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Siebentes Kapitel.
Spießruten

Der Offizier durchkämpfte zwischen Schlaf und Wachen eine unruhige Nacht. Nie hatten so liebliche und nie so wilde Träume um sein Feldbett gegaukelt. Jene wurden bald verdrängt; er träumte seine Erziehung durch. Alle rauhen Auftritte in seines Vaters Hause traten nach der Reihe ihm vor die Seele, alle Schläge, die er empfangen oder austeilen gesehen, klangen ihm ins Ohr; blutige Striemen, verzerrte Gesichter, kreischende Stimmen, ein buntes Gewirr widerwärtiger Erinnerungen und Ahnungen – es übermannte ihn, er sprang auf, riß die Fensterflügel auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen.

»Ein Soldat Friedrichs darf nicht träumen.«

Durch den Morgennebel eines heiteren Oktobertages drang von Osten wärmend der erste Sonnenstrahl. Er eilte hinaus. Im Korridor des Souterrains begegnete ihm das Fräulein, beide schienen betroffen über die frühe Begegnung; rings im Schlosse war es noch totenstill. Stephan zeigte auf die anmutige Beleuchtung der herbstlichen Baumwipfel. Amelie, schneller zu ihrer gewöhnlichen Laune zurückgekehrt, fragte seine Hand fassend:

»Ist das frühe Aufstehen eine preußische oder österreichische Sitte?«

Er sprach etwas, daß sie in der ganzen Welt herrschen sollte, von den Reizen der Landschaft in der Morgenbeleuchtung und meinte, ein so frischer Anblick müsse auch für den verdrossensten Schläfer belohnend sein.

»Geben Sie sich keine Mühe; lieber Freund,« sagte sie hell auflachend, »wir können das alle Tage sehen. Es fehlte noch, daß Sie vom Lerchentrillern und Nachtigallflöten redeten; sparen Sie's lieber auf für eine empfindsame Gesellschaft, wenn Sie's anders für schicklich halten, daß ein Husarenleutnant sich damit interessant macht. Wir leben hier mit und nach der Natur, das heißt nicht, daß uns die Augen übergehen, wenn wir ein Gänseblümchen sehen, auch ein Vergißmeinnicht erpreßt uns keinen Seufzer, aber wir zieren uns nicht und reden nicht von Dingen, die uns nicht interessieren, das nennen wir unsere Natur. Wir meinen zum Exempel, daß der Schlaf eine sehr gute und ein Sonnenaufgang eine sehr langweilige Sache ist, und wenn ein junger schöner Leutnant freiwillig um die Zeit aus den Federn springt, um sich im Freien zu erlaufen, daß ihn ein Floh oder der Gott Cupido nicht schlafen ließ.«

»Gern will ich,« sagte er, »es der Eingebung des losen Gottes zuschreiben, da er mir beim ersten Schritt etwas so Schönes begegnen ließ.«

Sie nickte beifällig: »Ist's auch nicht wahr, so klingt's doch artig. Aber kommen Sie ins Freie, hier ist's kalt und draußen wärmt schon die Sonne. Sie haben wohl die Güte und fahren ein andermal fort, wenn wir beide mehr Zeit haben. Jetzt hab' ich Ihnen einen kleinen Lohn im voraus zugedacht.«

Sie gingen durch die Parkallee. Er hatte das Fräulein niemals schön gefunden: aber ihre Augensprache, der schalkhafte Ton ihrer Stimme, die Grazie ihrer Bewegungen, wurde heut durch einen Hauch – von Freude oder Erwartung – der die ausdrucksvollen Züge ihres blassen Gesichtes rötete, unterstützt, er lieh ihr von den Reizen, welche die Natur ihr versagt hatte. Das Morgennegligé verhüllte nicht ganz die Formen ihrer schönen Gestalt. Sie gingen Hand in Hand, schweigend neben einander. Seine zitterte in der ihrigen. Er war sich ein Rätsel. Auf die Blicke, die sie schelmisch aus ihren dunklen schwarzen Augen zu ihm hinaufschickte, wußte er nicht zu antworten, der Druck ihrer Hand wurde nicht schwächer. Er hätte ebenso gern von der Natur gesprochen, wie vom Exerzierreglement und der preußischen Taktik.

»Wie ungerecht die Natur zwischen Männern und Frauen teilte,« hob sie, wie seiner sich erbarmend, nach einer Weile an. »Wir möchten reden und wir dürfen nicht, Ihnen ist es erlaubt und Sie haben nicht das Herz dazu.«

»Das Herz, mein Fräulein, ist ein wunderliches Ding.«

»O, vertiefen Sie sich nicht in metaphysische Erörterungen, meine Meinung ist ganz einfach: Sie sind zu blöde.«

»Man prüft doch zuvor – sich und den Gegenstand.«

»Wem die Natur einen so interessanten Blick gegeben, brauchte niemals zu prüfen. Es ist eine Schande, daß ein Husarenoffizier noch solche Lektionen empfangen muß. Ich beteure es Ihnen, Sie gewinnen selbst nichts durch Blödigkeit und anderen bereiten Sie nur Langeweile. Niemand muß den Augenblick verlieren, besonders ein Soldat, aber ein Mann wie Sie, der so viel Redens von sich gemacht, am wenigsten, er ist seines Sieges gewiß, überall, lieber Freund! Und wie steht Ihnen die ungarische Uniform; benutzen Sie, Liebster, die Minuten, denn die schwarzen Husaren sind hier nichts Apartes.«

Sie waren an einen verschlungenen Seitenweg gekommen und Ameliens Fuß bog ein. Er ergriff halb wie aus Pflicht ihre Hand und drückte sie an den Mund. Die Hand war widerstandslos, die schwarzen Korallenaugen schielten fragend zu ihm auf, ein Seufzer hob die Brust und sie wandte sich um. Es war ihm, als stocke sein Blut, die Lippen wären regungslos und er selbst einer Verwandlung in Stein nahe, als es ihn zwang, er wußte nicht was, nicht Lust, nicht Freude, aber er durfte nicht weilen und sein Fuß wollte ihr folgen. Da plötzlich, mit der heitersten Miene, wandte sie sich um und hielt ihm den Finger pathetisch drohend entgegen.

»Halt!« rief sie auflachend. »Das ist mein Weg, Ihrer geht gerad aus. – Ich danke Ihnen, lieber Leutnant, daß Sie sich gezwungen, etwas artig gegen mich zu sein. Es hat Ihnen viel Mühe gekostet, ich weiß es wohl, aber ich bin nicht undankbar. Dort oben in der Laube sitzt jemand, den's heute auch schon früh aus dem Bett getrieben. Rasch dahin, denken Sie an meine Lektion. Adieu!«

Sie war verschwunden und er auf dem Wege nach der Laube. Aber noch einmal rief sie ihn zurück. Amelie stand seitwärts an der Hecke und ergriff seine Hand, ihn zu sich ziehend.

»Fürchten Sie, Bester, nichts für Ihre Tugend; nur noch eine kleine Lektion, die ich Ihnen auf den Weg geben will. Aber allen Ernstes. Sie sind ein Hitzkopf, ein Rechthaber im Ehrenpunkte, ein Grübler, ein Phantast, es kocht in Ihnen auf, wenn's heißt, die Ehre ist im Spiel, und leider ist meine kluge Kousine in dem Punkte ebenso kitzlich. Das aber paßt ganz und gar nicht zwischen Leuten, die Lust haben sich ordentlich zu verlieben. Wer liebt, muß sich selbst vergessen, und das fatale Point d'honneur mit; mit Damen schießt man sich nicht, man gibt Ihnen immer recht. – O, halten Sie das nicht für überflüssiges Gewäsch, ich kenne Sie und weiß, Sie sind imstande, und überwerfen sich mit ihr im Augenblick, wo Sie ihr um den Hals fallen sollten, über den Papst, ob er ein Recht hat, eine Nachtmütze zu tragen oder nicht. Seien Sie klug und nochmals adieu! und – seien Sie klug!«

Mit beflügeltem Schritt ging Stephan auf die Laube zu, aber als er näher kam, wollten die Füße nicht weiter. Zehn Schritt davon und es war ihm, als müsse er wieder umkehren. Er hätte etwas darum gegeben, wenn die Szene mit dem Fräulein nicht vorhergegangen wäre. Er dünkte sich nicht würdig, vor die Gräfin zu treten.

Schwankend hielt er am Eingang, da klirrte sein Säbel, sie hatte ihn bemerkt und er stand vor ihr. Es war nicht mehr ungewöhnlich früh. Die Sonne, aus dem Morgennebel emporgestiegen, durchwärmte die herbstlich heitere Luft – über dem Wiesengrunde, den sie von der Terrasse übersahen. War es der Sonnenschein oder die Überraschung, welche einen Purpur über Eugeniens Wangen ausgoß? Schön, aufgeregt hatte er sie schon gesehen, aber nie so mild. Sie warf die Stirn nicht gleich wieder in die Falten des Nachdenkens, um die Lippen schwebte nicht wieder der Zug spöttischen Trübsinns, und ihr Auge zwang sich nicht gleich wieder, wie die Freundlichkeit bereuend, zum Ausdruck von Gleichgültigkeit. Selbst ihre Stimme hatte einen heiteren Klang. Sie hieß ihn willkommen, und es sagte ihm alles, daß er willkommen war.

Es tat ihm wohl, sie nicht beim Buch zu finden. Sie hielt eine Arbeit in der Hand. Das erste Gespräch war einsilbig, sie sprachen nicht, was sie dachten, und schwiegen, aber es war ein seliges Schweigen. Amelie war ihm in dem Augenblick in der Seele zuwider. Beide sahen auf die Landschaft; aus dem zerfließenden Nebel glänzten die Wasserbäche hervor; verspätete Zugvögel strichen darüber hin. Es war eine gewöhnliche Landschaft, aber mit ihm sahen darauf zwei Augen aus einem Gesichte, durchglüht vom Morgenhauche, und die Landschaft wurde ein Eden. Die Laube, in der sie saßen, wurde grün trotz dem Oktobergelb, Blüten, Trauben, Früchte schossen vor, Singvögel zwitscherten, der Boden war nicht fest. Es drehte sich alles mit ihm, je länger er hinsah. Er wollte nach ihrer Hand fassen, die nachlässig auf dem Tische lag, wie um sich zu halten. Doch jetzt wandte sie den Kopf und sah ihn an. Es lag noch ein Zauber in ihren Blicken, der Zauber der Ruhe, der Seligkeit. Wie sollte der Zauber sich nicht mitteilen? Ihr weißes Kleid, auf dem das Morgenlicht belebend aber nicht verführend spielte, umhüllte sittsam die schöne Gestalt. Der Friede, dort strahlend, kehrte auch zu ihm ein. Ihm ward auch so ruhig, so still, so heilig zu Mute. Es hätte ihn Frevel gedünkt, jetzt nur ihre Fingerspitzen anzufassen, nur den Saum ihres Kleides zu berühren.

»Es ist mir lieb, daß Sie kommen,« begann Eugenie wieder mit ihrem klaren, ruhigen Tone, »ich habe Sie gewissermaßen erwartet. Ihre Geschichte, ich gestehe es Ihnen, hat mich gerührt, aber es blieben mir einige Zweifel, nach denen Ihre Generale nicht gefragt haben. Forschten denn Ihre Eltern Ihnen niemals nach? Haben Sie niemals von ihnen Nachrichten empfangen? Daß Sie einmal davon gelaufen sind, ist nichts Wunderbares, aber Sie vergeben mir, mein Freund, mich quält es, wie es möglich, daß in achtzehn Jahren weder von Ihren Eltern, noch von Ihrer Seite etwas geschehen ist, sich wieder näher zu kommen. Leben sie denn noch?«

»Sie leben.«

»Das wußten Sie, und nie in so langer Zeit zog es Sie hin, Ihrer Mutter in die Arme zu stürzen?«

Hatte schon die äußere Erscheinung, der Ton ihrer Stimme seine Aufregung beschwichtigt, das angeregte Gespräch drängte die Gefühle zurück, mit denen er die Laube betreten, um anderen Platz zu machen. Ihr Gedanke war bei ihm gewesen, und sie scheute sich nicht es auszusprechen. Noch blickte er in ihr großes, ruhiges Auge und las rege, aufrichtige Teilnahme. Ihr, wie sie ihn hell ansah, hätte er die ganze Seele aufschließen, alles beichten mögen, was ihn bewegt hatte und bewegte. Er war gewiß, auch das Kleinste wurde gütig aufgenommen.

»Sie wecken schmerzliche Erinnerungen, Komtesse.«

»Wenn es Ihnen wohltut, sie mitzuteilen, Sie finden eine aufmerksame Zuhörerin.«

»Wohl tausendmal,« sagte er, »drängte es mich hin, zu der teuersten, besten Mutter zurück. Aber ich hatte auch einen Vater.«

»Was war Ihr Vater, was hat er Ihnen getan? Die Furcht eines Kindes sollte achtzehn Jahre dauern?«

»In neun Jahren wußte der Mann keinen Funken Liebe bei mir zu wecken, und ich war ein Kind und empfänglich für Liebe. So unnatürlich es klingt, es ist nun eine halbe Ewigkeit, daß ich ihn nicht gesehen, und es ist mir noch heute bang zumute, wenn ich an ihn denke. Er war immer für uns Kinder ein Knecht Ruprecht. Ich stell' ihn mir heut nicht anders vor als den steinernen Roland, mit den unveränderlichen Gesichtszügen und die Strafrute in der Hand.«

»Er war vielleicht besser als er scheinen wollte,« sagte die Gräfin.

»Zudem wollte eine seltsame Fügung,« fuhr Stephan fort, »daß ein zweiter Vater mir so vollständig den ersten ersetzen sollte, daß jener, selbst bei mehr Güte in den Schatten getreten wäre. Mein Wohltäter war in allem das Widerspiel meines Vaters. War jener ernst, unerbittlich, immer derselbe, so konnte man von diesem sagen, daß er jeden Moment ein anderer war. Doch trotz aller Eigenheiten, die aus einem bizarren Charakter hervorgingen, mußte seine großmütige Teilnahme, seine Herzensgüte, seine Wärme und Empfänglichkeit den Sinn des Knaben ganz gewinnen.«

»Das Schicksal hat wunderbar mit Ihnen gespielt. Wie kamen Sie zu ihm?«

»Der entlaufene Knabe irrte durch den tiefen Sand einer der traurigen Kieferheiden, welche die Mark von Sachsen trennen. Die Mittagshitze brannte auf den Hungernden und Durstenden, er hatte den Weg, den Mut und den Entschluß verloren. Er wäre gern zurückgekehrt und dachte in dem Heidekraut zu verschmachten, in das er sich weinend geworfen, denn ringsum in der öden Gegend mit ihren spurlosen Holzwegen zeigte sich kein lebendes Wesen. Da, wie ich schon glaube, der Tod rufe mich, knarren die Räder eines stattlichen Reisewagens, ein Postzug von Sachsen hat sich so gut wie ich in den Sandwegen verirrt, und der Herr im Wagen, welcher mich für einen Schäferknaben hält, den er nach der Richtung fragen will, ist mir eine wohlbekannte Respektsperson aus meiner Eltern Hause und kommt geradeswegs dorther. Ich weiß nicht, wessen Freude bei der Wiedererkennung größer war. Er nannte mich seinen Sohn und herzte und küßte mich, was mir so wenig in den Sinn wollte, daß ich es noch immer für Täuschung, für einen Traumzustand hielt, zu dem die totenstille Mittagseinsamkeit der Kieferheide und der dampfende Harzgeruch ganz paßte.«

»Führte Sie der Mann nicht zurück?« unterbrach ihn die Gräfin.

»Ich erwartete es, ich bat ihn schluchzend, ein Wort für mich einzulegen, denn, mit meinen Eltern vertraut, wohl auch ihr Wohltäter, übte seine Gegenwart allemal einen milden Einfluß auf die Strenge im elterlichen Hause. Er schalt mich zwar und sagte, ich habe einen dummen Streich begangen, da er bald nach meinem Fortgehen ins Haus gekommen, und alles ausgeglichen hätte. Als ich aber nun vom Rückkehren sprach, sagte er, es sei Gottes Fingerzeig, daß ich davongelaufen und nun möchte ich nur weiter laufen.«

»Seltsam!«

»Es war alles seltsam an meinem Wohltäter. Ich beruhigte mich sehr bald, als er mir versprach, mich in eine Erziehungsanstalt im Kaiserstaate zu bringen, wo die Eleven keine Schläge bekämen, und ich zu meinem schönen Tressenkleide vielleicht einen Degen erhalten könne, etwas das von meinem Vater mir einst versagt, nicht wenig mich zu Hause gekränkt hat.«

»Aber der Galanteriedegen konnte Sie unmöglich trösten, als die Jahre kamen, wo der Geist reifte. Weckten die Erinnerungen keine Sehnsucht?«

»Meine neue Erziehung war nicht geeignet, diese Erinnerungen zu wecken. Mildere, gefälligere Lehrer prägten mir Grundsätze und Ansichten ein, nach denen ich in meines Vaters Hause wie nach verbotenem Gute geschmachtet. Die herben Tugenden der Entsagung, der trübe Ernst des Lebens, das Gebot, im Schweiße des Angesichts zu arbeiten, um nicht zu genießen, zu schaffen und doch nicht zu erwerben, Regeln auf eiserne Tafeln geschrieben, auf die in meines Vaters Hause meine finsteren Erzieher hinwiesen, hörten hier auf, ehrwürdige Grundsätze zu sein. Die Männer, die man immer mir als Muster der Nacheiferung genannt, würdige Schulmänner, gelehrte Theologen mit langen Perücken, der und jener Jurist, über dessen rigidem Gesichte nie ein Lächeln geschwebt, sie kannte man hier nicht einmal dem Namen nach. Erwähnte ich einen, und daß er das und das getan, so lächelten meine Lehrer sehr freundlich und bedauerten die preußischen Kinder, daß man sie so sehr quälte. Und in der Tat, man verstand es im Jesuitenkollegium, das Lernen und Lehren angenehm zu machen.«

»Ich zweifle nicht,« erwiderte Eugenie, »daß die Erziehung der Jesuiten dem Knaben angenehmer war, als die herbe protestantische. Aber Sie wurden Jüngling. Gefühl und Verstand wurden frei. Daß da nicht die Sehnsucht nach dem Vaterhause, nach der Mutter erwachte!«

»Die Liebe, sagt man, spinnt einen Zauberkreis um den Gefangenen. Ach, Komtesse, die traurige Macht der Gewohnheit tut dasselbe. Es ging mir wohl, mein neuer Vater sagte mir, man sei in Berlin damit einverstanden, daß ich in Österreich erzogen würde, und die Briefe, die er mir von meiner Mutter brachte, bestätigten das. Sie schrieb, ich sollte in allem dem Willen meines Wohltäters folgen, Gott vertrauen, der alles zum Besten fügen werde, und wenn es dessen Wille sei, würden wir uns wiedersehen. Ein frommes, ergebenes Gemüt, stark durch ihr Vertrauen bei allen harten Schlägen des Schicksals; so war meine Mutter: ich hätte für sie mein Leben gelassen. Daß der Mann aber zu mehr da ist, als über sich ergehen zu lassen, was über ihn verhängt ist, ich hätte mich vergebens bemüht, es ihr begreiflich zu machen. Wir hätten uns nicht verstanden, vielleicht hätte ich ihr mehr Kummer bereitet durch meine Anwesenheit, als abwesend. Jetzt hatte es Gott so gefügt, und damit war sie, glaube ich, zufrieden. – Meinem kindischen Geiste schwebte eine andere Mutter vor, und die lebendigste Sehnsucht trieb mich, diese zu sehen. Es war die Mutter eines ganzen Volkes: Maria Theresia! Unter ihr dachte ich mir alles Schöne und Edle, ja, wenn Sie es so nennen wollen, ich war in die Kaiserin verliebt, ehe ich sie gesehen und vielleicht noch lange, nachdem ich sie gesehen.«

»Bis mit unbewußter Macht das Vaterlandsgefühl Sie überkam,« sagte die Gräfin. »Es war ein Blitzstrahl, der durch Ihre Seele zuckte.«

»Und der Moment entschied, meinen Sie. Doch nicht ganz so schnell, Gnädigste,« sagte lächelnd der Offizier. »Dem Momente sein Recht, aber der Überlegung nicht minder.«

»So haben Sie die Generale zum besten gehabt,« fuhr Eugenie rasch auf.

»Ich habe nur versucht, was mich bewegte, in die Sprache zu übersetzen, die ihnen verständlicher sein mußte.«

»Sie haben sich am Schreibtisch bewiesen, daß Preußen mehr Recht hat als Österreich?«

»Studiert, Gnädigste, habe ich allerdings – die Geschichte meines Volkes. Nicht mehr blind für die Züge aufopfernden Heldenmutes, vertrauensvoller Ergebung meiner Landsleute, tauchte nun allmählich aus dunkler Erinnerung alles hervor, was man mir Erhebendes und Edles von den Vorfahren unserer Fürsten erzählt. Die glänzenden Beispiele des Altertums erbleichten gegen das jüngst Erlebte. Der Name Preuße berauschte mich. Mir wurde alles groß, bedeutungsvoll in einem Volke, das zum Selbstbewußtsein erwacht war.«

Eugenie schwieg: ein schmerzlicher Zug schwebte um die Lippen, als ihr Auge den Boden suchte. Doch eine Bewegung deutete Stephan an, daß er fortfahren möchte.

»In Friedrich war Preußen aufgegangen, es fühlte zuerst, daß es war, und das fühlte ich mit. Friedrich ist die Sonne, die nach langer Nacht aufging, er ist der Brennpunkt, in den alle Strahlen der Zeit zusammenschießen, um in ihm ein neues helleres Licht über die Welt auszustrahlen. Das wird dringen durch die Dünste der Klosterzellen, den Staub der Kanzleien und Schulstuben, durch die Läden der Zünfte, durch die hohen Kursäle; scheinen wird es in die dunklen Kirchen, daß die frommen blinden Seelen ächzen, das Flickwerk des Vorurteils wird gegen die Sonne gehalten, ein Kinderspott werden. Das Gewürm in den Morästen sich winden und krümmen, die fett geworden durch Furcht und Dummheit, werden die Fäuste gegen den Himmel ausstrecken, die Wolken anrufen und die Sonne, daß sie wieder finster werde. Aber es hilft nichts. Friedrich ist ein Mensch von Fleisch und Bein. Stahl und Gift kann den Elementen wiedergeben, was aus ihnen hervorging, aber was ewig in ihm ist, lebt auch ewig. Das bekehrte mich, das bezaubert die Welt, das kettet den Sieg an seine Schritte, Friedrich ist die Aufklärung.«

Die Gräfin zog ihr Umschlagetuch um den Hals. Ihre Augen, die vorhin auf den Lippen des Erzählers geschwebt, hatten schon lange unbeweglich hinausgestarrt. Sie stand rasch auf. »Es wird kalt.«

»Beleidigte Sie der Gedanke?« rief der Offizier, ihrer Bewegung folgend.

»Nein! Ich fragte mich nur, wer so rasch handelt, wie der so klug denken kann?«

»Es ist das Jahrhundert des Denkens, und wir sind Deutsche.«

»Sie mögen recht haben. Ich dachte mir Ihren König nie anders, als wir alle ihn uns denken. Ich habe ihn liebgewonnen mit der wohlbekannten Uniform, mit dem spitzen Hute, mit dem Stock in der Hand, da machen Sie aus dem Mann einen Gedanken. Der Gedanke mag recht schön sein, aber ich kann mich nicht daran gewöhnen.«

Sie machte Miene, die Laube zu verlassen. Aber noch einmal sah sie ihn fast wehmütig an.

»Lügen Sie sich doch nicht selbst was vor. Was dachten Sie an Welt und Aufklärung, als es Sie zu ihm trieb.«

»Beim Himmel –«

»Der hat nichts damit zu tun!«

»Wer an den Tafeln der Dummheit übersättigt wurde, der lernt die Aufklärung schätzen.«

»Und wer unter nüchterner Klugheit groß wurde, sehnt sich von Herzen dahin, wo sie noch nicht denken und dafür Männer sind.«

»Wohlan, Gräfin, ich liebe auch den Mann in Friedrich, den Mann, der sich selbst genug ist. Was fragt er umher, was sie von ihm denken, was nach den Regeln für die Kinderjahre der Menschheit? Er ist der Geist, der sich selbst die Gesetze gibt, in sich fühlt das Höchste wie das Tiefste. So fand er die Welt, ihre Ordnung gefiel ihm nicht; er gibt ihr eine neuere, er drückt ihr seinen Stempel auf und der Titan fragt in die Wolken, wer was dagegen hat? Dieser kecke, unverzagte Geist, der stolz auf sich selbst dasteht, zu dem das Gefühl mich reißt, den meine Vernunft anbetet, dieser Friedrich ist mein Gott, weil er sich selbst Gott ist.«

Schon seit länger waren Trommelschläge vom Dorfe herüber geklungen. Sie hatten nicht darauf gehört oder nicht darauf geachtet.

»Mein Gott, was ist das!« rief Eugenie plötzlich.

»Trommeln.«

»Nein, ein Schrei, ein entsetzlicher Schrei.«

Auch Stephans Ohr traf der Ton, als der Tambour mit seinem Wirbel innehielt. »Es ist nichts,« sagte er und doch fuhr eine plötzliche Blässe über sein Gesicht und er beugte sich über das Laubengeländer, um nach dem Dorfe zu sehen oder seine Bewegung zu verbergen.

»Es ist kein Lärmzeichen, Sie mögen ruhig bleiben, es ist nichts,« wiederholte er mit nichts weniger wie ruhiger Stimme, als sie ihn heftig unterbrach:

»Nichts, nichts als die Stimme eines Verzweifelnden! – Hören Sie doch! – Hören Sie. Sie ruft vielleicht zum letztenmal. Was entfärben Sie sich? Sie werden blaß.« – In Unterbrechungen fuhr sie mit anschwellender Heftigkeit fort: »O, es ist nichts als ein Todesgekreisch, ein Mensch stößt es aus, ein Unseliger, der über den Schmerz die Disziplin vergißt. Sein Wehgeschrei sprengt die Schranken Ihrer vollkommenen Welt; in seiner gräßlichen Angst schreit er zum Himmel über menschliche Härte. – Während wir so süß schwatzten, so vernünftig uns stritten, schwangen sie ihre Ruten über seinen nackten Leib. Wir hörten nicht seine stillen Seufzer, wir sahen nicht seinen blutigen Schweiß, sein Todesgeröchel weckt uns erst unangenehm. Eilen Sie fort, eilen Sie, ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, zu retten was zu retten ist, bitten Sie, daß man ihn schont. Es wäre zu entsetzlich, wenn er stürbe, stürbe gerade in dieser Stunde.«

Ihre Brust hob sich, der ganze Leib bebte, die Hand ballte sich unwillkürlich, der Arm zitterte und ein glühendes Rot wechselte mit Totenblässe auf ihrer hohen Stirn. Ihre Aufregung bot das Gegenbild zur Ruhe von vorhin.

Stephan hatte nur halb auf die Ausbrüche ihrer Leidenschaftlichkeit gehört. Sein Gesicht war nach der Wiese gekehrt und dem Feldweg, der sich unterhalb der Terrasse vom Dorfe herzog. Plötzlich faßte er den Arm der Gräfin, sie hinausziehend.

»Ja fort, fort, Sie dürfen hier nicht bleiben.«

»Tot,« rief sie, »ist er tot?«

»Lassen Sie uns fliehen, Komtesse, ich beschwöre Sie.«

»Ich will bleiben.«

»Er hat es überstanden.«

»Glauben Sie, ich habe noch keinem Toten ins Gesicht gesehen? Sehen will ich, wie er seine Richter anklagt.«

Sie drückte seine Hand zurück; er fühlte, jede Überredung war gegen den erweckten Trotz vergeblich. Die Musik fing nicht wieder an, aber schwere Tritte, dumpfes Gemurmel kam näher; sie zogen mit dem Gestraften des Weges vorüber. Er war nicht tot. Von zweien umfaßt und mit den schlaffen Armen auf ihre Schultern sich stützend, ward er geschleppt. Man hatte die Montur um den Hals gehäkelt, aber sie verdeckte nicht die Spuren der erlittenen Behandlung. Er konnte oder er wollte auch vielleicht nicht weiter; gerade unter der Laube warf er sich nieder in den Weg.

»Barmherziger Gott!« schrie Eugenie. Mit aller Kraft faßte sie der Offizier, sie von dem Orte fortzuziehen. Er hätte eher eine Marmorbildsäule fortbewegt. So erwiderte ihre Hand den Druck der seinen. Wenn er selbst fortgewollt, er hätte nicht gekonnt. »Ist er tot?« fragte sie hinab.

Er sah nicht viel besser aus als einer, der nichts mehr mit dieser Welt zu schaffen hat. Die Montur war ihm abgerissen. In seiner blutigen Blöße lag der Riesenleib im Staube, und die Athletenarme streckten sich noch drohend umher, wie die Glieder eines getöteten Insekts, die noch nicht sterben wollen. Stumpf blickten seine Führer, die Soldaten, auf ihn nieder, Landvolk, Kinder und Große standen ringsum scheu, halb Mitgefühl, halb Furcht im Blicke.

»Ist er tot?« wiederholte Eugenie.

Der Korporal blickte in die Höhe. »Er ist nur trotzig.«

Eugenie suchte hastig nach etwas. Sie fand es nicht: »Ihre Börse,« rief sie zu Stephan, »Ihre Börse, schnell!«

Stephan zog sie heraus. Der Inhalt war nicht unbedeutend, die Börse selbst hatte noch mehr Wert für ihn, eine Reliquie aus der Kinderzeit, ein Geschenk seiner Mutter. Ehe er wußte, wie ihm geschah, hatte sie ihm Eugenie aus der Hand gerissen und dem Unglücklichen zugeworfen. Sie mochte auf Stephans Gesicht Betroffenheit lesen.

»Und schenkt' ich ihm alles, was ich besitze,« rief sie, »wer schenkt ihm diese Stunde wieder! Da – da – sehen Sie einen, der sonnt sich im Lichtschein Ihrer Aufklärung.«

Und doch wie instinktartig, hatte der Mensch im Staube die Bewegung wahrgenommen, den Leib aufgerichtet und mit einem lauten »Juchhei!« fing und griff seine Hand den Beutel. Eine Riesenkraft schien in dem Riesenleib zu wohnen, als er sich wieder ganz aufschwang, auf den Füßen stand und zähneschnalzend die Gabe denen umherwies: »Ich bin nicht tot!« sagten seine funkelnden Blicke, und die weißen blitzenden Zähne murmelten hervor aus dem geschwärzten Gesichte: »Euch will ich's nicht vergessen.« Jeder Mund blieb stumm, es war kein Auge unter den Bauern umher, auf dem sich nicht der Schreck abgespiegelt hätte. Er hatte sich den beiden Führern wieder angehängt, und im Vorübergehen nickte er einmal der Geberin des Geschenkes zu. Der wilde Blick bewirkte, was das peinliche Schauspiel nicht vermocht. Eugenie schrak vor diesen Augen zusammen, sie faßte Stephans Arm, als suche sie bei ihm vor dem fürchterlichen Anblick Hilfe.

»Auch einer, der sich selbst Gott ist.«

»Sein Anblick wird Sie nie mehr ängstigen.«

»Er wird mir nie aus den Augen schwinden.«

»Erlauben Sie mir, Komtesse, Sie zur Gesellschaft zurück zu führen.«

Er wollte ihr den Arm bieten, doch mit fast kränkender Bewegung wies sie ihn zurück.

»Ihr Licht ist nicht mein Licht, Ihr Gott ist nicht mein Gott. Laufen Sie dem Unseligen nach, bitten Sie ihn auf Ihren Knien, bei allem was Ihnen wert ist, daß er an einen andern glaubt, mit seinem Gott ist's aus. Sein Gott liegt im Wundfieber, sein Gott flucht und schwört Rache. Der Himmel hört es nicht und die Sonne lacht über die Torheit, das ist das Beste. Aber wir sind unendlich elend, Sie, der Verbrecher, wir alle und Ihr stolzer König auch. Wir verstehen uns nicht, wir werden uns nie verstehen.«

So eilte sie fort. Die Gespräche der Offiziere hatten ihn genug von dem seltsamen leidenschaftlichen Charakter der Gräfin kennen gelehrt, um noch einen Versuch zu wagen. An den Pfeiler gelehnt, blickte er ihr nach, bis sie verschwunden war, dann wischte er unwillig eine Träne aus dem Auge, trat heftiger auf den Boden und nestelte sich den Dollman fest.

Als er durch die Dorfstraße ging, wo die Exekution stattgefunden, fand er noch alles in Aufregung. Man verfolgte die Spuren, wo er hingetreten, wo er ausgewichen, wo er zum ersten Male geschrien. Die Alten steckten die Köpfe zusammen und krauten sich im Haar, die Kleinen maßen mit ihren bloßen Füßen die Länge seiner Fußtritte, und man konnte aus ihrem Ernst vorhersagen, daß der Eindruck des eben Gesehenen einer von denen war, die das ganze Leben durch bleiben. »Den Kerl will ich wieder kennen nach dreißig Jahren,« sagte ein alter Bauer. »Glück uns, wenn wir ihn nie wieder sehen,« antwortete ein anderer. »So ein tückisches, verbostes Gesicht!« – »Und es steckte doch was Gutmütiges in seiner Haut,« bemerkte ein Vierter. »Als meines Vaters Knecht drüben krank war, und die Frau danieder lag, half er ihm aus freien Stücken und fuhr sein Heu ein, daß es eine Lust war. Wo tut das eine Einquartierung!«

Stephan erfuhr: Der Soldat hatte sich einmal im Dorfe verspätet, als feindliche Avantgarde schon durchsprengte, und ein Bauer war so unbesonnen gewesen, die kaiserlichen Husaren auf den Heuboden zu führen, wo er sich versteckt. Seine Gefangenschaft dauerte nur einige Augenblicke, da bald darauf preußische Nachzügler ihn befreiten. An ihrer Spitze wenige Stunden Herr im Dorfe, hatte er sich nun durch die ärgsten Exzesse an der Bauernschaft gerächt. Der Angeber hatte kaum in einen Brunnen kletternd sein Leben gerettet. Dies war vor einem Jahre vorgefallen. Der Schrecken der Marodeurherrschaft war aber noch lebendig im Gedächtnis, als vor einigen Wochen das Freibataillon einrückte und man darin den gefürchteten Marodeur erkannte. Man brachte, wiewohl nicht ohne Gegenvorstellung besorgterer Hauswirte, die Sache zur Sprache und die Strafe war nach einem ordnungsmäßigen Standrechte diktiert und vollzogen worden. Mitten im schmerzvollen Laufe hatte der Mensch vor dem Hause seines ersten Angebers stille gestanden, den blutigen Arm aufgehoben und geschrien: »'s ist nicht das letzte Mal!«

Stephan fühlte eine Teilnahme, er wußte nicht woher für den Unglücklichen. Er nahm sich vor, bei Gelegenheit ihn im Feldlazarett aufzusuchen, um ihm die Börse wieder abzukaufen.


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