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Der Eindruck jenes fürchterlichen Morgens war für mein Leben entscheidend. Von jenem Tage an hörte, was ich noch von Liebe für den Vater empfunden, auf. Auch zur Achtung für ihn konnte ich mich nicht überreden. Ich gehorchte ihm, weil ich mich vor der Strafe fürchtete, und die Mutter mich bat. Ich ward jetzt versucht, im geheimen manches zu tun, was seinem Willen gerade entgegen lief. Sein Benehmen nachher war ebensowenig geeignet, den traurigen Eindruck zu verwischen. Er hatte sich den ganzen übrigen Tag verschlossen, ohne jemand zu sprechen, ohne Speise zu sich zu nehmen. Am anderen Morgen trat er, ich möchte sagen mit verjüngter Kraft auf, um der Sprache des Gefühls, von woher sie kam, zu trotzen. Wenn er vorhin kein Vergehen, war es auch noch so geringfügig, übersah, so strafte er jetzt lieber im voraus, was erst begangen werden sollte. Kein Lächeln kam über seine Lippen, seine Augen blickten starr vor sich hin; er sah wie einer aus, der an einer verzehrenden Krankheit leidet, aber den Schmerz verbeißt. Mich dünkt, er wurde zusehends älter. Man wich ihm gern aus. Bei Tisch wurde kein Wort gesprochen, und die erste Unterhaltung seit dem Morgen, brachte der Pate Advokat am nächsten Sonntagstisch ins Haus. Ich hatte nicht geglaubt, daß von ihm etwas Tröstendes ins Haus kommen könnte.
Diese Kluft zwischen mir und dem Vater wurde täglich größer. Man möchte denken, da Nachtragen nicht die Sache des Kindes ist, der böse Eindruck müsse dem Einfluß der Zeit gewichen sein. Entweder war ich aber ein Kind anderer Art, oder die Umstände waren es. Der ängstliche Blick der Mutter erinnerte mich stündlich, was sie in jener Stunde gelitten, und verschuldete ich nicht mit Gottliebs Unglück? Ich war's, der ihn abends zuvor gebeten nicht durchzugehen. Hätte er es getan, wäre ihm wenigstens, wie meine kleine Logik argumentierte, diese Demütigung erspart worden! Und stieg mir nicht jedesmal hohe Schamröte ins Gesicht, wenn ich daran dachte, wie ich froh war, als ich ihn und nicht mich angeklagt sah, und es war doch derselbe Gottlieb, der mich kaum abends zuvor vor einer so argen Schmach gerettet hatte! – Und nun war ich Zuschauer gewesen, wie er gedemütigt wurde und ganz untätiger! Ich war dabei, wie sie den alten König zu Grabe trugen, ich dachte mir, sie senkten meinen Vater in die Gruft, und ich konnte nicht weinen. Ich machte mir lebhafte Vorwürfe, aber es ging doch nicht. Dann rechtfertigte ich mich damit, es sei, weil er Gottlieb so gequält hatte.
Seinem Gebote wurde streng Folge geleistet. Man sah und hörte nichts vom Ausgestoßenen. Nur der Pate Schlipalius erwähnte zuweilen seinen Namen, ich glaube, es geschah nur, um den Vater zu ärgern, denn irgend jemand mußte der Pate immer ärgern. Es gehörte nun schon zu seiner täglichen Nahrung. Einmal glaubten wir ihn unter einer Kompagnie vorbeimarschieren zu sehen, denn einer aus dem zweiten Gliede hatte nach den Fenstern heraufgesehen. Von Fritz erfuhr ich, daß er beim Exerzieren Fuchtel bekommen, und ein Korporal hatte scherzend von ihm gesagt, es sei ein »durchtriebener Halunke.«
Indessen wurde die Gelegenheit seltener, durch Fritz Nachrichten einzuziehen. Meine Freistunden wurden immer mehr beschränkt. Ich sollte lernen, durchaus lernen, um bald aus dem Hause zu kommen, aus der »Verweichlichung«, wie der Vater sagte, und ich merkte nur zu gut, daß auch ich für das Alumnat auf dem Joachimstal bestimmt war. Doch bis dahin war es noch weit. Ich mußte lateinisch deklinieren und konjugieren und der Vater wurde gegen den Inspektor grob, wenn er nicht streng genug verfuhr, wenn er mich nicht genug nachexerzieren ließ. Als einmal die Mutter gewagt, ein Wort für mich einzulegen, – ich glaube, sie führte an, das zu lange Studieren könne meinem Körper schaden, – wurde der Vater sehr heftig: »Wollen Sie, daß ich einen Taugenichts auch aus Ihrem Knaben aufziehe? Ich dächte, wir hätten an einem genug.« Dann setzte er hinzu mit einem besonderen Blick: »Er kommt bald und fordert Rechenschaft.« Die Mutter senkte den Blick und faltete die Hände. Wer das sei, der Rechenschaft fordern könnte, wußte ich nicht, aber ich dachte an den lieben Gott, oder an den König, und mir wurde etwas bange. Nachher dachte ich noch an jemand, und mir wurde noch bänger.
Es war schon in jenen Tagen, daß mein ungerechter Widerwille gegen den großen Friedrich erwuchs. Es war ja der erste Tag seiner Regierung, wo das Familiengericht abgehalten worden. Wenn er ein so vortrefflicher Prinz war, wie einige wollten, hätte er es nicht dulden sollen, daß sie Gottlieb unter die Soldaten steckten. Die alte Suse ging noch immer sehr bedenklich kopfschüttelnd durchs Haus und sagte, aller Tage Abend sei noch nicht gekommen, die Stoßvögel seien nicht umsonst am Himmel gekreist und ein guter Christ solle beten und sich vorsehen. Anders klangen die Ansichten meines Oheims. Beide waren aber kaum mehr geeignet, meine Teilnahme für den jungen König mit den scharfen, hellen Augen zu erhöhen.
Am Mittagstisch beim Oheim Rat kam es wohl zu lebhaften Erörterungen. Der Vater hatte immer an der neuen Regierung zu tadeln, versteht sich mit dem Respekt, welchen das strenge Regiment eines Friedrich Wilhelm allen darunter groß Gewordenen eigen gemacht. Was geschah, waren Neuerungen, die die Sitten gefährdeten, den Gottesdienst antasteten. Daß er den Predigern wieder erlaubt, ihre weißen Chorröcke vorzusuchen, die unter Friedrich Wilhelm verboten waren, und nun einige weiß, andere schwarz predigten, konnte der Vater durchaus nicht billigen, und das Bonmot des französischen Onkels, daß sie nur schwarz und weiß, also preußisch predigten, ärgerte seinen strengen Sinn. Auch bei der Parade hatte der junge König ganz anders zu Pferde gesessen als sein Vorgänger, es war nicht mehr die Manier, die Haltung von sonst. Die Frauen bedauerten nicht ohne leisen Spott, daß das Tabaks-Kollegium in Potsdam aufgehoben sei, und der neue Monarch lieber schnupfe als rauche. Die Oheime waren etwas zurückhaltend gegen den Vater. Sie schüttelten wie er mit dem Kopf, aber man wußte nicht recht worüber. Zuweilen nickten sie sich zu und lächelten. »Ja, ja, es wird eine andere Zeit kommen, Herr Schwager.«
Ich war nun sehr neugierig auf die andere Zeit; es verging aber ein Tag um den anderen und ich sah sie nicht kommen. Der Oheim Prediger sagte mir, ich müsse sehr viel lernen, weit mehr als jetzt. Da ich hörte, das fordere die neue Zeit, so machte mich das wieder nicht neugierig auf sie, und sie konnte meinetwegen noch immer warten. Sie lasen zuweilen Privatbriefe des Königs, welche sie durch ihre französischen Freunde am Hofe erhalten, sich mit Entzücken vor. Ich verstand das Französisch Wort für Wort, aber von dem »neuen Geiste«, wie sie's nannten, der über das Königreich darin aufstieg, konnte ich, ich mochte mir noch so viel Mühe geben, nichts bemerken. Sie schilderten mit Lust in den Augen, wie Friedrich nach den Regierungsgeschäften am Schreibtisch sitze, die Novitäten aus Paris Blatt für Blatt durchfliege, poetische Episteln schreibe, und dann in dem Kreise seiner alten Freunde die Flöte ebenso als König spiele, wie als Kronprinz. Das sollte nun ein echter König sein, den ich mir nie anders gedacht, als wie man ihn auf den Karten sieht, die Krone auf dem Kopf, den Reichsapfel in der Linken und das Zepter in der Rechten. Zwar hatte auch der kaum Beerdigte dieser Vorstellung wenig entsprochen, dies erklärte ich mir aber daher, weil der König von Preußen unter den Königen ein noch sehr junger König war. Je älter ein Königreich sei, um so mehr meinte ich, müsse sein Regent wie ein Kartenkönig aussehen, und ich schloß daraus, jeder folgende König von Preußen werde dem Kartenkönig immer ähnlicher werden. Statt dessen schrieb Friedrich Bücher und Verse und spielte die Flöte und mit seinen Windhunden. War das königlich?
Der Oheim Rat nahm sich meiner seit einiger Zeit mehr an, er erteilte mir zuweilen Privatlektionen, kam auch oft hinzu bei der gewöhnlichen. Ich hörte ihn dann den Lehrer tadeln, aber ganz anders als es mein Vater tat. Der Mann war ihm zu pedantisch, er vertiefte sich in kleinlichen Auseinandersetzungen, in den Rudimenten, er solle mit leichterer Art, mit aufgeklärtem Geiste, wie es die neue Zeit mit sich bringe, ans Werk gehen. Das gefiel mir wieder in der neuen Zeit, so viel ich davon verstand, dem Vater aber gar nicht, und ich belauschte einmal ein Gespräch zwischen beiden.
»So lange mir der Knabe anvertraut ist, will ich ihn in alter Zucht und Ordnung erziehen,« sagte der Vater, »zu einem ehrenfesten Bürger will ich ihn machen.«
»Aber doch nicht für eine Zeit, die nun abgelaufen ist,« wandte der Rat ein. »Zu einem Bürger für die neue, die da vor uns liegt. Sie schlagen umsonst aus gegen die Philosophie. Er soll nicht gleich den Voltaire lesen, aber zum Bewußtsein seiner selbst muß er kommen.«
»Ich meinte, er brauche vor der Hand kein anderes Bewußtsein, als daß ihm gesagt wird: Tue das und das tue nicht. Das Warum ward den Kindern, als ich noch ein Kind war, nie gesagt,« entgegnete der Vater.
»Einmal muß er es aber doch erfahren, das geben Sie mir zu: einmal muß er zur Überzeugung kommen, daß alles in der Natur seine Ursach und seine Wirkung hat, zu welchem Zwecke dies und jenes Ding erschaffen, daß nichts zufällig ist, nichts unerklärlich. Ach es ist so viel zu lernen, zu erfahren, zu untersuchen in der Welt, daß man nicht früh genug anfangen kann, die Begriffe zu säubern. Je länger wir die Kinder umhertappen lassen, alles mit den Sinnen auffassend, um so schwieriger wird nachher die Arbeit der Pädagogik. Man kann nicht schnell genug die gefährliche Arbeit der immer tätigen Phantasie unterbrechen und gesunde Begriffe den Kindern einimpfen. Es wäre gut, ihnen schon früh ein Schema beizubringen, worunter sie, was ihnen aufstößt, ordnen können. So kann man sie zwingen, sich selbst zu erziehen. Der Verstand wird früh geweckt, geschärft, und der Augenblick erscheint dann schneller, wo der Lehrer den Schleier dem Knaben von den Augen ziehen und ihn kann beurteilen lassen, wie alles, was er sieht und hört, was geschehen wird, ein und denselben Gesetzen unterworfen ist, die im Grunde nicht so schwer zu begreifen sind. – Das will Ihnen nicht einleuchten, mein Herr Schwager: ach, es wird eine Zeit kommen, wo uns allen einleuchten wird, wie lange wir Kinder waren, wie lange wir alle in der Dunkelheit irrten. Der Verstand macht reißende Fortschritte und wird uns zeigen, auf welchen Irrwegen und Umwegen wir die lange Zeit umhertappten, wo der richtige so kurz war und dies Verständnis so nahe bei lag. Ich liebe nicht die Propheten, jedoch das kann ich Ihnen prophezeien, Herr Schwager, die Zeit der Vorurteile geht rasch vorüber, sie halten nicht Stich vor der Philosophie des Jahrhunderts.«
Der Vater faßte den Rat am Armgelenk und fragte ihn rasch: »Warum proklamieren Sie nicht vor der Wachtparade die neue Aufklärung?«
Der Oheim Rat erschrak: »Wie Sie ungestüm sind! – Vor dem Pöbel muß man vorsichtig sein, und ihn nie, selbst wenn man ein König ist, merken lassen, daß man etwas mehr weiß.«
Wenn ich Ihnen sagte, daß ich dieses Gespräch belauscht, so werden Sie mir vergeben, das, was der achtjährige Knabe davon aufgefaßt, aus späteren Erfahrungen ergänzt zu haben. Es war ein Thema, das oft genug vorkam, mit neuen Wendungen. Auch muß der Vater, so wenig er sich gegen den Rat geneigt zeigte, durch die hundertfältige Wiederholung des Ausgesprochenen – und es war die Stimme aller ehrenwerten, vernünftigen Männer, – sich doch gewissermaßen selbst für überwunden erklärt haben; denn er wurde viel willfähriger gegen die Vorschläge des Oheims.
Da lernte ich denn vom Oheim Rat den Grund von vielen Dingen, von denen ich gar nicht gewußt, daß sie einen hätten. Er erklärte mir, warum der Stock, wenn man ihn zum Fenster hinaus wirft, auf die Erde fällt, warum es heiß ist, wenn die Sonne scheint und, daß der Donner nichts anderes ist als eine Friktion der Gewitterwolken. Hätt' ich doch das schon gewußt, als mich in der neulichen Schreckensnacht das Gewitter nicht schlafen ließ! Nun konnte ich mir bald entziffern, daß Schläge nichts anderes seien, als eine Friktion des Stockes mit dem Rücken und fing an, mich zu schämen, daß man sich vor Schlägen fürchten kann. Der Oheim hatte seine Freude an meiner staunenden Wißbegier und verhieß mir, mit den Jahren werde ich noch viel mehr erfahren, ja ich würde so klug werden, von jedem Dinge auf der Welt den bestimmten Zweck zu wissen, warum es da oder nicht da ist. Die Exempel, die er mir gab, wie die Dinge ineinander griffen, amüsierten mich ungemein und beschäftigten mich Tag und Nacht. Nur brachte ich auch Schlüsse zustande, wo mir doch am Ende das Licht der Erklärung ausging. Zum Beispiel: die Dielen auf dem Boden hatten kleine Löcher. Wozu die da sein möchten, darüber hatte ich mir lange den Kopf zerbrochen, bis ich einmal eine Maus durchschlüpfen sah. Nun wußte ich, die Löcher sind da für die Mäuse. Wozu sind die Mäuse da? – Damit sie unser Kater frißt. Wozu ist der Kater da? – Damit die Christel ihm alle Morgen die leeren Schüsseln zum Ablecken hinstellt. Wozu ist die Christel da? – Hier stockte schon meine Logik. Denn sie war da, um zu scheuern und um die spanischen Röhrchen zu holen. Wozu die spanischen Röhrchen waren, wußte ich. Wozu aber nun das Scheuern und wozu die Schläge? Mein kleiner Kopf schwindelte von allen den Erklärungen, der Oheim Rat wußte ihn aber zurecht zu setzen. Schwerer gelang es ihm, oder es gelang ihm eigentlich gar nicht in einem einfacheren Falle. Wozu war das Ungeziefer auf dem Felde, das das Korn frißt? – Damit die Schwalben es wieder fräßen und Futter hätten. Wozu waren nun aber die Schwalben? – Antwortete ich mir: um im Herbst fortzuziehen und im Frühling wieder zu kehren, so war das doch keine Erklärung. Auch: »um Nester zu bauen« war keine, denn aus den Nestern kommen immer wieder neue Schwalben und neues Ungeziefer. Am Ende blieb nichts übrig als die Erklärung: »Um das Ungeziefer zu fressen.« Aber wozu war nun das Ungeziefer? – Um von den Schwalben gefressen zu werden. Von Schwalben und Ungeziefer kam ich nicht weg und am Ende zu der Annahme einer Anomalie: daß nämlich Schwalben und Ungeziefer die einzigen Dinge der Welt wären, die zu nichts nutz sind. –
Bei den Schwalben erinnerte ich mich des seltsamen Vogelgefechts am Sterbetag des hochseligen Königs und glaubte nun gewiß beim Oheim Aufschluß zu finden: warum die sieben Geier grade den einen Adler verfolgten, und warum der eine Adler den sieben Geiern entgangen war! – Ich hatte mir alle Meinungen darüber wohl gemerkt. Es war eine in der Küche bei uns sehr beliebte – und was in der einen Küche galt, mochte auch in der andern gelten – der junge Adler sei der junge König, und die Geier, – der Himmel weiß was sie in ihnen sahen, aber der Groß-Türke und der Groß-Mogul waren gewiß darunter, – die Geier wären böse Feinde, die ihm viel zu schaffen machen würden. Der stille, freundliche Mann geriet in eine Art von Wut und sagte, das wäre albernes Zeug. Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen, denn ich hatte ja selbst den Adler gesehen. Er beruhigte sich und lächelte sogar: Das wäre ein zufälliges Ereignis und hätte keinen Zusammenhang mit den irdischen Dingen. Da war schon wieder etwas, wie die Schwalben und wie das Ungeziefer ohne Nutzen und ohne Zweck, herausgerissen aus dem künstlichen Zusammenhang der vernünftigen Weltordnung, und etwas, was der vernünftige Oheim nicht erklären konnte.
Er sagte mir, ich sollte mich schämen, an so was zu glauben. Ich sollte jeden vernünftigen Menschen fragen, und die würden mir alle dasselbe sagen. Solcher Aberglaube schicke sich in die finstern Jahrhunderte, nicht in unsere neue Zeit, und der König werde ihn auf keinen Fall im Lande dulden. Wer in Preußen fortkommen wolle, müsse ein ganz verständiger Mensch werden. Das gehörte also wieder zur neuen Zeit, und der König, so legte ich mir's aus, wollte nicht mehr die Geier und die Adler in der Straße dulden. Übrigens waren in diesem Punkte alle meine Erzieher einig, sie erklärten meiner Phantasie den Krieg und schrieben das Übel aus der Kinderstube her. Gegen die alte Susanne brach ein Unwetter los: es hieß, ihre Märchen, ihr albernes Gerede hätten mir den Kopf verrückt. Sie ward nun zum Schweigen verurteilt, durfte mich nicht mehr abends ausziehen, nicht einmal hinaufbegleiten und sollte überhaupt nicht mehr so viel Lärm im Hause machen. Das war ein hartes, grausames Gebot gegen die Alte, deren Seele noch Leben und Tätigkeit war. Sie schlich nun brummend wie ein gebannter Kobold durch das Haus, sprach mit sich, daß es ängstlich war, sie anzuhören, man glaubte immer, eine ganze Schar abgeschiedener Geister sei hinter ihr her. Wenn es dann einmal in der Küche losbrach, wurde es dafür auch ein Ungewitter von Flüchen, Drohungen und bösen Prophezeiungen.
Ich habe einen Vorfall Ihnen zu erzählen vergessen, der, wenn er auch damals von keiner Bedeutung schien, sie doch in Verbindung mit meiner Lebensgeschichte gewinnt. Den Zusammenhang nachzuweisen, würde mir freilich nicht viel leichter werden, als wie die Schläge sich zu den Mauselöchern und die Schwalben zum Ungeziefer verhielten. Es ist etwas Geheimes dabei. Warum sollte nicht etwas Geheimes in jeder Geschichte sein wie der Schatten im Mond, ein Fleck in der Sonne, ein dunkler Punkt im Leben eines Heiligen! In jedem alten Hause spukt ein Kobold, sagen sie in der Küche, und die Küche spricht in meiner Kindergeschichte ja schon so viel mit; mögen meine schönen Leserinnen daher immerhin an einen Küchenkobold denken, wenn gleich die geheimnisvolle Person im Leben viel ehrenwerter dasteht.
Der Vorfall ereignete sich wenige Zeit nach dem Gerichtstage. In einem Auftrage der Eltern war ich zur Frau Kurzinne geschickt. Die Advokatin hatte mich aber höhnisch gefragt, ob ich nicht ein Pfund »schwarze Seife« der lieben Frau Mama mitnehmen wollte, als eine Trommel ging und ein Ausrufer vor der Glastür verhängnisvollen Andenkens etwas ablas. Ich hatte diesmal an dem Auflauf der Gassenjungen ebensowenig teil, als mich der Inhalt des mit mehr Ostentation als Wahrheit verbreiteten Proklamas anging. Der Thronfolger erklärte nämlich unter Trommeln und Trompeten, daß er die als Kronprinz ohne väterliche Erlaubnis gemachten Schulden als König nicht bezahlen wolle. Man weiß, daß Friedrich, was er auf den Straßen verweigerte, im geheim gewährte. Der künftige Gesetzgeber wollte für alle Zeiten die spekulierenden Verführer warnen, nicht den lebenden Monarchen in Hoffnung auf den kommenden zu vergessen. Friedrich hat leichtsinnige Verschwendung hassen gelernt, er weiß, wie teuer sie einem armen Lande zu stehen kommt, er weiß, wie nur Zucht und Ordnung, Sitte und Familientugend einem Staate wie Preußen Macht gibt, dessen Kraft nicht in seinen Länderstrecken, nicht in seinem Reichtum, nur im Selbstgefühl seiner Bürger ruht. Das große Beispiel, das seine persönliche Ehre der Verunglimpfung aussetzte, wollte den Leuten indessen wenig einleuchten. »Er will nicht rausrücken,« argumentierte der Berliner Witz in dem Laden der Frau Kurzinne, »das kann ein anderer auch, dazu braucht man nicht König zu sein.« – »Unser einen schleppt man auf die Stadtvogtei.« – »Wenn man nichts zu bezahlen braucht, dann ist leicht König sein!« Nur gönnte man es dem und jenem, der schon ruhmredig davon gesprochen, was er dem Kronprinzen gewesen und nun dem Könige sein werde, daß er so anlief.
Advokat Schlipalius, der in den Laden getreten, schenkte sich schmunzelnd ein Gläschen ein: »Das wird lange Gesichter geben, Frau Advokatin. Da wird man wieder bestürmt werden mit Querelen: Soll aller Welt helfen! Die Gerichte nehmen aber keine Klagen an. Wir haben doch nichts in unsern Büchern stehen?«
»Die bei Hofe werden Aquavit trinken!« rief die Krämerin in gewohnter Lieblichkeit. »Eh' die rechtschaffenen Leuten was zu verdienen geben, trinken sie das pure, klare Wasser, was der Herrgott fürs Vieh gemacht hat, nicht für die honetten Menschen. Der französische Wein wird in Eimern und Zubern raufgetragen; das trinkt das Volk, aber wenn sie mal einen Schluck vernünftigen Schnaps trinken sollten, i da ließen sie eher die Welt untergehen und allen Kram von Berlin. Ich weiß nicht, was Wein besser ist als Schnaps! – Wein, was ist das? Nicht grün, nicht blau. Branntwein, das ist was, das weiß man, honett gemacht. Bleib im Lande, und nähre dich redlich. Ja Prost Mahlzeit. Von mir – ja wenn bei mir ein solcher rein träte – von mir sollten sie – bezahlen, sag ich, bezahlen, mein Herr! Auf dem Groschen und auf dem Taler allen Respekt vor dem König sein Bildnis, aber sonst goldene Tressen oder eine Pudelmütze, seidene Strümpfe oder barfuß, trinken und bezahlen, bei mir reimt sich 's, auf dem Templower Berg wächst keine Kreide, und in meinem Hause bin ich König.«
»Es werden Gesichter geschnitten werden,« sagte der Pate, auf seine Dose klopfend. »Bin kurios zu wissen, was der Marquis bei Hof ausrichten wird, er ist richtig ankutschiert gekommen –«
»Sieht Er denn nicht Inspektors Zierpuppe stehen,« sagte die Frau, den Gatten auf mich aufmerksam machend. Ich hätte ihm die Aufmerksamkeit für mich so gern geschenkt. Der Herr Pate nickte aber freundlich zu und streichelte mir über die Stirn.
»Wir sind wohl noch recht erschrocken von neulich?« sagte er. »Nur ruhig, ruhig, es war nicht so böse gemeint. Wollen doch dem Kinde eine Stange Gerstenzucker auf den Weg geben, es ist so rauhe Luft.«
»Das wäre noch!« rief die Frau, brach aber doch ein Stückchen ab. »Wie lange wird's dauern, ist er selbst eine Stange wie der lange Gottlieb, daß er die Laternen auspusten kann auf dem Gendarmenmarkt. Eine schöne Gottesfurcht wird in dem Hause gepredigt, katholisch, französisch und böhmisch untereinander, und ehren sie wohl die Verwandtschaft? Ich kann eher auf dem Köpnicker Felde meine Kundschaft suchen, als wo das Blut sitzt. Schönes Blut, saubere Verwandtschaft! Da gehe ich vors Oranienburger Tor und schüttele an den Galgen, kriege auch Verwandte runter, alle Tage zehn; zwei zu, macht ein Dutzend. Blut macht den Kohl nicht fett. Honett, und was ist honett? wer's Bier braut, oder wer's trinkt?«
Die Stange Gerstenzucker bekam ich aber doch, und der Pate trug mir schöne Komplimente nach Hause auf. Was bedeutete das? Einen Grund mußte es haben nach dem Oheim Rat, denn es waren weder Schwalben noch Ungeziefer noch Geier und Adler. Gehörte es zur neuen Zeit, daß der Advokat höflich wurde? Das gewiß nicht, denn nächsten Sonntag war er wieder der alte. Ich erschöpfte mich in Vermutungen, bis ich es lustiger fand, mit den anderen Jungen dem Tambour nachzulaufen, und während ich an sechs Ecken das Proklama immer wieder von neuem anhörte, vergaß ich den Advokaten und seine Höflichkeit.
Das Stück Gerstenzucker und meine Logik waren längst zu Ende, als ich nach Hause kam. Da faßte mich auf der Treppe die alte Susanne. In großer Aufregung sprach sie: »Junkerchen, Junkerchen, nicht getobt, der Herr ist da!« Mon Sieur, nicht etwa wie gewöhnlich ein zusammengezogenes Monsieur, das jedem Herrn von ihr gegeben wurde, sondern deutlich getrennt der Sieur und das Mon. »Zieh die Mütze, Etienne, er kommt gleich heraus. Wie das Halstuch sitzt! fix! fix! –« Eine Art ehrfürchtigen Entsetzens hatte mich bei der Nachricht überkommen; etwas wie Furcht am Tage, wo ich zu Gericht gehen sollte, aber eine viel feierlichere Furcht, und ich wußte doch, es gab keine Schläge. Der »Monsieur« war da! Wer war Monsieur? Ein Mann oder lieber eine Erscheinung, bei deren Erwähnung das ganze Haus, der Vater einbegriffen, in ungemeine Ehrfurcht geriet, ein Mann, der keinen anderen Namen führte, als Monsieur oder Marquis und einen Scharlachüberrock und keinen Degen trug. Warum der vornehme Herr keinen Degen trug, da alle vornehmen Leute Degen trugen, und er der vornehmste von allen war, hatte ich einmal gefragt, aber dafür vom Vater eine Ohrfeige bekommen. Der Oheim, den ich es auch gefragt, hatte mich ins Ohrläppchen gekniffen und gelächelt: »ob ich denn alles wissen müsse!« Da merkte ich denn schon, daß das auch dahin gehörte, wo die Schwalben und Geier, und ich war nur zweifelhaft, ob vornehme Leute überhaupt oder nur der Marquis für sich zu den Dingen gehörten, wo die Vernunft nicht weiß, was sie mit ihnen anfangen soll.
Mehr also wußte ich nicht vom Marquis, und doch pulsierte mein Knabenblut, wenn es hieß: »Monsieur ist angekommen,« und wahrhaftig nicht der Ohrfeige wegen. Es war sonst häufiger geschehen; immer nur auf kurze Zeit, aber eben die kurze Dauer der Anwesenheit eines so vornehmen Mannes vermehrte das Geheimnisvolle. Es war dann, als wäre ein Lüster über das ganze Haus verbreitet. Dann ließ die Christel Messer und Gabeln im Lohgraben stecken, der Hausknecht hielt die Mütze zwischen den Beinen geklemmt, die alte Susanne wurde um zwanzig Jahre jünger, und der Vater setzte die Sonntagsperücke auf. Das ganze Haus war auf den Beinen, wenn er kam und wenn er ging. Ich sage nicht, wenn er da war, denn es war immer nur ein Kommen und Gehen. Alle, die im Hause waren, empfingen ihn am Torwege und begleiteten ihn wieder bis zum Torwege. Seine Besuche glichen denen der Göttin Hertha unter den Erdbewohnern, wie sie uns Tacitus schildert; es war so lange alles Friede und heilig. Sie waren kurz, aber gewichtig; er brachte Geschenke, und ich darf annehmen, nicht allein den Domestiken. Wie vieles im Hausstande von Porzellan, in Silber und Kristall, wurde mir nur wie etwas Sakrosanktes in die Hände gegeben, denn es komme vom Herrn Marquis. Der rosa Atlasrock meiner Mutter mit der Silberdrapierung um die Reifen kam vom Herrn Marquis, des Vaters goldene Repetieruhr vom Herrn Marquis, der Perlenschmuck, der uns alle Festtage gezeigt wurde, vom Herrn Marquis. Warum das alles vom Herrn Marquis kam, wurde mir nicht gesagt. Der Herr Marquis selbst sah aber gar nicht so reich aus wie seine Geschenke. Aber Geld hatte er noch immer, sonst hätten die Domestiken sich nicht so tief vor ihm gebückt. Wenn er hier war, so floß es wahrscheinlich vom Golde, aber es kehrte dann auch für einige Tage die Milde in unser Hausregiment ein. Der Vater war nachdenkend, er übersah manches Vergehen, bei anderen schon für den Stock reif, trat eine Begnadigung ein. Und seltsam, so gut ich das, wie wir alle wußten, konnte ich nie Herr über eine peinliche Bangigkeit werden, wenn es hieß: »Er ist da!« Übrigens hieß es niemals: »Er kommt!« oder »Er wird kommen!« denn er fiel immer, nach unserer Soldatensprache, wie eine Bombe ins Haus.
Wer weiß, wäre seine Ankunft diesmal früher erfolgt, ob es nicht günstigen Einfluß auf Gottliebs Geschick gehabt hätte. Ich durfte nicht ins große Putzzimmer, wo ich ihn hastig auf und ab gehen hörte. Auch verbot mir Susanne zu lauschen. Er schien in gewaltiger Agitation, und als er heraustrat, von Vater und Mutter begleitet, sprach er noch so heftig deklamierend, wie wir es von den französischen Schauspielern gewohnt sind: »Er bezahlt keine Schulden, er bezahlt sie nicht. Sie haben es gehört: Mit Trompeten und Pauken hat er es ausschreien lassen, aber mit Trompeten und Pauken wird man ihm wieder ins Ohr schreien: er muß. Seine eigenen Schulden bezahlt er nicht, hat er ausposaunen lassen; aber hinterm Rücken bezahlt er sie. Seines Vaters Schulden hat er ausposaunen lassen, und hinterm Rücken bezahlt er sie nicht. Warum ließ er das posaunen? Weil er meint, sein Vater hätte keine Schulden. Keine Schulden? – Sein ganzes lumpiges Königreich in eine Wagschale, und meine Forderung in die andere, und er kommt mir nicht auf. Will er nicht seines Vaters Schulden bezahlen, darf er auch nicht seines Vaters Krone tragen. Er muß sich nicht für seinen Erben, für seinen Bastard muß er sich erklären.«
Meine Eltern sagten gar nichts, sondern hörten ehrerbietig zu. Als er aber weiter perorieren wollte, bemerkte der Vater leise, es stehe jemand vor der Haustür, der wohl französisch verstehen möchte! Augenblicklich verstummte Monsieur, und die Mutter nahm die Gelegenheit wahr, mich ihm vorzustellen: »Hier ist mein Sohn.«
Es war, als ob den Herrn im Scharlachüberrock ein Anflug von Rührung überkomme. Er wollte mich zu sich aufheben, aber ich war ihm zu schwer; waren es doch schon drei Jahre her, seit er zum letztenmal bei uns gewesen. Da bemerkte ich zum erstenmal, daß er nicht so groß war, wie ich ihn mir sonst gedacht, auch war er von schwächlicher Statur, unproportioniert gewachsen und hatte, was man einen Verdruß nennt, auf dem Rücken. Das minderte alles den feierlichen Eindruck von sonst, aber ein vornehmer Mann blieb er doch, und mir wurde ganz eigen zu mute, als er mir mit der langen weißen Hand, die von Ringen strotzte, über den Kopf strich.
»Wie er groß geworden ist!« sagte er, und mir schient, als stände ihm eine Träne im Auge. »Verrät er schon eine Neigung zu einem Stande?«
Die Mutter mochte nicht mit der Antwort heraus, daß ich gern ein Soldat zu Pferde sein wollte, der Vater sagte schnell: »So etwas kommt ihm nicht in den Sinn.«
»Studiert er fleißig?«
»Sein Pensum wird ihm nicht erlassen,« sagte der Vater.
»Er muß italienisch lernen,« antwortete der Marquis. »Italienisch. Italienisch ist eine Sprache so voller Wohlklang, Rhythmus, Fülle, Weichheit, Kraft, wie der Charakter eines vollkommenen Menschen. Apropos, hat der Knabe Charakter?« Die Eltern hatten noch nicht Zeit zu antworten, als er schon, ans Geländer sich lehnend, die Treppe mehr hinunterschoß als ging. Wir hatten Mühe ihn einzuholen. Ob ich schon Taschengeld bekäme, fragte er mich auf dem Flure. Dem Vater schien es nicht lieb, daß ich »nein« sagte. »Er bekommt, was er bedarf.«
»Man muß zuweilen mehr haben,« sagte der Marquis und holte aus den Taschen fünf Laubtaler und einen sardinischen Dukaten. »Das nächste Mal, wenn du italienisch kannst,« sagte er, »kriegst du fünf spanische Dublonen und einen Portugalesen.«
Ich mochte ihm nicht ganz zufrieden aussehen oder was es war, er fragte mich, »was ich denn sonst wünsche?« Da durchzuckte es mich, was ich immer gewünscht, aber kaum mir, geschweige denn einem anderen gestanden hatte. Es war ja ein so außerordentlicher Augenblick.
»Einen Degen,« platzte ich heraus.
»Einen krummen?« fragte er.
Himmel, was hatte ich da angerichtet! »Daraus wird nichts,« schrie er und schalt den Vater, daß er mir eine schlechte Erziehung gegeben, und weinte fast vor Wut, bis ihn die Mutter beschwichtigte und ihm vorstellte, daß ich ja noch so sehr Kind sei. Es muß in der Art der Mutter etwas gelegen haben, was den schnell aufgereizten Zorn ebenso schnell wieder beilegte. Er trocknete seine Augen und sah mich freundlich an:
»Einen geraden Degen kriegst du nicht, du armer Junge; da mußt du warten, bis der neue König tot ist. Ein gerader Degen ist für eines Edelmanns Kind, du bist ja keines Edelmanns Kind. Weine nicht; was wünschest du denn sonst so von Herzen?«
Ja, was wünschte ich, wenn es kein Degen war! Daß ich keine Schläge mehr bekäme. Da hätte ich sie erst recht bekommen. Was bezeichnet den Mann nächst dem Degen?
»Sprich es dreist aus, was du wünschest, liebes Kind.«
Da sagt' ich es denn, weil er wieder so freundlich sprach – »Einen Zopf.«
»Den sollst du kriegen,« erwiderte er und strich mir übers Haar.
»Zum nächsten Geburtstag hatten wir ihn ihm zugedacht,« sagte die Mutter.
»So lange wird er nun auch wohl warten können,« meinte der Mann im Scharlachrock, küßte mich und dann feierlich meine Mutter auf ihre schöne, weiße Stirn; sie neigte sich vor ihm wie noch in mädchenhafter Befangenheit, die Augen niederschlagend. Der Vater verbeugte sich sehr tief. Susanne faßte den äußeren Saum des langen Scharlachrockes und küßte ihn, so tief gebeugt, daß sie fast selbst den Boden berührte: Dieu vous benisse Monsieur le Marquis.
Auf den vornehmen Seigneur wartete keine Equipage mit Vieren, kein Jäger, nicht mal ein einfacher Bedienter. Wie formell er eingetreten, so formlos ging er aus dem Hause fort. Die etwas gekrümmten Beine kreuzweise überschlagend lief er mit unglaublicher Schnelligkeit die Straße hinab und verschwand um die Ecke.