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Geschichte von dem gerechten Könige, seinem Wesir und seinem ungerechten Bruder.

In einer Stadt Indiens war ein sehr gerechter König, dessen Wesir sehr vernünftig und einsichtsvoll war. Auf ihn verließ sich der König in allen Angelegenheiten, und bei den Untertanen war er wegen seiner guten Eigenschaften allgemein beliebt.

Der König hatte noch einen Bruder, welcher schon längst gewünscht hatte, ihm den Thron zu rauben; denn des Königs Leben dauerte ihm zu lange. Er beratschlagte daher mit seinen Freunden, und diese sagten zu ihm: »Beim Könige ist der Wesir alles. Wenn wir also den Wesir aus dem Wege räumen, so wird sein Herr bald aufhören, König zu sein.«

 

Neunhundertundzweite Nacht.

Nach vielen vergeblichen Entwürfen entschloß er sich, seine Frau um Rat zu fragen. Mit dieser ward nun beschlossen, daß man ihm eine tiefe Grube graben wollte, und zwar an dem Orte der Vorhalle des königlichen Palastes, wo der Wesir durchgehen mußte, und daß man sie danach mit den gewöhnlichen Teppichen wieder bedecken wolle. Dies wurde denn auch genau ausgeführt.

Hierauf ließ er den Wesir im Namen des Königs eiligst rufen mit dem Bemerken, er möchte durch die geheime Tür in der Vorhalle zum Könige gehen. Der Wesir begab sich sogleich dahin, und als er die Grube betrat, stürzte er hinein, und der Bruder des Königs, der sich verborgen gehalten hatte, warf mit Steinen auf ihn. Doch der Wesir merkte sogleich den Verrat und machte nicht die mindeste Bewegung. Dies veranlaßte den Bruder des Königs, zu glauben, daß er tot wäre. Er zog ihn also heraus und ließ ihn nach Mitternacht ins Meer schaffen. Der Wesir indes strengte hier alle seine Kräfte an, um sich schwimmend oben zu erhalten, bis endlich ein Schiff vorbeifuhr, welchem er zurief, und das ihn auch aufnahm.

Am andern Morgen war die Trauer allgemein um den Wesir; besonders war der König darüber untröstlich. Indes entschloß er sich dennoch, zur Wahl eines andern Wesirs zu schreiten. Dies benutzte der Bruder des Königs und schlug ihm einen Mann vor, den er als ganz vorzüglich schilderte, der aber bloß ihm gänzlich ergeben war. Der König nahm denselben auch wirklich an und unterrichtete ihn von den Angelegenheiten des Reichs. Allein schon nach wenigen Tagen ward gemeinschaftlich der Beschluß gefaßt, sich des Königs zu bemächtigen. Der König wurde in Fesseln gelegt, und sein Bruder übernahm an seiner Stelle die Regierung. Indes er beging so viel Ungerechtigkeiten, daß der Haß der Leute laut wurde und er befürchten mußte, daß, wenn sie erführen, der König lebe noch, sie denselben mit Gewalt befreien und wieder auf den Thron setzen würden, welches dann seinen und seiner Ratgeber Untergang herbeiführen müßte. »Wenn wir,« sprachen sie daher zueinander, »ihn in die See würfen, so würden wir von dieser Besorgnis befreit sein.« Und noch in derselben Nacht führten sie diese Schandtat aus. Allein der König rettete sich durch Schwimmen und kam an eine Insel, wo er fünf traurige Tage zubrachte, bis endlich am sechsten sich ein Schiff nahte, welchem er zuwinkte, und das ihn aufnahm.

Als er nun wieder ans Land gesetzt worden war, wendete er sich an einen Säemann, den er um Rat und nach dem Wege fragte. »Bist du ein Fremder?« sagte dieser zu ihm. »Ach, wenn du doch meinen Genossen sehen könntest! Er hat mit dir viel Ähnlichkeit, und er ist in demselben Zustand wie du.« – »Wahrhaftig,« erwiderte der König, »du machst mich neugierig. Kann man ihn nicht sehen?« – »Sehr gern,« erwiderte jener, »nur muß ich vorher meine Saat vollenden.« Der König wartete also, bis er ihn nach Hause führte, wo er denn in dem Genossen des Säemanns seinen Wesir wiedererkannte. Beide vergossen hier einen Strom von Tränen und umarmten sich einander. Drauf hielten sie sich noch einige Zeit bei dem braven Manne auf und halfen ihm in seinen Verrichtungen, erkundigten sich dabei aber häufig nach ihrem Lande und erfuhren endlich, daß ihr Volk unter der größten Bedrückung schmachte. Bald darauf erschien ein Schiff, aus welchem sich ein Kaufmann aus ihrem Lande befand, der sie sogleich erkannte und über ihr Wiederfinden sehr vergnügt war. Er machte ihnen kostbare Geschenke und riet ihnen, eiligst wieder heimzukehren. Dazu entschlossen sie sich denn auch, und alsbald sammelte sich eine Menge Leute um ihren geliebten König, welcher sich nun stark genug fühlte, um seinen Bruder und dessen Wesir anzufallen, sie zu ergreifen und ins Gefängnis zu sperren.

 

Neunhundertunddritte Nacht.

Auf diese Art befand sich also der alte König nebst seinem Wesir in seine frühere Lage zurückversetzt, und so leer sie auch den Schatz fanden, so wußten sie doch durch weise Maßregeln ihn bald wieder anzufüllen, ohne die Untertanen zu drücken; und er gab dadurch einen Beweis, daß Einsicht und Schonung der Untertanen weiter führen könne und länger ausdauere als angehäufte Schätze.

Doch diese Geschichte ist bei weitem nicht so schön wie diejenige des Mannes, der aus zu großer Vorsicht seinen Tod verursachte.

 


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