Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Eine finstere Dezembernacht lag schwer über der Stadt Wien und den Dörfern und Vororten, die sich um die Stadt reihten. Heulend tobte der Sturm die Hänge des Wienerwaldes entlang und stemmte sich wütend gegen die Häuschen der Winzer, die sich in die Bodenfalten duckten. Da soll sich, wie der Chronist berichtet, über dem Dorf Ottakring ein unheimliches Schauspiel zugetragen haben.
Es war nahe an Mitternacht, das schaurige Getöse des Sturms hatte seinen Höhepunkt erreicht und ließ viele Menschen den gewohnten Schlaf nicht finden. Da erhellte sich plötzlich im Westen der Himmel, und die erschrockenen Dorfbewohner sahen zu ihrem maßlosen Staunen in den Lüften langsam einen Leichenzug heranschweben. Vierspännig war der Wagen, in dem der Tote saß. Kein Trauernder gab das Geleit, nur ein mächtiger Ritter stand am Wagen und hütete das Gefährt, das sich langsam der Stadt näherte.
Wer genauer hinschaute, erkannte in dem Toten den Schloßherrn von Ottakring, der vor kurzer Zeit auf geheimnisvolle Weise verschwunden war.
Aber noch ehe sich die aufgescheuchten Dörfler von ihrem Schrecken erholt hatten, war der düstere Geisterzug vorübergeglitten. Von einem fernen Turm dröhnten zwölf dumpfe Schläge, und der Spuk in den Lüften zerrann.
Mit erneutem Grimm tobte der Sturm gegen die Häuser des Dorfes.
Wer konnte jener Mann gewesen sein, den die Bewohner von Ottakring Jahre hindurch ihren Schloßherrn genannt und dessen Leichenzug sie nun in den Lüften gesehen hatten?
Erst viel später erfuhren sie seine Geschichte. Ein deutscher Feldoberst hatte im Jahre 1457 die starke Festung Marienburg, die dem Deutschen Ritterorden gehörte, den feindlichen Polen verräterisch in die Hände gespielt, nachdem man ihn mit Gold bestochen hatte. Mit dem Judaslohn war er nach Wien geflohen und führte hier ein genußreiches Leben. Als er dann noch die Liebe einer reichen Bürgerswitwe gewann und diese seine Gattin wurde, schien sein Glück fest begründet.
Doch die Marienburger hatten den Verrat ihres ehemaligen Obersten nicht vergessen. Es gelang ihnen, seinen Aufenthalt auszuspüren; sie richteten ein Schreiben an den Stadtrat von Wien, worin sie den Verrat des Mannes schilderten und erklärten, dieser Verräter sei eine Schande für die ganze Stadt Wien. Der Inhalt des Schreibens wurde nach kurzer Zeit ruchbar, was zur Folge hatte, daß man den Obersten bald allseits zu meiden begann. Dieser fühlte die Abneigung, die man ihm entgegenbrachte, und beriet sich mit seiner Frau, was sie dagegen tun sollten. Schließlich faßten sie den Entschluß, Wien zu verlassen und sich in einem der Vororte außerhalb Wiens niederzulassen.
Bald ergab sich die Gelegenheit, ein geräumiges Haus in Ottakring zu erwerben, das der Oberst zu einem stattlichen Schloß ausbauen ließ. Hier verbrachte das Ehepaar nun seine Tage, ohne sich viel um die Gesellschaft oder die Nachbarn zu kümmern. Besucher wurden im Schloß nie gesehen; nur zum sonntäglichen Gottesdienst verließen die beiden ihr Heim.
An einem Sonntag hatte sich der Schloßherr mit seiner Gemahlin wieder auf den Weg zur Kirche gemacht Auf dem Friedhof in der Nähe der Kirchentür lehnten an einem Grabstein drei Männer und musterten mit scharfen Blicken die ankommenden Kirchenbesucher. Plötzlich rief der stattlichste von ihnen: »Hier ist er!« Im selben Augenblick sprangen die beiden anderen auf den überraschten Schloßherrn zu, entwanden ihm seine Waffen und rissen ihn zu Boden. Bevor sich noch seine Gattin, vor deren Augen sich der Überfall abgespielt hatte, recht zu fassen vermochte, wurde der Schloßherr gefesselt aus dem Friedhof geschleppt. Man hat ihn nie wiedergesehen. Alle Nachforschungen der trostlosen Frau über das Schicksal ihres entführten Gatten waren erfolglos.
Der Leichenzug aber, den manche Bewohner Ottakrings in jener stürmischen Winternacht in den Lüften gesehen, schien den Leuten ein Zeichen dafür, daß der Schloßherr nicht mehr unter den Lebenden weilte.