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Wie er das ausgesprochen, trommelte es gerade um die Ecke; aber es war nicht ernstlich gemeint. Ein Zug Knaben mit Kindertrommeln und Papierfahnen marschierte vorüber. »Sieh, das sind eure Helden!« sprach er, die Arme übereinanderschlagend, mit unmäßigem Gelächter, als die Schulkinder mit großer Gravität schwenkten, und der Offizier sich abarbeitete, die Trommelschläger in Takt zu halten. »Puppe und Flittergold, Courage, so lange es die Eltern erlauben und's keine blauen Flecke gibt, und die Polizei nichts gegen hat. Vivat Fridericus und der heilige Christophorus! Er trägt die ganze Bagage mit Artillerie und Kavallerie auf der rechten Schulter. Laß dich enrollieren, Junge, und werde ein Simson. Die Philister brauchst du nicht zu suchen.«
Ich brauchte auch nicht das Enrollement zu suchen. Denn der Kommandierende war Fritz und er forderte mich auf, ob ich mit wollte? »Wohin?« – »Vors Tor.« – »Was gibt's da?« – »Die Schlacht bei Mollwitz.« Ich sah meinen Italiener an. Er reichte mir das halbgeleerte Glas zum Austrinken. »Trink aus und kratz aus und komm nicht wieder ins Haus.« Wie glänzten die goldpapiernen Grenadiermützen, wie hüpfte mein Herz, wie schlugen taktlos, aber desto lockender die Trommeln. »Aber, du mußt österreichisch sein, Preußen haben wir genug,« sagte Fritz. Konnte was mehr locken! »Vivat Maria Theresia! Kratz aus und komm nicht wieder ins Haus,« schrie mir der lange Italiener, so lange ich's hören konnte, nach. Die Trommeln wirbelten, und die preußischen Häuser gingen mir rundum, und alles, was ich sah, rief Juchheissa!
Nun standen wir da, auszufechten des Königs und der Königin Sache, ach, aber zu dem Banner Maria Theresias, das ich in den Sand aufpflanzte, wollte sich keiner freiwillig finden. Man loste mit einem Zweigroschenstück. Wo das Bild des jungen Friedrich auffiel, der gehörte zu den Preußen, wo die Schrift auffiel, zu den Österreichern. Aber die schriftmäßig mir Zugewürfelten mochten nicht. Sollte ich ihnen österreichischen Patriotismus einprügeln oder sollten die Preußen sie zwingen, Österreicher zu sein? Es war schon drauf und dran, erst darüber zur Schlägerei zu kommen, wer sich für Österreich schlagen sollte, ehe es zur ordentlichen Schlägerei kam zwischen Österreich und Preußen, als jemand auf den Einfall geriet, ob es denn überhaupt nötig sei, sich zu schlagen, um froh und guter Dinge zu sein? Ein Politiker projektierte, König Friedrich und Kaiserin Maria Theresia könnten sich ja heiraten und dann wäre alles gut. Das gefiel allen, aber keiner wußte, wie das auszuführen sei; allein die Lust zur Schlägerei, wenigstens unter uns, war uns vergangen. Gab es denn nicht andere, dritte, die man schlagen konnte?
Ein Siegestag wie dieser erlaubte schon manche Ausgelassenheit, aber es fand sich unglücklicherweise niemand, der Lust hatte, mit uns anzubinden, oder mit dem wir anzubinden wagten. Wir durchschwärmten die Straßen, rissen an den Klingeln, lachten gravitätische Männer aus, welche mit nicht mehr ganz sicheren Füßen, natürlich alles zu Ehren des Tages, nach Hause kehrten, und selbst die Polizei mochte heute nicht ihr strenges Gesicht machen.
Ein Kinderschlitten, der sich in das Frühjahr verspätet, mußte zu unserem Spaß mit heran. Nach der Reihe spannten wir uns vor und ließen uns ziehen. Das ermüdete; man setzte nun seine Geschicklichkeit darin, sich an Wagen und Kutschen anzuhaken und anderen die Mühe des Fortziehens zu überlassen. Da kam eine stattliche Reisekarosse mit vier feurigen Hengsten die Straßen herauf. Es sah so vornehm aus, daß die Mehrzahl sich ruhig zurückziehen wollte; ich war aber nicht der Meinung und mir kam die Lust an, mich gerade von vier so vornehmen Pferden ein Streckchen fortfahren zu lassen. »Tu's nicht!« riefen sie: das hatte die Schuhsohle des Herrn Advokaten auch gesagt, und ich sagte, »just nun!«
Ein Trumpf war darauf gesetzt, die Ehre verpfändet, der Kutscher wogte in einem siebenfach bordierten Mantel mit Gold und Silber, die festgeschnallten Koffer waren mit Silberblech beschlagen, und beim Kutscher schwebten zwei Jäger mit Bärten und Hirschfängern, daß einem die Mütze von selbst aus Ehrfurcht in die Hand fiel. »Wagst du's noch, Etienne?« lächelte Fritz. Ich stand auf meinem Schlitten, das Leitseil in der Hand, gleich dem Walfischfänger, der mit der Harpune den einzig günstigen Moment abwartet, wo der Wurf gelingen kann. Hätte Fritz nicht so höhnisch gefragt, wer weiß, ob ich nicht meine verpfändete Ehre im Stich gelassen, und mein Schicksal wäre ein anderes geworden! Aber der Stolz siegte, die Furcht vor der Verspottung überwog die Ehrfurcht vor den gräflichen Jägern. Ich erwischte den Moment, warf, der Wurf gelang, das Seil saß fest und mein Schlitten auch und ich darin auch. Zum unaussprechlichen Jubel meiner Kameraden wurde ich, mein Schlitten und mein Lenkseil fortgerissen über das Berliner Straßenpflaster von den vier feuerschnaubenden Hengsten.
Anfangs merkten es die im Wagen nicht, aber der große Troß, der sich ihnen anschloß, machte sie aufmerksam: »Johann, es geht doch nichts am Wagen los?« fragte eine ausländische Stimme mit etwas sächsischem Dialekt. »Nein, Euer Gnaden,« antwortete der Kutscher, welcher bei einer Wendung mich jetzt gewahrte, »es hat sich nur ein Bengel angehängt.« – »So mach, daß er losläßt.« Man sah jetzt aus beiden Wagenfenstern nach mir um. Der Kutscher aber hatte gut peitschen, denn von allen Schlägen von seinem hohen Bock herab erreichte, um das hohe Kutschengebäude herum, kaum der zehnte den kleinen Schlitten, und ich und all die Meinen lachten den zornigen Kutscher und die zornigen Herrschaften aus.
Die Herrschaften hätten es auch wohl dabei bewenden lassen, wären der Neugierigen nicht an jeder Ecke mehr geworden. Der Knabe belustigte, der trotz seiner schönen Frisur und dem bordierten himmelblauen Rock den Spaß der Gassenjungen nicht verschmähte; dann freute man sich über den Ärger des dickgepuderten Allongenkopfes in der Karosse. Je mehr er eiferte, um so lauter jubilierte der Pöbel. Es mochte auch Patriotismus dabei im Spiele sein, denn die Herrschaften – obgleich ich aus Gründen, die Ihnen sogleich klar werden sollen, nie etwas Näheres erfahren – gehörten zur sächsischen Gesandtschaft, und der Dresdener Hof fing damals an lau zu werden. Man rief ihm zu, er möchte das für eine »Berliner Anhänglichkeit« nehmen. Mir selbst war der Beifall zu Kopf gestiegen, wo er noch den Wein vorfand; erhitzt, berauscht, hielt ich mich wie ein Verbissener fest. »Wie weit willst du denn mit?« rief Fritz. »Bis vors Tor,« schrie ich und achtete nicht, daß mich eben die Peitsche unterm linken Auge so getroffen, daß man noch jetzt eine kleine Narbe bemerken könnte. »Vivat Fridericus!« schrie die Menge: »Er blutet!« meine Kameraden und ein »Halt!« der Herr im Wagen.
Da stand alles plötzlich still; ich schlug die Augen auf und umher war es anders geworden. Der hochbepackte Wagen vor mir hielt, mein Schlitten flog nicht mehr im Triumphzug über das damals sehr unebene Pflaster der großen Friedrichstraße. Ich selbst war umgefallen, ob von dem Ruck des plötzlichen Stillhaltens oder vom Schmerze, weiß ich nicht. Aus dem Wagen arbeitete sich der zornige Herr heraus, die Jäger standen schon neben mir, und der Kutscher kam, beide Peitschenenden in der Hand, auf mich los. »Die Range hält noch fest,« rief der eine Jäger. »Peitsch' ihn, daß er Hören und Sehen vergißt,« der andere, und der zornige Herr mit dem grünen Pelz und der langen Allongeperücke herrschte mich an, ich solle loslassen oder – aber ich ließ nicht los. Und es schmerzte mich doch auch die kleine Handwunde von des Vaters Tranchiermesser, durch das Festhalten des Leitseiles aufgerissen und blutend. Ich verbiß die Zähne, riß krampfhaft den Strick noch fester und erwartete den Schlag des ausholenden Kutschers. Allein dazu kam es nicht, denn es ließ sich jetzt eine Kinderstimme vernehmen, und der schwarze Lockenkopf eines kleinen Mädchens blickte zum Kutschenschlage heraus. »Nicht schlagen, Papa, nicht schlagen. Er blutet ja, der kleine Junge.« Der Kutscher hielt wirklich inne, der Herr hatte mich aber in seinem Zorn selbst am Kragen gefaßt und winkte ihm wieder. Es wäre nun um mich geschehen gewesen, – denn der Bruder Gottlieb, der mir hätte helfen können, war in Schlesien, und wie ich mich auf die anderen verlassen konnte, wußte ich vom Laden der Frau Kurzinne her. Da arbeitete sich das kleine Mädchen, man konnte sie kaum über fünf Jahre schätzen, vergeblich von einer Gouvernante zurückgehalten, mit ungemeiner Heftigkeit heraus. » Ma bonne, ma bonne,« lassen Sie los oder ich falle.« Die Bonne ließ los, und das kleine Mädchen mit den klugen, sprechenden Augen stand bei uns. Ihre lebhaften, großen, dunklen Augen gaben ihr all das Kindliche wieder, das ihr verständiges Wesen Lügen zu strafen schien. Das äußerst schöne Kind mit ihrer lebhaften Bewegung und ihrem Dialekt gehörte nicht in unsere Gegend.
»Papa, was tun Sie da?« fragte sie italienisch den Zornigen, der auf sie hörte, als wenn sie wirklich mitzusprechen hätte.
»Du siehst ja, der Bube foppt uns.«
»Er hat ihn ja blutig geschlagen! Jean, warum hast du denn den kleinen Jungen blutig geschlagen?« wandte sie sich deutsch zum Kutscher.
»Soll man denn auch um die Straßenjungen sich in acht nehmen?« brummte der Kutscher.
Sie sah mich nun näher an: »Das ist ja kein Straßenjunge, er hat einen Zopf.«
»Zopf hin, Zopf her,« brummte der Kutscher fort, während das Mädchen, dreist auf mich zutretend, mir mit ihrem feinen Taschentuch das Blut von der Backe wischte. Daß die Wunde eben nichts auf sich hatte, sah auch das Kind.
»Er hat es verdient, Eugenie,« sagte der Vater, als habe er sich bei ihr zu verantworten. »Seine Eltern würden es ihm noch ärger geben, wie solche Leute tun. Wenn die Polizei kommt, sperrt man ihn ins Gefängnis.«
»Nicht die Polizei! Nicht die Polizei,« schrie heftig und hastig das Mädchen und stampfte mit ihrem kleinen Fuß auf die Erde.
»Sollen wir uns denn ruhig foppen lassen, liebe Eugenie?« fragte sie der Vater. »Sieh doch den ungezogenen Jungen, er hält ja noch den Strick fest.«
Das sah sie ein und wandte sich nun wieder auf deutsch zu mir: »Du kleiner Junge, warum bist du denn ungezogen?« und als ich sie erstaunt angaffte, fuhr sie fort: »Warum hältst du noch den Strick fest? Ist das artig von dir? Warum bist du nicht in der Schule? Was werden deine Eltern sagen? Schäme dich und wasch dich zu Hause, denn du bist garstig blutig.«
Hier, meine Verehrtesten, komme ich auf einen Punkt meiner Geschichte – es ist eigentlich nur ein Pünktchen – der mich in Ihren Augen auf einmal um allen Ruhm der Liebenswürdigkeit bringen kann. Meine Unarten gegen die kleine Stephanie haben Sie mir verziehen, da ja vorkommen soll, daß auch ein vollkommener Ritter seine Erwählte tyrannisiert; auch war es nur eine Cousine. Hier war aber keine Cousine, das junge Mädchen war überdem meine Retterin, und ich zeigte mich in diesem ersten galanten Abenteuer ungeheuer ungalant. Meine Adern durchglühte die Glorie trotz Peitschenschlägen und Freundeswarnungen: vier feurige Rosse gezwungen zu haben, mich durch Berlin zu ziehen, die barfüßige halbe Residenz war dem kecken Jungen jubelnd gefolgt, der vornehme Herr hatte sich umsonst erbost, und nun – den Siegeslorbeer und nebenbei eine Ehrenwunde auf der Stirn – sollte ich mir geduldig den Text lesen lassen von einem fünfjährigen Mädchen. Nein, eher sterben.
»I du Prinzessin Naseweis, was geht dich das an,« fuhr es heraus, und es war gesprochen und bleibt gesprochen in Ewigkeit.
Etwas fuhr das kluge Kind doch vor meiner Heftigkeit zurück, aber ich fuhr fort: »Wo du zum Tor hinausfährst, da kann ich auch hinaus.«
Mit aller Vehemenz einer Südländerin bat sie den Vater auf Italienisch um Aufklärung, ob das erlaubt sei, und wandte sich dann wieder deutsch zu mir: »Du hättest können Papa und mich bitten; da hätten wir dich in den Wagen genommen.«
» Dich bitten!« rief ich. »Ich bitte kein Mädchen und ich mache mir nichts aus euren Wagen und ihr könnt hinfahren, wo ihr wollt und wo ihr hergekommen seid!«
Das, um es ihr recht eindringlich zu geben, rief ich auf italienisch, und diese Sprache bei einem Berliner Straßenjungen mochte sie in nicht minderes Erstaunen setzen als meine Grobheit.
»Pfui! Du kannst italienisch und bist so grob. Weißt du wohl, du wirst ein schlechter Mensch werden.«
»Und weißt du wohl, du kannst lange warten, eh' du einen Mann kriegst.«
»Das will ich auch,« sagte sie erbittert.
»Und weißt du warum?« fuhr ich fort. »Weil du superklug bist. Superkluge Mädchen kriegen keine Männer.«
»Du bist ein sehr unartiger, garstiger Junge, weißt du das! Deine Eltern werden nie Freude an dir haben. Du wirst ihnen Kummer und Leid machen und aus dir wird gar nichts werden. Und du wirst keine Frau bekommen, kein Mädchen wird dich haben wollen, weißt du das; denn du bist ein so grober Junge, wie's auf der Welt keinen gibt, weißt du das?« Und noch viel mehr sollte ich wissen oder vielmehr nicht wissen. Ich aber blieb nicht stumm in Repliken, so daß wir uns beide nicht verstanden; der unbefangene Leser wird aber leicht verstehen, daß es hier hieß:
Wie die Alten sungen,
So zwitschern die Jungen.
Es waren aufgeschnappte Brocken. Gern hatte ich es gehört, wenn die naseweisen Mädchen unter meiner Bekanntschaft von ihren Müttern so zurechtgewiesen wurden, und ich hielt mich für ganz ebenso berechtigt, ebenso klug zu sprechen. Dasselbe mochte bei der jungen Dame der Fall sein, die aber plötzlich jetzt weinend vor Bosheit und dem Vater klagend, daß die Jungen in Berlin so ungezogen wären, von seinem väterlichen Arm ergriffen und alles Schreiens ungeachtet in den Wagen gehoben wurde, wo die Bonne die Rolle der Sittenrichterin mit ihr getauscht haben mag. Der Kutscher saß wieder auf dem Bock, der Jäger hatte mit einem Messerschnitt mein Leitseil durchgeschnitten und ich hielt es noch immer fest in Händen, als der Wagen schon zum Hallischen Tor hinausrasselte.
Da saß ich mit meinem Schlitten und mein Schlitten mit mir, und Kameraden, barfüßige und beschuhte, die mir so schlecht beigestanden, lachten, was sie konnten. Es war das letzte Mal, daß ich in Berlin lachen hörte. Aber es sollte bald verstummen, denn ein Polizeisergeant, dessen Anblick vielleicht den plötzlichen Aufbruch des fremden, Skandal fürchtenden Herrn bewirkt, kam herbei und gewiß nicht, mir für meine Wunden Genugtuung zu verschaffen. Er horchte und fragte und ihm durfte nichts verschwiegen werden. Er nahm mich mit einem kräftigen Griff in sein Schlepptau und das war ein ganz anderes als vorhin, denn es war keine Karosse mit vier Hengsten, sondern ein einzelner Mann zu Fuß, und ein Säbel klirrte ihm an der Seite, und er hätte mich geradeswegs ins elterliche Haus geschleppt, wenn ihm nicht der böse Geist desselben in den Weg gekommen und er mich dessen Obhut überlassen hätte. Wer war das anders als Advokat Schlipalius, »der Mann bei der Stadt,« dem dieser Bütteldienst ein Vergnügen war; ja, schien es doch seine Lust zu erhöhen, als die beschuhte und strumpflose Bevölkerung der Straße mit schadenfroher Erwartung sich an unsere Fersen heftete.
»Da haben wir's nun also, wie ich immer gesagt, wir konnten nicht schnell genug machen, – sind mit Kurierstiefeln gelaufen, haben Extrapost genommen, dieweil wir, ein vornehmer Junker, das Ordinäre uns zu ordinär war. – Haben noch überlaufen unseren sauberen Bruder Gottlibium. – Wer nicht hören will, muß fühlen. – Noch nicht mal stark genug, eine Muskete zu tragen, und insultieren schon fremde Herrschaften! Freilich, freilich, man sticht nicht bloß mit dem Bajonett. Haben wohl dem fremden Herrn mit einer Nähnadel in die Wade gestochen? Das läßt sich nicht jeder gefallen. Nu, die Frau Mutter wird sich freuen, wenn die Polizei ans Haus klopft. – Der Gottlieb hatte doch nur mit einem Judenmädchen zu tun. Uns ist das zu gering. Wir wollen höher hinaus. Vergreifen uns an einem Gesandtschaftsherrn. Das kommt bis zu des Königs Majestät. – Das gefällt mir, aber was nachher kommt, wird uns nicht gefallen.«
Gütiger Himmel! was war alle Schmach jenes Abends gegen heute! Die Nacht und eine dunkle Quergasse verbarg sie damals. Heute hatte sie die Maisonne beschienen und die volkreichste, weite Straße war Zeugin. Meine Ehre war in Berlin verloren, dahin auf immer. Hätte ich mich doch mit der blutenden Hand festgeklammert am Wagen, hätte ich mich festgesaugt und gebissen; sie hätten mich peitschen können, wenn sie mich nur fortgeschleift aus dieser Stadt, wo das Tageslicht mich nicht mehr sehen durfte. Die fürchterliche Besinnung wuchs an bei jedem Schritte, sie lag mir wie Blei in den Knien, zentnerschwer in den Fußspitzen.
Wie sollte ich vor dem Vater erscheinen, wie vor der Mutter die Augen aufschlagen! Wie gellte es mir noch in den Ohren: »Morgen sprechen wir zusammen.« Nun sahen wir uns heute schon wieder. Statt des Reuigen, erschien ich, die neuen Kleider zerrissen, die Frisur zerzaust, blutig im Gesicht, ein Rudel Gassenjungen hinter mir, die Polizei vor mir, der Sergeant wollte uns melden. – Was war Gottliebs ärgstes Verbrechen gewesen? – Daß er den Familiennamen in die Polizeiakten brachte. Ich hatte einen Gesandtschaftsherrn insultiert. Wo war ein Stock im Hause stark genug, mich dafür zu züchtigen? Ich sah das Familiengericht berufen, die großen Cousinen, den dicken Weinhändler, die Schminkpflästerchen und die Stahldegen, die Unteroffiziere, die Montur. Trug ich nicht einen Zopf und wurde gepudert und sollte nun Ohrfeigen bekommen, Schläge, kurz alles, was man darunter versteht, wenn ein Vater zum Sohne sagt: »Wir sprechen zusammen.« (Der Peitschenschlag eines erzürnten Kutschers, das waren keine Schläge!) Das Herz im Leibe drehte sich um! Lieber tot auf der Stelle. Mein Italiener tanzte um mich her und lachte und summte mir ins Ohr: »Kratz aus und komm nicht wieder!« O, daß der Boden wäre unter mir eingesunken. Aber aus der Tiefe, wo er hätte einsinken können, stieg ein Entschluß in mir empor, kein Kind, das wachsen sollte, ein geborener Riese. Als mir der Pate höhnisch lächelnd das Gymnasiumsgebäude in der Ferne zeigte, war es ausgesprochen in mir: sie sollen mich nicht wiedersehen!
Es sei fern von mir, durch meine Darstellung die Strafbarkeit einer jugendlichen Übereilung beschönigen zu wollen. Konnte ich härter dafür büßen, als ich gebüßt habe? Konnte der neunjährige Knabe diese Folgen, diesen Ausgang voraussehen? Und wenn auch, Wut und Stolz, genährt durch irrige Vorstellungen, falsche Einflüsterungen, phantastische Träume, ich wage es zu sagen: durch eine falsche Erziehung, sie hätten doch damals den Sieg in der jugendlich kochenden Brust davongetragen. Ich wollte nicht mehr geprügelt, ich wollte nicht verhöhnt, ich wollte nicht eingesperrt werden in die grauen Zellen des Joachimstals und ich ersah den Moment, wo das Gedränge in einer Straße mich vom Paten auf einen Augenblick trennte. Wie der Blitz war ich um die Ecke. Der einbrechende Abend war mir günstig. Ich lief kreuz und quer durch die Straßen und nur am Hallischen Tor zauderte ich einen Augenblick zweifelnd. Ich sah, in einem Reisewagen fuhr ein Herr im Scharlachüberrock ins Tor. Er sprach mit dem Visitator. Er war es. Aber, und wäre der ganze Mann von Scharlach gewesen, was half mir Scharlach, was sein versprochener Portugalese. Er konnte die Strafe mildern, nicht die Schmach von mir nehmen. Von seinen fünf Laubtalern hatte ich noch drei in der Tasche, auch den sardinischen Dukaten, und damit konnte man wohl bis dahin, wo es keine Scheuerchristel gibt, welche nach den Röhrchen geschickt wird, kein Familiengericht und kein Joachimstalsches Gymnasium.
Nach Süden wollte ich, denn nach Norden konnte niemand reisen wollen; das hatte mir mein Italiener eingeprägt. Der Weg nach Süden geht über den Templower Berg, das hatte ich gehört. Was ich im Süden wollte, wußte ich im ersten Augenblicke am wenigsten, als ich mich durch den tiefen Sand auf den wüsten Hügel hinaufarbeitete. Oben ruhte ich aus; ich saß auf einem Lehmabhang und sah zu meinen Füßen die Königsstadt mit ihren tausend Lichtern aus der schon dunklen Nacht aufschimmern. Ich sagte ihr Lebewohl und mein Herz schlug. Die Glocken von allen Türmen schlugen auch und immerwährend brummten sie: »Durchgehen! Durchgehen!« Es war ein schauerlicher Klang. Das war ja auch ein dunkler Maiabend gewesen, wo das Wort in Bruder Gottliebs Munde im Lustgarten mich so erschreckt hatte, aber es war doch anders jetzt, und zehn Brüder Gottliebs hätten mich heute nicht festgehalten. Nur der Gedanke an die Mutter tat weh, und es lief mir naß aus den Augen. Ich suchte mir im Lichtmeer die Stelle, wo unser Haus stehen konnte, faltete meine Hände und versuchte zu beten. Es ging aber nicht. Die Tränen platzten immer stärker heraus. Ich machte die Augen zu. Sie erschien mir wie eine lichte verklärte Gestalt durch die Dunkelheit. Auf ihren Zehen schwebte sie vor mir, ohne die Erde zu berühren, bald nah', bald fern. Ihr Blick war so wehmütig, und doch lächelte sie, sie warf mir eine Kußhand zu und dann verschwand sie. Die sophistische Vernunft tröstete damit, ich erspare ja durch mein Davonlaufen der armen Mutter einen Auftritt, der sie töten könnte.
Die kühle Nachtluft mahnte mich ans Aufbrechen. Ich knöpfte den Rock fester, verband mir die noch blutende Backe, sagte Berlin mein Lebewohl und machte mich auf den dunklen Weg. Wohin, das wußte ich nicht, ich glaubte, dazu wären ja die Meilenzeiger. Es schwebte mir auch etwas vor, daß ich den Wagen einholen könnte, mit dem naseweisen Mädchen, die Vorstellung blieb aber sehr undeutlich. Ich schloß wieder die Augen, ein paar Schritte und ein anderes Bild ging auf. Eine junge Frau mit goldenen Locken und eine Krone drauf und einem goldbrokatenen Leibrocke. Sie winkte mir, es war Maria Theresia. Das Herz jubelte auf. Drei Laubtaler hatte ich in der Tasche, ein Stück Brot, an dem mein Blut klebte, und die Schande hinter mir, das, glaubte ich, sei ein genügendes Viatikum, der beste Paß, um allerwärts hinzukommen, wo es besser war als in Berlin. Und wohin konnte ich besser als zur Maria Theresia.