem sollte das zukünftige Melbourner Observatorium nur eine fernere Entwicklungsstufe im groß angelegten Lebensplane Neumayer's werden, nicht etwa ein Endziel.
Aus guten Gründen schiffte sich Neumayer diesmal auf einem amerikanischen Schiffe ein, dem Klipper » Sovereign of the Seas«, einem der berühmtesten Schnellsegler aller Zeiten. Dank seinem Schifferexamen erhielt er von der Reederei eine Stelle als zweiter Steuermann, wo er die beste Gelegenheit fand, die amerikanische Methode der Schiffsführung kennen zu lernen, die damals noch in manchem der deutschen Schiffahrtskunde beträchtlich überlegen war. Um so größeren Einfluß hatte diese Reise auf die seemännische Entwicklung und Vervollkommnung des wißbegierigen deutschen Gelehrten. Was aber die Seemannschaft und gar die Mannszucht der Matrosen auf dem fremden Schiffe anbetraf, so erkannte der tatkräftige junge Steuermann sehr bald, daß die deutschen Seeleute diesem alten Seevolk durchaus ebenbürtig, an Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit aber schon damals, vor einem halben Jahrhundert, ihm weit überlegen waren. Bei einer Meuterei an Bord dankte der Kapitän nur seinen treuen beiden deutschen Steuerleuten und zwei deutschen Matrosen, die furchtlos ihr Leben einsetzten, die Zähmung des rohen Janhagels, der aus allen Nationen gemischt war. Die » Sovereign of the Seas« verließ Port Philipp, den Vorhafen Melbournes, am 27. Januar 1854 und lief nach sehr günstiger Fahrt von kaum 80 Tagen glücklich in London ein; die kleinere hamburgische Bark »Reiherstieg« hatte für die Ausreise fast die doppelte Zeit, 135 Tage, gebraucht.
Nach Hamburg zurückgekehrt, hielt er dort unter dem frischen Eindruck seiner Erlebnisse eine Reihe von Vorträgen in der »Lesehalle« über das Leben und Treiben in den australischen Kolonien, sowie über seine praktischen und wissenschaftlichen Erfahrungen. Er widerlegte dabei auch gründlich die weit verbreitete Ansicht, daß das Land für deutsche Ansiedler außerordentliche Aussichten für mühelosen Gewinn böte. Eine wissenschaftliche Bearbeitung seiner Reise machte den Großmeister der Wissenschaft, Alexander von Humboldt, auf Neumayers eigenartige und doch zielsichere Entwicklung aufmerksam; am 14. Juni 1854 empfing der damals freilich schon altersschwache, etwa 85 jährige Greis den jungen Brausekopf, hörte seine großen, weitfliegenden Pläne gütig an, veranlaßte ihn auch, eine Denkschrift über seine wissenschaftlichen Vorschläge auszuarbeiten. Mit rührender Verehrung sprach Neumayer von diesem Lebensereignis; mit gerechtem Stolze erfüllte es ihn, daß dieser weitgereiste und weltberühmte Gelehrte die zähe und zielsichere Eigenart der bisherigen Lehrjahre Neumayer's rühmend anerkannte. Die Unterredung mit dem ehrwürdigen alten Herrn, sein wohlwollendes Entgegenkommen verliehen dem jungen Forscher Kraft und Mut. Er arbeitete nun eine Denkschrift über die Gründung einer Zentralstelle für nautische, meteorologische und magnetische Beobachtungen und deren Bearbeitung in den australischen Kolonien aus und übermittelte sie Ende Dezember 1854 dem großen Berliner Gelehrten; dieser aber schenkte dem kühnen Plane keine Beachtung. Nicht entmutigt durch solche wenig wohlwollende Behandlung seiner Lebenspläne, trug Neumayer im Mai 1855 in München dem großen Chemiker Justus von Liebig seine Gedanken vor; der hörte ihn ruhig an und erbot sich dann, dem König Maximilian von Bayern die Sache vorzutragen. Unter Liebig's Vermittelung legte Neumayer im Juni 1855 eine Denkschrift vor, worin er ausdrücklich betonte, daß er in Melbourne nur wissenschaftliche Erfahrungen zu Gunsten seines Vaterlandes sammeln wollte, und daß er nach Erfüllung dieser Aufgabe nach Deutschland zurückkehren würde. Auch wollte er seine erdmagnetischen Forschungen an die vor 15 Jahren ausgeführten Beobachtungen in der antarktischen Zone anknüpfen, dazu als Basis Melbourne benutzen. Der Plan wurde von seinem Universitätslehrer Professor von Lamont und dem Ministerialrat Dr. von Steinheil lebhaft befürwortet. Infolgedessen bewilligte der kluge und allen Wissenschaften holde König Max die Mittel zur Beschaffung wertvoller Instrumente für das Unternehmen. Um während der Anfertigung der Instrumente nicht untätig zu sein, führte Neumayer inzwischen im Winter 1855/56 eine magnetische Landesvermessung in der Pfalz aus und machte auch Anfang 1856 magnetische Beobachtungen in Schleswig. Gleichzeitig legte er auch dem Hamburger Senat seine Denkschrift vor; der Senator Godeffroy erwirkte dort ebenfalls Mittel für das australische Observatorium. Mit Feuereifer sorgte Neumayer selbst für seine wissenschaftliche Ausrüstung. Der Reeder und Senator J. C. Godeffroy bewilligte ihm und seinem umfangreichen Gepäck freie Reise, ordnete auch an, daß der seemännisch ausgebildete Gelehrte den Seeweg des Schiffes bestimmen dürfte.
Vor der Abreise nach Australien wurde Neumayer noch zu einer Abschiedsaudienz bei seinem hochherzigen und idealen König befohlen. König Max wünschte ihm von Herzen Glück und Erfolg und sagte: »Man wird sich wohl in der Welt wundern, daß ich als Monarch eines binnenländischen Staates mich für die ozeanische Forschung und die praktische Seewissenschaft interessiere. Ich bin dabei geleitet von der Erkenntnis, daß die Ermittelung der Verhältnisse, die zur Sicherung und Beschleunigung der Wege des Seeverkehrs die Grundbedingungen bieten, auch wesentlich zur Beförderung und Hebung des Handels dienen, nicht nur für Deutschland, sondern auch für die ganze Kulturwelt. Der Weltverkehr zur See ist aber die wichtigste Stütze für die Ausbildung der Zivilisation. Vergessen Sie nicht, das hervorzuheben, wenn Sie über das nun eingeleitete Unternehmen befragt werden!«
Im November 1856 trat Neumayer nun seine zweite Australienfahrt auf dem stolzen Hamburger Vollschiff » La Rochelle« der Godeffroyschen Reederei, Kapitän Johann Meyer, an, diesmal nicht vor dem Mast im Mannschaftslogis, sondern als Gast und Berater des Kapitäns in der Kajüte. Er war nicht nur mit Instrumenten und Geldmitteln, sondern auch mit wertvollen Empfehlungen deutscher und englischer Gelehrter reich ausgestattet; sehr wichtig für sein Wirken in der englischen Kolonie war es, daß Neumayer im August 1856 in Cheltenham in England anläßlich einer Tagung der » British Association for the advancement of science« persönliche Beziehungen mit den berühmten Gelehrten Faraday, Whewell, Airy, Glaisher und anderen angeknüpft hatte. Die Seereise verlief besonders günstig; dank der Neumayerschen Anweisung brauchte das prächtige Schiff von der Nordsee bis zum Kap Otway am Eingang in die Bucht von Melbourne nur 81 Tage. Um die in der Karte unsicher eingetragenen Heardsinseln aufzusuchen und genauer zu bestimmen, wurde der Kurs im Indischen Ozean sehr weit nach Süden genommen; am 10. Januar 1857 entdeckte der aufmerksame Forscher auf 53° Südbreite und 74° Ostlänge auch die Inselgruppe, konnte sie aber infolge stürmischen und unsichtigen Wetters nur flüchtig aufnehmen. Sein Vorschlag, die Gruppe Max-Inseln nach seinem edlen Gönner zu nennen, drang in der Geographenwelt nicht durch, weil sich später herausstellte, daß ein englischer Kapitän Macdonald schon einige Jahre früher die Inseln wieder aufgefunden hatte. Deshalb führen sie jetzt den Namen Macdonaldinseln. Sie liegen südlich von den Kerguelen.
Ende Januar 1857 ankerte die » La Rochelle« vor Melbourne, und Neumayer bestieg wieder den Hügel in South Yarra bei der Stadt, der freien Überblick über die Hobsonsbay gewährte; dort oben hatte er schon 1854 als Matrose gegrübelt, wie an diesem prächtigen Platze ein Observatorium zu schaffen sei. Nach heißem Bemühen gelang es ihm auch wirklich, da oben zunächst ein privates, provisorisches Observatorium zu errichten. Er hatte schon im Juni 1857 der Kolonialregierung den Plan eines größeren Observatoriums vorgelegt, aber das Kolonialparlament bewilligte die Baukosten nicht. Solchen Schwierigkeiten war Neumayer längst gewachsen; er wußte auch den Weg zu finden, wie das Parlament zur späteren Bewilligung des Baues zu bewegen war. In seinem privaten Flaggstaff-Observatory begann er schon im März 1858 mit regelmäßigen magnetischen, meteorologischen und anderen Beobachtungen. Zugleich rüstete er die auf Melbourne regelmäßig fahrenden Schiffe mit Wetterbüchern aus und sammelte Auszüge aus den Schiffstagebüchern, die ihm Aufschluß über den Reiseweg und die Witterung gaben. Gleichzeitig sorgte er durch eine Beschreibung seiner Arbeitsweise in einer wissenschaftlichen Zeitschrift der Kolonie dafür, daß der Nutzen seines Instituts nicht unbekannt blieb.
Wie der wagemutige Pfälzer erwartet hatte, so kam es auch: schon neun Monate nach Beginn der Beobachtungen übernahm die Kolonialregierung das Observatorium auf ihre Kosten und ernannte Neumayer 1859 zu dessen Direktor; zwei tüchtige junge englische Gelehrte wurden seine Assistenten. Nun konnten die Arbeiten erweitert werden; ein selbstregistrierender Flutmesser wurde am Strande aufgestellt, mit dem von Neumayer erfundenen und mitgebrachten Meteorographen wurden Bahnbestimmungen von Meteoren (insgesamt wurden 2200 Meteore beobachtet!) gemacht, mit dem von Neumayer erdachten Umkehrpendel wurden sorgfältige Beobachtungen zur Bestimmung der Erdschwere gemacht usw. usw. Zugleich wurde das Observatorium die Zentralstelle für eine Menge meteorologischer Beobachtungsstellen, die über 8 Längen- und 3 Breitengrade, d. h. über die ganze Kolonie Victoria verteilt waren.
Bald verdoppelte sich die Arbeitslast, die auf dem unermüdlichen Forscher ruhte; im Juni 1859 wurde er zum Direktor der magnetischen Vermessung der Kolonie Victoria ernannt. Damit waren in den nächsten Jahren zahlreiche Forschungsreisen verbunden, die Neumayer zu magnetischen und hypsometrischen Messungen und astronomischen Ortsbestimmungen verwertete. Dabei war er meist von seinem treuen deutschen Diener Eduard Brinkmann, einem holsteinischen Matrosen, und seinem prächtigen Jagdhund Hektor begleitet. Die Reisen erfolgten meist zu Pferde, die Instrumente wurden dem zuverlässigsten Packpferde aufgeladen. Übernachtet wurde häufig im Freien, unter dem mitgeführten Zelt; das freie Leben erinnerte lebhaft an die Goldgräberzeit. Jagdflinte, hohe Reitstiefeln und Tropenhelm gehörten zur nötigsten Ausrüstung. Auf einer dieser Reisen besuchte Dr. Neumayer auch die Australischen Alpen im Osten der Kolonie Victoria; im dritten Band unserer Sammlung »Auf weiter Fahrt« von 1904 hat er selbst die Besteigung des höchsten bekannten Berges in Australien, des 2187 m hohen Kosciuskoberges, sehr anschaulich geschildert. Die schwierige Besteigung erfolgte in den Tagen vom 17. bis 22. November 1862; sein Diener verirrte sich dabei, kam aber mit dem Leben davon. Auch für die Durchquerung des australischen Festlandes, ein Problem, das seit dem Verschwinden des deutschen Forschers Ludwig Leichhardt im Jahre 1848 ruhte, trat Neumayer lebhaft ein. Als Mitglied des Melbourner Forschungsausschusses setzte er ein von seinem Assistenten Wills mit Burke geleitetes Unternehmen durch, das mit Kamelen aus Indien ausgerüstet, tatsächlich die erste Durchquerung von Melbourne nach Norden, zum Golf von Carpentaria im Jahre 1860 ausführte und zugleich den Zweck hatte, Leichhardts Spuren zu suchen. Es war ein großer geographischer Erfolg, der leider nicht ohne Verluste erkämpft wurde; Wills fiel als Opfer seines Mutes und seiner edlen Begeisterung für die Wissenschaft. Neumayer begleitete die von ihm mit Instrumenten und Anweisungen versehene Expedition im August 1860 bis zum Darlingflusse und kehrte nach vier Monaten wieder zu seinem Observatorium zurück, das er auf längere Zeit nicht im Stich lassen wollte. Die Rückreise von 500 englischen Meilen durch teilweise ganz unbewohntes Gebiet machte er allein mit seinem Eduard und seinem Hektor. Das treue Tier fand später ein tragisches Ende; es hatte vergiftetes Fleisch gefressen, das ein Farmer gegen wilde Waldhunde, Dingos, ausgeworfen hatte. Als Hektor die Wirkung spürte, rannte er zu seinem Herrn, stellte sich an dessen Schultern hoch, warf ihm noch einen letzten Liebesblick zu und fiel tot um. Oft erzählte Neumayer von dem unvergeßbaren Blick seines Hundes.
Als Mitglied des deutschen Vereins in Melbourne hielt Dr. Neumayer alljährlich mehrere Vorträge zur Belebung der geistigen Regsamkeit seiner Landsleute, die zumeist einfacher Herkunft waren und die Liebe zur alten Heimat bewahrt hatten. Einer dieser Vorträge, der in der deutsch-australischen Zeitung »Germania« Nr. 37 vom 20. September 1861 ausführlich gedruckt ist, kennzeichnet die patriotischen Gefühle und Wünsche unseres strebsamen Forschers derart deutlich, daß es zum Verständnis seiner Eigenart am Platze ist, einige Gedanken daraus wiederzugeben. Der Vortrag behandelte das Thema: »Drei Tage aus dem Leben eines deutschen Matrosen«.
Als ersten Tag schilderte er die 48er Flottenbegeisterung und seine ersten Seefahrten als Matrose, als zweiten Tag die australische Zeit in den Goldfeldern und die Begründung des Melbourner Observatoriums. Der dritte Tag lag damals noch im Reich der Träume, gab aber Neumayer, der schon in Gedanken in dem Tage lebte, wo die Einigung des Vaterlandes erreicht sein würde, Kraft und Eifer zum Weiterstreben. Mit scharfem Blick ahnte er schon die künftige Entwicklung der deutschen Seeschiffahrt:
»Ich sehe schon die deutsche Jugend, die einen Drang zum Seeleben fühlt, nach besseren, praktischeren Prinzipien erzogen; ich sehe im Geiste, wie der deutsche Seemann, der gleiche Gaben mit andern hat, nicht allein im Praktischen seine Stellung zu behaupten wissen wird, sondern auch, von den neueren Ideen der physikalischen Geographie berührt, gleiche Erfolge mit andern erringen muß. Ja, sie wird kommen, die Zeit, in der ein Institut unseres Vaterlandes blüht, in dem zum wenigsten ein Interesse gemeinsam vertreten sein wird! – Wir müssen uns ein Recht erwerben, in den Reihen der seefahrenden Nationen erscheinen zu können, und dieses Recht kann nur erworben werden durch das Verdienst um die Ausbreitung nautischer Kenntnisse. Sollte nicht das Vaterland die Kraft haben, sich zu einem großen, die ganze zivilisierte Welt anregenden Unternehmen aufschwingen zu können! Vielleicht sehen Sie mich einst wiederkehren zu diesen Ufern mit der Auswahl deutscher Jugend aller Stämme auf einer Reise nach dem Südpol begriffen. Sollte dieser Aufschwung der Nation gelingen – die weitere Entwicklung wird sich fügen und unsere Hoffnungen werden zur Wahrheit werden!«
Getreu dem Entschlusse, seine in der Fremde gewonnenen Erfahrungen für das Vaterland zu verwerten, legte Neumayer sein schönes Amt in Melbourne nieder, sobald er 1864 die magnetische Landesaufnahme von Victoria abgeschlossen und seine systematischen Arbeiten auf dem inzwischen (1861) neu und stattlich erbauten Observatorium beendet hatte. Von seinen vielen wissenschaftlichen Arbeiten sei hier nur eine Darstellung von 300 Segelschiffsreisen von Europa nach Australien und zurück erwähnt; es handelt sich dabei um die Bestimmung des kürzesten und sichersten Segelschiffsweges für die verschiedenen Jahreszeiten. In einem sehr anerkennenden Dankschreiben vom 31. Mai 1864 sprach sich der Präsident Turnbull der Melbourner Handelskammer über den großen Wert dieser Arbeit für die Seehandelsbeziehungen der australischen Kolonien aus, und knüpfte daran die Hoffnung, Neumayer möchte nach der Bearbeitung seiner anderen Beobachtungen doch wieder in sein Amt nach Australien zurückkehren. Aber ohne jede Sicherheit für seine Zukunft schied der treue Vaterlandsfreund aus den angenehmsten Verhältnissen und aus seinem großen australischen Freundeskreise, nur gestützt durch den festen Glauben an die kommende Größe Deutschlands. Beim Abschied von Melbourne wurden ihm viele Ehrungen von Engländern und Deutschen der Kolonie zu teil.
Am 23. Juni 1864 schiffte er sich in dem schottischen Klipperschiff »Garrawalt« zur Heimfahrt ein. Im September wurde er in London von ersten englischen Gelehrten der Zeit, Tyndall, Balfour Steward und anderen ehrenvoll empfangen. Sobald er nach Hamburg zurück kam, begann er mit Feuereifer für die Gründung einer deutschen nautischen Zentralanstalt zu wirken; in der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin wie in der geographischen Gesellschaft in Hamburg hielt er längere Vorträge über die wissenschaftlichen Ergebnisse seiner Reise. Der Hamburger Senat bot ihm sofort durch seinen Gönner, den Bürgermeister Dr. Sieveking, eine freie Gelehrtenstelle an. Aber Neumayer wollte frei bleiben, um seinem großen Lebensziele näher zu kommen; am 26. Oktober 1864 traf er nach achtjährigem Fernsein wieder in Frankenthal, ein und begann dort die wissenschaftliche Ausarbeitung seiner mannigfachen Forschungen in Australien, wozu die Kolonie Victoria ihm Mittel bewilligt hatte. Innerhalb der Jahre 1865/71 veröffentlichte er die Ergebnisse in vier stattlichen Bänden, die in allen wissenschaftlichen Kreisen vollste Bewunderung fanden. Professor Dove, der Altmeister der deutschen Meteorologen, rühmte die musterhafte Bearbeitungsweise und das große Verdienst Neumayers, Melbourne zu einem wissenschaftlichen Zentrum für unsre Antipoden gemacht zu haben. Der berühmte Geophysiker und Generalleutnant Sir Edward Sabine schrieb am 6. Juli 1870 an Neumayer: »Es würde schwierig sein, zu hoch von dem Eifer und der Geschicklichkeit zu sprechen, womit Ihre magnetischen und meteorologischen Beobachtungen in Victoria durchgeführt sind.« James Glaisher erklärte die Bearbeitungsweise als die beste, die bisher überhaupt gemacht wurde.
Auch die Münchener Gelehrtenkreise, v. Liebig, v. Lamont, v. Steinheil und andere, empfingen ihren strebsamen und erfolgreichen Landsmann auf das freudigste. König Max befahl ihn im Dezember 1864 zur Audienz, ließ sich alle Sammlungen und Photographien, die Neumayer von der Reise mitgebracht, zeigen und hörte mit größtem Interesse den Bericht über die Erlebnisse, Erfolge und Bestrebungen seines Schützlings an.
Aber im übrigen fand der Seefahrer in der ganzen deutschen Heimat immer noch »die alte Misere«, über die Friedrich List schon vor 20 Jahren geflucht hatte. Zähe Tatkraft und viel Geduld gehörte dazu, in diesen kleinlichen, philisterhaften Zuständen das Interesse der maßgebenden Männer auf sein großes Ziel zu lenken. Zunächst knüpfte er Beziehungen zu Dr. A. Petermann an, der durch seine geographischen Mitteilungen damals die fachwissenschaftlichen Kreise beherrschte. Von ihm erhielt Neumayer die Einladung zur Teilnahme an der ersten Geographenversammlung in Frankfurt am Main, am 23.-25. Juli 1865. Schon im Programm entwickelte sich ein sachlicher Gegensatz: Petermann stellte die Nordpolarforschung als wichtigsten Gegenstand auf, Neumayer setzte die Beratung der Südpolarforschung und der Gründung einer deutschen Zentralstelle für Hydrographie und maritime Meteorologie durch. Der nähere Nordpol wurde dem ferneren Südpol vorgezogen; aber der Vorsitzende der Versammlung, zugleich Obmann des Freien Deutschen Hochstifts, Dr. Otto Volger, trat auf das wärmste für den Neumayer'schen Plan, eine Zentralstelle für alle wissenschaftlichen Unternehmungen zur See zu errichten, ein und schlug dafür auch schon den klaren, einfachen Namen »Deutsche Seewarte« vor. Am zweiten Sitzungstage hielt Neumayer seinen tiefdurchdachten Vortrag, der geradezu glänzende Gedanken über Deutschlands Zukunft entwickelte. Es erscheint deshalb hier dringend erforderlich, einzelne Sätze des umfangreichen amtlichen Berichts über die erste Versammlung deutscher Meister und Freunde der Erdkunde in Frankfurt a. M. (veröffentlicht 1865 vom Freien Deutschen Hochstift) anzuführen, weil sie die Größe des Neumayer'schen Geistes in jener sehr kleingeistigen Zeit vor mehr als 40 Jahren scharf beleuchten. Die folgenden Gedanken Neumayer's sind noch heute so wahr und wichtig wie damals:
»Dem einsichtsvollen Kenner der Geschichte, dem denkenden Politiker ist es längst klar, daß die Stellung der deutschen Nation unter den Völkern der Erde, daß ihre kulturgeschichtliche Bedeutung zunächst davon abhängt, wie sie die Aufgabe erfaßt, sich unter den seefahrenden Nationen und im großen Weltverkehr Geltung zu verschaffen.
Wir sehen Portugiesen und Spanier, Holländer und Engländer, Franzosen und Russen und in neuerer Zeit Amerikaner sich ihre maritime Bedeutung anbahnen und erringen durch Leistungen auf dem Gebiete der Hydrographie und Geographie. Durch Erweiterung nautischer Kenntnisse, durch Entdeckungsreisen wurden zunächst größere Erfolge möglich gemacht und zum anderen der maritime Geist in der Nation geweckt und gebildet. Auch wir werden wohl daran tun, diese Winke der Geschichte zu benutzen.
In einer Versammlung, wie die gegenwärtige, ist es kaum erforderlich, auf die großartigen Errungenschaften der Hydrographie während der letzten 15 Jahre hinzuweisen, oder darauf aufmerksam zu machen, wie ein gründliches Studium und die Anwendung der physikalischen Geographie auf die praktische Schiffahrt den Weltverkehr gehoben hat. Die Arbeiten eines Maury und Fitzroy sind jedem gebildeten Mann bekannt, und selbst diejenigen, die sonst den Wert der Dinge im Leben nur nach dem Werte des Geldes zu wägen gewöhnt sind, können den Wind- und Stromkarten ihre Achtung nicht versagen; weiß man doch, daß durch ihren Einfluß die Dauer der größeren Seereisen, daß die Entfernungen um dreißig und mehr Prozente reduziert worden sind.
Für uns als Deutsche aber hat die Sache noch eine weitere Bedeutung. Wenn wir erkennen, wie die Vereinigten Staaten sich ihre Bedeutung zur See (durch Maury's Arbeiten) zu sichern wußten, so sehen wir auch bei gründlicher Prüfung der Erfolge unseres deutschen Weltverkehrs zur See, daß wir nicht in dem Grade von den neueren Ideen in dieser Richtung berührt wurden, wie es die Bedeutung unseres Welthandels erheischte, daß die großen Vorteile, zumeist ohne unsere Mithilfe errungen, uns nicht in dem Maße zuflossen, wie wir es nach unserer wissenschaftlichen Bedeutung hätten erwarten können. Der Grund ist leicht darin zu erkennen, daß sich unsere deutsche Navigation nicht selbständig bei Erweiterung und Ausbildung des Maury'schen Systems beteiligte, wie dies beinahe alle anderen seefahrenden Nationen getan haben. Von deutscher Seite aus geschah außerordentlich wenig für Hydrographie und nautisch-meteorologische Zwecke, wir besitzen keinerlei National-Original-Literatur über diese Gegenstände, während doch die deutschen theoretischen Arbeiten in den verwandten Fächern meistens die Grundlage bilden. – Ich erkenne daher in der Errichtung eines nautisch-meteorologischen und hydrographischen Instituts für die Nordküsten unseres Vaterlandes einen der größten Hebel für unseren maritimen Aufschwung, denn, indem dadurch technisch einem großen Mangel abgeholfen wird, ist andrerseits unsere wissenschaftliche Unabhängigkeit auf diesem Felde von dem größten moralischen und praktischen Gewichte.
So gewiß es ist, daß unseres Vaterlandes Stellung unter den Völkern Europas von seiner freiheitlichen und einheitlichen Entwicklung bedingt ist, so gewiß ist es auch, daß nur eine Hebung unserer maritimen Bedeutung es ermöglicht, daß unser Volk seine kulturgeschichtliche Bestimmung erfülle.«
Diese Sätze enthalten das Lebensprogramm Neumayers: Die Entwicklung der wissenschaftlichen Seegeltung Deutschlands, die damals tatsächlich nahezu Null war. Im folgenden Winter versuchte Neumayer in Hamburg eine Seewarte ins Leben zu rufen, aber seine Bestrebungen scheiterten trotz der Fürsprache einflußreicher Senatoren an den damals zerfahrenen öffentlichen Zuständen der Nation. Dann störte der Krieg von 1866 die Beziehungen des süddeutschen Gelehrten zu Norddeutschland; als der Süden vom übrigen Deutschland getrennt wurde, blieb ihm, der ein ebenso guter Bayer wie Großdeutscher war, nichts übrig, als sich zurückzuziehen und eine andere Tätigkeit zu suchen. Inzwischen hatte der Rektor der Elsflether Navigationsschule, W. v. Freeden, mit Unterstützung des Hamburgischen Staats die »Norddeutsche Seewarte« als kleines Privatinstitut ins Leben gerufen.
Ein minder zäher Charakter, als unser herber, kerniger Pfälzer, hätte solche Mißerfolge kaum ohne Schaden überwunden. Bei Neumayer aber dienten alle Hindernisse und Schwierigkeiten, die das Schicksal ihm entgegenwarf, nur dazu, seine Spannkraft zu stählen, seine Leistungsfähigkeit zu mehren. Neben der Ausarbeitung seiner australischen Beobachtungen beschäftigte ihn in den Jahren 1868 und 1869 wieder das erst teilweise gelöste Problem der Erforschung des inneraustralischen Wüstengebiets und der Nachforschungen nach Leichhardt's Spuren; im Juni 1868 trug er der Royal Society in London den Plan einer von ihm selbst zu unternehmenden Forschungsreise vor, den zahlreiche andere geographische Gesellschaften Europas billigen und fördern wollten. Aber die Regierungen Englands und Australiens weigerten sich, das Unternehmen zu unterstützen, weil ähnliche Zwecke einige Jahre vorher schon zu große Opfer an Menschenleben und Geldmitteln gefordert hatten. Das war wieder ein Mißerfolg, der Neumayers Unternehmungslust nach anderer Richtung mehrte.
Jetzt wurde dem rastlosen Geist die Südpolforschung Trumpf; auf der deutschen Naturforscherversammlung in Innsbruck, am 22. September 1869 verband er in einem längeren Vortrag die Erforschung der Antarktis, d. h. des Südpolgebiets, mit den Beobachtungen der Venusdurchgänge im Dezember 1874 und 1882. Er wies nach, daß diese Beobachtungen, die zur genaueren Bestimmung der Sonnenparallaxe und mithin zur Berechnung des genauen Abstandes der Erde von der Sonne sehr wichtig waren, am besten im südlichsten Gebiet des Indischen Ozeans, also möglichst weit südlich von den Macdonaldinseln ausgeführt werden müßten, mithin an sich schon Anlaß zu einer gut vorbereiteten und gründlich ausgerüsteten Südpolfahrt gäben. Die Anregung wurde mit Beifall begrüßt, aber im Norddeutschen Bund war bereits eine Kommission mit Ausarbeitung der Pläne für die Venusdurchgänge beauftragt, die für den süddeutschen Gelehrten unzugänglich blieb. Aber das Glück schien ihm dennoch die Erfüllung seines heißen Wunsches zu bieten, selbst solche Südfahrt zu leiten. Infolge seines Innsbrucker Vortrags wurde Dr. Neumayer von dem berühmten Direktor der Wiener Sternwarte, Professor Karl v. Littrow gebeten, die Wiener wissenschaftlichen Kreise für dieselbe Sache mobil zu machen. Am 14. März 1870 hielt nun Neumayer einen großen Vortrag über dieselben Pläne im Grünen Saal der Akademie der Wissenschaften in Wien, der sehr günstig aufgenommen wurde. Außer zahlreichen Gelehrten und Seeoffizieren wohnten auch mehrere Minister, darunter der Seeheld von Lissa, Vizeadmiral v. Tegetthoff, dem Vortrage bei. Am 29. März sprach Neumayer nochmals über die praktische Durchführbarkeit des Planes und nun sagte ihm Tegethoff am 11. Juni 1870 die Leitung einer wissenschaftlichen Marineexpedition zu, an der sich vier jüngere österreichische Seeoffiziere beteiligen sollten. Schon waren Verhandlungen mit Hamburger Reedern und Schiffsmaklern im Gange, als der Ausbruch des deutsch-französischen Krieges zur Vertagung des Planes zwang; denn Seeoffiziere waren in dieser politisch unsicheren Zeit für wissenschaftliche Seefahrten nicht verfügbar. Als der große Krieg beendet war, lud Tegetthoff den ihm sympathischen Gelehrten im Frühjahr 1871 nochmals ein, nach Wien zu kommen und mit ihm die Angelegenheit der Forschungsfahrt wieder aufzunehmen. Aber die inzwischen eingetretene politische Spannung erschwerte die Bewilligung der Mittel und mit dem Tode des großen Seehelden am 7. April 1871 schwand Neumayers letzte Hoffnung, die Südpolfahrt unter österreichischer Flagge selbst zu leiten. Aber auch dieser schwere Schlag löste nur neue Hoffnungen in dem »unverbesserlichen Optimisten« aus.
Getreu seinen durch ein Leben voller Mühsalen und harter Arbeit bewährten Grundsätzen erachtete es Neumayer ebenso sehr als seine Pflicht, wie als ein Glück, nachdem das Deutsche Reich gegründet, und der Süden, seine Heimat, nicht mehr getrennt von Norddeutschland dastand, nunmehr seine wissenschaftlichen Erfahrungen auf weiter Fahrt in Sachen der Seefahrt zu Gunsten der Entwicklung von Deutschlands Bedeutung zur See zu verwerten. Seine große Vaterlandsliebe wie auch sein im heißen Streben um außergewöhnliche Fachkenntnisse erworbenes sehr gerechtfertigtes Selbstbewußtsein spricht aus einem Privatbriefe jener denkwürdigen Zeit:
»Die großen Ereignisse der letzten Jahre haben die heißesten Wünsche der Nation in Erfüllung gehen lassen: Das Deutsche Reich ist gegründet und wird sich zu einer glorreichen Zukunft entfalten. Mit dieser Zukunft innig verknüpft ist auch die Stellung, die es zur See und in maritimen Dingen sich erringen wird.
Mit Rücksicht darauf ist es die Pflicht eines jeden Patrioten, die Bestrebungen unserer Nation nach dem Maße seiner Kraft zu unterstützen, besonders wenn er von der Überzeugung geleitet wird, daß die Zahl kompetenter Männer auf dem ihm vertrauten Gebiete keine übergroße ist. Ich wage aus diesem Grunde zu hoffen, daß meine Erfahrungen und Kenntnisse, auf langjährigen Reisen und in amtlich-wissenschaftlicher Stellung erworben, zum Nutzen und Frommen meines Vaterlandes Verwertung finden werden.«
Auf dem Gebiete des wissenschaftlichen Seewesens, wo es Männer von Erfahrung in Deutschland damals überhaupt nicht gab, wollte er sein Scherflein zur Förderung der Seeinteressen des neuen Deutschen Reiches beitragen. Die erste Gelegenheit dazu bot sich schon im Mai 1871. Nach vierjähriger Tätigkeit sollte die kleine Norddeutsche Seewarte, die schon Nützliches in der Bearbeitung von Segelanweisungen für deutsche Kapitäne geleistet hatte, zu einem großen Reichsinstitut entwickelt werden, um imstande zu sein, theoretische und praktische Fragen auf allen Gebieten der Seefahrtskunde zu bearbeiten. Auf Wunsch des bisherigen Direktors der Norddeutschen Seewarte, der in den Reichstag gewählt war, entwarf Neumayer einen großen Organisationsplan, nach dem die Seewarte zu einer Zentralstelle für Nautik und Ozeanographie, sowie maritime Meteorologie umgebildet werden sollte. Dieser Entwurf (veröffentlicht 1871 bei Moeser in Berlin) wurde dem Reichskanzleramte überreicht. Nun hatte Neumayer doch wenigstens ein gutes Eisen im Feuer; nach dem Plane war er mit Freeden gemeinsam zur Leitung der künftigen Seewarte ausersehen, falls der Reichstag den Plan genehmigen würde.
Inzwischen ruhten aber auch seine Südpolpläne nicht; dem Geo- und Kosmographischen Kongreß in Antwerpen, 14.–22. August 1871 legte er eine ausführliche Beantwortung der Programmfrage nach Erforschung der antarktischen Gebiete vor, und später, 1872, veröffentlichte er eine 50 Druckseiten starke Abhandlung über die Erforschung des Südpolargebiets in der Zeitschrift der Berliner Gesellschaft für Erdkunde. Es war die ausführlichste Arbeit, die bisher über alle mit dieser Forschung verknüpfte Fragen herausgegeben wurde. Stets faßte Neumayer solche Fragen in großzügiger Art, von hohen, vaterländischen Gesichtspunkten aus, auf. So schloß die vorerwähnte Abhandlung mit der Mahnung:
»England und Amerika haben ihre Seeleute in den arktischen Regionen geschult und zu dem gemacht, was sie heute noch sind: die ersten der Welt. Auch für unsere Marine werden die Mühen und Gefahren einer Südpolarfahrt eine willkommene Gelegenheit zu ihrer Entwicklung und Ausbildung bieten, während andererseits dadurch der Sinn für geographische und hydrographische Studien gepflegt wird. Hier gibt es für den Seemann Lorbeeren edelster und unvergänglichster Art zu erwerben; wollen wir daher hoffen, daß die Flagge des neuen Deutschen Reiches an den eisumgürteten Gestaden der Südpolarregionen wehen und deren neu entdeckte Berge die von einer glücklichen Nation verehrten Namen aus unserer jüngsten Geschichte kommenden Geschlechtern verkünden mögen, damit sie erkennen, daß wir, gleich wie wir es verstanden, für unsere Freiheit und Unabhängigkeit einen glorreichen Krieg zu Ende zu führen, auch für die edelsten Güter freier Nationen: Freiheit auf dem Gebiete wissenschaftlicher Forschung und Opferwilligkeit in wissenschaftlichen Unternehmungen, mit unserem ganzen kulturgeschichtlichen Werte einzutreten vermögen. Mögen jene Zeugen unserer Tätigkeit im fernsten Süden der Nachwelt sagen, daß uns im Glücke jener Sinn nicht abhanden gekommen, der in der Zeit der Uneinigkeit und der Schwäche unser Trost und Halt war, indem er uns unter den Völkern der Erde das schöne Prädikat der philosophischen Nation erworben!«
Inzwischen hatte Neumayer auch die Entwicklung der deutschen Marine mit lebhaftestem Interesse verfolgt. Anfang Januar 1872 war der Generalleutnant v. Stosch zum Chef der Admiralität ernannt worden; er war nicht nur ein großer Organisator, sondern auch ein zielbewußter Förderer wissenschaftlicher Tätigkeit in Heer und Marine. Denn Stosch wußte genau, daß die größten Heerführer seiner Zeit, wie Moltke und sein Stab, zugleich die größten Gelehrten ihres Faches waren. In der noch kleinen und jungen Marine des norddeutschen Bundes wurde die Seefahrtskunde noch rein handwerksmäßig, fast ohne jeden höheren, wissenschaftlichen Gedanken betrieben. Für die gesamte Entwicklung der Flotte war es unumgänglich nötig, wissenschaftlichen Geist in die jüngeren Seeoffiziere einzupflanzen, sie anzuleiten nach dem Beispiele fremder Flottenoffiziere sich mit der Bearbeitung nautisch-wissenschaftlicher Fragen zu beschäftigen. Nur auf diese Weise konnte auch die nautische Fachliteratur, die in Deutschland damals fast auf allen Gebieten des Seewesens fehlte, geschaffen werden. Trotzdem auch die österreichische Marine, ähnlich der preußischen, erst 1850 neu geschaffen war, hatte sie in ihrer Literatur um 1870 schon glänzende wissenschaftliche Leistungen zu verzeichnen. Schon die berühmte Novara-Expedition hatte den wissenschaftlichen Geist der österreichischen Flotte entwickelt, der Seeheld Tegetthoff wie seine bewährtesten Mitkämpfer und Linienschiffskapitäne waren hervorragende Fachgelehrte. Zum Teil ist dieser Unterschied gegen die damalige deutsche Marine wohl damit zu erklären, daß man sich in Österreich schon sehr frühzeitig entschloß, bewährte Kräfte aus dem Zivilstande als wissenschaftliche Mitarbeiter und Lehrer heranzuziehen. Besonders der hochverdiente Dr. Schaub wurde durch seine Schriften und sein Wirken überhaupt vom tiefgreifendsten Einfluß auf den wissenschaftlichen, die übrige Tüchtigkeit zum großen Teil bedingenden Geist der österreichischen Seeoffiziere.
Es ist bezeichnend genug für Stosch's schnelles Erfassen der wichtigsten Friedensarbeit für die Marine, daß seine erste eigene größere Arbeit als Chef der Admiralität einer Dienstanweisung für das damals kaum erst ins Leben gerufene »Hydrographische Bureau der Admiralität« gewidmet war. Der Vorstand des Bureaus, Korvettenkapitän Knorr, der im Seegefecht des Meteor gegen den Bouvet vor Habana siegreiche deutsche Schiffskommandant, hatte ihm einen Entwurf vorgelegt, der schon mit vielen bisherigen Mängeln aufräumte; Stosch ging noch weiter, er stellte dem Hydrographischen Bureau die zwar kurz gefaßte, aber tatsächlich sehr umfangreiche Aufgabe, »alle für die Kriegs- und Handelsmarine zur Schiffahrt und zur Benutzung der Häfen notwendigen Kenntnisse zu sammeln und nutzbar zu machen«. Das war ein geradezu gigantisches Programm, das heutzutage noch nicht vollkommen erfüllt ist, trotz fleißiger nautischer Arbeit; es umfaßt Küstenvermessung, Herausgabe von Seekarten und Segelhandbüchern, Vervollkommnung aller nautischen Instrumente, sowie maritime wissenschaftliche Forschungen aller Art und nautische wissenschaftliche Ausbildung.
Fortschritte der Schiffbautechnik schufen inzwischen neue nautische Probleme; in England wurden um 1870 schon die meisten Dampfer aus Eisen gebaut, seit Tegetthoffs Seesieg bei Lissa panzerten alle Seemächte ihre Schlachtschiffe. Die Eisenmassen im Schiffskörper, die noch dazu auf der Werft durch langes Hämmern magnetisch gemacht sind, schränken die Richtkraft der Kompaßnadel ein und lenken auch die Richtung vom magnetischen Erdpol ab. Nur sorgfältige Wahl des Aufstellungsortes und Kompensierung der schädlichen Wirkung des Schiffsmagnetismus durch Hilfsmagnete konnten dem Kompaß die alte, auf Holzschiffen seit Jahrhunderten bewährte Zuverlässigkeit wiedergeben. Hier handelte es sich um ganz neue wissenschaftliche Probleme, die für die Sicherheit der Schifffahrt gelöst werden mußten, aber nur von Fachleuten auf geophysikalischem und erdmagnetischem Gebiet gelöst werden konnten. Neumayer war damals in Deutschland der einzige Gelehrte und Seemann, der diese Lebensfrage für die moderne Schiffahrt richtig zu behandeln verstand. Ein ausgezeichneter Vortrag, den Neumayer am 3. Februar 1872 über den Magnetismus in eisernen Schiffen in der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin hielt, – er bezeichnete dabei die Vernachlässigung der durch das Schiffseisen hervorgerufenen Kompaßablenkung, der sogenannten Deviation, als ein nationalökonomisches Kuriosum – machte Stosch zum ersten Male auf Neumayer aufmerksam. Das war der Mann, der der Marine zur Förderung wissenschaftlicher Untersuchungen fehlte!
Fast zu gleicher Zeit hörte Stosch noch mehr von dem auf außergewöhnlichem Studiengang gereiften Gelehrten. Ein bekannter Historiker und Mitglied des Reichstags, Professor Thomas, hatte in einer süddeutschen Zeitung die Gründung eines Hydrographischen Amtes des Deutschen Reichs angeregt und dabei Neumayer als besonders geeignet für diese Stellung erwähnt. Thomas gehörte zur Freien Marinevereinigung des Reichstags, die Vorberatungen über Angelegenheiten des Seewesens abhielt. Auch der Fürst Chlodwig Hohenlohe-Schillingsfürst, der spätere Reichskanzler, war Mitglied. In einer Verhandlung dieser Marinevereinigung sprach Professor Thomas über die Notwendigkeit der Begründung eines hydrographischen Reichsinstituts in Gegenwart des Chefs der Admiralität v. Stosch, der amtlich an den Sitzungen teilnahm. Dabei benutzte Fürst Hohenlohe die Gelegenheit, den ihm nach seinem ganzen Wirken und Entwicklungsgang bekannten Dr. Neumayer dem Chef der Admiralität warm zu empfehlen. Nachdem Stosch auch persönlich den besten Eindruck von Neumayers ganzer Art empfangen hatte, war er überzeugt, den richtigen Mann für die Bearbeitung der vielseitigen wissenschaftlichen Fragen gefunden zu haben, die zur Entwicklung der jungen Marine wie auch der deutschen Handelsschiffahrt gefördert und gelöst werden mußten. Am 1. Juli 1872 berief er Neumayer zunächst als Mitglied in das Hydrographische Bureau und ernannte ihn am 24. Dezember desselben Jahres zum »Hydrographen in der Admiralität«.
Als Hydrograph war Neumayer in seinem richtigen Fahrwasser; er entfaltete sofort einen beispiellosen Eifer und eine bewunderungswürdige Arbeitskraft auf allen Gebieten seines vielseitigen Faches. Ein vollständiger Bericht dieser nur dreiundeinhalbjährigen Tätigkeit würde allein einen Band unserer Sammlung füllen; nur das Wichtigste kann hier kurz erwähnt werden. Für die hydrographischen Vermessungen (Küsten- und Meeresaufnahmen) in der Nord- und Ostsee entwarf er die nötigen Anweisungen über den Gebrauch der Instrumente, über die Lotungsarbeiten auf offener See, sorgte für die gründlichste Vorbildung der mit den Vermessungen betrauten Seeoffiziere, prüfte selbst alle Vermessungsarbeiten, alle Vermessungsinstrumente und führte auch die umfangreichsten Berechnungen selbst aus. Gleichzeitig unternahm er Reisen an den deutschen Küsten, um die magnetischen Elemente (Mißweisung, Inklination und Intensität des Erdmagnetismus) an vielen Punkten selbst zu beobachten, daraus deren jährliche Änderung zu berechnen und alles in Karten zum Nutzen der Seefahrer einzutragen. Mit besonderer Sorgfalt studierte er das Verhalten der Kompasse auf den Panzerschiffen; schon 1872 untersuchte er die magnetischen Eigenschaften der Panzerfregatte »Friedrich Carl« vor deren Abreise nach Westindien in Wilhelmshaven, bestimmte dabei gleichzeitig den besten Platz für das später dort auf seine Anregung begründete Marineobservatorium. Für alle Schiffsneubauten der Marine suchte er durch Beobachtungen mit dem von ihm erfundenen Deviationsmagnetometer den hinsichtlich des Schiffsmagnetismus günstigsten Aufstellungsort; so reiste er z. B. 1874 nach London, um diese Untersuchungen auf den dort noch auf Stapel stehenden Panzerfregatten »Deutschland« und »Kaiser« auszuführen. Auch entwarf Neumayer auf Stosch's Wunsch die ersten Dienstvorschriften über Deviationsbestimmung der Kompasse. Das Kompaßwesen förderte er durch Einführung zweckmäßigerer Schiffskompasse in die Marine, die zum Teil, wie die ersten Fluidkompasse, ganz nach seinen Angaben gefertigt waren. Ferner rief er die systematische, wissenschaftliche Chronometeruntersuchung ins Leben; in Kiel wurde auf seine Veranlassung der Astronom Professor Dr. Peters damit betraut, in Wilhelmshaven der spätere Vorstand des Observatoriums, Dr. Börgen. Überhaupt regelte und überwachte Neumayer die Beschaffung und Prüfung aller nautischen und wissenschaftlichen Instrumente für alle Marineinstitute und Marinewerften, sowie für alle besonderen hydrographischen Expeditionen.
Sogar der Feldmarschall Graf Moltke wurde auf Neumayers hervorragende Kenntnisse im Instrumentenwesen aufmerksam, ernannte ihn 1874 mit Stosch's Bewilligung zum Mitglied des Zentraldirektoriums der Vermessungen im Generalstab und beauftragte ihn, als sein Kommissar, die wissenschaftlichen Ausstellungen in Paris (1875) und London (1876) zu besuchen, um die fremden Fortschritte auf geodätischem Gebiet zu begutachten.
Zur Lieblingsbeschäftigung wurde dem inzwischen, am 4. September 1873, zum Königlichen Professor ernannten Hydrographen Dr. Neumayer die Fürsorge für wissenschaftliche nautische Expeditionen. Er faßte solche Unternehmungen stets vom höchsten idealen und nationalen Gesichtspunkte auf, sah in ihnen die beste Friedensschulung für unser aufstrebendes Seeoffizierkorps. Wegen seines großen und wohlverdienten Ansehens bei seinem Gönner und Vorgesetzten, dem Admiral v. Stosch, darf man annehmen, daß Neumayer die Triebfeder für das Zustandekommen der Gazelle-Expedition war. Es handelte sich dabei um die erste große wissenschaftliche Erdumsegelung eines deutschen Kriegsschiffs, der gedeckten Korvette »Gazelle« unter dem Befehl des hervorragend tüchtigen Kapitäns zur See, Freiherrn v. Schleinitz. Neumayer traf die umfassendsten Vorbereitungen für diese Forschungsreise; er rüstete das Schiff mit den feinsten Meßwerkzeugen aller Art zur Bestimmung der größten Meerestiefen, der Seewasserwärme in verschiedenen Tiefen, der Luftwärme, des Luftdrucks, der Regenmenge, der Windrichtung und -stärke, des Salzgehaltes des Seewassers, ferner mit Geräten zum Fischen der Lebewesen in großen Meerestiefen und mit den erprobtesten astronomischen und magnetischen Instrumenten zu Vermessungszwecken aus. Bei seiner fast an Pedanterie streifenden Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit war das eine Riesenarbeit, umsomehr, als damals noch viele dieser Instrumente aus dem Auslande, aus London, Paris und Triest beschafft werden mußten; und fast jedes Instrument mußte vorher in allen seinen Eigenschaften geprüft werden. Nicht genug damit, Neumayer unterrichtete auch alle Seeoffiziere des Schiffs im Gebrauch der ihnen zugeteilten Instrumente und entwarf die ausführlichsten Spezialinstruktionen und Programme für die auszuführenden Beobachtungen, Rechnungsmethoden und anderen Arbeiten auf jedem einzelnen Gebiet. Die »Gazette« setzte auf den Kerguelen mehrere Gelehrte und Seeoffiziere ab, die dort mit bestem Erfolg den Venusdurchgang (vergl. S. 25.) beobachteten; das Schiff selbst ging dann südwärts in das Eisgebiet der Antarktis hinein, machte dort, wie im Atlantischen, Indischen und Stillen Ozean nach Neumayers Anweisungen eine Menge wissenschaftlich wertvoller Untersuchungen, besonders auf dem Gebiete der Tiefseeforschung.
In der kurzen Zeit, während Neumayer als Hydrograph in der Admiralität wirkte, verstand er es, durch seinen Feuereifer und sein unermüdliches Bemühen hohen wissenschaftlichen Geist in die Marine einzupflanzen. Durch seinen ganz persönlichen Einfluß hob er nicht nur das Interesse für die nautische Literatur, sondern brachte der Marine auch volles Verständnis dafür bei, daß tüchtige nautische Kenntnisse für den Seeoffizier die Grundlage für sein gesamtes Fachwissen bilden müssen und daß besonders in jener Zeit der langen Segelschiffsreisen nichts anderes die gesamte Tüchtigkeit des jungen Seeoffiziers tiefgreifender zu fördern imstande sei, als hydrographische oder nautisch-wissenschaftliche Arbeitstätigkeit. In diesem Sinne und ungefähr mit diesen Worten kennzeichnete er selbst die Grundzüge, die sein Wirken für die aufblühende Marine leiteten.
Bei solchen Bestrebungen war es kein Wunder, daß Stosch, mit seinem hohen Verständnis für wissenschaftliche Leistungen, Neumayers Wirken für die Deutsche Marine voll zu würdigen wußte. Stosch war auch weitblickend genug, trotzdem er selbst kein Fachmann war, die Gemeinschaft der Interessen der Kriegs- wie Handelsmarine auf wissenschaftlichem Gebiet zu erkennen. Deshalb sorgte er dafür, daß die vom Reiche neu zu schaffende »Deutsche Seewarte« der Marine zugeteilt wurde; und er sorgte auch dafür, daß der tüchtigste Fachmann, den Deutschland hatte, zum Leiter dieses nationalen seewissenschaftlichen Instituts ernannt wurde.
Die Entwicklungsgeschichte der Deutschen Seewarte und das siebenundzwanzigjährige erfolg- und segensreiche Wirken Neumayers als ihres Begründers und Direktors zu schildern, muß einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben. Nur soviel sei gesagt, daß Neumayer die Seewarte zu solchem Ansehen brachte, daß alle großen seefahrenden Nationen, die Engländer nicht ausgeschlossen, uns Deutsche um die außerordentlichen Leistungen dieses seltenen Mannes auf allen Gebieten des wissenschaftlichen Seewesens beneiden und nichts Gleichwertiges daneben aufzuweisen imstande sind! Das sagt zwar viel, aber immer noch nicht genug. Ebenbürtig an wissenschaftlichen Leistungen war ihm vielleicht Alexander v. Humboldt; aber nach gerechtem Urteil muß man Neumayers Wirken doch wesentlich höher stellen, als das des vielvergötterten und weltberühmten Forschers. Denn Georg von Neumayer trieb die Wissenschaft nicht um ihrer selbst willen, sondern zum Nutzen, Schutz und Segen der Seefahrer; er strebte sein ganzes Leben lang danach, der Menschheit zu dienen!
Kein geringerer, als Kaiser Wilhelm der Große nannte die Aufgabe der Seewarte eine » großartige«, wünschte dem Institute, daß die Hoffnungen, die ganz Deutschland auf die Seewarte setzte, sich in vollem Maße erfüllen möchten und sagte bei der feierlichen Einweihung des Dienstgebäudes der Seewarte auf dem Stintfang in Hamburg am 14. September 1881 (dem Geburtstage Alexander v. Humboldts) im Hinblick auf Neumayer und seine Mitarbeiter: »Die Herren, die damit beschäftigt sind, sind mir Bürge dafür, daß dies geschieht, sowie daß die Wissenschaft zur Sicherheit der Menschheit sich immer weiter ausbreiten wird, der Menschheit, die sich auf dem Elemente bewegt, dem die Seewarte vor allem ihre Tätigkeit widmet!«
Auf der ganzen Erde gibt es keine zweite Einrichtung, weder von wissenschaftlicher noch marinetechnischer Art, die ein so ausgedehntes Arbeitsfeld für alle zur Förderung der Seefahrt nötigen und nützlichen Dinge aufweisen könnte, wie unsere Deutsche Seewarte, so wie sie Neumayer geschaffen und geleitet hat. Als Direktor der Seewarte kam die starke Persönlichkeit Neumayers zur vollsten Entfaltung und zeitigte reife Früchte zum Wohle der Seefahrer. Die Geschichte der Seewarte seit ihrer Gründung ist das eigentliche Lebenswerk Neumayers; was von 1876-1903 amtlich von der Seewarte ausgegangen, trägt nicht nur die Unterschrift, sondern auch den Geist Neumayers hinaus in alle Welt! Jede der zahllosen Veröffentlichungen des Instituts legt Zeugnis dafür ab, daß Neumayer getreu im Sinne des erwähnten Kaiserwortes gearbeitet und gewirkt hat.
Die fesselnde Persönlichkeit Neumayers, seine regen Beziehungen zu anderen großen Gelehrten, Künstlern und Fürsten, sowie seine vielseitigen wissenschaftlichen Anregungen und Bestrebungen außerhalb des Rahmens seiner amtlichen Tätigkeit zu schildern, muß ebenfalls späterem vorbehalten bleiben. Hier galt es nur den Entwicklungsgang zu kennzeichnen, der Neumayer befähigte, seinen wichtigen Lebenszweck zu erfüllen. Niemand hat das Leitmotiv des Neumayerschen Werdegangs besser erkannt und höher gewürdigt, als der ausgezeichnete Staatsmann und regierende Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, Dr. Burchard, der in seiner gehaltvollen und markigen Rede beim Festmahl des Hohen Senats zu Ehren des aus dem Amte und aus Hamburg scheidenden Direktors der Deutschen Seewarte hervorhob:
»Sie sehen auf ein Lebenswerk zurück, für das Sie gestrebt und gearbeitet haben seit Ihrer Jugendzeit. Selten ist es einem Menschen vergönnt, während mehr als 50 Jahren einen und denselben Gedanken in sich zu verkörpern, seine ganze Lebensarbeit auf einen leitenden Gedanken, einen und denselben starken Grundton stimmen zu können und im Alter das hohe ferne Ziel erreicht zu sehen, an das zu gelangen unbeugsamer Wille und zähe Energie in hoffnungsfreudiger, wagemutiger Jugendzuversicht sich vorgenommen hatten. Ihnen, verehrter Herr Geheimer Rat, ist diese Gunst zuteil geworden. Sie hinterlassen eine Schöpfung, die den Stempel Ihrer Persönlichkeit trägt und die gerade um deswillen in unserem Vaterlande und weit hinaus über die Grenzen des Reiches in hohem Ansehen steht. Fern vom Meeresgestade, im Südwesten unseres Vaterlandes aufgewachsen und vorgebildet, haben Sie im Sturm- und Drangjahr unserer politischen Entwicklung, als die Wogen nationaler Begeisterung hochgingen und mit der Schaffung der ersten deutschen Flotte die Blicke Alldeutschlands sich auf das Meer richtete, den Entschluß gefaßt, dem Meere, der Schiffahrt, der nautischen Wissenschaft Ihr Leben zu widmen. Und was Sie als Jüngling in warmherzigem, patriotischem Empfinden gelobt, das haben Sie gehalten: Sie haben auf diesem, gewaltige Perspektiven eröffnenden Gebiete dem Vaterlande gedient Ihr Leben lang. Wie der große Denker Friedrich List, dem Ihre dankbare Verehrung noch heute gilt, erglühten auch Sie begeisterungsfroh für eine maritime und koloniale Machtentfaltung des Vaterlandes!«