Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In dem Arbeitssaal saß Clotilde und knöpfte ihre Taille wieder zu; auf dem Schoße hielt sie noch ihr Kind, dem sie gerade die Brust gegeben hatte. Es war nach dem Essen, gegen drei Uhr, an einem herrlichen Tage am Ende des Monats August, unter einem sonnnendurchglühten Himmel; und die sorgfältig geschlossenen Fensterläden ließen durch die Spalten nur dünne Lichtstrahlen in das einschläfernde, warme Dunkel des weiten Raumes eindringen. Die tiefe, träge Stille des Sonntags schien sich draußen auszubreiten, und von fernher tönten die Glockenklänge, die die Vesper verkündeten. Nicht ein Laut kam aus dem einsamen Hause, wo die Mutter und das Kleine bis zum Diner allein bleiben mußten, da die Magd um die Erlaubnis gebeten hatte, eine Freundin in der Vorstadt besuchen zu dürfen.
Eine kurze Zeit betrachtete Clotilde ihr Kind, einen kräftigen, schon drei Monate alten Knaben. Sie war in den letzten Tagen des Mai niedergekommen. Seit bald zehn Monaten trug sie die Trauer um Pascal, ein einfaches, langes schwarzes Kleid, in dem sie wunderbar schön aussah, so zart und schlank, mit ihrem jugendlichen, von herrlichen blonden Haaren umrahmten, tief traurigen Gesichte. Sie konnte nicht lächeln, aber eine freundliche Sanftmut ging von ihr aus, als sie das schöne, dicke und rosige Kind ansah, dessen kleiner Mund noch von Milch feucht und dessen Blick auf einen der Sonnenstreifen gefallen war, in dem die seinen Staubteilchen lustig auf und ab tanzten. Es schien sehr erstaunt darüber zu sein und wandte die Augen nicht weg von diesem goldenen Glanze, diesem Wunder von blendender helle. Dann kam der Schlaf, es ließ seinen kleinen, runden, nackten Kopf, der schon mit vereinzelten blaßblonden Härchen besetzt war, auf den Arm seiner Mutter niedersinken.
Darauf erhob sich Clotilde leise und legte den Kleinen sanft in eine Wiege, die neben dem Tische stand. Sie blieb einen Augenblick über ihn gebeugt stehen, um ganz sicher zu sein, daß er schlief; und sie ließ trotz des halbdunklen Dämmerlichtes den Musselinvorhang herunter. Ohne Geräusch zu verursachen, mit sanften Bewegungen und leichten Schritten, die kaum den Boden berührten, ging sie ihren häuslichen Beschäftigungen nach; sie ordnete die Wäsche, die auf dem Tische lag, und durchsuchte zweimal das Zimmer nach einem abhanden gekommenen Kinderstrümpfchen, Sie war sehr schweigsam. sehr sanft und sehr thätig. Und an diesem Tage, in der Einsamkeit des Hauses, dachte sie an die jüngste Vergangenheit, und das letzte Jahr zog an ihrem Geiste vorüber.
Da war zunächst nach der schrecklichen Erschütterung des Begräbnisses der unmittelbar darauf erfolgte Weggang der alten Martine, die eigensinnig darauf bestanden hatte und nicht einmal die Woche noch vollends da bleiben wollte. Sie hatte die junge Verwandte einer Bäckerin aus der Nachbarschaft gebracht, die an ihre Stelle eintreten sollte, ein kräftiges braunes Mädchen, das sich glücklicherweise als ordentlich und treu erwies. Martine lebte in Sainte-Marthe, einem elenden weltvergessenen Neste, so knauserig, daß sie sogar von den Zinsen ihres kleinen Kapitals noch Ersparnisse machen mußte. Wem würde wohl, da man keinen Erben kannte, dieser krankhafte Geiz einst zu gute kommen? In den zehn Monaten hatte sie nicht ein einzigesmal die Souleiade wieder betreten: der Herr Doktor war nicht mehr da; sie gab selbst dem Verlangen, den Sohn des Herrn Doktors zu sehen, nicht nach.
Dann erschien die Gestalt ihrer Großmutter Felicité vor der in tiefes Nachdenken versunkenen Clotilde. Sie kam von Zeit zu Zeit zum Besuche mit der Herablassung einer mächtigen Verwandten, die vorurteilslos genug ist, um Fehler zu verzeihen, die grausam bestraft worden sind. Sie kam immer unverhofft, küßte das Kind, hielt eine Moralpredigt und erteilte wohlmeinende Ratschläge; und die junge Mutter hatte ihr gegenüber die einfach ergebene Haltung angenommen, die Pascal stets bewahrt hatte. Uebrigens feierte Felicité jetzt ihren vollständigen Triumph. Sie stand gerade im Begriff, eine schon seit langer Zeit gehegte Lieblingsidee zu verwirklichen, die, reiflich erwogen, den fleckenlosen Ruf der Familie durch ein unzerstörbares Denkmal für immer erhalten sollte. Es war ihre Absicht, ihr sehr beträchtliches Vermögen zur Erbauung und Erhaltung eines Asyls für alte Leute zu verwenden, das den Namen »Asyl Rougon« führen sollte. Sie hatte schon das Terrain gekauft, einen Teil des alten Jeu de Mail, außerhalb der Stadt, in der Nähe des Bahnhofes; und gerade an diesem Sonntage, gegen fünf Uhr, wenn die Hitze etwas nachgelassen hatte, sollte der Grundstein gelegt werden, eine große Feierlichkeit, die durch die Teilnahme der Behörden einen besonderen Glanz erhielt und bei der sie natürlich die von der massenhaft herbeigeströmten Volksmenge gefeierte Königin sein würde.
Clotilde schuldete überdies ihrer Großmutter, die bei der Eröffnung von Pascals Testament eine vollständige Uneigennützigkeit ihr gegenüber bewiesen hatte, einigen Dank. Pascal hatte die junge Frau zu seiner Universalerbin gemacht, und seine Mutter, die ein Viertel des Vermögens beanspruchen konnte, hatte, nachdem sie die letzten Bestimmungen ihres Sohnes pietätvoll anerkannt, einfach auf diesen ihren Pflichtteil zu Gunsten Clotildens Verzicht geleistet. Sie wollte alle die Ihrigen enterben und ihnen nur Ruhm und einen makellosen Ruf hinterlassen, indem sie ihr großes Vermögen zur Errichtung des Asyls verwendete, das den geachteten und gesegneten Namen der Rougons auf die Nachwelt bringen sollte. Nachdem sie ein ganzes halbes Jahrhundert hindurch so eifrig auf den Erwerb von Geld gewesen war, verachtete sie es zu dieser Stunde, geläutert und von einem höheren Ehrgeiz erfüllt. Und Clotilde brauchte jetzt, dank dieser Uneigennützigkeit, wegen der Zukunft nicht mehr in Unruhe zu sein; die viertausend Franken Rente genügten ihnen, ihr und ihrem Kinde. Sie würde den Knaben aufziehen, sie würde ihn zu einem Manne machen. Sie hatte sogar die fünftausend Franken, die in dem Sekretär lagen, für das Kind auf Leibrenten angelegt, und besaß ja außerdem noch die Souleiade, die alle Welt ihr zu verkaufen riet. Die Unterhaltung derselben würde zwar ohne Zweifel keine großen Kosten verursachen, aber was für ein trauriges und einsames Leben würde es für sie sein in dem großen, öden Hause, das viel zu geräumig wäre und in dem sie sich wie verlassen vorkommen müßte! Bis jetzt hatte sie sich jedoch noch nicht entschließen können, die Souleiade zu verkaufen, und vielleicht würde sie sich auch niemals dazu entschließen.
Ah! Die Souleiade! Sie umschloß ihr ganzes Lieben, ihr ganzes Leben, alle ihre Erinnerungen! Zuweilen kam es ihr vor, als ob Pascal noch darin lebte, denn sie hatte alles in dem gleichen Zustand gelassen wie einstmals. Die Möbel standen noch an denselben Plätzen, und die Stunden verkündeten noch die nämlichen Gewohnheiten. Sein Zimmer hielt sie verschlossen, das nur sie allein betrat wie ein Heiligtum, um dort zu weinen, wenn ihr das Herz zu schwer war. In dem Zimmer, in dem sie sich beide geliebt hatten, in dem Bett, in dem er gestorben war, legte sie sich jeden Abend zur Ruhe wie früher, als sie noch ein junges Mädchen gewesen war; und es stand jetzt nur noch die Wiege neben ihrem Bette, die sie jeden Abend hereintrug. Es war immer noch das lauschige Zimmer mit den alten Familienmöbeln, mit der vor Alter verblaßten orangefarbenen Tapete, das uralte Zimmer, welches das Kind von neuem verjüngte. Wenn sie sich unten ganz allein und wie verloren bei jeder Mahlzeit in dem hellen Speisesaal befand, dann vernahm sie darin den Widerhall des Lachens und des kräftigen Appetites ihrer Jugend von damals, als sie beide zusammen dort noch gegessen und auf die Gesundheit ihres Daseins getrunken hatten. Und auch der Garten, das ganze Besitztum sprach von seiner Anwesenheit an den verborgensten Stellen; denn sie konnte dort keinen Schritt machen, ohne daß nicht ihrer beiden Bilder in inniger Vereinigung vor ihrem Geiste auftauchten. Von der Terrasse aus, in dem die schmalen Schatten der großen hundertjährigen Cypressen, hatten sie so oft hinabgeschaut auf das Thal der Viorne, welches die Felsenschluchten der Seille und die sonnenverbrannten Hügel von Saint-Marthe begrenzten. So und so oft waren sie flink die Absätze der mörtellosen Mauern hinaufgeklettert unter den armseligen Oliven- und Mandelbäumen hindurch, wie wilde Buben, die aus der Schule entlaufen waren! Und da war auch noch der kleine Fichtenwald mit seinen heißen, würzigen Schatten, wo die Nadeln unter ihren Schritten knisterten, da war noch der große freie Platz, bestanden mit weichem, schulterhohem Grase, wo man am Abend, wenn die Sterne ausgingen, das ganze weite Himmelszelt beobachten konnte! Und da waren vor allem noch die riesengroßen Platanen, in deren Schatten sie an jedem Sommertage den köstlichen Frieden genossen und dem erfrischenden Gesänge der Quelle gelauscht hatten, deren reiner, kristallklarer Faden seit Jahrhunderten ununterbrochen rann! Bis auf die alten Steine, bis auf den Erdboden gab es kein auch noch so kleines Fleckchen in der Souleiade, wo sie nicht das warme Pulsiren eines Tropfens von ihrer beiden Blute, wo sie nicht etwas von ihrem gemeinsamen Leben verspürt hätte!
Aber sie verbrachte doch am liebsten ihre Tage in dem Arbeitssaale, und dort war es, wo sie ihre schönsten Erinnerungen immer wieder von neuem durchlebte. Nur ein einziger Gegenstand befand sich mehr darin gegen früher, die Wiege. Der Schreibtisch des Doktors stand noch an seinem alten Platze vor dem Fenster zur Linken; er hatte hereinkommen und sich hinsetzen können, denn selbst der Stuhl war nicht weggerückt. Auf der langen Tafel in der Mitte war zu den alten Haufen von Büchern und Brochüren nur ein einziges neues Stück hinzugekommen, nämlich das genaue Verzeichnis der kleinen Kinderwäsche, welche sie gerade im Begriff stand, durchzusehen. Die Bibliothek zeigte noch dieselbe Anordnung der Bücherreihen, und der große Eichenholzschrank schien zwischen seinen vier Wänden festgeschlossen denselben Schatz zu behüten. Unter dem verräucherten Plafond schwebte noch der gute Arbeitsgeruch um die bunt durcheinander stehenden Stühle herum und die ganze liebenswürdige Unordnung dieser gemeinsamen Geisteswerkstatt, wo sie so lange Zeit den Launen des jungen Mädchens und den Untersuchungen des Gelehrten nachgehangen hatten. Und was sie heute besonders rührte, das waren ihre alten Pastellgemälde, die sie noch an den Wänden hängen sah, die mit außerordentlicher Genauigkeit ausgeführten Kopien, welche sie von lebenden Blumen gemacht hatte, und dann ihre hochfliegenden Phantasiestücke aus einem Zauberreich, Traumblumen, bei denen ihre tolle Einbildungskraft zuweilen den Sieg davongetragen hatte.
Clotilde war gerade mit der Ordnung der kleinen Kinderwäsche auf dem Tische fertig geworden, als ihr Blick beim Emporsehen auf das an der ihr gegenüberliegenden Wand hängende Pastellgemälde von dem alten König David fiel, dessen Hand auf der nackten Schulter der jungen Sunemitin Abisaig ruhte. Und sie, die nicht mehr lachte, fühlte eine große Freude in ihr Gesicht aufsteigen bei der seligen Rührung, die sie empfand. Wie liebten sie sich, wie träumten sie von Ewigkeit an dem Tage, da sie sich an diesem stolzen und zärtlichen Symbol vergnügt hatte! Der alte König, reich gekleidet in ein lang herabwallendes, mit Edelsteinen überladenes Gewand, trug die königliche Binde in seinen schneeweißen Haaren. Aber sie war doch noch herrlicher in ihrer göttlichen Anmut, obgleich sie nichts bedeckte als ihre lilienweiße Haut, wie Seide so weich, mit ihrer zarten, schlanken Gestalt, ihrer runden, kräftigen Brust, ihren biegsamen Armen. Jetzt war er dahingegangen, jetzt schlief er unter der Erde, während sie in tiefes Schwarz gekleidet, nichts mehr von ihrer triumphirenden Nacktheit zeigte und nur noch das Kind hatte, um das stille, vollständige Geschenk, das sie ihm mit ihrer Person gemacht, vor dem versammelten Volke im vollen Tageslichte auszudrücken.
Schließlich setzte sich Clotilde leise neben der Wiege nieder. Die Sonnenstreifen verlängerten sich von einem Ende des Zimmers bis zu dem anderen, die Hitze des sonnendurchglühten Tages wirkte erschlaffend in dem einschläfernden Schatten der geschlossenen Fensterläden, und die im Hause herrschende Stille schien noch zuzunehmen. Sie hatte die kleinen Leibchen beiseite gelegt, sie nähte wieder mit langsamer Hand an Bändern und versank dabei nach und nach in träumerisches Nachdenken mitten in der tiefen, heißen Ruhe, die sie umgab bei der draußen zitternden Sonnenglut. Zuerst kehrten ihre Gedanken zu ihren Pastellgemälden zurück, den der Wirklichkeit entsprechenden und den phantastischen, und sie sagte sich jetzt, daß ihre ganze Doppelnatur sich einerseits in dieser leidenschaftlichen Wahrheitsliebe ausspräche, die sie zuweilen stundenlang vor einer Blume festgehalten hatte, um sie mit Genauigkeit zu kopiren, andererseits in ihrem Verlangen nach dem Jenseits, das sie manchmal ganz der Wirklichkeit entführt und in tolle Träume fortgerissen hatte in das Paradies der ungeschaffenen Blumen. Sie war immer so gewesen, sie fühlte, daß sie im Grunde heute noch dieselbe war, die sie gestern gewesen, in dem neuen Lebensstrom, der sie ohne Aufhören umwandelte. Dann sprangen ihre Gedanken über auf die tiefe Dankbarkeit, die sie für Pascal empfand, daß er sie zu dem gemacht hatte, was sie war. Als er sie einstens, da sie noch ganz klein war und in einer schrecklichen Umgebung aufwuchs, zu sich genommen hatte, da war er gewiß nur seinem guten Herzen gefolgt, und sicherlich hatte er dabei schon den Wunsch gehegt, mit ihr den Versuch zu machen, wie sie in einer andern Umgebung, der der Wahrheit und der zärtlichen Liebe, aufwachsen würde. Das war bei ihm der ständige Gedanke, eine alte Theorie, die er im großen hatte erproben wollen: der Einfluß der Umgebung auf die geistige Entwicklung, die Besserung und Rettung des Menschen im moralischen und physischen Sinne. Sie verdankte ihm sicherlich den besten Teil ihres Wissens, sie ahnte, wie phantastisch und gewaltthätig sie hätte werden können, während er ihr nur Leidenschaft und Mut verliehen hatte. In diesem Blühen unter dem freien Himmel hatte das Leben selbst eines in des andern Arme getrieben; und war es nicht wie die letzte Anstrengung der Güte und der Freude, das Kind, das gekommen war und das sie beide zusammen würde erfreut haben, wenn der Tod sie nicht getrennt hatte?
Bei diesem Rückblick in die Vergangenheit empfand sie deutlich, welch lange Arbeit in ihr sich vollzogen hatte. Pascal verbesserte das, was sie ererbt hatte, und sie durchlebte noch einmal die langsame Entwicklung, den Streit zwischen der Wirklichkeit und der Einbildung. Das, was sie in ihre schlimmen Träumereien getrieben hatte, das stammte aus ihren kindischen Launen, von einem unruhigen Gärungsstoffe, von einer Störung des Gleichgewichtes. Dann kamen ihre großen Glaubensanwandlungen, ihr Verlangen nach Illusion und Täuschung, ihr Verlangen nach unmittelbarem Glück bei dem Gedanken, daß die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten dieser schlechten Erde durch die ewigen Freuden eines zukünftigen Paradieses müßten ausgeglichen werden. Das war die Epoche ihrer Kämpfe mit Pascal, die Zeit der Qualm, die sie ihm verursacht hatte, wo sie wähnte, sein Genie töten zu können. Und bei dieser Krümmung des Weges kehrte sie um; sie fand ihren Herrn wieder, der sie durch die schreckliche Belehrung über das Leben, die er ihr während jener Gewitternacht gegeben hatte, gewann. Seitdem war sie den richtigen Mittelweg gewandelt, und die Entwicklung hatte sich rascher vollzogen. So erwarb sie sich schließlich ihr schönes Gleichmaß, sie wurde vernünftig und verstand sich dazu, das Leben zu leben wie es gelebt werden mußte, mit der Hoffnung, daß die Summe der menschlichen Arbeit eines Tages die Welt von dem Uebel und dem Schmerz befreien würde. Sie hatte geliebt, sie war Mutter, sie war eine Wissende.
Da plötzlich erinnerte sie sich der andern Nacht, die sie beide zusammen auf dem großen, freien Platz zugebracht hatten. Sie hörte noch ihr Klagen bei dem Funkeln der Sterne über die trotzige Natur, über die erbärmliche Menschheit, über den Bankerott der Wissenschaft und die Notwendigkeit, sich in Gott, sich in das Mysterium zu verlieren. Dann hörte sie ihn, wie er sein Glaubensbekenntnis wiederholte, das Fortschreiten der Erkenntnis durch die Wissenschaft, die einzig mögliche Wohlthat der langen, aber für immer errungenen Wahrheiten, den Glauben, daß die Summe dieser Wahrheiten, die immer zunehmen, schließlich dahin führen müßte, dem Menschen eine unberechenbare Kraft zu verleihen und die Zufriedenheit, wenn nicht das Glück. Das alles war zusammengefaßt in dem inbrünstigen Glauben an das Leben. Man mußte, wie er sagte, mit dem Leben zusammen gehen, das immer vorwärts schritt. Kein Halt war zu hoffen, keine Ruhe in der Regungslosigkeit der Unwissenheit, keine Erleichterung in der Rückkehr in die Vergangenheit. Man mußte einen festen Charakter besitzen und die Bescheidenheit, sich zu sagen, daß die einzige Belohnung des Lebens darin besteht, daß man ordentlich lebt, indem man die Aufgabe, die einem gestellt ist, erfüllt. Dann war das Uebel nur noch ein unerklärter Zufall, und die Menschheit erschien, von oben gesehen, wie ein ungeheurer Mechanismus in Thätigkeit, der in alle Ewigkeit arbeitete. Warum sollte ein Arbeiter, der fortging, nachdem er sein Tagwerk gethan, das Werk verwünschen, weil er das Ende davon weder sehen noch beurteilen konnte? Warum sollte er, wenn er nichts von dem Ende haben konnte, die Freude der Arbeit, den frischen Zug der Weiterentwicklung, die Annehmlichkeit des Schlafes nach langer, ermüdender Thätigkeit nicht kosten? Die Kinder werden das Werk der Väter fortsetzen, sie werden nur dazu geboren, und man liebt sie nur deswegen, wegen dieser Lebensaufgabe, die man ihnen übertragt, und die sie dann ihrerseits weiter übertragen werden. Und es war von diesem Augenblicke an nur noch die heldenmütige Verzichtleistung aus die große allgemeine Arbeit da, ohne die Empörung des Ichs, welches für sich ein vollkommenes Glück fordert.
Sie fragte sich, warum sie nicht mehr die Angst empfand, die sie früher gequält hatte, wenn sie an das gedacht hatte, was dem Tode folgte. Die Vorstellung von dem Jenseits suchte sie nicht mehr bis zur Qual heim. Früher würde sie verlangt haben, dem Himmel mit Gewalt das Geheimnis des Schicksals zu entreißen. Damals hatte sie eine unendliche Traurigkeit erfüllt, daß sie lebte, ohne zu wissen, warum sie lebte. Was sollte man denn aus der Erde machen? Was war der Sinn dieses erbärmlichen Lebens ohne Gleichheit, ohne Gerechtigkeit, das ihr erschien wie ein böses Traumbild einer Fiebernacht? Und ihre Angst hatte sich gelegt, sie konnte jetzt mutig an diese Dinge denken. Vielleicht war es das Kind, diese Fortsetzung von ihr selbst, das ihr den Schrecken ihres Endes von jetzt an verbarg. Aber es trug auch viel das Gleichgewicht, in dem sie lebte, dazu bei, jener Gedanke, daß man leben mußte wegen der Anstrengung des Lebens, und daß der einzige mögliche Friede in dieser Welt in der Freude über diese vollführte Anstrengung läge. Und sie wiederholte sich ein Wort des Doktors, das er oft ausgesprochen hatte, sobald er einen Bauern mit zufriedener Miene heimkehren sah, nachdem er sein Tagewerk vollbracht: »Da ist einer, den der Streit um das Jenseits nicht abhalten wird, ruhig zu schlafen.« Er wollte damit sagen, daß dieser Streit nur in das aufgeregte Gehirn von Müßiggängern sich verirren und dort schlimmes anrichten könnte. Wenn alle ihre Arbeit thäten, so würden auch alle ruhig schlafen. Sie selbst hatte an sich die ganze wohlthätige Allmacht der Arbeit verspürt in ihren Leiden und in ihrer Trauer. Seitdem er sie gelehrt hatte, jede ihrer Stunden zu benützen, seitdem sie Mutter war und seitdem sie ohne Aufhören mit dem Kinde zu thun hatte, fühlte sie nicht mehr den Schauer vor dem Unbekannten über ihren Rücken laufen wie einen leisen, kalten Luftzug. Sie vertrieb ohne Kampf diese beunruhigenden Träumereien, und wenn sie noch eine Angst quälte, wenn unter ihren täglichen Schmerzen ihr Herz sich mit Ekel erfüllte, fand sie einen Trost, eine unüberwindliche Widerstandskraft in dem Gedanken, daß ihr Kind wieder einen Tag älter war an diesem Tage und daß es am folgenden noch einen andern mehr haben würde, und daß Tag für Tag, Seite auf Seite, sich ihr lebendes Werk vollendete. Das verschaffte ihr eine köstliche Erholung nach all ihrem Leid. Sie hatte eine Thätigkeit, einen Zweck, und sie fühlte es deutlich an ihrer glücklichen Zufriedenheit, sie that jetzt sicher das, was sie thun sollte.
Aber selbst in diesem Augenblicke erkannte sie, daß das Phantastische noch keineswegs in ihr tot war. Ein leichtes Geräusch hatte soeben die ringsum herrschende tiefe Stille unterbrochen und sie hatte den Kopf emporgehoben: wer war der göttliche Mittler, der vorbeizog? Vielleicht der teure Tote, den sie beweinte und den sie glaubte, in ihrer Nähe zu spüren. Sie würde immer ein wenig das gläubige Kind von früher bleiben, neugierig nach dem Mysterium und von instinktivem Verlangen nach dem Unbekannten erfüllt. Sie hatte selbst dieses Verlangen empfunden und erklärte es sich wissenschaftlich. Wie sehr auch immer die Wissenschaft die Grenzen der menschlichen Kenntnisse erweitert, so gibt es doch ohne Zweifel einen Punkt, über den sie nicht hinauskommen wird, und das war gerade die Stelle, an die Pascal das einzige Interesse am Leben setzte, in dem Wunsch, den man hatte, ohne Aufhören mehr zu lernen. Von da an ließ sie die unbekannten Kräfte gelten, ein ungeheures, dunkles Gebiet, in dem die Welt schwebt, zehnmal größer als das schon eroberte Gebiet, eine unerforschliche Unendlichkeit, in die die zukünftige Menschheit ohne Aufhören vordringen wird. Das war sicherlich ein Gebiet, weit genug, daß sich die Einbildungskraft darin verlieren konnte. In den Stunden des Nachdenkens stillte sie dort den gebieterischen Durst, den ihr Wesen nach dem Jenseits zu haben schien, eine Notwendigkeit, aus der sichtbaren Welt zu entfliehen und die Illusion der absoluten Gerechtigkeit und des absoluten Glückes zu befriedigen. Das, was ihr von ihrer Qual übrig blieb, ihre letzten Träumereien, besänftigten sich, da die leidende Menschheit ohne den Trost der Lüge nicht leben konnte. Glücklicherweise aber war in ihr ein fester Grund vorhanden. Am Wendepunkte dieser von Wissenschaft übersättigten Epoche, die von den Trümmern, die sie geschaffen, beunruhigt, von Schrecken vor dem neuen Jahrhundert ergriffen und von dem Verlangen bethört war, nicht weiter zu gehen, sondern sich zur Vergangenheit zurückzuwenden, besaß sie das glückliche Gleichgewicht, die Leidenschaft für das Wahre, vergrößert durch die Sorge um das Unbekannte. Wenn die sektirerischen Gelehrten den Horizont abschlossen und sich genau an die Phänomene hielten, so war es ihr, einem einfachen, ungelehrten Wesen, erlaubt, teilzunehmen an dem, was sie nicht wußte, an dem, was sie niemals wissen würde. Und wenn das Glaubensbekenntnis Pascals der logische Schluß des ganzen Werkes war, so würde die ewige Frage des Jenseits, die sie trotz allem fortfuhr an den Himmel zu stellen, die Pforte des Unendlichen vor der anstürmenden Menschheit wieder öffnen. Da man immer wird lernen und dabei sich doch immer wird bescheiden müssen, niemals alles zu wissen, war es da nicht besser, die Bewegung, das Leben selbst zu wollen, als das Mysterium, einen ewigen Zweifel und eine ewige Hoffnung zu erhalten?
Ein neues Geräusch, ein Flügel, der vorüberrauschte, ein leiser Kuß, auf ihre Haare gedrückt, rief diesmal auf ihrem Gesichte ein Lächeln hervor. Er war gewiß da. Alles in ihr vereinigte sich zu einer unendlichen Zärtlichkeit, die von überall ausging und ihr ganzes Wesen erfüllte. Wie gut und fröhlich er war, und welch große Liebe zu seinen Mitmenschen ihm seine Leidenschaft für das Leben eingeflößt hatte! Er selbst war vielleicht nur ein Träumer; denn er hatte den schönsten aller Träume geträumt, der in jenem schließlichen Glauben an eine höherstehende Welt bestand, wenn die Wissenschaft den Menschen mit einer unberechenbaren Macht bekleidet haben würde, wo es dann heißen würde: Alles annehmen, alles zum Glücke verwenden, die Natur dahin zurückführen, daß sie nichts als eine Dienerin ist, und in der Ruhe der befriedigten Intelligenz leben! Unterdessen würde der Wille zur Arbeit und eine geregelte Thätigkeit dem Wohlbefinden aller genügen. Vielleicht würde auch eines Tages das Leiden nutzbar gemacht werden. Und im Angesichte der ungeheuren, mühevollen Arbeit und vor dieser Masse lebender Wesen, guter und böser, die trotz allem wegen ihres Mutes und ihrer Arbeit bewundernsweit waren, sah sie nur eine brüderliche Menschheit und hatte nur noch eine Nachsicht ohne Grenzen, ein unendliches Mitleid und eine glühende Barmherzigkeit. Die Liebe bestrahlt und erwärmt die Erde wie die Sonne, und die Güte ist der große Fluß, aus dem alle Herzen trinken.
Seit bald zwei Stunden zog Clotilde mit derselben regelmäßigen Bewegung die Fäden, während sich ihre Gedanken in Träumereien verloren. Aber die Bänder waren wieder an die kleinen Leibchen angenäht, und sie hatte auch die neuen, gestern gekauften Betten gezeichnet. Sie stand auf, nachdem sie ihre Näherei beendet hatte, und wollte nun die Wäsche ordnen. Draußen war die Sonne schon tief hinabgesunken, und die goldenen Streifen drangen nur noch sehr schmal und schräg durch die Spalten. Sie sah kaum noch deutlich, sie mußte hingehen und einen Laden öffnen. Dann vergaß sie sich einen Augenblick im Angesicht des weiten Horizontes, der sich plötzlich vor ihren Blicken entrollte. Die große Hitze hatte nachgelassen, ein leichter Luftzug wehte von dem wunderbaren, in fleckenlosem Blau erstrahlenden Himmel herab. Zur Linken unterschied man bis auf die kleinsten Büschel die Fichten zwischen den glühenden Felsentrümmern der Seilte, während sich nach der rechten Seite hin hinter den Hügeln von Sainte-Marthe das Thal der Viorne in dem von der untergehenden Sonne vergoldeten Staube in das Unendliche ausbreitete. Sie betrachtete einen Augenblick den Turm von Saint-Sarturnin, der, auch ganz vergoldet, die in glühendes Rot getauchte Stadt beherrschte, und sie hatte sich gerade vom Fenster wieder zurückgezogen, als ein Schauspiel sie wieder dahinführte und dort noch lange, den Ellenbogen auf das Fenstersims gestützt, festhielt.
Es war jenseits der Linie der Eisenbahn das Gewimmel einer ungeheuren Menschenmenge, die sich auf den alten Jeu de Mail drängte. Clotilde erinnerte sich sofort der heutigen großen Festfeier und wußte daher gleich, daß ihre Großmutter Felicité gerade jetzt im Begriffe stand, den Grundstein zu dem Asyl Rougon zu legen, dem glorreichen Denkmal, das dazu bestimmt war, den fleckenlosen Ruf der Familie den zukünftigen Geschlechtern zu verkünden. Großartige Vorbereitungen waren dazu schon seit acht Tagen getroffen worden; man sprach von einem Kübel und einer Maurerkelle aus Silber, die die alte Dame dabei benützen würde, da sie natürlich persönlich anwesend sein und den verdienten Triumph feiern wollte trotz ihrer achtzig Jahre. Das, was sie mit einem königlichen Stolze erfüllte, war, daß sie durch diesen Vorgang zum drittenmal die Eroberung von Plassans beendete; denn sie zwang die ganze Stadt, sie zwang die drei Quartiere, sich um sie zu scharen, sie als Wohlthäterin im Triumphzuge einherzuführen und ihr zuzujubeln. Man mußte in der That Damen als Patronessen dafür haben, und die waren aus den vornehmsten Familien des Quartiers Saint-Marc gewählt worden, ferner eine Abordnung der Arbeitergenossenschaften des alten Viertels, und endlich kamen noch die bekanntesten Persönlichkeiten aus der Bewohnerschaft hinzu, Advokaten, Notare und Aerzte, ohne das gewöhnliche Volk zu rechnen, die sonntäglich gekleidete Menschenmenge, die sich wie zu einer Lustbarkeit herandrängte. Und inmitten dieses höchsten Triumphes war sie vielleicht noch am stolzesten darüber, daß sie, eine der Königinnen des zweiten Kaiserreiches, die Witwe, die in so würdiger Weise die Trauer um das gestürzte Regime trug, die junge Republik besiegt hatte, indem sie sie zwang, in der Person des Sous-Präfekten zu erscheinen und sie ehrerbietig zu begrüßen und ihr zu danken. Man hatte zuerst nur von einer Rede des Bürgermeisters gesprochen; aber es war seit gestern sicher, daß auch der Sous-Präfekt selbst reden würde. Aus so weiter Ferne sah Clotilde jedoch nur ein Gewimmel von schwarzen Röcken und hellen Damentoiletten in dem glänzenden Sonnenscheine. Dann hörte sie einzelne verlorene Musikklänge herüberschallen; die Musik wurde von Dilettanten aus der Stadt ausgeführt, und der Wind trug die tiefen Töne der Blasinstrumente zu ihr herüber.
Sie verließ das Fenster und trat an den großen Eichenschrank heran, den sie öffnete, um die Wäsche hineinzuschließen, die noch auf dem Tische liegen geblieben war. In diesem Schranke, der einstmals mit den Manuskripten des Doktors ganz angefüllt gewesen und heute leer war, bewahrte sie die kleine Kinderwäsche auf. Der ungeheure Schrank mit seiner gähnenden Oeffnung schien ganz ohne Grund zu sein; in den großen leeren Fächern lagen nur die feinen Windeln, die kleinen Leibchen, die kleinen Mützchen, die kleinen Strümpfchen, verschiedene Stöße von Bettwäsche, alles das seine Leinenzeug, jenes zarte Federwerk eines kleinen, noch im Neste befindlichen Vogels. Wo so viele Gedanken in Menge geschlummert hatten, wo seit dreißig Jahren die angestrengte, mühevolle Arbeit eines Mannes in einer Unmenge von Papier aufgespeichert gewesen war, da befand sich jetzt nur noch das Leinenzeug eines kleinen Wesens, die kaum Kleider zu nennenden winzigen Leinwandstücke, die es für eine Stunde schützten und deren es sich bald nicht mehr würde bedienen können. Die gewaltige Masse des alten Schrankes erschien dadurch wie verjüngt und erfrischt.
Als Clotilde die Bettwäsche und die Leibchen in dem einen Fache geordnet hatte, bemerkte sie in einem großen Umschlage die Ueberreste der Aktenbündel, die sie, nachdem sie sie aus dem Feuer gerettet, dort aufbewahrt hatte. Und sie erinnerte sich einer Bitte, die Doktor Ramond am vorhergehenden Tage an sie gerichtet hatte, nachzusehen, ob sich unter den Ueberresten nicht vielleicht ein Fragment von irgend welcher Bedeutung, das ein wissenschaftliches Interesse hätte, befände. Er war ganz verzweifelt über den Verlust der unschätzbaren Manuskripte, die ihm der Meister vermacht hatte. Gleich nach dem Tode Pascals hatte er versucht, die letzte Unterredung, die er mit dem Sterbenden gehabt, zu Papier zu bringen, jene Zusammenfassung der nur ganz kurz mit einer so heldenmutigen Heiterkeit dargelegten Theorien; aber er brachte nur eine ganz summarische Uebersicht fertig; es fehlten ihm die vollständigen Studien, die von Tag zu Tag gemachten Beobachtungen, die erworbenen Resultate und die festgestellten Gesetze. Der Verlust war unersetzlich, und die mühevolle Arbeit mußte von Neuem begonnen werden. Er klagte darüber, daß er um kurze Angaben besitze, und sagte, daß er für die Wissenschaft einen Verzug von mindestens zwanzig Jahren ausmache, bevor man die Ideen dieses Einsiedlers und Pioniers, dessen Arbeiten eine wilde, wahnsinnige Katastrophe zerstört hatte, wieder zusammenbringen und nutzbar machen konnte.
Der Stammbaum, das einzige unversehrte Dokument, lag auch in dem Umschlage, und Clotilde trug alles zusammen auf den Tisch in die Nähe der Wiege. Als sie die Ueberbleibsel eines nach dem anderen herausgenommen hatte, stellte sie fest, wovon sie übrigens schon vorher fest überzeugt gewesen war, daß nicht eine einzige Seite des Manuskripts unversehrt geblieben war und daß nicht eine einzige Notiz einen vollständigen Sinn hatte. Es waren nur noch Fragmente vorhanden, halbverbrannte und geschwärzte Papierenden ohne Zusammenhang, ohne Folge. Aber für sie steigerte sich, je genauer sie sie prüfte, das Interesse an diesen unvollständigen Sätzen, an diesen zur Hälfte vom Feuer verzehrten Worten, wo niemand anderes etwas verstanden hatte. Sie erinnerte sich der Gewitternacht, die Sätze ergänzten sich, der Anfang eines Wortes rief die Persönlichkeiten, die Geschichten wieder wach. So war es, als ihr der Name Maximes in die Augen fiel. Sie sah das ganze Leben dieses ihres Bruders wieder vor sich, der ihr ein Fremder geblieben war und dessen Tod vor zwei Monaten sie fast ganz gleichgiltig gelassen hatte. Dann verursachte ihr eine verstümmelte Zeile, die den Namen ihres Vaters enthielt, ein unbehagliches Gefühl; denn sie glaubte zu wissen, daß er das Geld und das Hotel seines Sohnes in seine Tasche gesteckt hatte, dank der Nichte seines Friseurs, jener so unschuldigen Rose, die jedenfalls ordentlich dafür bezahlt worden war. Dann traf sie noch auf andere Namen, auf den ihres Onkels Eugen, des Vizekassiers, der zu dieser Stunde auch schon entschlafen war, ferner den ihres Vetters Serge, des Kuraten von Saint-Eutrope, der, wie man ihr am vorhergehendem Tage erzählt hatte, die Schwindsucht hätte und im Sterben läge. Und jedes Fragment bekam Leben, und die erbärmliche und brüderliche Familie erstand wieder aus jenen kleinen Ueberresten, aus jenen halbverkohlten Papierfetzen, auf denen nur noch unzusammenhängende Silben zu erkennen waren.
Dann trieb die Neugierde Clotilden, den Stammbaum auseinanderzufalten und auf dem Tische auszubreiten. Eine tiefe Rührung ergriff sie, sie wurde ganz weich gestimmt beim Anblicke dieser Reliquien; und als sie die mit Bleistift von Pascal, kurz bevor er den letzten Atemzug that, hinzugefügten Bemerkungen wieder las, kamen ihr die Thränen in die Augen, mit welchem Heldenmute hatte er das Datum seines Todes eingeschrieben. Und wie fühlte man seine Verzweiflung und sein Bedauern über das Hinschwinden seines Lebens in den zitternden Worten, die die Geburt des Kindes anzeigten! Der Baum stieg empor, er teilte sich in seine Aeste und entfaltete seine Blätter, und sie vergaß sich ganz, während sie ihn lange betrachtete und sich sagte, daß das ganze Werk des Doktors da vor ihr läge in diesem klassifizirten und dokumentirten Wachstum ihrer Familie. Sie hörte die Worte, mit denen er jeden Vererbungsfall erläuterte, sie rief sich seine Gespräche ins Gedächtnis zurück. Aber vor allem interessirten sie die Kinder. Der Kollege, an den der Doktor nach Numea geschrieben hatte, um Aufschluß über das Kind zu erhalten, welches der im Gefängnis geschlossenen Ehe Etiennes entstammt, hatte sich endlich entschlossen, zu antworten, aber er sprach nur von dem Geschlechte, daß es ein Mädchen wäre und gesund und kräftig zu sein schiene. Octave Mouret hatte seine sehr schwächliche Tochter verlieren müssen, während sein kleiner Junge vortrefflich weiter zu gedeihen fortfuhr. Uebrigens war der Winkel der guten, kräftigen Gesundheit, der außerordentlichen Fruchtbarkeit immer noch in Valqueyras, im Hause Jeans, dessen Frau in drei Jahren zwei Kinder gehabt hatte und mit einem dritten schwanger ging. Das Nest voll junger Brut gedieh herrlich im warmen Sonnenscheine, während der Vater draußen auf den fruchtbaren Feldern arbeitete und die Mutter zu Hause brav die Suppe kochte und die Knirpse putzte. Da war genug neue Kraft und Arbeit vorhanden, um eine neue Welt zu schaffen. Clotilde glaubte in diesem Augenblicke Pascal zu vernehmen: »Ah, unsere Familie! Was wird aus ihr werden? Auf welches Wesen wird sie schließlich noch hinauslaufen?« Und sie selbst verfiel wieder in Träumereien vor dem Stammbaum, der seine letzten Aeste in die Zukunft verlängerte. Wer wußte, an welcher Stelle der gesunde Zweig hervortreiben würde? Vielleicht würde da der Weise, der erwartete Mächtige hervorsprießen.
Ein leiser Schrei entriß Clotilde ihrem Nachdenken. Der Musselinvorhang der Wiege schien sich von einem zarten Lufthauch zu bewegen: es war das Kind, das sich, aus dem Schlafe erwacht, unruhig bewegte und schrie. Sie nahm es sogleich und hob es freudig hoch in die Luft empor, um es in dem goldenen Scheine der sinkenden Sonne zu baden. Aber der Kleine war gar nicht empfänglich für die Reize des scheidenden Tages. Seine kleinen Augen wandten sich verständnislos von dem weiten Himmelszelt ab, während er sein rosiges Mündchen ganz weit öffnete, wie ein immerwährend hungriges Vögelchen. Er fing laut an zu weinen, da er bei seinem Erwachen so sehr hungrig war, daß sie sich entschloß, ihm die Brust wieder zu geben. Uebrigens war es auch seine Stunde; es waren schon drei Stunden vergangen, daß er nicht an der Mutterbrust getrunken hatte.
Clotilde ging an den Tisch zurück und ließ sich daneben nieder. Sie hatte den Kleinen auf ihren Schoß gesetzt, wo er aber durchaus nicht ruhiger wurde, sondern in seiner Ungeduld nur immer mehr und immer lauter schrie; sie betrachtete ihn lächelnd, während sie ihr Kleid aufhakte. Die Brust zeigte sich, ihre zarte, runde Brust, die die Milch kaum etwas aufgeschwellt hatte. Nur ein leichter brauner Strahlenkranz schmückte die Spitze der Brust in der zarten Weiße des wunderbar schlanken, nackten jungen Frauenkörpers. Das Kind merkte es schon, es richtete sich in die Höhe, und seine Lippen suchten. Als sie ihm den Mund gerichtet hatte, gab es durch ein leises Knurren seine Befriedigung zu erkennen; es drang ganz in sie ein mit dem guten Appetit eines Herrn, der leben will. Mit vollen Backen saugte es gierig. Mit seiner freien kleinen Hand hatte es zuerst die Brust gefaßt, gleich als wollte es damit deren Besitzergreifung anzeigen, sie verteidigen, sie beschützen. Dann hatte es in der Freude über das lauwarme Rieseln, das seinen kleinen Mund ganz anfüllte, seinen kleinen Arm in die Luft emporgestreckt, ganz gerade wie eine Fahne. Und Clotilde bewahrte ihr unschuldiges Lächeln, als sie sah, wie er sich so kräftig an ihr nährte. In den ersten Wochen hatte sie viel an Schrunden zu leiden gehabt, und auch jetzt noch war ihre Brust sehr empfindlich, aber sie lächelte trotzdem in der stillen, seligen Weise aller Mütter, die glücklich darüber sind, ihre Milch hergeben zu können, wie sie ihr Blut hingeben würden.
Als sie ihr Kleid aufgehakt und als ihre Brust, ihre mütterliche Blöße sich gezeigt hatte, da war auch noch ein anderes Geheimnis von ihr, eines ihrer verborgensten und köstlichsten Geheimnisse, zum Vorschein gekommen: die zarte Halskette mit den sieben Perlen, den sieben milchweißen Sternen, die der Meister an einem der Unglückstage ihr um den Hals gelegt hatte in seiner leidenschaftlichen Schenkwut. Seitdem war sie an diesem Platze geblieben, niemand hatte sie je wiedergesehen. Sie bildete gleichsam einen Teil ihrer Schamhaftigkeit, einen Teil ihres Fleisches. Und die ganze Zeit, während das Kind trank, sah sie sie gerührt an und rief dabei die Erinnerung an die Küsse wieder wach, deren lebenswarmen Duft sie bewahrt zu haben schien.
Aus der Ferne herüberschallende Musikklänge schreckten Clotilde auf. Sie wendete den Kopf und sah hinaus in das Land, das hellbeleuchtet und vergoldet von der sinkenden Sonne dalag. Ach ja, es war jene Feierlichkeit, jene Grundsteinlegung dort unten! Und sie richtete die Augen wieder auf das Kind und ging von neuem ganz in dem Vergnügen auf, es bei so gutem Appetite zu sehen. Sie hatte eine kleine Bank herbeigezogen, um eines ihrer Kniee etwas in die Hohe zu stellen, und hatte sich mit der einen Schulter gegen den Tisch gestützt, in der Nähe des Stammbaumes und der geschwärzten Fragmente der Akten. Ihre Gedanken schwebten davon und ergingen sich in süßen, seligen Träumen, während sie den besten Teil von ihr, die reine Milch, mit leisem Geräusch fließen hörte, was ihr immer mehr und mehr das kleine Wesen zu eigen machte, das aus ihrem Schoße hervorgegangen war. Das Kind war gekommen, vielleicht der Erlöser. Die Glocken hatten geläutet, die königlichen Magier hatten sich auf den Weg gemacht, gefolgt von den Völkerschaften und der ganzen festlich gestimmten Natur, die dem Kleinen in den Windeln zulächelte. Und während er so ihr Leben trank, träumte sie, die Mutter, schon von der Zukunft. Was würde aus ihm werden, wenn sie ihn groß und stark gemacht haben würde, indem sie sich ihm so ganz und gar widmete? Ein Gelehrter, der die Welt ein wenig in der ewigen Wahrheit unterrichten würde, ein Feldherr, der seinem Vaterlande Ruhm bereiten würde, oder besser noch, einer jener Volkshirten, die die Leidenschaften beschwichtigen und der Gerechtigkeit zur Herrschaft verhelfen? Sie sah ihn schon als einen sehr schönen, sehr guten und sehr mächtigen Mann vor sich. Und es war der Traum aller Mütter, die Gewißheit, mit dem erwarteten Messias niedergekommen zu sein. Und es lag in dieser Hoffnung, in diesem hartnäckigen Glauben jeder Mutter an den sicheren Triumph ihres Kindes die Hoffnung selbst, die das Leben schafft, der Glaube, der der Menschheit die sich ohne Unterlaß wieder gebärende Kraft, weiter zu leben, verleiht.
Was würde aus dem Kinde werden? Sie versuchte Ähnlichkeiten an ihm zu entdecken. Von seinem Vater hatte es sicherlich die Stirne und die Augen und etwas von dem Hohen und Kräftigen in der Schulterbreite und dem Kopfe. Sich selbst erkannte sie wieder in seinem kleinen Munde und seinem zarten Kinn. Dann waren es die anderen, die sie in stummer Angst an ihm suchte, die entsetzlichen Vorfahren, alle diejenigen, deren Namen da in dem Stammbaume eingeschrieben waren, der den Trieb der erblichen Blätter darstellte. Wäre es wohl dieser hier oder jener da oder etwa jener dritte dort, dem er gleichen würde? Und sie beruhigte sich dennoch, es war ihr gar nicht möglich, nicht zu hoffen, so sehr war ihr Herz geschwellt von der ewigen Hoffnung. Der Glauben an das Leben, den der Meister in ihr eingewurzelt hatte, erhielt sie mutig, aufrecht und unerschütterlich. Was hatten das Elend, die Leiden, die Schandthaten zu bedeuten! Die Gesundheit lag in der allgemeinen Arbeit, in der Kraft, die befruchtet und gebiert. Das Werk war gut, wenn am Ende der Liebe das Kind da war. Von nun an that sich die Hoffnung wieder auf trotz der zu Tage getretenen wunden Punkte, trotz des düsteren Bildes der menschlichen Schande. Das war das ununterbrochen fortgesetzte, immer wieder versuchte Leben, das man nicht müde wird für gutzuhalten, da man sieht, mit welcher Leidenschaft der Mensch daran hängt mitten zwischen der Ungerechtigkeit und dem Schmerze.
Clotilde hatte ganz unwillkürlich einen Blick auf den Stammbaum ihrer Vorfahren geworfen, der neben ihr auf dem Tische ausgebreitet da lag. Ja! Die Gefahr war vorhanden, so viele Verbrechen und soviel Schmutz neben soviel Thränen und soviel leidender Güte! Es war eine so außerordentliche Mischung von Ausgezeichnetem und Schlimmem, es war mit kurzen Worten eine Menschheit mit allen ihren Mängeln und Streitigkeiten. Man hatte sich fragen können, ob es denn nicht von größerem Werte gewesen sein würde, dieses ganze verdorbene und elende Gewimmel mit einen: einzigen Blitzstrahle zu vernichten. Und nach so vielen schrecklichen Rougons und so vielen fürchterlichen Macquarts war jetzt noch einer von ihnen erschienen. Das Leben fürchtete sich nicht davor, noch einen von ihnen zu schaffen, in der mutigen Herausforderung seiner Ewigkeit. Es verfolgte sein Werk, es pflanzte sich fort nach seinen Gesetzen, gleichgiltig gegen Hypothesen, in dem Fortgange seiner unendlichen Arbeit. Selbst auf die Gefahr hin, Ungeheuer zu erzeugen, mußte es erschaffen, da es trotz der Kranken und Narren, die es erschafft, nicht müde wird, zu schaffen, ohne Zweifel in der Hoffnung, daß die Gesunden und Vernünftigen eines Tages kommen werden. Das Leben, das in einem Strome dahinfließt, der anhält und wieder von neuem anfängt, nach dem unbekannten Ziel hin! Das Leben, in dem wir schwimmen, das Leben mit all jenen unendlichen und entgegengesetzten Strömungen, das gewaltige Leben, das sich immer in Bewegung befindet, wie ein Meer ohne Grenzen!
Ein Strom heißer mütterlicher Liebe stieg von dem Herzen Clotildens auf, die glücklich darüber war, daß sie den kleinen Mund so gierig an ihr trinken fühlte. Es war wie ein Gebet, wie ein Flehen zu dem unbekannten Kinde wie zu dem unbekannten Gotte! Ein Gebet zu dem Kinde, das morgen kommen würde, zu dem Genie, das vielleicht geboren würde, zu dem Messias, den das nächste Jahrhundert erwartete und der die Völker aus allen ihren Zweifeln und allen ihren Leiden reißen würde! Na das Volk wieder vermehrt werden sollte, kam denn jener nicht zur Erfüllung dieser Aufgabe? Er würde die gemachten Erfahrungen benützen, er würde die Mauern wieder aufrichten, er würde den unsicher im Dunkeln herumtastenden Menschen die Gewißheit verschaffen, er würde die Stadt der Gerechtigkeit erbauen, wo das einzige Gesetz der Arbeit das Glück sichern würde. In den unruhigen Zeiten muß man die Propheten erwarten. Es sei denn, daß er der Antichrist war, der Dämon der Vernichtung, das verheißene Ungeheuer, das die zu wüst gewordene Erde von der Unreinheit säubern würde. Und das Leben würde trotz allem fortdauern, man müßte sich nur noch Tausende von Jahren gedulden, bevor das andere unbekannte Kind erscheinen würde, der Wohlthäter.
Das Kind hatte jetzt die rechte Brust erschöpft; und da es böse wurde, nahm es Clotilde wieder und gab ihm die linke Brust. Dann begann sie von neuem beglückt zu lächeln über die zärtliche Gier der kleinen Lippen. Sie war trotz allem voller Hoffnung. Eine Mutter, die stillt, ist sie nicht das Abbild der fortdauernden und geretteten Welt? Sie hatte sich zu dem Kleinen herabgebeugt, sie war seinen hellen Augen begegnet, die sich entzückt öffneten, voller Sehnsucht nach dem Lichte. Was sagte es, das kleine Wesen, für das sie ihr Herz klopfen fühlte unter ihrer Brust, die es erschöpfte? Welches gute Wort sprach es aus mit dem leisen Saugen des Mundes? Zu welchem Zwecke wurde es sein Blut hingeben, wenn es ein Mann geworden wäre, stark von all der Milch, die es getrunken hatte? Vielleicht sagte es nichts, vielleicht log es schon, und sie war dennoch so glücklich, so voll unbedingten Vertrauens in das Kind!
Von neuem erklangen in der Ferne die Fanfaren der Blechinstrumente. Das mußte die Apotheose sein, der Augenblick, wo die Großmutter Felicité mit ihrer silbernen Kelle den ersten Stein zu dem Monumente legte, das zum Ruhme der Rougons errichtet wurde. Der unermeßliche blaue Himmel strahlte in festlichem Glanze, gleich als wenn er sich freute über den sonntäglichen Frohsinn. Und in der wohlthuenden, warmen Stille, in dem tiefen, einsamen Frieden des Arbeitssaales lächelte Clotilde beglückt herab auf ihr Kind, das noch immer trank und seinen kleinen Arm gerade in die Luft emporstreckte wie ein Banner, das zum Leben rief.
Ende