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Das Tor am Roten Turm war ein gar wichtiger Punkt der volkreichen Stadt Wien. Hier mündeten die Verkehrsstraßen aus dem fruchtbaren Norden in die Hauptstadt, hier zogen hunderte von Wagen und Fußgängern in die Stadt ein, und manchmal mag sich der Strom der Zu- und Abwandernden an dieser Stelle gestaut haben. Fiel der Blick der Ankommenden aber auf das Gewölbe des Tores, so blieb wohl auch mancher stehen und betrachtete verwundert eine aus Holz geschnitzte, der Wirklichkeit täuschend nachgeahmte Speckseite, die mit einer Inschrift versehen dort oben hing. Wenn der Wanderer dann die Schrift gelesen hatte, mag er schmunzelnd seinen Weg fortgesetzt haben. Die Verse aber lauteten:
»Befind't sich irgend hier ein Mann,
Der mit der Wahrheit sprechen kann,
Daß ihm sein' Heirat nicht tät gerauen
Und fürcht sich nicht vor seiner Frauen,
Der mag diesen Backen herunter hauen.«
Jahrzehntelang hing die Speckseite unangefochten im Turm, keinem der Vorübergehenden gelüstete es, sie zu beanspruchen; es schien, als fürchteten sich wirklich alle Wiener vor ihren Frauen, Aber eines Tages fand sich doch ein Mann beim Magistrat ein und erklärte, da er unumschränkter Gebieter im Hause sein, habe er das Recht, die Speckseite herunterzunehmen. Diese Schande für die Männer müsse verschwinden.
Die Stadträte wußten dagegen nichts einzuwenden und ließen die nötigen Vorbereitungen zur Abnahme der Speckseite treffen. Rasch wurde die Absicht des Helden bekannt, und eine große Menge Volkes fand sich am Roten Turm ein, um Zeuge dieses denkwürdigen Schauspiels zu sein.
Schon war die Leiter aufgestellt, und stolz und selbstbewußt schickte sich der unumschränkte Herr im Hause an, die Sprossen emporzuklimmen, um dieses Schandmal der Männer zu entfernen. Als er mitten auf der Leiter stand, besah er die Trophäe, die er sich holen wollte, genauer, hielt dann inne und stieg die Leiter wieder herab. Zur Menge gewandt, rief er: »Sie ist ganz verstaubt und schmutzig, da muß zuerst jemand hinaufsteigen und sie säubern; denn ich habe mein bestes Gewand angezogen und könnte es mit der Speckseite beschmutzen; ich würde dann zu Hause von meiner Frau tüchtig ausgescholten werden.«
Einen Augenblick herrschte noch lautlose Stille auf dem Platz, dann aber brach das umstehende Volk in ein tosendes Gelächter aus. Der heldenmütige »Herr im Hause« aber zog sich beschämt zurück und verwand wortlos unter der Menge.
Die Speckseite aber blieb noch lange Jahre am Tor hängen, es soll sich niemand mehr gefunden haben, der berechtigen Anspruch auf sie erhob. Erst als der Rote Turm fiel, verschwand auch die Speckseite mit der Inschrift zur Freude aller Ehemänner Wiens.