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Mitternacht war längst vorüber, und die Ruhe in das Schloß zurückgekehrt, als es leise an die Zimmertür der Komtesse klopfte. Vom Sofa aufspringend, öffnete sie dem Vater. Ihre aufgeregten Sinne hatten den behutsamen Gang schon weither erkannt. Es war ihr erstes Willkommen ohne Zeugen.
Auf den Zehen heranschleichend, drückte der Graf leise die Tür hinter sich zu und machte mit dem Finger an den Lippen das Zeichen des Schweigens. Wäre die Gräfin auch von Natur furchtsam gewesen, die heitere Miene des alten Hofmanns war nicht geeignet, ihr Schrecken einzuflößen.
»Mein Vater, was soll die Vorsicht?«
»Es hat mich niemand gesehen.«
»Ist es etwas Verdächtiges, wenn ein Vater zur Tochter kommt?«
»Nicht so laut, liebes Kind, die Wand drüben nach den Zimmern des Obristen ist nicht massiv.«
»Der König ist wieder fort.«
»Mit allen Zeichen der Huld; es ist alles applaniert.«
»Der Himmel sei gelobt!« rief Eugenie aufatmend.
»Ich erkannte meine Tochter diese Nacht nicht wieder. Meine Eugenie, wo hast du die Klugheit gelernt?«
»Vater!« rief die Gräfin heftig, ein Schmerzgefühl zuckte plötzlich sichtbar durch ihre zarte Gestalt; die Brust atmete schwer, ihre Wangen wechselten die Farbe, hochrot und blaß, endlich brachen die Tränen heraus mit krampfhaftem Ungestüm. Der Vater, eine Ohnmacht fürchtend, führte sie nach dem Sofa.
»Immer wieder deine Mutter!« sagte er mit sanftem Vorwurf.
»Meine Mutter war eine Italienerin,« fuhr sie, nachdem sie die Kraft der Rede wiedergewonnen, ruhiger fort. »Wäre das lebendige Gefühl das einzige, was wir aus Italien herüber bekommen! O, Sie hätten es nicht gewagt vor meiner Mutter, Sie hätten es auch nicht vor mir gewagt! Sie stahlen sich fort, Sie wagten es mir nicht zu gestehen. Ach, mein Vater, es wäre entsetzlich gewesen!«
»Eugenie, ich bin gewohnt,« sagte der Graf, »daß meine besten Entwürfe in dir eine Widersacherin finden. Wer hat deinen Geist von Kindheit auf geehrt, ich möchte sagen, gepflegt wie ich! Ich hörte dich gern an, ich folgte dir auch gern in deinen seltsamen Ideen, selbst wenn sie sorgsam ausgebildete, mit Liebe gepflegte Pläne von mir kreuzten. Aber daß ich diesmal nicht deine Meinung getroffen, befremdet mich; ich wäre betroffen, ich bin aber jetzt erfreut. Haßtest du nicht mit unnatürlicher Wut den preußischen König? Mußte ich dich nicht am Dresdener Hofe von den Hofdamen bespötteln hören! Die Königin äußerte zu mir: ›Ihre Tochter, Graf, sollte Generalissima bei der Damenallianz gegen den unerträglichen Soldatenkönig werden.‹ Und damals, als Friedrich einbrach in Sachsen, als die königliche Familie Kränkungen aller Art in ihrer eigenen Residenz erduldete, weinte da nicht meine Eugenie vor Wut, als sie von dem erbrochenen Schranke hörte –«
»Wer hätte da nicht weinen, nicht um Rache schreien sollen,« unterbrach ihn die Gräfin. »O, ich weiß alles, was Sie mir sagen können.«
»Du wundertest dich,« fuhr er fort, »als der Schlag in Pirna geschehen war, daß nicht jeder Jüngling, der sein Vaterland liebte, aufstand –«
»Und das Messer in die Brust dem Könige stieß, der es gewagt, unsere Königin durch Trabantenhände anzugreifen. Ich weiß es, mein Vater, ersparen Sie sich die Wiederholung, ich entsinne mich alles wie heute.«
»Also, mein Kind,« lenkte der Vater ein, »was konnte ich diesmal deinen exzentrischen Unwillen erwarten!«
»Damals,« fuhr sie auf, und ihre Augen glänzten, »haßte ich ihn als Weib und als Patriotin. Haß und Verachtung mischten sich gegen den unritterlichen Monarchen, der zweimal die Not einer schönen hilflosen Fürstin sich zu nutze gemacht, sie grausam aufs äußerste getrieben, und am Ende, mit einem Stückchen Beute zufrieden, seine Bundesgenossen im Stich ließ. Mein Haß wurde Wut, als er wie ein tückischer Räuber Friede und Völkerrecht zu brechen schien, als das geschah, wo wir alles hätten eher tun müssen, als vor Wut weinen. – Aber glauben Sie noch, mein Vater, an das Märchen, daß Friedrich der Angreifer war? Strahlt nicht die Wahrheit mit Flammenschrift durch die Welt?«
Der Graf schüttelte und nickte mit dem Kopf: »Darüber herrschen doch noch immer diplomatische Zweifel. Die präsumierte Allianz zur Teilung seiner Länder beruht denn doch noch immer nur auf erst partiell rekognoszierten Dokumenten und Kopien von Dokumenten, welche –«
»Laß alle Dokumente erlogen sein!« fuhr die Tochter auf. »Was Friedrich tat, ist das Siegel seines Rechts; was seine Feinde versuchten, ist der Stempel ihrer kleinen Gesinnung. Der, allein, verlassen, einer Welt widersteht, der aus jeder verlorenen Schlacht glorreicher hervorgeht, der als Sieger nichts will, als was sein ist, der ist im Recht. O, es ist jeder im Recht, gegen den eine solche Allianz zustande kommt, Neid, Schwachheit, Stumpfsinn gegen einen freien Geist! Es ist ein anderer Friedrich als der junge Eroberer, der jetzt wie ein gekränkter Löwe vor seiner Höhle liegt, die Mähne schüttelnd, die großen Augen unmutig rollend, nach den Raubtieren, die ihm seine Ruhe nicht gönnen; alles, seine großen und kleinen Fehler sind entsühnt! Je mehr Feinde herangetrieben werden, um so heller strahlt seine Gerechtigkeit, um so leuchtender seine heilige Sache gegen die Weiberintrigen; und die ihn erdrücken, ihn steinigen wollen, häufen nur eine Pyramide zu seinem ewigen Ruhme. Schon jetzt jauchzt ihm jedes freie jugendliche Herz zu; schon jetzt ist der kleinste König unter allen der König der Könige, denn die bessere Stimme der ganzen Welt ist für ihn. Und diesen Mann, den einzigen Geist in einer hohlen Zeit, einen großen Mann unter jedem Volke, den wollten Sie, mein Vater, gestern seinen Feinden verkaufen.«
Der Graf ging an die Tür und schob den Riegel vor. Als er zurückkam, setzte er mit nicht ganz verhehltem Unwillen das Gespräch fort. »Du gebrauchst, liebes Kind, weil du dich selten der deutschen Sprache bedienst, Ausdrücke, die man im Gespräch nicht verantworten kann. Hättest du mir früher und deutlicher deine Sinnesänderung auseinandergesetzt, hoffe ich, wir würden uns verständigt haben. Der Kammerherr ist ein ungeschickter Unterhändler, auch hat er zu wenig im Kabinett gearbeitet, um die Worte zu wählen. Überdies wollte sich der eitle Mann wahrscheinlich bei dir wichtig machen. Ich glaube, du hast Gedanken an Hochverrat, Verschwörung, Bestechung und welche gefährlichen Ausdrücke mehr im Sinne. Die Sache stellt sich viel einfacher. Verhältnisse als ständischer Deputierter nötigen mich, das preußische Hauptquartier zu frequentieren. Was kann ich dafür, daß der König mir dies und jenes vertraut! Bin ich gebunden, das zu verschweigen? Bin ich nicht vielmehr, als kursächsischer Untertan, verpflichtet, was ich in Erfahrung gebracht, was der Sache, zu der mein Souverän sich neigt, von Nutzen sein könnte, seine Freunde wissen zu lassen? Was habe ich anderes getan! Ja noch mehr, als der König mich aufforderte, ihn in den Park zu begleiten, riet ich ihm ab. Je mehr ich dagegen redete, um so fester bestand er darauf. Kann ich dafür? Wäre der Coup geglückt, der österreichische Deserteur nicht dazwischen gekommen, konnte mir jemand vorwerfen, daß ich daran schuld war? – In solchen Fällen, wo der Zufall eintritt, fordert die Klugheit, sich nicht töricht gegen das so Entschiedene zu sträuben. – Noch mehr, mein Kind: ohne mich zu rühmen, darf ich mir die Rettung des Königs bei dieser Affäre allein anrechnen. Der Weg, den uns der Ungar, welcher die Situation zu kennen vorgab, durch den Park führte, hätte den König geradeswegs in die Hände der Kroaten geführt. Ich, vertraut mit den Anlagen, leitete den Fürsten und seine Suite fast wider ihren Willen den einzig sicheren durch das sogenannte Labyrinth und ich kann sagen: ohne mich wäre der König in diesem Augenblick in Dauns Händen. Es versteht sich, daß du davon keinen Gebrauch machen wirst, unserer Freunde am Hofe wegen.«
»Und damit, mein Vater, glauben Sie sich entschuldigt? – Wenn Sie das beruhigt, warum diese ängstliche Miene? Was eilen wir nicht hinunter, was erzählen Sie es nicht den preußischen Offizieren? Friedrich muß Ihnen Stern und Band umhängen.«
»Mein Kind, bist du rasend.«
»Ich wollte, ich wäre es, wenn das Lebensklugheit heißt. Schwindelt Sie denn nicht, Vater, an dem Abgrunde, – es ist unten so fürchterlich hohl und leer, und so schlüpfrig ist der Boden unter Ihren Füßen.«
»Du phantasierst, Aufregung und Angst der Nacht – gehe zu Bette –«
»Es sind keine Phantasien. Möchte die Stimme Ihres Kindes Ihr Herz rühren. Sind Sie denn glücklich in den Intrigen? Quält Sie die Größe, das Glück dieses Friedrich, das Unglück des Landes, o dann lassen Sie uns auswandern, zum Könige nach Warschau, nach Italien in unser Stammland. Lassen Sie uns unser Vaterland in die Fremde mit uns nehmen, fechten Sie dafür, aber nur nicht dieses Spiel, diese Verschwörungen –«
»Mein Kind, eine solche schwärmerische Anhänglichkeit würde man in unseren Tagen bespötteln.«
»So lassen Sie es gehen, wie es geht. Greifen Sie nicht ein mit Plänen von vorgestern auf übermorgen in die eines Giganten, auf den eine Welt erwartungsvoll sieht, dessen Tritte den Gang von Generationen bestimmen, dem noch Jahrhunderte nachstaunen werden. Wär' er durch Ihre Künste gefallen, Sie hätten keinen Ruhm und keinen Lohn davon. Man lobt nicht den Knaben, der einen Bindfaden über die Straße zog, daß ein Riese darüber strauchelte. Selbst die den fallenden Riesen verhöhnen können, tadeln den Knaben. Mein Vater, bleiben Sie ein Patriot, aber sagen Sie sich los von den Künsten dieses Hofes, dieses Ministers, der nur intrigieren kann, wo er handeln sollte, der nach Freunden sucht und den Feinden die Hand reicht, der mit seinem Scharfblick die Gewebe einer Spinne, die sie noch spinnen soll, voraussieht, aber nicht die offenen blutenden Wunden seines Vaterlandes.«
Mit immer heitererer Miene hatte der Graf sie angehört. Um seine Mundwinkel schwebte ein schlaues Lächeln: »So hoffe ich doch endlich auf den Beifall meiner Tochter rechnen zu können, wenn ich ihr gestehe, daß auch mir der Ausgang von gestern nur willkommen ist. Ja, es war ein törichtes Beginnen, das ich nur unserem grillenfängerischen Marquis zuschreiben kann. Mag er fortan allein sorgen, wie er seinem närrischen Haß gegen die Könige von Preußen Luft schafft, es ist nicht die Sache eines klugen Mannes, sich in ein so gefährliches Spiel zu mischen, das nach jeder Bataille anders ausschlägt, als man dachte, und alle Berechnung zuschanden macht.«
Ein Blick ruhiger Verwunderung antwortete ihm. Er nahm eine Prise und fuhr fort:
»Es muß drüben schlimmer stehen, als wir glauben, wie käme sonst der ungarische Offizier vor einer entscheidenden Schlacht auf den Gedanken überzugehen!«
»Zweifeln Sie an seiner Redlichkeit?« unterbrach ihn Eugenie. »Den jungen Mann scheint die feurigste Begeisterung für Friedrich hingerissen zu haben.«
Der Graf lächelte: »Aus Begeisterung, meine liebe Tochter, desertiert kein Husarenoffizier. Bewundere du die Taten der Helden, so viel es dir gefällig ist, ihren Motiven nachzuforschen, überlasse dagegen uns. Sie müssen drüben das Vertrauen verloren haben, ungeachtet ihrer pompösen Manifeste und trotz der Heereszüge, mit welchen die Kaiserin von Rußland die preußischen Erblande überschwemmen will. Auch der geschickte General Werner hat, wie du weißt, den österreichischen Dienst quittiert. Es ist etwas daran; vielleicht weiter, als wir ahnen. Mein Kind, –" er faßte ihre Hand – »man spricht von einem Tausch. Friedrich wünscht das Königreich Preußen, das die Russen ohnedies haben, loszuwerden und dafür die sächsischen Kurländer. Um ein Nichts läuft kein General über. Wir könnten, ja es ist sogar wahrscheinlich, wir werden preußisch werden.«
»Meint man das mit uns?«
»Der Monarch war ungemein gütig gegen mich. Selbst wenn der Überläufer sich meines Namens entsänne, der König würde dem unzuverlässigen Menschen nicht glauben. Er ist – und er kann es wirklich sein – von meiner reinen Ergebenheit für seine Person überzeugt. Eugenie, ich habe einen Plan –« er hielt freundlich ihre Hände und blickte ihr forschend ins Gesicht.
»Ist es Ihr eigener?«
»Ganz mein eigener. Wollte doch einmal meine Tochter in meine Wünsche eingehen, wollte sie doch einmal überzeugt sein, daß ihr Vater stets ihr Bestes vor Augen hat. Nur einmal, Eugenie, mit vernünftigem Blick um dich geschaut, laß deine Alten und die italienischen Poeten, laß die schwärmende Patriotin fort, und versetze dich in das unglückliche Kursachsen, in die zerstörten Güter deines Vaters, in unser aller zerrütteten Wohlstand – betrachte die schreckenden Aussichten. – Es ist augenfällig, welchen Eindruck du auf den Rittmeister von Izwitz gemacht. Sein Auge verfolgt dich bei jeder Bewegung, und er meint es ernst. Er ist keine verwerfliche Partie. Dem schönen, beliebten jungen Manne aus einer der ältesten, reichsten Familien, steht eine glänzende Karriere bevor –«
»Wann faßten Sie diesen Plan, lieber Vater?«
»Er ist auf dem Wege, erklärter Günstling des Königs zu werden, vielleicht ein zweiter Winterfeld. Seine Majestät unterhielt sich gestern noch eine Viertelstunde französisch mit ihm, und beim Abschied klopfte er ihm auf die Schulter. Du hättest sehen sollen, wie die höchsten Stabsoffiziere ihm eine Achtung zeigten, die zu deutlich bewies, was sie von seinem Avancement erwarteten.«
»Haben Sie sich auch nicht getäuscht?«
»Ich pflege mich in dergleichen Dingen nicht zu täuschen. Mein Kind, ich bin gewohnt, daß du, wenn ich von deinem Glücke rede, mir von deinem Herzen sprichst, dein Herz hat aber noch nie gesprochen, und es würde doch jetzt beinahe Zeit. Laß einmal das Herz deines Vaters dafür sprechen und sei nur klug, weiter nichts als klug. Eugenie, –« er rückte dicht an sie auf dem Kanapee und fuhr, womöglich noch leiser, fort – »Eugenie, wenn es doch heraus käme, wenn ich verraten wäre, wenn die Sicherheit deines Vaters von Friedrichs Günstlingen abhinge. – Du schweigst, du blickst vor dir nieder – keine Antwort?«
»Ei, mein Vater, ich denke, ein so besonnener Freund des Königs wie Sie wird sich auch ohne Fürsprache halten.«
»Ist das alles auf meine Vorstellung?«
»Ich will noch nicht heiraten.«
»Wann denn?«
»Wenn ich einen Mann finde, dem ich trauen kann.«
»Was hast du an dem Baron auszusetzen?«
»Er ist – so blond.«
»Eugenie, wann willst du heiraten?«
»Wenn Friede ist.«
»Du willst ja immer Krieg.«
»Ich bin müde. Ich will schlafen gehen.«
»Du willst dich nicht entschließen.«
»Um des Himmels willen, soll ich mich denn heute entschließen, am Vorabend einer Schlacht? Bedenken Sie, mein Vater, wenn sie entscheidet, wenn Friedrich verliert, wenn er fiele, gefangen würde, wenn wir kurfürstlich blieben, wenn man Untersuchungen anstellt, wer es mit den Preußen gehalten! Ist der Rittmeister dann noch eine gute Partie? Bedenken Sie, wär' es nicht schrecklich dann, wenn ich einen preußischen Bräutigam hätte, und ich gebe Ihnen mein Wort, ich ließe, wenn ich ihn auch vorher wie die Sünde gehaßt, darum nicht von ihm. – Soll ich Sie ins Verderben stürzen? Ach, mein Vater, Sie sind nicht vorsichtig genug, das ist es ja. Ich aber bin müde, sehr müde, der Hahn hat schon dreimal gekräht. – Trennen wir uns; ich will über Ihren Plan träumen – träumen gewiß, denn darüber nachdenken kann ich nicht, wahrhaftig nicht, lieber Vater, Ihnen zuliebe, es schadete der Liebe, gehen Sie, gehen Sie –«
Der Vater kannte seine Tochter. Es war heute nicht mehr mit ihr zu reden. Er ging so still, als er gekommen, nachdem er sie auf den Scheitel geküßt. Sie saß nun da auf dem Sofa, die Stirn in beiden Händen wiegend, den Kopf heruntergebeugt. Zuweilen lachte sie auf. Es war so still, daß sie über sich selbst erschrak. Ein Lichtschein, der plötzlich hell aufflackerte, weckte sie aus ihren Träumen.
Der hellere Schein hatte eine sehr natürliche Erklärung. Amelie stand vor ihr mit übereinander geschlagenen Armen, und blickte sie mit ihrer gewöhnlichen Miene an, von der man nicht jedesmal wußte, ob es Spott war.
»Erschrecken Sie nicht, ich putze nur das Licht. – Sie haben Kopfschmerzen, Komtesse, sehr heftige, ich sehe es Ihnen an – wer sollte sie auch nicht haben, wenn einem das Blut so zu Kopf steigt.«
Die Gräfin fuhr mit der Hand über die Stirn: »Mußt du denn alles wissen!« Es brauchte einiger Sekunden, ehe sie sich wieder zu sammeln schien.
»Die Hähne krähen bereits, Komtesse. Wären wir nicht schon im Oktober, müßte der Tag grauen.«
»Wo kommst du her? Woher so spät auf?«
»Ich war auf Befehl Ihres Vaters bei dem schönen Kammerherrn und sprach dem Armen Mut ein; er war aber so matt vor Angst, daß er die Gabel nicht an den Mund bringen konnte. Ich mußte es mit ihm nicht viel anders als mit den jungen Tauben machen, denen man die Erbsen in den Schnabel steckt. Morgen wird er auf einem Mistwagen durch die Vorposten transportiert, und er kann sich nicht über die Equipage beklagen, denn er gehört dahin, weil man ihn nicht mehr braucht.«
Eugenie war zur vollkommenen Besinnung erwacht. Ein ernst zürnender Blick auf die Gesellschafterin begleitete ihre Frage: »Warst du gestern auch bei dem Kammerherrn?«
Eine leise Röte flog über das Gesicht des Fräuleins; die Miene wechselte aber so wenig als die Lippen ihren spöttischen Ausdruck verloren: »Ich meinte, Komtesse, wir wären übereingekommen, das Sittenrichtern anderen zu überlassen und das bißchen Freiheit, das man den Frauen bei der Schöpfung ließ, unter uns bis aufs äußerste zu verteidigen. Bis gestern waren Sie wenigstens der Meinung, und ich habe Ihnen nie meine andere geäußert, wenn Sie durch Nächte und Dämmerung allein ihre Sturmspazierritte antraten. Der Pastor hielt das ebenso unziemlich für ein christliches Fräulein, als der Hof es unschicklich gefunden hätte. Meinerseits konnte ich ebensowenig Ihren Geschmack begreifen, aber Sie haben sich nie darüber zu beklagen gehabt, daß ich Ihnen meine Ansicht habe aufdringen wollen. Im Gegenteil standen wir in einer Reihe, wenn es galt, die Freiheit der Weiber zu verteidigen.«
»Unverschämte, das wagst du zu vergleichen?«
»Das heißt, Sie sind reich, und ich bin arm, Sie eine Gräfin, und ich eine demütige Verwandte, Sie die Herrin im Hause und ich die Gesellschafterin. Darum dürfen Sie mich unverschämt nennen; wär' es umgekehrt, hätte ich vielleicht dasselbe Recht. Was die Vergleichung betrifft, so weiß ich nicht, welche Freiheit moralischer ist, Ihre oder meine. Sie kanzeln Ihren eigenen Vater ab und halten ihm Strafpredigten, als wär' er Ihr jüngstes Kind. Die moralische Tochter hat sich eine Sprache, eine Betonung angewöhnt, daß er schon beim Klange ihrer Stimme zusammenfährt und artig die Hand küßt. Wollen Sie ihm nicht Rede stehen, so merkt er es gleich und macht sich auf das gegebene Zeichen gehorsam auf und davon. Ist das moralisch? An die zehn Gebote will ich gar nicht erinnern. Was will meine Freiheit dagegen sagen? Wen kränke ich dadurch, wer hat ein Recht, mich zu kontrollieren? – Liebe Komtesse, schließen wir Frieden, es kommt beim Kriege nichts heraus. Sie und ich, wir sind auferzogen, daß man uns gehorche, wir selbst lernten es nicht besonders. Als wir verständiger wurden, sahen wir ein, daß es auch gar nicht verlohne, den Maximen gehorsam zu sein, die man für die Erziehung gut hält. Wollen Sie ganz vergessen haben, wie Sie den Pastor einmal anfuhren, als er die Kirchenbuße verteidigte? Wär' er Papst gewesen, er hätte Sie in den Bann getan für die freien Äußerungen; ich aber hätte vom Tisch aufspringen mögen und Sie umhalsen, als Sie es so geradezu aussprachen: Es hätte niemand ein Recht über die Sitten zu urteilen, als man selbst. Das will ich nun zwar nicht bis zur Bauerndirne ausgedehnt wissen; aber wir, Komtesse, mein' ich, wissen jede am besten, daß die Leute um nichts besser sind als wir, sie also kein Recht haben, über uns mitzusprechen, weil sie uns nicht verstehen. Ist der Pfarrer sittlich, der um jedes Dezemhuhn mit dem armen geplünderten Kossaten prozessiert? Sind's unsere Freunde vom Hofe, unser bester Nachbar drüben, der bisweilen bis Mittag nüchtern bleibt, oder der Kammerrat, der auf Wucherzinsen ausleiht, oder sind wir es hier, Komtesse, die wir den kleinen Brühl spielen und für die Perücken und Treffen unserer Domestiken unsere Güter bis auf Kindeskind verschulden? Haben wir alle nur die leiseste Ahnung davon, daß es mit unserer Sittlichkeit schlecht aussieht?«
»Es müssen andere Zeiten kommen,« sprach die Gräfin vor sich hin.
»Ach Gott,« fuhr die Gesellschafterin fort, »wenn wir alle so lammfromm werden sollen, wie der gute Herr Gellert in Leipzig es von der Menschheit will, da halte ich es in Sachsen nicht aus und gehe nach Polen. Ein bißchen Ruchlosigkeit tut fürs Leben wahrhaftig not.«
»Es wird vielleicht anders, ganz anders, als wir es denken. Es blickt ein Strahl von einem neuen Licht durch die Monotonie unseres Lebens –, von daher, von woher wir es am wenigsten dachten –«
Das Fräulein hatte mit spöttischerer Miene als vorher ihre Verwandte angeblickt. Plötzlich brach sie, gegen ihre Gewohnheit, in ein helles Gelächter aus. »Ach, teuerste Cousine, nur das nicht!«
»Was willst du?« fragte die Gräfin betroffen.
»Es wäre zu ungeheuer spaßhaft und eine Satire auf Sie und unser ganzes Geschlecht.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Sie, die Philosophin, die mit ihrer Gleichgültigkeit zehn Männer in Verzweiflung gebracht, – Sie, die überall nur Alter, abgelebtes Alter selbst in der hübschesten Husarenuniform erblicken, Sie verlieben sich in den alten König Friedrich – er ist fünfzig Jahre von Natur und zehn drüber durch seine Schuld.«
»Törin!«
»Sagte ich das unseren guten Freundinnen in Dresden, sie glaubten eher an des Himmels Einfall, als daß die Komtesse Eugenie einen so schlechten Geschmack hätte. Ich bitte Sie um alles in der Welt, Komtesse, Cousine, Gebieterin, jagen Sie die Grillen fort; es wird sonst Ernst bei Ihnen, ich kenne das. Sie verlieben sich in Ihre Idee, in Ihr Hirngespinst, und Liebschaften der Art sind bei Ihnen nicht auszutreiben. Lassen Sie den guten König Friedrich seine Feinde schlagen mit der Feder oder dem Degen, lassen Sie ihn die besten französischen Verse machen, die Welt bekehren, wenn er Lust hat, eine neue Ara der Geschichte anfangen, und Gott weiß was, meinethalben machen Sie ihn selbst zum Gott wie den Alexander und räuchern ihm, aber verlieben Sie sich nicht in ihn. Es wäre ein Skandal, ein liebenswürdiges, junges Mädchen in den alten Friedrich, der nichts liebt und Tabak schnupft, ein Skandal, daß ich vor Scham mich nie mehr frisieren und kein Körnchen Puder ins Haar ließe.«
»Ich will zu Bett gehen.«
»Recht so, aber tun Sie beizeiten was dagegen, es ist mein voller Ernst. Verlieben Sie sich in Fleisch und Blut. Ich schlage Ihnen zum Exempel den ungarischen Offizier vor, der aus purer Begeisterung für den König von Preußen desertiert ist. Ist das nicht ganz für Sie, und es scheint doch ein Stückchen von einem Mann an ihm zu sein, etwas Bizarres, was wir brauchen können. Auch ist er Husar und jetzt ein bißchen verwundet, was aber nicht weit her ist –«
»Ich befehle dir, mich zu verlassen.«
Die Gesellschafterin machte eine steife Verbeugung und fragte, ob die gnädige Komtesse noch etwas zu befehlen hätte? Eugenie, vielleicht um wieder gut zu machen, wo ihr herber Ton gekränkt hatte, fragte, ob nichts seit des Königs Abreise passiert sei?
»Nichts von Bedeutung. Seine Majestät zeigten sich nur etwas ungnädig gegen den Ungarn.«
»Der ihm das Leben gerettet.«
»Das war ja nur eine Kleinigkeit. Der arme Mensch verlangte so dringend seinen König zu sehen, wie er ihn nannte, daß man wirklich den Monarchen mit der unbescheidenen Bitte behelligen mußte. Wie sich aber erwarten ließ, sagten Seine Majestät, sie könnten nicht mit jedem Überläufer konversieren, und ritten ab. Das hat man der beteiligten Person brühwarm, und so viel ich erfahren, nicht mit den schonendsten Ausdrücken hinterbracht, worüber er außer sich gewesen sein soll. So etwas mag wohl in der Natur der Ungarn liegen. Er hat gerast und geschrien und sich einmal im Fieber den Verband aufreißen wollen. ›Mein König will nichts von mir wissen, wer will denn etwas von mir wissen! – Ich muß ihm nach, ich muß ihn sprechen – er muß aussprechen, ob ich recht tat‹, und dergleichen hat er phantasiert, aber deutsch. Als er sich etwas kalmiert, hat er den Offizieren das Versprechen abgepreßt, morgen über ihn ein Ehrengericht zu halten. Das soll nun heute mittag vor sich gehen, und ich wünsche ihm alles Glück, denn es wäre wahrhaftig schade, wenn der hübsche junge Mensch um sein Leutnantspatent käme, denn wenn er wieder zurück desertiert, drüben, glaube ich, nehmen sie ihn nicht mehr an.«
Amelie entfernte sich, und Eugenie suchte den lang entbehrten Schlaf.