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Am Mittag des anderen Tages hatte ein seltsames Schauspiel die Bewohner des Schlosses in dem großen Gartensaal versammelt. Nicht die militärischen Gäste allein, jedermann, so hatte der fremde Offizier gewünscht, sollte Zutritt bei dem Gericht haben, welches dieser aus den höheren Offizieren ihm zu bestellen gebeten. Wo die Ehre öffentlich gekränkt wäre, hatte er behauptet, könne sie auch nur durch ein öffentliches Gericht hergestellt werden. Täte man nicht den Ausspruch, auf den er hoffe, sei es ihm gleichgültig, ob die ganze Welt es gehört hätte oder fünf Stabsoffiziere. Einige Generale, die schon gestern Wohlgefallen an dem jungen Mann gefunden, hatten ihm vergeblich den grillenhaften Einfall auszureden versucht und versprochen, daß seiner Einrangierung auch ohne Ehrengericht nichts im Wege stehen solle. Er aber hatte darauf bestanden, und aus ähnlich grillenhafter Gefälligkeit hatte man es ganz so angeordnet, wie er wünschte.
»Was mich das angeht!« sagte die Gräfin, als das Fräulein sie hastig aufforderte, in den Saal zu kommen. »Es sind schon mehr preußische Kriegsgerichte hier gehalten worden, und ich fühlte mich nie getrieben, ihnen beizuwohnen.«
»Freilich,« sagte die Gesellschafterin, »und erschossen wird der junge Mann auf keinen Fall. Wenn er sich nicht dann selbst die Kugel durch den Kopf jagt, wonach er mir wohl aussieht, wenn die Graubärte ihn nicht freisprechen. Ich beurlaube mich von Ihnen, Komtesse; da Sie der Fall nicht interessieren kann, seien Sie unbesorgt, Sie sollen keine Silbe von mir hören.«
»Ist mein Vater dabei?« fragte Eugenie, als Amelie schon die Tür zudrückte.
»Ich glaube, ich weiß aber wahrhaftig nicht; es stand schon so voll im Saal.«
»So warte und nimm mich mit; es dürfte ihm unangenehm sein, wenn ich mich zurückziehe.«
»Davon hat er nichts gesagt, liebe Komtesse.«
»Doch, ich kenne meinen Vater.«
»Und ich kenne seine Tochter,« murmelte das Fräulein und zwang vorangehend ihre Gönnerin, die Schritte zu verdoppeln, um sie einzuholen.
Als beide in den Gartensaal traten, hatte das Gericht, wenn man ihm den Namen geben darf, schon begonnen; denn zum Gerichte fehlte der inquirierende Richter wie der Protokollführer. Der Fremde führte allein das Wort. In seiner malerischen, reichen und doch, gegen die preußischen Uniformen gehalten, halb wilden, ungarischen Kleidung stand er da, ein großer schön gewachsener Mann, in der Mitte des Saales. Sein linker Arm ruhte leicht in einer schwarzen Tragbinde, der Dolman flog ihm über die Schulter. Der Kopf war unbedeckt und der ganze Ausdruck des wohlgebildeten edlen Gesichts, bleich, doch voll kriegerischem Anstand und Feuergeist, sprach ebenso lebhaft zu seinen Gunsten als seine beredten Lippen, die der ungarische Knebelbart umschattete. Im Feuer des Vortrages schien er zuweilen seine Verwundung zu vergessen, er gestikulierte mit dem rechten Arm und fuhr an die linke Seite, wiewohl er den Säbel nicht trug. Er sprach ein reines Hochdeutsch, doch mit solchen Ausdrücken und Betonungen, daß man zweifelhaft wurde, ob es seine Muttersprache sei oder eine erst angelernte. Die südlichen Sprachen mußte er kennen, so viele für das deutsche Ohr und deutschen Mund von damals ungewohnten Wendungen kamen vor. Er war ein Mann von Bildung, sogar von einer gewissen oratorischen. Er hatte sich auf seine Rede sichtlich vorbereitet; aber je länger er sprach, um so mehr floß dieselbe, nur erstickt, wenn die eigene Rührung ihn überwältigte, und die Stille der Aufmerksamkeit begleitete ihn. Es war, wie schon bemerkt, nicht der Anfang der Verhandlungen, den die Damen bei ihrem Eintritt hörten.
»Meine Herren,« sagte er, »lassen Sie mich vorerst den Grund aussprechen, auf welchen ich das meiste Gewicht zur Verteidigung meiner Ehre legen muß. Der König sollte der Erste sein, dem ich vertraute: ihn allein wünschte ich zum Richter, ob ich recht gehandelt. Er hat mich nicht gewürdigt; die ganze Last des Scheines drückt mich zu Boden; ich kann sie nicht tragen und von Ihnen erwarte ich jetzt den Urteilsspruch; ob meine Tat sich mit den Gesetzen der Ehre verträgt. – Ich rufe Sie, meine Herren, nicht allein als Krieger, als Offiziere an, ich habe, glaube ich, einen näheren Anspruch auf Ihre Teilnahme – ich bin Ihr Landsmann. – Seit achtzehn Jahren stehe ich heute zum erstenmal wieder im Kreise von Männern, die auf denselben teuren, väterlichen Fluren spielten, als Kinder dieselben Laute besorgter Pflegerinnen, zärtlicher Mütter, strenger Väter, die nämlichen Ausdrücke von Schmerz und Lust, von Zorn und Liebe hörten. Dieselben Erinnerungen schaukelten an unserer Wiege, dieselben Namen wurden uns wert und geläufig. Wir hörten in der Kirche für denselben Fürsten beten, unsere Väter schlummern unter demselben Gottesacker und über uns schien derselbe blasse Himmel. Ist das nichts, kein Band für den Menschen, dann habe ich kein Recht – nicht bei Ihnen, nicht bei mir, auf der ganzen Welt nicht; dann schelten Sie mich einen Überläufer und überlassen mich meinem Schicksal. Gibt es aber ein Vaterland; ist das etwas, daß wir geboren wurden auf derselben Erdscholle, das Rauschen derselben Wälder uns grüßte, dieselben Lüfte uns anfächelten, dieselben Namen uns teuer waren, dieselbe freundliche Gewohnheit von den Vätern her zu uns herüber sprach, gibt es ein heiliges Band des Vaterlandes, dann berufe ich mich darauf, daß ich als Preuße geboren bin, und an Ihren vaterländischen Sinn appelliere ich. – Vergeben Sie, meine Herren, diese Sprache einem Soldaten, – man wirft mir sonst nicht vor, daß ich weich bin, aber ein schlafen gegangenes Gefühl, spät erwacht, ergreift mich heute so mächtig in Ihrem Kreise, daß ich mich der Tränen nicht schämen würde.«
Er fuhr nach einer Pause ruhiger fort: »Ich stehe nicht vor Ihnen, mich von aller Schuld loszusagen; nur den einen Vorwurf ertrag' ich nicht. Nur um als Militär Genugtuung zu erhalten, steh' ich hier. Verdammen Sie sonst den pflichtvergessenen Sohn, verdammen Sie den Preußen, der vergessen konnte, daß die seine Brüder waren, gegen die er die Waffen führte. – Ich bin von bürgerlichen Eltern in Berlin geboren. Eine strenge, harte Erziehung, ein grausamer Vater verleideten dem aufgeweckten Knaben schon früh das Haus, in dem er geboren, das Geschlecht, unter dem er aufwuchs, die Luft, die er einatmete. Fürchten Sie nicht, daß ich Sie mit einer Geschichte jugendlicher Verirrungen ermüden will. Ich bekenne genug, um mich zu verurteilen, sag' ich: daß ich meinen Vater haßte, meine Verwandten mir zuwider waren, mein König mein Feind und daß ich mein Vaterland verachtete. Als neunjähriger Knabe entwich ich vor achtzehn Jahren aus meines Vaters Hause, aus Berlin, aus meinem Vaterlande. Ich entwich in kindischer Furcht vor einer nicht unverdienten Züchtigung und entwich zu einer Strafe, die mein ganzes Leben durch mich schmerzen wird. Es war der Moment, wo dieses Vaterland, aus dem Schlummer der Bewußtlosigkeit, zu der neuen Glorie erwachen sollte. Ich entwich, als der Lorbeerkranz von Mollwitz auf Friedrichs Stirn noch grün war; aber vielleicht läßt sich der Kummer, den ich meinen Eltern verursachte, mit dem Schmerz aufwiegen, der mich heute trifft. Achtzehn Jahre des Jugendlebens meines Vaterlandes hab' ich nicht miterlebt. Der preußische Adler flog zur Sonne, und was Kräfte hatte, versuchte die jugendlichen Schwingen unter ihm, ich nicht. Die ewigen Sterne von Friedberg, Sorr, Prag und Leuthen, die Ihnen voranleuchten, sind dunkel für mich und, wo sie vorstrahlen, zeigen sie mir meine Schmach. Achtzehn Jahre meines Lebens sind umsonst gelebt, und wäre das nur! Aber es sind zwei Jahre mit einem unversiegbaren Flecken, ich habe gegen meine Landsleute gefochten.«
»Ei, mein scharmanter junger Landsmann,« rief der ältere von den beiden den Vorsitz führenden Generalen, und stand auf, ihm die Hand drückend, »der Krieg ist noch nicht zu Ende, und es werden noch mehr solcher Sterne aufgehen, wo Sie Ihre Bravour zeigen können als gutes Landeskind. Nehmen Sie Ihren Säbel wieder, und hauen Sie von nun an mit derselben Courage auf die Bärenmützen, wie seither auf die Blechmützen. Es dringt hier so gut durch wie da, wenn man gut ausholt.« –
»Meine Herren, ich hatte der Kaiserin geschworen.«
»Ei was, wenn wir jeden, der da und dort einmal geschworen und die drüben ebenso examinieren wollten, wo sollten die Potentaten ihre Soldaten herkriegen. Wir tragen nicht schwarze Röcke, sondern blaue. Krieg ist dem Teufel sein Handwerk und braver Kerle, die sich nicht um ihn scheren. Sie sind ein Freiwilliger, noch dazu ein geborener Preuße, und haben sich bei der Affäre im Park distinguiert, – auf Ehre, ich kann Ihnen sagen, es beneidet Sie mancher darum – das Kriegsgericht erklärt Sie für einen rechtschaffenen Offizier und nun seien Sie nicht närrisch!«
»Das war Zufall!« rief der »Fremde, »nach dem Recht des Krieges, ich weiß es, ist jeder Überläufer willkommen. Man fragt nicht, ob sie drüben im Begriff waren, ihn zu henken oder fortzujagen. Meine Herren, auf dieses Recht beruf' ich mich nicht vor Ihnen. Ich bin nicht Kavalier, aber man hat mich als Kavalier erzogen; nach dem strengsten Gesetz der Ehre bin ich gelehrt zu denken, nach diesem strengsten Gesetz ersuche ich Sie, mich zu richten. Nennen Sie es Grille, gut! Aber es ist eine Grille, die wie ein Krampf vom Wirbel bis zur Zehe mich packt, wenn ich denke, daß einer von Ihnen, ein einziger, mit dem leisesten Zweifel an meiner Ehre fortginge. Ich ertrage bei Gott nicht eine spöttische Miene. Hab' ich ein Recht aus der Tat, welche Sie so hoch anschlagen, auf Ihr Wohlwollen, so beweisen Sie es dadurch, daß Sie mich ruhig anhören, daß Sie streng meine Gründe prüfen. Es wird sich doch eine Stunde finden, die Männer von Ehre einem Offizier schenken, der seine Ehre verteidigen will.«
»Ich glaube, der junge Herr möchte sich am liebsten mit jedem von uns schlagen,« sagte der General.
»Die Ehre eines Offiziers muß so makellos sein wie die einer Jungfrau,« bemerkte der andere General, »wir sind daher, glaub' ich, unserem Landsmann die strengste Aufmerksamkeit schuldig.«
»Wer sich selbst einen Floh ins Ohr setzt,« sagte der ältere General, »mein' ich, könnte ihn nur allein wieder herausziehen. Der Junker, der nicht selbst Courage im Leibe hat, da können ihm zehn Präzeptoren und Informatoren sie nicht eintrichtern. So, meine Herren, stelle ich mir die Ehre vor. Es heißt zwar bei uns: sie geht vom König aus, aber allen Respekt vor Seiner Majestät, ich meine, sie steckt in jedem selbst, und ein Ehrengericht ist mir ein kurioses Ding.«
»Und wenn Prinz Eugen und General Schwerin seligen Andenkens vorsitzen,« warf Obrist Klippfisch beistimmend ein, »ich weiß nicht, wie die sie wieder anheften wollen an die Montur, so sie einmal aus dem Leibe heidi gegangen.«
»Nicht um meine Ehre auf wüstem Eilande nur, spreche ich Sie an,« sagte der Verwundete. »Um meine Ehre als Offizier vor Friedrich und Maria Theresia, vor Helden wie Sie, vor meinen Landsleuten und vor meinen Feinden.«
»Sie werden uns die Umstände herzählen,« sagte der zweite General, »welche Sie bewogen haben, und in uns die aufmerksamsten Zuhörer finden.«
»Tatsachen,« entgegnete der Ungar, »die man in Akten verzeichnen könnte, erwarten Sie nicht. Wem wird die Ehre erklärt, der sie nicht fühlt. Aber Männer, die ihren Wert fühlen, werden auch der Sprache ein Ohr leihen, die von diesem Gefühle zum Gefühle redet. Es war allein mein Ankläger, und von ihm allein will ich gerichtet sein.«
»Sie genossen Ihre Erziehung im Kaiserstaate?« lenkte der jüngere General ein.
»Es tut hier nichts zur Sache und wird Ihnen gleichgültig sein, wie der Zufall mich nach Österreich führte, wie ich demselben Zufall eine Erziehung verdankte, welche mich meinem Vaterlande und den Erinnerungen aus der Kindheit völlig entfremdete. Ein seltsamer Mann, mein Wohltäter, den ich schon im elterlichen Hause kennen gelernt, ließ mir diese Erziehung über meinen Stand geben. Aus der Militärakademie trat ich nach längeren Reisen an der Seite meines Gönners in aktiven Dienst. Es war vor dem Ausbruch dieses blutigen Krieges. In dem Könige von Preußen hatte ich nur einen wortbrüchigen Vasallen, einen ehrgeizigen Eroberer, einen Geist ohne Grundsätze kennen gelernt. Über den Ungrund seiner Ansprüche auf die schlesischen Fürstentümer hatte ich beim Schulexamen disputiert. Mit diesen Vorstellungen trat der junge Militär vor Maria Theresia, und, bei Gott, meine Herren, Maria Theresia ist eine Frau, deren Anblick von dieser Vorstellung nicht bekehrt! Wer diese Mutter ihres Volkes verraten kann, der verriet auch seinen Vater und verkaufte den Himmel. Ich wollte den Saum ihres Kleides küssen, sie reichte mir ihre Hand. Es fiel auf mich ein Strahl der Huld aus ihren schönen deutschen Augen. Wen die Kaiserin so anblickt, der hat kein Blut, oder weiht ihr den letzten Tropfen. Ich schwor es mir zu, und der formale Eid, den ich nachher dem Kapitän mit zehn anderen nachsprechen mußte, kam mir wie eine Entweihung des Schwures vor, der ohne Worte mich an sie band. Schreiben Sie meine lange Verblendung auf den Zauber jenes Augenblicks.
Ich zitierte vor Lust, den Mann im Felde zu sehen, den die blöde Welt, so hatte man mich denken gelehrt, als unüberwindlich ausschrie. Sehen wollte ich, ob er die Schlacht gewinnt, oder ob wir sie verlieren. Ich ward Offizier, allein ein Spott für meine jugendliche Kampflust, in einer slawonischen Grenzgarnison. Hier hatte ich die Aussicht, mit bosnischen Räubern mich herumzuschlagen, indessen meine Kameraden um Lorbeeren kämpften. Man glaubte hier mit der halben Welt, daß Friedrich der Angreifer sei, und doch wunderte es mich, wie man in Hütten und Schlössern des fernen, barbarischen Landes auf den Widerhall seiner ersten neuen Taten lauschte, wie eine verstohlene Freude aus den schwarzen, kleinen Augen blitzte beim Gerücht seiner ersten Siege. Es waren Protestanten, gute Untertanen; aber sie betrachteten den Sieg des großen protestantischen Königs wie einen für ihren eigenen bedrängten Glauben. Mir war es nie in den Sinn gekommen, den preußischen König so anzusehen. Und doch jede Nachricht vom Kriegsschauplatz rüttelte an meinem Vorurteil. Man erklärte uns heute offiziell, daß er nun ganz und unwiederbringlich verloren sei, und morgen schon hatte ein rascher Schlag seines Degens alle Berechnung zerstört, alle Voraussetzung umgeworfen; er stand, abschüttelnd Kummer und Bedrängnis, frei, unangetastet, wie vorhin, nur größer durch den neuen Ruhm! Man hütete sich, uns ahnen zu lassen, was der halben Welt klar geworden, daß Friedrich für das heiligste Recht der Selbsterhaltung focht. Aber der Glanz seiner Taten leuchtete so hell, daß selbst in den dunklen Schluchten Siebenbürgens sein Recht widerstrahlte.
Erst als nach der Schlacht von Prag, in deren Blutströmen Österreichs Sonne zu erlöschen schien, General Daun die letzten Truppen sammelte, rief man uns von der Grenze nach Böhmen. Der heiß ersehnte Tag kam heran. Von den Höhen von Kollin sah ich zum erstenmal das preußische Heer. Tausende und aber tausende Bajonette glänzten unter mir in der Sonne. Sie sangen Lieder, kochten ab, grasten, lehnten sich auf das Gewehr, als stände nichts Außerordentliches bevor, bis zum Troßknecht auf eines jeden Gesicht die trotzige Zuversicht: ›Friedrich kann nicht verlieren!‹ Und bei uns war's totenstill, die Bangigkeit der Erwartung, gepreßt jede Schildwache auf ihrem Posten, die Offiziere mit dem Fernrohr am Auge, ein losgerissenes Husarenpferd, die Trompete der Fouragiere bringt uns in Alarm. In jeder Miene konnte man lesen: ›Morgen werden wir geschlagen, trotz unserer Übermacht, trotz unserer festen Position, denn Friedrich steht unten.‹ Da, meine Herren, fühlte ich zum erstenmal einen Stolz, daß ich ein Preuße war.
Was fesselt den Sieg an die Degenspitze des einen? fragte ich mich hundertmal in der bangen Nacht. Der helle Schlachtruf der Preußen am grauenden Morgen schien mir zu antworten. Wie ihre Helden daherstürmten, ach, Helden, – von denen heute nur noch wenige sich am Licht der Sonne wärmen, – nichts achtend unsere steilen Anhöhen, nichts den Eisenhagel unserer Batterien, da belebte sie die Zuversicht auf den einen, ein Vertrauen, das noch nicht erschüttert, das fester als unsere Felsen war. Ein ganzes Volk klammerte sich um seinen König, auf den tausend und abertausend Bajonettspitzen schwebte der eine, dessen Name kräftiger war, als der blinkende Stahl und die gähnenden Feuerschlünde. Das hatte ich nicht erwartet; wo wuchs diese Liebe, wo kam diese Begeisterung her? Sie war nicht bei uns, wo doch eine Maria Theresia den ausziehenden Truppen zugelächelt hatte. Wie hatte dieser König, fragte ich mich, der nicht liebt und nicht hofft, einen Glauben geweckt, den er selbst nicht kannte. Aber da war er.
Die blutigste Schlacht war entbrannt. Der Felsboden unter unseren Füßen bebte vorm Donner des Geschützes, die Preußen nicht. Die Janitscharenmusik ihrer stürmenden Bataillone verkündete uns durch den dicken Pulverdampf jetzt wie sie unter uns herannahten, jetzt wie sie zurückgeworfen wurden. Die Trommel, die ich so oft gehört unter meines Vaters Hause, die Trompete, die die zersprengten Massen zusammenrief, mich schienen sie auch zu locken, zurückzurufen dahin, wo ich stehen mußte. Nie kamen mir die, in deren Reihen ich stand, so gleichgültig, so fremd vor, ich ärgerte mich über ihre ausdruckslosen Gesichter. Es zuckte mir durch die Adern. Vergebens. Die Musik schwieg. Meine Landsleute waren zurückgeworfen. Da marschierte ein kursächsisches Dragonerregiment unter uns auf. Größtenteils Selbstranzionierte von den bei Pirna gefangenen, die man unter preußische Regimenter gesteckt. Ein junger Offizier sprengte wie ein Rasender durch die Reihen, immer schreiend: ›Gebt keinen Pardon!‹ Zehn Schritte von mir redete er sie an und sein Pallasch funkelte im glühenden Sonnenstrahl: ›Brave Sachsen! denkt an euren gnädigen Landesherrn, an eures Vaters Hof, wo der Preuße wirtschaftet, an die schlechte Montur, die er euch auf den Leib zwang, und ein Schuft, wer dann Pardon gibt!‹ – ›Ein Hundsfott, wer gegen seinen Landesherrn ficht!‹ antworteten einige. ›Ein Hundsfott!‹ schrien alle, und das Dragonerregiment stürzte wie zehn gesammelte Bergströme nach einem Wolkenbruch hinunter. Sie wissen, welches entscheidende Gewicht die rächende Wut der Sachsen am Unglückstage von Kollin in die Kriegsschale warf.
Auch uns rief die wilde Fanfare hinab. Eingehüllt im Staubwirbel stürzten wir in die Karrees der noch stehenden Preußen, und ich tat nicht weniger, als ein Husar tun muß. Der Obrist lobte mich nachher vor der Front; ich weiß nicht, ob ich's verdiente. Ich dankte den schmetternden Trompeten, dem hallenden Donner des Geschützes, dem Mut meines Hengstes, der nicht zurückbleiben wollte, ich dankte dem besinnungslosen Taumel, der mich fortriß, und Sie, meine Herren, haben zu entscheiden, ob ich diesen Säbel, der teures, preußisches Blut getrunken, noch für Preußen schwingen darf.
Wir hatten gesiegt, aber wir konnten es noch nicht glauben.
Friedrichs Name schwebte über der rauchenden Wahlstatt, und konnte er nicht die Toten wieder aufwecken?«
Nach einer Pause hob der Redner wieder an. »Vergönnen Sie mir eines kleinen Umstandes zu gedenken, – er gehört in keinen Rapport, in keine Kriegsgeschichte, aber in meine Lebensgeschichte gehört er, wie das Auge zum Gesicht, es betrifft einen braven Kameraden von Ihnen, Sie wissen nichts von ihm; ich trage sein Testament und seinen Leichenstein bei mir. Noch stand hie und da ein Häuflein der alten Leibgarde; es wollte nicht fliehen, sich nicht gefangen geben; siegen konnte es auch nicht wollen, es dürstete nach dem Tode. Die sächsischen Dragoner hielten die Ährenlese. Eben gaben sie einem dieser zusammengeschmolzenen Karrees den Garaus. Es waren wenige Gefangene gemacht. Aus den Leichen ringsum schoß ein letzter Mann, ein Riese von Grenadier, noch die Muskete ab. Ein Offizier stürzte; doch rief man ihm zu, sich zu ergeben. Er biß die letzte Patrone ab, aber ehe er laden konnte, schlug ein Säbelhieb ihm in den Nacken. ›Ergib dich!‹ rief es nochmals; er wies die Zähne und stieß mit dem Bajonett und dem Kolben um sich. Ich kam hin, als ein Pallaschhieb ihn in die Seite traf. Er sank in die Knie, aber es schien, als wollte er auch noch im Sterben nicht auf dem treulosen Boden liegen. Auf eine Trommel gelehnt mit der Rechten, drückte er mit der Linken sein zerbrochenes Gewehr an sich. Ein Kreis untätiger Zuschauer hatte sich in unwillkürlicher Bewunderung um den Tapferen gesammelt. Der grimmige Sachse, noch im letzten Kampfe in den Schenkel gestoßen, wischte fluchend seinen blutenden Pallasch ab: ›So straf mich Gott!‹ rief der wütende Dragoner, ›soll er meinem Kurfürsten und König noch ein Vivat bringen! Ich habe auch seinem König zugerufen, denn der Korporal schrie bis ich schrie. Schrei nun auch Vivat Augustus!‹ Der Preuße streckte die Hand nach einer Feldflasche aus. Man gab sie ihm. Er strich den Bart zurück, triefend von Schweiß und Blut, richtete sich noch einmal auf, tat einen tiefen Zug, seine dunklen Augen glänzten, und als wäre die Brust noch frisch, rief er: ›Vivat mein König Fridericus!‹ Er sank um, den Kopf auf die Trommel. Der Reiter war außer sich. Er schrie dem Sterbenden ins Ohr; ›Du Tor, mit deinem Friedrich ist's aus, das Blättlein dreht sich, und wir sind obenauf.‹ – Der Grenadier schlug noch einmal die Augen auf, ich glaubte ein Lächeln um seinen wilden Mund zu lesen. Er horchte auf etwas und nickte mit dem Kopf. In weiter Ferne hob die preußische Feldmusik wieder an, Friedrich sammelte die Reste der Armee zu dem bewunderungswürdigen Rückzug, und der Grenadier wies mit dem schwachen Arm triumphierend dahin. ›Er wird wiederkehren‹, stand in seinem brechenden Auge geschrieben, so starb er. Und es war nicht einmal ein geborener Preuße! Er war von den großen Ausländern, vielleicht mit Gewalt zum Dienst gepreßt. Was gab dem Menschen den Mut, die Begeisterung, dieses freudige Vertrauen im Tode? Keine ererbten Gefühle heiligten die Sache, für die er starb, kein irdischer Vorteil, denn das nahm er mit sich! Aussicht auf Unsterblichkeit war es auch nicht, denn eingescharrt unter böhmischer Erde, wer erzählt von dem einen Grenadier, weiß doch niemand seinen dunklen Namen! Friedrich hatte ihm vielleicht einmal zugenickt, vielleicht ihm auf die Schulter geklopft, ihn angeblickt, und seine Miene hatte gesagt: ›Ich kenne dich.‹ Wenn das Friedrichs Blick, was war dann Friedrich selbst? so fragte ich mich; Friedrich war bei Kollin geschlagen, aber für mich war er seitdem der Unüberwindliche!
Ich sollte Gefangene eskortieren. Ihre trotzigen Blicke, ihre blutigen staubbedeckten Stirnen schalten mich Verräter. Wenn sie mürrisch, schweigend des Weges zogen oder ihre wilden Soldatenlieder anstimmten, mir kamen sie wie die Sieger vor, und ich war der Überwundene. O meine Herren, keinem Gefangenen konnte ich seitdem ins Auge sehen, ohne daß meine Wangen sich hochrot färbten; ich dachte es müßte auf meiner Stirn geschrieben stehen: ›Ich bin auch ein Preuße!‹ Ich konnte das Wort Deserteur nicht hören, ich dachte, man meine mich. Die Uniform, so reich geschmückt durch die Großmut meines Wohltäters, einst meine kindische Lust, drückte mich auf dem Leibe, jeden Tag mehr; unsere Feldmusik erhob nicht mehr meine Gefühle. Wenn der Abendwind über die Wälder rauschte, wenn der böhmische Hirt auf der Flöte blies, hörte ich Melodien vaterländischer Lieder; sie rauschten und sie flöteten den preußischen Marsch, ich hörte Trommel und Trompete aus weiter Ferne und sie lockten und riefen mich zurück. Mein Entschluß war gefaßt.
Der Wohltäter, dessen ich schon erwähnte, hatte ein Recht über mich. Was ich geworden, verdankte ich ihm allein; noch mehr hatte ich von ihm zu erwarten, denn er hatte die Absicht blicken lassen, mich zu adoptieren. Ich unterrichtete ihn von meinem Zweifel, meiner veränderten Gesinnung, von meinem gefaßten Entschlusse, ich bat ihn, mir beim Hofkriegsrat den Abschied auszuwirken. In meiner Begeisterung hatte ich den unerbittlichen Haß des wunderlichen Mannes gegen Friedrich zu gering angeschlagen, ich hatte geglaubt, den Rausch, der mich fortriß, müsse jeder teilen, der es mit mir gut meint. ›Meinen Fluch, schrieb mir der hitzige Mann auf der Stelle zurück, dem Deserteur, Enterbung dem Verräter; an den Galgen das feige Gesuch um Abschied während der Kampagne.‹ Gleich hinter dem Briefe kam er selbst mit Kurierpferden, und beschwor mich mit allen Ausdrücken väterlicher Zärtlichkeit von meinem Vorhaben abzustehen. Aber nur die Vorstellung des Fleckens, der auf meiner Ehre haften bliebe, konnte mich damals noch unter den tausend Gründen, die seine beredte Zunge vorbrachte, bewegen, nicht zur Rücknahme, nur zum Aufschub meines Vorsatzes.
Mit blutendem Herzen tat ich meine Pflicht, während der vorjährigen Kampagne. Aber im Winterquartier, unter Bitten und Drohungen meines einflußreichen Gönners, schrieb ich um meine Entlassung. Er frohlockte, als der abschlägige Bescheid einkam. Unermüdlich in seinen Gründen, wie unüberwindbar in seinem Haß gegen Preußens König, bewies er mir, daß die Zurücksetzungen in Friedrichs Armee, die Willkür seiner Gunstbezeugungen drückend sei für jeden Mann von Ehre.«
»War Ihr Gönner in österreichischen Diensten?« fragte der zweite General.
»Er war nie Militär,« entgegnete der Gefragte. »Erlauben Sie mir, über die anderen Verhältnisse des Sonderlings zu schweigen, denn ich bin ihm vielen Dank schuldig. Antwortete ich ihm, dies könne den geborenen Untertan nicht von seiner Pflicht zurückhalten, mußte ich hundertfältig hören: Friedrich begünstige nur die Ausländer. Ihre Namen, meine Herren, beweisen mir das Gegenteil. Aber wäre es auch, keine Anerkennung, kein Blick des Dankes zu erwarten, gibt es denn ein stolzeres Gefühl, als für seinen König sein Blut zu verspritzen, auch für einen König, der es uns nicht lohnt, für einen König, nicht wie die hundert aus Karten geschnitzt, in Kartenrahmen thronend, nein für einen Friedrich, der, was er ist, durch sich ist, den Stolz der Welt, den Prometheus seines Volkes, den König des Jahrhunderts! – Noch ein zweites Jahr mußte ich gegen mein Vaterland im Felde stehen. Ein zweites dringenderes Gesuch wurde zum zweitenmal in strengeren Ausdrücken abgewiesen. Ich war überzeugt, mein Gönner war dabei im Spiel. So verbarg ich es ihm, als ich zum drittenmal einkam, entschieden, wie auch die Antwort ausfalle. – Als geborener Preuße kündigte ich der Kaiserin den Dienst bis zu der bestimmten Frist, wo der Bescheid des Hofkriegsrats eingehen konnte. Sie mochten mir den Degen abfordern, mich auf die Festung setzen, ich war auf den schlimmsten Fall gefaßt. Von dem Moment an war mein Eid gelöst, ich quittierte den Dienst, und mochten sie mich kassieren, infam kassieren, bei mir war meine Ehre gerettet.
Vorgestern um Mitternacht lief die Frist ab. Mein Pferd stand schon gesattelt, der Brief an meinen Kommandeur war geschrieben, dem nächstfolgenden Offizier das Kommando übergeben. Ich war nicht mehr österreichischer Soldat, und eben trennte ich das kaiserliche Feldzeichen ab, als ein Husar, ein Kurier, mir einen Zettel des Marquis überbrachte. Mein seltsamer Wohltäter, befangen in wunderlichen Vorurteilen, schob meiner Verwandlung keinen anderen Grund unter, als weil ich einige Male beim Avanzement übergangen war! Nun zeige sich eine solche Gelegenheit, schrieb er mir, die mein Glück mache, mir einen unsterblichen Namen sichere. Was der Brief ferner enthielt, wissen Sie, es galt, Friedrichs Freiheit, sein Leben, von einem Atemzug hing er ab. Er forderte mich zur Eile auf, ehe mir ein anderer zuvorkäme; ich dankte seinem Rat und was geschehen ist, wissen Sie.
Nun richten Sie, meine Herren, streng nach dem Ehrengesetze, das in Ihrer Brust geschrieben steht und im Kriege gilt. Kein Mitleid, keine Gunst wegen des letzten Vorfalls. Auch wenn ich nicht Ihrem großen Könige den kleinen Dienst leisten können, wäre ich doch übergegangen.
Friedrich hat mich einen Überläufer genannt. War das sein Ernst? Habe ich meinen Schwur gebrochen ohne Fug und Recht, wie ein leichtsinniger Vagabund, hatte ich kein heiliges Recht in der Brust, den fremden Dienst zu quittieren, kein Recht zurückzukehren unter die Fahnen meines angeborenen Königs, in den Dienst meines Vaterlandes? Darüber entscheiden Sie.« –
Der ermüdete Redner wollte zurücktreten, als wie auf einen Wink sich alle Richter erhoben. Der vorsitzende General ergriff seine Hand und drückte ihn an die Brust:
»Ich wollte den kaiserlichen Offizier sehen, der jetzt sagen könnte, Sie hätten nicht wie ein braver Kerl gehandelt.«
»Gewiß, gewiß!« murmelten die anderen.
Der zweite General hatte ihm die Hand geschüttelt: »Der König ward so oft hintergangen, um nicht mißtrauisch zu sein. Es sind Äußerungen, an die man sich gewöhnen muß. Überlassen Sie mir, Seiner Majestät die Sache vorzutragen, es soll noch heute nachmittag geschehen, und ich stehe Ihnen dafür, er schilt Sie nicht zum zweitenmal Überläufer.«
»Ich freue mich,« sagte der Graf, sich zu dem Freigesprochenen durchdrängend und seine Hand ergreifend, »daß ich der erste Zeuge Ihrer preußischen Gesinnung wurde.«
»Daß ich sie bald, den Degen in der Hand, bewähren könnte!«
»Nein,« erklärte jetzt der Vorsitzende, »den Säbel, mit dem Sie bei Kollin in unsere Garde einhieben, müssen Sie eintauschen. Herr Rittmeister, hängen Sie unserem wiedergewonnenen Landsmann den Ihrigen an. In Ihrer Hand die österreichische Klinge und kein Verdacht hat Raum.«
Es geschah, wie der General andeutete, und der Rittmeister drückte dem Fremden die Hand.
»Nun bleibt nur noch, daß Sie uns ihren preußischen Namen nennen. Ich muß wissen, wie ich unsern Landsmann dem Könige vorstelle.«
»Vergeben Sie,« entgegnete der Offizier dem freundlichen General. »Der Name ist so unbedeutend, daß er gar nichts tut. Zudem weiß ich nicht, ob mein Vater in Berlin ihn mir noch zu führen erlaubt. Im elterlichen Hause rief man mich – da meine Mutter eine Französin war, – Etienne – im slavonischen Regiment taufte man dies in Stephanek um. Vergönnen Sie mir, das Slavonische ins Deutsche zurück zu übersetzen, und nennen Sie mich, bis ich erfahre, auf welchen anderen Namen ich ein Recht habe, Stephan.«