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Zu den Zeiten des Königs von Frankreich Hildericus oder Childerichs II. wurde (um das Jahr 666 oder nach andern 670) das Elsaß zu einem Herzogtum erhoben, und zum Herzog wurde Adalrich, gewöhnlich Attich, oder nach älteren Urkunden Etticho, ein austrasischer Edelmann, ernannt.
Herzog Attich vermählte sich mit Bereswinde und lebte mit ihr teils auf seinem Schlosse zu Oberehrheim, teils aber, und wie es scheint vorzugsweise, auf Hohenburg. Beide Gatten wünschten sehnlich, einen Erben zu erhalten; Attich, um ihm einst seine Würden und Güter zu hinterlassen, die fromme Bereswinde, um ihn zur Ehre Gottes zu erziehen.
Endlich gebar die Herzogin eine blinde Tochter. Als dies der Vater vernahm, ward er darüber so erzürnt, daß er das Kindlein zu töten begehrte, und sprach zur Mutter: »Nun erkenne ich, daß ich sonderlich wider Gott muß gesündigt haben, daß er mir widerfahren läßt, was noch keinem meines Geschlechts geschehen ist.«
Da sprach Bereswinde: »Herr, du sollst dich um diese Sache nicht so sehr betrüben; denn du weißt wohl, daß Christus von einem Blindgeborenen sprach: ›Dieser ist blind geboren nicht durch seiner Vordern Missetat willen; er ist blind geboren, daß Gottes Gewalt an ihm erscheinen solle.‹«
Diese Worte beruhigten jedoch des Herzogs wilden Sinn nicht; all seine Begierde ging darauf, daß das Kind getötet würde, und er sprach abermals zu seiner Frau: »Schaffe, daß das blinde Kind von unsrer Freunde einem getötet werde oder so ferne von uns komme, daß wir sein vergessen, anders werde ich nimmer froh.«
Dieses Gebot betrübte Bereswinde gar sehr, und sie bat Gott mit Andacht um Rat und Hilfe in dieser Sache. Da gab ihr Gott in den Sinn, daß sie an eine Frau gedachte, die war ihre Dienerin gewesen. Nach dieser sandte sie und sagte ihr des Herzogs Anschlag wider das blinde Töchterlein. Da tröstete sie die Dienerin und sprach: »Ihr sollt Euch nicht so sehr darum betrüben; denn Gott, der dem Töchterlein diese Plage geschickt, vermag es auch wieder sehend zu machen.«
Damit aber der Anblick des Kindes nicht fürder des Herzogs Zorn reize, sandte die Mutter alsbald die Dienerin in Begleitung treuer Knechte mit dem blinden Kinde weit, weit von dannen, gen Palma, das liegt jenseits der Alpenberge in Friaul; dort war ein Frauenmünster, und dorthin wurde Herrn Attichs Töchterlein gebracht. Die Klosterfrauen erzogen das Kind mit vieler Zärtlichkeit und unterwiesen es in der heiligen Schrift. Im Bayerlande aber war ein Bischof mit Namen Erhardus; der hörte im Traum eine Stimme: »Mache dich auf gen Palma in das Stift; dort findest du ein blindes Mädchen, das sollst du taufen und Odilia heißen.« Erhardus folgte ohne Weilen der Stimme des Herrn, so er im Traume vernommen, zog gen Palma in das Stift und fand das Kind, taufte und segnete es, und siehe, da gingen über der Taufe dem Kinde die Augen auf, und es ward sehend.
Da nun Sankt Erhardus in sein Land gekommen war, schrieb er dem Herzog Attich alle diese Geschichten und bat ihn, er möge das Kind wieder in seine Gnaden empfangen, das ohne seine Schuld in seine Ungunst gefallen war. Darauf antwortete aber der Herzog nicht.
Nun erfuhr Odilia, da sie zu einer ebenso frommen als überaus schönen Jungfrau herangewachsen war, daß sie einen Bruder mit Namen Hugo habe, der an seines Vaters Hofe in Hulden war. Dem schrieb sie einen Brief und bat ihn, er möge ihr Gnade erwerben bei ihrem Vater, damit sie ihn doch einmal mit Freuden ansehen dürfe.
Da der Bruder diesen Brief empfing, trat er vor seinen Vater und sprach: »Gnädiger Vater, ich begehre, daß du die Bitte deines Sohnes wollest erhören.« – Herzog Attich antwortete darauf: »Bittest du unziemliche Dinge, so ist es unbillig, daß ich dich erhöre.« – Da sprach der Sohn: »Es ist eine geziemende Bitte, denn ich begehre nichts anderes, als daß deine Tochter, meine Schwester, die in dem Elende lange ohne Trost gewesen ist, nun wieder zu deinen Hulden empfangen werde und deine gnädige Gegenwart genieße.« – Darauf gebot ihm der Vater zu schweigen.
Allein Hugo hatte großes Mitleiden mit seiner Schwester und ließ heimlich ein Wäglein bereiten mit allem Nötigen und sandte es seiner Schwester.
So geschah es denn eines Tages, daß der Herzog mit seinem Sohne und seiner Ritterschaft auf Hohenburg saß und einen gezierten Wagen daherkommen sah. Als er nun fragte, wer da komme, sagte der Jüngling frei heraus, daß es seine Tochter Odilia sei. Darüber ergrimmte Attich dergestalt, daß er rief: »Wer ist so frevelhaft und töricht, daß er sie ohne mein Geheiß dahergerufen?«
Hugo, welcher wohl sah, daß es nicht möchte verhohlen bleiben, antwortete: »Herr, ich, dein Sohn und Diener, hielt es für große Schande, daß sie in solcher Armut lebe, und habe sie aus großem Mitleid hierher berufen und bitte um deine Gnade.«
Da hub der Vater vor Zorn seinen Stab auf und schlug den Jüngling so sehr, daß er siech ward und starb.
Herzog Attich erschrak alsbald über seine Missetat, ging in sich, sandte nach seiner Tochter Odilia und nahm sie freundlich auf.
Odilia wuchs immer mehr an Weisheit und Frömmigkeit, und der Ruf ihrer Schönheit, sowie des Glanzes, welcher an ihres Vaters Hof herrschte, drang nach allen Landen. Bald kamen angesehene Freier von allen Seiten herbei, welche um die Hand der edlen Fürstentochter warben. Allein so sehr auch ihr Vater und seine Höflinge in sie drangen, daß sie sich vermähle, blieb sie bei ihrem Gelübde, allein Gott zu dienen und dem Bräutigam ihrer Seele, ihrem Heiland und Erlöser Jesu Christo. Diese Treue und Standhaftigkeit in ihrem Vorsatze erbitterte den Vater aufs neue wider sie; und endlich wollte er sie mit Gewalt zwingen, einem reichen und angesehenen Fürstensohne aus Deutschland ihre Hand zu reichen.
Da nun die fromme Jungfrau sah, daß ihr Vater unwiderruflich auf seinem Willen beharre, gedachte sie aus dem Schlosse zu entfliehen. Sie entkam durch ein Pförtchen der Burg, stieg ins Tal hinunter, legte ihre fürstlichen Kleider ab und vertauschte sie mit einem ärmlichen Pilgergewande und floh zu Fuß bis an den Rhein, wo sie ein Schiffer alsobald in seinem Nachen ans andere Ufer brachte. Von da floh sie dem Gebirge zu.
Allein Herzog Attich hatte ihre Flucht bemerkt und stieg mit dem jungen Fürstensohne, Odilias Freier, und mit einem Gefolge von Rittern und Knechten zu Pferde, um der Flüchtigen nachzueilen. Er hatte auch bald durch die Kundschafter, die er im ganzen Lande umhergesandt, erfahren, welchen Weg sie eingeschlagen, und folgte ihr in starkem Ritte auf dem Fuße nach.
Von der beschwerlichen Wanderung in einer unbekannten, dicht mit Wäldern bedeckten Talgegend ermüdet, hatte sich die heilige Pilgerin einige Augenblicke niedergelassen, um auszuruhen. Da hörte sie von ferne das Getrabe von Pferden und Klirren der Waffen ihrer Verfolger. Eilig raffte sie sich zusammen und eilte den Berg hinauf, ein Versteck gegen ihre Dränger zu suchen. Sie fiel aber endlich vor einem Felsstück kraftlos nieder, als dieselben schon hart hinter ihr waren.
In ihrer Verzweiflung und voll lebendigen Glaubens an den Schirmer der Unschuld breitete sie ihre Arme gen Himmel und flehte ihn um Erbarmen an. Siehe, da öffnete sich die Felswand, nahm sie auf und schloß sich alsbald wieder zu.
Von diesem Wunder ergriffen, rief sie der reuevolle Vater bei ihrem Namen und gelobte ihr, daß er ihr nun vollkommene Freiheit gestatten wolle, ihrem heiligen Berufe zu leben.
Hierauf tat sich der Fels auf und Odilia trat im Glanze ihrer Unschuld und Heiligkeit vor die Schar der sie bewundernden Reiter.
Die Felsenhöhle blieb aber von Stund' an offen, und aus derselben sprang eine klare Quelle ins Tal herab, die noch jetzt heilkräftig auf kranke Augen wirkt. Über derselben erhebt sich eine der Heiligen geweihte Wallfahrtskapelle, welche der Stadt Freiburg gehört und von den Gläubigen und von allen Freunden der Einsamkeit und der schönen Natur fleißig besucht wird.
Herzog Attich schenkte nun seiner Tochter sein Schloß Hohenburg und gab ihr alles, was sie zur Stiftung eines Klosters brauchte, deren erste Äbtissin sie wurde.
Bald darauf starb der Herzog. Da erkannte Odilia in ihrem Geiste, daß ihr Vater im Fegfeuer in großer Pein wäre um seiner Sünden willen, die er auf Erden noch nicht ganz abgebüßt hätte. Und sie empfand darob viele Schmerzen und hielt mit Wachen, Beten und Fasten so lange um die Seligkeit ihres Vaters an, bis sie einst einen lichten Schein gewahrte und eine Stimme vernahm, die sprach: »Odilia, du auserwählte Dienerin Gottes, peinige dich nicht mehr um deinen Vater; denn der allmächtige Gott hat dich erhört, und die Engel fuhren mit deines Vaters Seele in den Himmel.« Da rief sie dankbar und reichliche Tränen vergießend aus: »Herr, ich danke dir, daß du mich Unwürdige erhöret hast durch deine milde Güte und nicht durch mein Verdienst!«
Die Kapelle im Klostergarten, in welcher Odilia Tag und Nacht um die Seele ihres Vaters geweint und gebetet hatte, heißt noch jetzt die Zährenkapelle; vor dem Altar auf dem Stein war eine Vertiefung zu sehen, welche, nach dem Vorgeben der gläubigen Pilger, die Spur ihrer Knie zurückgelassen hatte.
Odilia war das Vorbild ihrer Klosterfrauen, nicht nur durch ihre Heiligkeit, sondern auch durch ihren einfachen und strengen Wandel.
Später, als die Zahl der Klosterfrauen zugenommen hatte, gründete Odilia in der Nähe des Spitals ein zweites Kloster, welches sie Niederhohenburg oder Niedermünster nannte und teilte ihm die Hälfte der zur obern Abtei gehörigen Güter mit, behielt aber solange sie lebte die Oberaufsicht über beide Stifte.
Da Odilia, so erzählt die Sage, um diesen Bau bekümmert war, kam zu ihr ein Mann, der brachte ihr drei Zweige von einer Linde, damit sie dieselben vor das Kloster setze, zu ihrem Gedächtnisse. Also hieß sie drei Gruben machen und setzte mit eigener Hand den ersten Zweig im Namen Gottes des Vaters, den zweiten im Namen des Sohnes, den dritten im Namen des Heiligen Geistes. Die drei Zweige wuchsen zu mächtigen Bäumen heran, deren Stämme stets geblieben seien und immer von neuem ausgeschlagen haben sollen. Noch jetzt stehen drei uralte Linden an demselben Orte.
Odilia starb wahrscheinlich bald nach dem Jahre 720 und wurde in der Sankt Johanniskapelle begraben. Ihr Festtag, 13. Dezember, befindet sich schon im alten Märtyrerbuch mit jenen aufgezeichnet, welche im achten Jahrhundert im Straßburger Bistum feierlich begangen wurden.