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Elftes Kapitel.
Die Nacht

Die Zeilen des Briefes flimmerten wie ein chinesisches Feuerwerk vor seinen Augen; er konnte keinen Satz niederschreiben. Er riß das Fenster auf; in der kalten Oktobernacht war ihm der Platz zu warm, die Halsbinde eine Fessel. Die Hütte wankte unter seinem Fuß, es versuchte ihn, mit dem Säbel die Lehmwände zu spalten, um sich Luft zu machen. Es duldete ihn nicht länger in der engen Kammer. Er häkelte den Mantel um und stürmte hinunter.

Auf den Lippen seines Burschen schwebte die Frage: »Wohin?«

»Die Posten revidieren,« rief er, ohne ihn anzublicken.

»Befehlen Sie, daß ich zusammenpacke. Der Bursche vom Leutnant Strach sagte, daß sein Herr morgen früh –«

»Was will der Leutnant Strach?«

»Sie morgen Glock fünf abholen.«

»Mich?«

»Lieber Herr Leutnant, Sie bekommen das Fieber.«

»Er ist ein Tor. Pack Er, schnür Er –«

»Sie wollen ausrangieren.«

»Werf Er weg, was ihm nicht ansteht.«

»Sie sind doch Glock fünf wieder hier,« rief der verwunderte Bursche seinem Herrn nach, der es nicht mehr hörte.

Die ganze Welt, hätte sie in einer Person vor ihm gestanden, Stephan hätte sie jetzt ans Herz gedrückt, warum nicht den Leutnant Strach? Wäre er da gewesen, er wäre ihm um den Hals gestürzt, hätte ihm abgebeten, vielleicht hätte er selbst dem Rittmeister abgebeten. Daß die Leute sich bekriegten, kam ihm lächerlich vor; es war ja tiefer Friede auf der Welt, die schwarze Nacht rosenrot, das finstere Dorf ein Paradies, der kalte Wind ein Zephirhauch. Warum hatten nur die Füße keine Flügel, warum schlug die verdrossene Dorfuhr störend in seine Fieberträume, die Zeit und Raum überwunden hatten.

Das Dorf lag hinter ihm und neben den Zeltreihen des Lagers schritt er hin, nur dann und wann von dem Ruf der Schildwache um das Losungswort aufgehalten. Auch die Zelte hatte er jetzt im Rücken, und die Stille der Nacht lagerte ringsumher; so still war es, daß er jeden Schlag der Axt auf den Steinbergen, das Krachen und Niederstürzen der Bäume, den Anruf der österreichischen Patrouillen hörte. Die Wachtfeuer brannten auf der dunklen Fläche, die Sterne flimmerten hell und groß in dem reinen Herbstblau. Sie schimmerten nicht in unerreichbarer Ferne; sie tanzten um sein Haupt, so nahe, so befreundet kamen sie ihm vor, als brauche er nur die Hand nach ihnen auszustrecken.

»Welten sollt ihr sein,« sprach er, auf den Säbel gestützt, sich ausruhend, und der Nachtwind, der seine heiße Stirn trocknete, tat ihm wohl – »nichts als kalte, tote Weltkörper? Lichtlos wie unsere Erde, regiert und bedingt von denselben Rechenexempeln – Ihr unbekümmert um uns wie wir um Euch! – Wer euch ansehen konnte und das Märchen erfinden! Ihr seid Genien der Lebendigen. Ihr tanzt den Festreigen um unsere Geburt, begleitet von der Wiege bis zum Sarge, lacht mit uns und weint mit uns. Wenn die Herzpulse schlagen in der Wüste und auf ödem Meer, da seid ihr unsere Zeugen, ihr versteht die Sprache, die keine Laute hat und keine Chiffren, Paten seid ihr unserer Gedanken, unserer stillen, kaum selbst gestandenen Wünsche. Ihr Unvergleichlichen, wenn unsere Hoffnung unterging, unser Vertrauen und unsere Liebe, wenn die Wolkenpaläste unseres Stolzes zerfuhren, wenn wir uns verbergen möchten in der tiefsten Finsternis, ihr leuchtet über uns ewig, unverlöschlich steht's bei euch geschrieben: was wir wollten, und nicht ausführten. Und seid ihr dann die höhnenden Furien hinter uns, züngelt euer Gelächter uns nach, daß wir so schwach waren?« –

Eine Sternschnuppe fuhr am östlichen Horizont herab. Vor dem Nachtfrost und dem Dampf der Wiese hüllte sich Stephan in den Mantel. Die Turmglocke in Hochkirch schlug an – elf langsame Metallschläge, der Weg um das Dorf war so nahe und er war doch eine Ewigkeit lang.

Er suchte einzelne Posten auf. Man war so sorglos und sicher. Die Feuer brannten. Hier lagen sie im Kreise, die Pfeife im Mund und horchten, auf den Ellbogen gestützt, einem Erzähler zu. Die ergrauten Krieger auf Gefahr aufmerksam machen, wäre eine Beleidigung gewesen. Die Sterne oben waren dieselben, die den Siegesreigen über Friedrichs Scheitel getanzt, nicht bleicher als am Dezemberhimmel über der Leuthener Wahlstatt und in der Mainacht vor dem Prager Tage. – Hie und da brachten die Ablösungen einiges Leben in die stille, weite Szene. Sie schleppten einen Gefangenen, ein paar Überläufer, einen Kranken hin und zurück.

Im Weitergehen lockte ihn eine Gruppe seitwärts. Aus dem dampfenden Nebel der Wiese ragten zwei Husaren zu Pferde vor. In ihre weißen Mäntel gewickelt, die gespannten Karabiner im Arm hielten sie in der Richtung gegen den Feind, aber ihre Gesichter waren abwärts gekehrt nach etwas, das ihnen mehr Teilnahme entlockte, als die kommandierte gegen Dauns Vorposten. Ein Lichtschein hauchte matt herauf durch den weißen Nebel, bald ihn hell und glänzend erleuchtend, bald ganz von ihm bedeckt. Näher herangekommen, sah Stephan ein verglimmendes Feuer und neben demselben einige Gestalten, bei einer Beschäftigung, die er nicht erwartet.

Sie lagen – er glaubte drei zu sehen, um eine zerbrochene Trommel. Das Feuer daneben leuchtete ihnen beim Kartenspiel. »Trumpf!« – »Daus!« – »Eichelkönig!« – Ein wildes Auflachen und ein noch fürchterlicherer Fluch unterbrachen dann und wann die Stille. Wenn der Sieger die letzte Karte aufwarf, höhnte die dumpfe Dröhnung der Trommel, halb nur noch an die ehemalige Bestimmung mahnend, den Ernst des Spiels.

Stephan gab das Losungswort, die Husaren salutierten, doch ihre Blicke kehrten sich unbekümmert wieder zu den Spielenden.

»Das Feuer bescheint euch, sie müssen eure Oberleiber von drüben sehen.«

»Ei, das mögen sie, es traut sich doch keiner vor von den Kreuzelementern.«

»Wo sie die Totenköpfe wittern,« sagte der zweite, »denken sie: weit davon ist gut vorm Schuß.«

»War die Runde noch nicht hier?«

»Längst vorbei, Herr Leutnant.«

»Warum duldete der Major die Spieler?«

»Wie soll man sie wegbringen, sie sind verbissen und kehren sich nicht um Lebendiges und Totes.«

»Der Unteroffizier gab ihm eins über die Schulter, das tat er nicht empfinden,« sagte der andere.

»Dauert das schon lange?«

»Seit Mittag, glaub' ich. Er hat was, um sich rupfen zu lassen.«

»He da!« rief Stephan zu dem Soldaten, der ihm den Rücken kehrte, »kannst du nichts Besseres tun!«

»Trumpf!« brummte der Mensch, ohne sich zu rühren.

»Trumpf drüber!« der andere.

»Wir müßten ihn grade überreiten,« sagte die Schildwache, »sonst rückt er nicht von der Stelle.«

»Schurke, von welcher Kompagnie bist du?« fragte Stephan, ihm mit der Säbelscheide den Nacken berührend.

»Er kommt vom Lazarett, Herr Leutnant, weiß nicht, wo er das viele Geld her hat, aber es ist so ein Sakermenter vom Freikorps.«

»Der andere ist ein Husar – von eurer Schwadron – dein Kamerad hält ihm das Pferd.«

Die Schildwache war ein alter Graukopf, von jenen Gesichtern, die selbst in Reih und Glied ihren Oberen Ehrfurcht einflößen. Er schüttelte das narbenvolle Antlitz und beugte sich etwas zu Stephan hinab. »Herr Leutnant, wir sind doch halt alle Menschen, und wenn der Kerl doch mal sein Geld partout los sein will, so gönnen Sie's immer unseren Kameraden. Zwei vor ihm haben schon mehr weg; er ist nur der dritte.«

Stephan gönnte es ihm ungern, denn eben beleuchtete die Flamme das Gesicht des zweiten Spielers, und eine helle Schadenfreude glänzte daraus.

»Es wird auch so das letzte Spiel sein. Ob der nun's Geld in der Tasche hat oder der, ist, denk' ich, Herr Leutnant, egal, wenn die Kugel morgen 'ran schlägt.«

»Aber der dritte, der auf dem Rücken liegt, ist's ein Betrunkener oder schläft er?«

Der alte Husar blickte ihn verwundert an. – »Der da, lieber Herr Leutnant, der schläft – aber er schläft ein für allemal – er wird nicht wieder aufstehen.«

Stephan trat näher, der Mensch atmete und regte sich nicht.

»Eine Leiche!«

»Er war von der Patrouille bei Sonnenuntergang. Da pfiff ihm eine Pandurenkugel von hinten in den Hals. Sie schleppten ihn fort, aber hier mußten sie ihn liegen lassen, weil nichts mehr zu tun war.«

»Und die Buben spielen!« rief Stephan, dem es eiskalt über die Haut lief. Unwillkürlich hatte er den Säbel einige Zoll aus der Scheide gerissen.

»Lassen Sie stecken, lieber Herr Leutnant,« blinzelte der Alte; »er stört sie nicht und sie stören den Toten auch nicht. – Wenn die Ablösung kommt, graben wir ein Loch.«

»Bassa Manelke!« jauchzte der Spieler drüben und strich ein letztes Häuflein ein. »Willst du, Kamerad, ich seh' bei dir noch einen Blanken. Vierundzwanzig Groschen, keinen Pfennig drüber!«

Der Verlierende stieß einen grimmigen Fluch aus und warf den Taler auf die Trommel. »Das blasse Gesicht hat's mir angetan. – Stier' mich nicht so an, neidische Kröte, du hast doch nichts von.« –

»Laß mir den Kalten liegen,« grinste der andere.

»Just nun nicht. – Dreh dich um, Duckmäuser, und sieh den an.«

»Halt, Tod ist Trumpf, keine Hand an ihn.«

Es wäre zum Streite gekommen, wie der Tote liegen sollte, hätte der alte Husar ihnen nicht einen Fluch in die Ohren gedonnert: »Hunde, ruhig, oder ich reite euch über. Drüben stehen wieder Überläufer, und ich bin nicht hier, um auf euch acht zu passen. Andres, reit ein bißchen dahin und weise ihnen den Weg nach der Hauptwache.« –

Der alte Kriegsmann war über die Art Aufmerksamkeit verwundert, welche Stephan den Spielern bewies. Er schien so Aug und Ohr, als ständen Tausende auf den schmutzigen Karten.

»Schellendaus! – Schellenkönig! – Schellendame! – Bassa Manelke, bist du nun ratzenkahl!« –

Ein hellerer Flammenschein beleuchtete die wilden, von Leidenschaft zerrissenen Gesichter der Spieler. Jener drüben von fratzenhafter Lust strahlend, hier Wut, Entsetzen, Stumpfsinn in den starren Augen; die Zähne zusammengepreßt. Ein Stöhnen aus der Brust, in der keine Hoffnung mehr lebte. Sah er dies Gesicht zum erstenmal?

»Hast du keine Knöpfe mehr!« höhnte der Gewinner lachend. »'Ran den grünen Korallenbeutel – will generös sein und einen Gulden gegensetzen.«

»Den Beutel – just nicht –«

»Ich setz' einen Taler –«

»Ich tu's nicht.«

»Tückische Ratze – zwei Taler –«

Der andere schien zu wanken, als Stephan jetzt seine Hand wie ein Eisendruck faßte: »Wo hast du die Börse her?«

Es war seine Börse, es war der nämliche Unglückliche, dem sie Eugenie zugeworfen; die Züge des verwilderten Gesichts kamen ihm bekannt vor, diese Sprache mußte er schon gehört haben. Der Soldat wollte die Börse nicht lassen – er fluchte dumpf vor sich her. Einmal blickte er zum Offizier auf, um seine von Gier und Überwachen matten Augen schnell wieder sinken zu lassen. »Ich tu's nicht,« brummte er dumpf vor sich hin und hielt die Börse so fest, als Stephan seinen Arm, man konnte sagen fest, daß kein Folterdruck sie ihm da entrissen hätte.

Hätte Stephans Bursche ihm jetzt das Fieber angesehen, es wäre mit mehr Recht geschehen. Über den Stumpfsinnigen hingebeugt, stand er und wollte ihm ins Antlitz blicken, er wollte ihm befehlen, das Auge aufzuschlagen und er wagte es nicht. Der Qualm des Feuers schlug ihm ins Gesicht, die Glut überschüttete, der Oktoberfrost durchbebte ihn; er wollte den Elenden umfassen, um sich zu halten, so flog er, stieg, sank, stürzte mit dem Boden unter ihm, bis ihn eine andere Hand am Arm heftig schüttelte.

»Herr Kamerad, was tun Sie hier!« Er stand wieder auf dem Boden, er sah Licht, Nebel und Nacht um sich, aber wie lange es her war, seit er dem Soldaten in den Arm gegriffen, konnte er sich keine Rechenschaft geben. Sein Fieberkrampf mußte viele Minuten gedauert haben. Er strengte das Auge an. Es war alles anders, der alte Husar, das Pikett verschwunden, fern im Nebel glaubte er den glücklichen Spieler davongaloppieren zu sehen. Von der ganzen Szene nichts geblieben, als die zerbrochene Trommel, der Leichnam und das verglimmende Kohlenfeuer. Aber um ihn hundert fremde Gestalten, fremd hier, denn es waren Kroaten, steirische Jäger, Panduren, österreichische Mäntel, Feldmützen, wenige Preußen darunter. Der Dampf der feuchten Wiese quoll zwischen durch, Waffen blitzten, aber es war totenstill.

»Sind wir verraten?« schrie er, und der Säbel flog aus der Scheide.

»Noch nicht,« flüsterte ihm der Infanterieoffizier zu, dessen Anruf ihn geweckt. »Noch nicht, aber ich fürchte.«

»Wer sind die Leute?«

»Überläufer – aber trau ihnen einer, wenn sie zu Hunderten desertieren – es sind schon zehnmal mehr als unser Posten und auf den anderen ist's ebenso – ich steh' auf Kohlen um Sukkurs und Order. Gerechter Himmel, da kommen noch welche.«

Stephan sah von dem feindlichen Lager her ganze Scharen herbeilaufen, die alle von fern das Zeichen der Unterwürfigkeit machten.

»Sie haben noch die Waffen,« rief er erstaunt den Offizier an, welcher die Husaren von diesem Posten abgelöst hatte.

»Nimm sie ihnen einer ab! Es kann ja ihr Signal sein, daß sie auf uns losstürzen. Deserteure sind allezeit schlechte Kerls.«

In dem Augenblick trabte eine starke Husarenpatrouille heran. Der Infanterieoffizier atmete freier auf: »Gott sei Dank! Das ist der verfluchteste Posten, wo man nicht weiß, was man tun soll.«

Es hieß, die Überläufer sollten an der Hauptwache sich sammeln. Die Husaren kamen, um sie zu eskortieren. Die Mehrzahl folgte denselben, die anderen, noch immer in stärkerer Zahl als die Wache, streckten sich scheinbar ermüdet um das Feuer, erklärend, sie könnten nicht weiter. Es waren meist ungarische Grenadiere. Auf ihren trotzigen Gesichtern war kein Grund zu lesen, weshalb sie desertiert waren. Die großen Augen suchten sich und der herabhängende Schnurrbart verbarg nicht das Lächeln, das um ihre Mundwinkel schwebte.

War die Erscheinung vorher Traum, oder war er zu einem neuen Traum erwacht? Noch wußte Stephan nicht sich darüber Rechenschaft zu geben, während der Militär instinktartig gehandelt hatte. Noch tanzten vor seiner heißen Stirn die Gestalten von vorhin wie zerflossene Phantasiegebilde im Nebel, während der Offizier, den Säbel in die Hand gepreßt, die großen ungarischen Grenadiere zählte, die, ihre langen Flinten im Arm, da hingestreckt lagen, wo vorhin der lauernde Husar gekniet, die Trommel vom Aufschlag der Trumpfenden dröhnte, die Flamme zückte, die Hufe der graubärtigen Husaren stampften. Etwas doch war Wirklichkeit geblieben – der Soldat mit der Börse. Vor dem Gericht hätte er es beeidigen können, daß er ihn gehalten, festgehalten. Er hatte sich losgerissen, als Stephan den Säbel zog, jetzt war er in Nacht und Nebel verschwunden.

Ein breitschultriger magyarischer Riese schüttelte den Leichnam und schrie ihm etwas ins Ohr. Stephan lachte nicht wie die Kameraden des Ungarn, er horchte aufmerksam, immer aufmerksamer, bis er plötzlich die Hand des wachthabenden Offiziers verstohlen drückte und ihm ins Ohr flüsterte:

»Achtsamkeit! Oder Sie sind verloren. Ich eile ins Hauptquartier. – Verrat ist im Spiele. Sehen Sie sich nicht um.«

Hinter dem Offizier glitt Stephan die Höhe hinab. Gebückt, damit er durch den Abhang verborgen bleibe, schlüpfte er einige Schritt weiter, bis er entfernt genug war, um, ohne Verdacht bei den Ungarn zu erregen, aus Leibeskräften weiter zu eilen. Der Zufall war ihm behilflich. Eine Dragonerpatrouille, die von einer Eskortierung zurückkehrte, um neue Überläufer in Empfang zu nehmen, konnte ihm ein lediges Pferd abtreten. Der Offizier, dem er etwas leise mitteilte, schlug sich mit der Faust gegen die Stirn. »Es mußte so kommen,« und ließ Stephan durch einen seiner Leute nach Zietens Quartier führen. Es war totenstill, als sie durch das Lager galoppierten. Das tiefe Schnarchen von Tausenden Übermüder glich einem Meere dumpfer Töne. Hätte doch jeder Hufschlag einen der Allzusicheren geweckt, wünschte der Reiter.

»Hab' ich es nicht gesagt,« sprach Zieten zu den Umstehenden, als Stephan dem Veteran seine Mitteilungen gemacht, »aber er glaubt es doch nicht, weil er's einmal nicht glauben will. Leutnant, Er muß mit mir zum Könige.« – Sie eilten in das Hauptquartier. Doch hier herrschte nicht die Totenstille des Lagers. Die Adjutanten, Ordonnanzen und Lakaien standen gerüstet. Eine Name wie Zietens sprengte ohne Anmeldung auch die Tür eines Königs.

Nach wenigen Augenblicken wurde Stephan hereingerufen. Er fand den Monarchen auf seinem Feldstuhl, Zieten stand vor ihm, der Tisch mit der Karte zwischen beiden.

»Er tut's nicht, sag' ich Ihm,« sprach der König.

»Er kann's doch aber tun, Ew. Majestät.«

»Zieten, kann Er ein französisch Gedicht machen?«

»Nein, Ew. Majestät.«

»Kann Er die Flöte blasen?«

»Nein, Ew. Majestät.«

»Kann Er aus seiner Haut rausfahren?«

»Nein, Ew. Majestät. Ich möchte keine andere finden, die mir so gut passen tut.«

»Sieht Er, so wenig fährt der Daun aus seiner raus. Er kann's, aber er tut's nicht; denn er ist Daun.«

»Ew. Majestät, da ist der Leutnant Stephan, der den Diskurs der Ungarn behorcht hat.«

»Na, was hat Er denn gehorcht?« fragte der König und sah ihn an.

»Sire, sie sprachen –«

»Ungarisch, nicht wahr?« unterbrach ihn der Monarch.

»Ew. Majestät, eine Sprache, die ich während meiner Garnison in Siebenbürgen erlernte.«

»Wie viel Deklinationen gibt's denn?«

»Sire,« fuhr Stephan fort, ohne auf die Frage zu antworten; »ich hörte und verstand ein Gespräch der Überläufer, aus welchem mir klar wurde, daß der Feind einen Angriff beabsichtigt, daß die starke Desertion eine Kriegslist ist, daß die Überläufer auf mehr warteten, um die Vorposten zu überwältigen.«

»Da haben wir's, es ist ein Coup auf die Vorposten,« rief der König, »und in den Husaren werden sie Preußen finden. Nicht wahr, Zieten?«

»Ew. Majestät,« sagte Zieten, »die Deserteure haben von einem Generalangriff gesprochen.«

»Was sprachen sie denn? Ihre Worte, aber nicht ungarisch, sondern deutsch.«

»Dich werden unsere Kanonen nicht wecken, sagte der eine, einen toten Preußen schüttelnd. Wenn alle deine Landsleute so ratzenfest schlafen, hat unser Feldmarschall leicht Spiel.«

»Und dem Grenadier,« rief Friedrich aufspringend und ärgerlich zu Zieten, »dem gemeinen Grenadier wird Daun seinen Kriegsplan aufbinden, Daun, der nie Pläne macht, der, wenn er einen Gedanken hat, ihn nicht wagt, vor sich auszusprechen. – Hat er schon nach Wien rapportiert und die Erlaubnis vom Hofkriegsrat auf Papier und untersiegelt? He!«

»Das hat alles seine Richtigkeit, Ew. Majestät,« sagte der alte General, ohne aus seiner Ruhe zu kommen. »Aber es fällt auch mal ein Stern vom Himmel.«

»Glaubt Er an das dumme Zeug?«

»Was da oben im Himmel vorgeht, Ew. Majestät, davon wissen wir beide nicht viel.«

»Er hat also satteln lassen?« fragte der König nachdenklich.

»Die Husaren und die Dragoner.«

»Das ist genug, man muß die Leute nicht ohne Not um den Schlaf bringen.«

Es entstand eine Pause. Zieten lächelte: »Ew. Majestät sind sonst kein Freund vom Schlaf, nannten selbigen au contraire einmal eine Angewöhnung.«

»Es ist auch nur Schwachheit. Hat er Naturgeschichte studiert, Zieten?«

»Ich weiß nur, Ew. Majestät, daß wir allesamt Kreaturen Gottes sind.«

»Aber es sind nicht alle gemacht, um zu wachen.«

Der König war, die Hände auf dem Rücken, auf und ab gegangen, als sein Blick auf Stephan fiel.

»Warum hat Er nicht geschlafen? Man sieht's ihm an: Er ist noch jung.«

»Ew. Majestät –«

»War er kommandiert?«

»Nein, Ew. Majestät – ich besichtigte nur die Vorposten –«

Mißtrauisch sah ihn der König an: »Aus freien Stücken! – Er legt sich wohl ordentlich darauf, Konspirationen zu decouvrieren? – Damit ist bei uns nichts zu verdienen. – Er ist jung; laß Er alte Leute wachen und wenn's Ihm nicht befohlen ist, so leg' Er sich aufs Ohr und schlaf' Er aus.«

Zieten schüttelte den Kopf und es schien, als wollte er ein Wort für den jungen Offizier einlegen, als Friedrich ihn mit der Hand zurückwies und mit leiserer Stimme zu Stephan sprach: »Es sind Klagen gegen Ihn geführt, das geht mich nichts an. Aber nehm' Er sich in acht und woll' Er nicht höher hinaus. So was soll Er sich nicht einfallen lassen. Es fliegt kein Hahn über den Zaun.«

In dem Augenblick trat ein rapportierender Offizier herein und meldete:

»Ew. Majestät, die Leibhusaren sind zurück vom Rekognoszieren. Es kommen wohl noch immer Überläufer an; der Feind jedoch verhält sich noch ganz ruhig. Die Wachtfeuer brennen wie gewöhnlich, man hört die Ablösungen und die Soldatenlieder wie alle Nacht.«

Friedrich richtete sich auf. Seine großen Augen glänzten, als hätte er eine Schlacht gewonnen.

»Was sagt Er nun, Zieten? Daun wird mich angreifen! – Laß Er absatteln.«

Zieten ließ den Säbel nicht ohne Geräusch fallen und salutierte.

»Den Leutnant laß Er hier bei der Wache,« rief Friedrich ihm nach, »und die Ungarn schick' Er her. Mit Tagesanbruch wollen wir inquirieren und Er soll Dolmetscher sein.«

* * *

Einige Subalternen spielten im Flurzimmer des königlichen Hauptquartiers. Es mochte eine verbotene Beschäftigung sein, denn sie waren still und nur der matte Schein einer Laterne fiel auf die vergriffenen Karten. Einer verlor bedeutend, ohne die Miene zu ändern: »Was sind zehn verspielte Friedrichsdor, wo Friedrich Lust hat, eine Krone zu verspielen.« – »Still!« sagte ein anderer, nach dem Ofen blinzelnd, wo Stephan mit verschränkten Armen, den Kopf auf der Brust, die Beine eingezogen, auf einer Bank saß.

»Der geniert uns nicht,« sagte der Chirurg, die Karten zurechtlegend, »der laboriert an einem hitzigen Fieber.« – »Ihn friert, das sieht man,« bemerkte der andere. – »Ausgespielt, meine Herren, wenn ich bitten darf,« forderte der Feldscher auf.

Es schlug gerade ein Uhr, als die Karte des Solospielers auf dem Tische lag – der Klang dröhnte in der feierlichen Nachtstille lang nach – die anderen zauderten. Nur der Feldscher hatte seine Miene gar nicht verändert. »Die Geisterstunde ist aus,« sagte er lächelnd, als sie alle durch eine heftige Bewegung des am Ofen Sitzenden aufgeschreckt wurden. Stephan war aufgestanden: »Ein Uhr!« rief er mit glühenden Augen, »sie erwartet mich.«

»Wer?« sprach der Chirurg, der ebenso schnell die Karten weggelegt und den Fieberkranken an der Brust gefaßt hielt. »Eine Liebschaft, nicht wahr? Kann warten.«

»Nicht warten,« schrie Stephan, aber schon hatten ihn acht Arme gefaßt und drückten ihn zurück auf die Bank. »Laßt mich los, die Seligkeit liegt auf der Goldwage.«

»Leutnant, Sie sind im Dienst. Die Seligkeit hat Zeit. Sagen Sie ihr das morgen,« sprach der Feldscher. Die unerschütterliche Ruhe im Auge des Mannes schien den Kranken zu beherrschen. Die Worte mochte er kaum verstanden haben.

Eine Weile blieb Stephan ruhig. Die anderen wollten zum Spiel zurück, der Feldscher schüttelte den Kopf: »Die Gedanken sammeln sich wieder bei ihm.«

Plötzlich schlug er die geschlossenen Augen wild auf und ein entsetzliches Angstgeschrei machte sich Luft aus der Brust: »Laßt mich, ich muß meinen Bruder retten.«

»Wo steht Ihr Herr Bruder?«

»Am Abgrund der Hölle.«

»Da lassen Sie ihn ruhig stehen, sonst fallen Sie selbst mit hinein,« sagte der feste Mann.

Seine Worte wirkten wie vorhin, der Kranke verlor den Faden des Gedankens, sein Kopf sank zurück, bis ein zufälliges Geräusch draußen ihn aufs neue weckte. Sein »Laßt mich« klang diesmal fürchterlicher; mit aller Fieberkraft stieß er die Umstehenden zurück, – zwei fielen um, – und er hatte einen Säbel ergriffen, als ihm der Wundarzt von hinten geschickt in die Arme stürzte: »Wo wollen Sie hin?«

»Ich bin bestellt.«

»Wer ruft Sie?«

»Die Ehre. Ich weiß, ich habe weiter nichts als die Ehre, lassen Sie mich. Tot – tausendmal tot, nur nicht infam. Er erwartet mich.«

Der Chirurg fragte ihn ernst: »Sie sind zu einem Duell bestellt?« – »Er hat mein Wort darauf.«

»Mein Herr, so verlassen Sie sich darauf: Ihre Ehre sollen Sie behalten. Ihr Gegner hat Ihr Wort, Ihr König befiehlt Ihnen, hier zu bleiben, also tritt Ihr König in Ihre Verpflichtung, er nimmt Ihr Wort auf und Sie können sich ruhig schlafen legen, denn der König wacht für uns alle, also auch für Sie.«

»Ein Blutlaß wird gut tun,« murmelte er zu den anderen, aber Stephan hörte es.

»Blut, ja Blut!« fuhr er auf.

»Nachher, Leutnant; legen Sie sich hin, Sie sind krank.«

Stephan starrte ihn an: »Ihr Wort darauf, Feldscher, nachher! Sie binden mich nicht, ich bin nicht krank, wenn sie blasen zu Friedrichs Untergang. Dann aufs Pferd.«

»Sie können sich drauf verlassen, mein Herr Leutnant,« nickte ihm der Wundarzt zu. »Dann ruft die Ehre und der Arzt hat nichts mehr zu kommandieren.«

Stephan legte sich ruhig auf die Bank.

»Glauben Sie,« fragte der eine, »daß ein Fieberkranker zu Pferde sitzen und eine Attacke mitmachen kann?«

»Warum nicht? Das wilde, ungehorsame Blut will heraus. Ob unsere Lanzette oder ein Bajonett das rechte Maß trifft, wer weiß das, und mehr ist nie zu verlieren als ein Leben. Mein Solo wartet, meine Herren. Es ist nicht zu verlieren. Vier Matadore, drei Könige.«


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