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Sagen und Geschichten aus deutschen Gauen
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Aloys Wilhelm Schreiber

Das Himmelreich.

Siegbert, ein edler Alemanne, lebte in überrheinischen Landen zu der Zeit, als Attila, der sich die Geißel Gottes nannte, mit seinen wilden Scharen das schöne Rheintal überflutete. Siegbert war alt und unvermögend, die Waffen zu führen, darum nahm er seine Hausfrau und Tochter und einige treue Knechte und floh mit ihnen in die Berge am Neckar und wählte da eine einsame Gegend zu seinem Aufenthalt. Seine Tochter Friedehild war schön und züchtig und von sehr einnehmendem Wesen. Sie pflegte liebreich ihres kranken Vaters und besorgte die Wirtschaft, wie es Sitte war bei den Frauen jener Zeit.

Eines Tages stieg sie in das Tal herab, um heilsame Kräuter zu suchen, aus denen sie einen Trank bereiten wollte für ihren Vater. Am Ufer des Flusses begegnete ihr ein Jüngling von edlem Ansehen, der sich auf der Jagd verloren hatte von seinem Gefolge. Er grüßte die Jungfrau freundlich und erkundigte sich nach dem Wege.

»Ich bin noch fremd in der Gegend,« sagte Friedehild, »denn wir wohnen erst seit einigen Monaten im Neckartale; wollt Ihr aber mit mir kommen zu meinem Vater, so wird er Euch gern als Gast aufnehmen.«

Der Jüngling ließ sich das gern gefallen, und während er an der Seite der Jungfrau den Hügel hinanstieg, konnte er sein Auge nicht abwenden von ihrer Gestalt. Siegbert empfing den Fremden mit einem treuherzigen Händedruck und ließ ihm Brot und Wein vorsetzen; denn der Weinstock blühte damals schon an der Bergstraße und im oberen Rheingau. Erst nachdem sich der Jüngling erquickt hatte, fragte Siegbert nach seinem Namen und seiner Heimat.

»Ich heiße Griso,« antwortete der Fremde, »und meine Hofmark liegt im fruchtbaren Kraichgau. Mein Vater kam um auf einem Heerzug gegen die Franken, und seit einem Jahre ist auch meine Mutter tot. Jetzt leb' ich mehr in den Wäldern als zu Hause; denn wenn das Haus keine Frau hat, so ist es dem Mann eine Einöde.«

Siegbert und Griso redeten noch mancherlei von den Begebnissen der Zeit und von dem, was sie selbst anging, und trennten sich als Gastfreunde. Der Jüngling nahm Friedehildens Bild mit in seinem Herzen und ließ das seinige zurück in ihrem Herzen. Sie schaute jetzt öfter aus dem Fensterbogen des Erkers als vorher und flocht sorgfältiger ihre schönen blonden Haare, und die Mutter mußte sie manchmal erinnern, daß es Zeit sei, dies oder jenes zu tun, was sie sonst immer getan hatte ohne Mahnung.

Nach einigen Tagen kam Griso wieder. Friedehild stand eben am Brunnen und wusch sich das blühende Antlitz mit dem frischen Quellwasser.

»Edle Jungfrau,« sagte der Jüngling, »seit ich Euch gesehen, ist der Friede von mir gewichen, und mein Haus kommt mir vor wie ein Ort der Verbannung. Darf ich bei Euren Eltern um Eure Hand werben?«

Das Mädchen errötete und schlug den Blick schamhaft zur Erde. »Darf ich?« wiederholte Griso mit flehender Stimme.

Sie erhob ihr Auge ein wenig und flüsterte ein Ja, aber so leise, daß nur die Liebe es verstehen konnte.

Griso faßte sie bei der Hand, ging mit ihr zu den Eltern und trug ihnen seinen Wunsch vor. »Wenn meine Tochter will,« versetzte Siegbert, »so gebe der Himmel seinen Segen dazu.« Die Mutter nickte Beifall und faltete die Hände zu einem stillen Gebet. Da zog der Jüngling eine kunstvoll gearbeitete goldene Kette hervor und reichte sie Friedehilden dar. »Diese Kette,« sagte er, »hat früher schon einen schönen Nacken geschmückt, meine Schwester trug sie und schenkte sie mir zum Andenken, als sie in den Hain der Hertha geführt wurde, um der Göttin geopfert zu werden im stillen, tiefen See.«

Bei diesen Worten ging ein Schauer durch die Seele Friedehildens, und beide Eltern erblaßten.

»Ihr seid also kein Christ?« fragte die Mutter mit zitternder Stimme.

»Nein,« erwiderte der Jüngling unbefangen. Friedehild stand da wie eine zerknickte Lilie.

»Wir sind Bekenner des Kreuzes,« hub Siegbert nach einer kurzen Stille an, »und so Ihr Euch nicht taufen laßt, könnt Ihr nie der Gatte meiner Tochter werden.«

»Ich liebe diese Jungfrau mehr als mein Leben,« antwortete Griso, »aber ich kann den Zorn der Götter nicht auf mich laden und auf mein Geschlecht.«

»Es ist nur ein Gott,« rief Siegbert, »und der heißt weder Wodan noch Thor. Geh, Jüngling, und bedenke dich! Hebe deine Hände auf zum Himmel, auf daß er dir sein Erbarmen sende!«

Griso wandelte traurig nach Hause. In seinem Innern war ein großer Kampf, und schon schien seine Liebe siegreich zu werden über seinen Glauben, da führte ihn sein Weg an Wodans heiliger Eiche vorüber, und ein Grauen kam in sein Gemüt. Bei Eintritt in seine Hofmark fiel sein Blick auf das Bild des Grenzgottes, welches jährlich um die Flur getragen wurde. »Soll ich das Bild umwerfen und das Kreuz an seine Stelle setzen?« sagte er bei sich. Aber plötzlich kam es ihm vor, als sähe er den Geist seines Vaters in dem Abendgrau daherschreiten und sich zur Hut vor den Grenzgott stellen, und von Herthas geweihtem Haine schien eine warnende Stimme auszugehen. Er flüchtete ängstlich in seine Wohnung und gelobte, noch ferner den Göttern seiner Väter treu zu bleiben.

Um Friedehildens blühende Jugend zogen sich jetzt viele trübe Wolken zusammen. Mit hoher Ergebung brachte sie ihre Liebe zum Opfer, aber ein verzehrendes Weh blieb in ihrem Herzen. In kurzer Zeit begrub sie ihren Vater und ihre Mutter, und nun beschloß sie, ihre Tage dem Herrn zu weihen. In der Wildnis des nahen Gebirges ließ sie sich eine Klause und eine Kapelle errichten und zog dahin und legte ein rauhes Gewand an. Die wilden Tiere des Waldes ehrten ihren Aufenthalt und taten ihr nie etwas zuleide. Die Vögel nisteten gern in den Bäumen vor ihrer Hütte, und die Hirsche lagerten sich traulich um das hölzerne Kreuz vor ihrer Klause her, wo sie zu beten pflegte. Vier Jahre brachte die fromme Dulderin in dieser Abgeschiedenheit zu, da fühlte sie ihr Ende herannahen. Mühsam schleppte sie sich an einem Sommerabend aus ihrer Zelle zu dem Kreuz und sagte: »Hier will ich sterben.« Sie ließ sich auf einen Stein nieder, und der Docht ihres irdischen Lebens war am Erlöschen. Da kam ein alter Priester daher, der sich im Gebirge verirrt hatte. Friedehild lächelte ihm entgegen. »Vater,« sagte sie, »dich schickt der Herr, daß du mich einsegnest zum Tode.« Der Priester legte ihr die Hände auf das Haupt und sprach ein Gebet über sie. Die Jungfrau bat ihn, sie unter dem Stein am Kreuz zu begraben und eine Schrift auf ihr Grab zu setzen. Gleich darauf verschied sie, aber in ihrem Antlitz war kein Kampf des Todes, sondern die Ruhe eines schlummernden Kindes. Des andern Tages rief der Priester einige Bewohner der Gegend, um ein Grab zu machen. Die Tiere der Wildnis liefen in Menge herbei und sahen traurig zu, wie der Leichnam in das Grab gelegt und der Stein darauf gewälzt wurde. Auf den Stein schrieb der Priester die Worte:

»Hier ruht Friedehild, die ihre Liebe zum Opfer brachte, damit sie ihre Seele retten möge. So stark macht nur der Glaube des Kreuzes.«

Im Spätherbst desselben Jahres kam Griso auf den Berg, wo Friedehildens Klause stand. Ein Hirsch, welchen er verfolgte, hatte seine Zuflucht dahin genommen und blieb furchtlos am Grabe der Dulderin stehen. Das befremdete den Jäger, und er trat hinzu und las die Schrift. Jetzt fiel es wie ein Himmelsstrahl in die Nacht seiner Seele. Er warf sich mit Tränen zur Erde und gelobte, den Glauben seiner Geliebten anzunehmen. Er ließ sich taufen und baute auf der Stelle ein Kloster und nannte es Himmelreich. In dem Kloster lebte er viele Jahre, und sein Ende war wie Friedehildens Ende. Nach seinem Tode wurde er neben ihr beigesetzt.


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