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Als an diesem Tage die alte Frau Rougon auf die Souleiade kam, bemerkte sie die alte Martine in dem Gemüsegarten, die gerade damit beschäftigt war, Lauch zu pflanzen; sie nahm diese günstige Gelegenheit sofort wahr und ging auf die Haushälterin zu, um mit ihr zu schwatzen und sie auszuhorchen, bevor sie das Haus betrat.
Die Zeit verging, und die alte Dame war ganz untröstlich über die Desertion Clotildens, wie sie zu sagen pflegte. Sie fühlte genau, daß sie die Akten niemals durch das junge Mädchen erhalten würde. Diese Kleine war auf bedenkliche Abwege geraten; sie näherte sich Pascal wieder, seitdem sie ihn gepflegt hatte, und verirrte sich dabei so weit, daß sie sie seitdem nie wieder in der Kirche gesehen hatte. Sie war daher auf ihre frühere Idee zurückgekommen, sie zu entfernen und dann ihren Sohn zu gewinnen, wenn er allein sein würde und durch die Einsamkeit mürbe geworden wäre. Da sie Clotilden nicht dazu hatte bestimmen können, ihrem Bruder Maxime nach Paris zu folgen, so begeisterte sie sich für die Heirat; sie hätte sie gar zu gern schon am vorhergehenden Tage dem Doktor Ramond in die Arme werfen wollen, unzufrieden mit den fortwährenden Verzögerungen. Und nun kam sie heute nachmittag herbeigeeilt in dem fieberhaften Verlangen, die Sache so viel als möglich zu beschleunigen.
»Guten Tag, Martine ... Nun, wie geht es denn hier?«
Die alte Haushälterin, die am Boden kniete und die Hände voller Erde hatte, hob ihr blasses Gesicht empor, das sie durch ein um die Haare gebundenes Tuch gegen die Sonnenstrahlen schützte.
»Wie immer, Frau Rougon, still und ruhig.«
Und nun plauderten sie. Felicité behandelte die Alte heute als Vertraute, die der Familie ganz ergeben war und mit der man über alles reden konnte! Sie begann sie auszufragen, sie wollte wissen, ob Doktor Ramond nicht heute morgen da gewesen wäre. Ja, er wäre dagewesen, aber man hätte ganz gewiß nur über gleichgiltige Dinge gesprochen. Felicité war ganz außer sich, denn sie hatte Doktor Ramond am vorhergehenden Abend gesprochen, und er hatte sich ihr anvertraut und ihr sein Leid geklagt, daß er noch immer keine definitive Antwort erhalten hätte; es läge ihm viel daran, jetzt wenigstens das Jawort von Clotilde zu bekommen. Das konnte nicht länger so fortgehen; man mußte das junge Mädchen zwingen, sich zu verloben.
»Er ist zu zartfühlend,« rief sie ärgerlich, »ich habe es ihm auch gesagt. Ich wußte es im voraus, daß er auch heute morgen nicht wagen würde, sie zu einer Erklärung zu zwingen ... Aber jetzt werde ich mich hineinmischen. Wir wollen doch sehen, ob ich sie nicht dahin bringe, daß sie einen Entschluß faßt.«
Dann fuhr sie ruhiger fort:
»Mein Sohn ist jetzt wieder gesund, er braucht sie also nicht mehr.«
Die alte Martine, die sich wieder daran gemacht hatte, ihren Lauch zu pflanzen, richtete sich aus ihrer gebückten Stellung lebhaft auf.
»Ja, das ist richtig!«
Und auf ihrem in dreißigjähriger Dienstbarkeit alt gewordenen Gesicht erglänzte wieder ein freudiger Schimmer. Seitdem ihr Herr sie fast gar nicht mehr bei sich duldete, blutete in ihrem Inneren eine schmerzliche Wunde. Während seiner ganzen Krankheit hatte er sie von sich entfernt gehalten, indem er immer weniger und weniger ihre Dienste in Anspruch nahm und endlich die Thüre seines Zimmers ganz vor ihr verschloß. Sie hatte eine unbestimmte Ahnung von dem, was vor sich ging, und bei ihrer Verehrung für Doktor Pascal, bei dem sie während einer so langen Reihe von Jahren etwas gegolten hatte, quälte sie eine instinktive Eifersucht.
»Wir haben das Fräulein ganz bestimmt nicht mehr nötig ... Ich bin vollständig genug für den Herrn Doktor.«
Dann sprach sie ganz bescheiden von ihren Gartenarbeiten, sagte, daß sie noch Zeit genug fände, ihr Gemüse zu besorgen, damit sie wenigstens einige Tage in der Woche keinen Arbeitsmann brauche. Das Haus wäre ja gewiß groß; aber wer sich nicht vor der Arbeit fürchtete, der würde auch damit zu Ende kommen. Und wenn das Fräulein sie verlassen würde, wäre ja auch eine Person weniger zu bedienen. Und ihre Augen leuchteten unbewußt bei dem Gedanken an die große Einsamkeit, an den glücklichen Frieden, in dem man nach der Abreise Clotildens hier leben würde.
Sie senkte ihre Stimme.
»Für mich wird es jedenfalls recht schwer werden, da der Herr Doktor sehr an dem Fräulein hängt. Niemals hätte ich geglaubt, daß ich diese Trennung wünschen würde. Allein ich denke wie Sie, Frau Rougon, daß sie notwendig ist, denn ich hege die große Befürchtung, daß das Fräulein hier noch ganz verdorben und daß aus ihr eine für den lieben Gott verlorene Seele wird. Ach, es ist wirklich traurig, und mir ist das Herz oft so schwer davon, daß es aufschreit!«
»Sie sind alle beide oben, nicht wahr?« fragte Felicité. »Ich werde jetzt hinaufgehen und mit ihnen reden; ich will mich bemühen, sie dahin zu bringen, daß sie der Sache endlich ein Ende machen.«
Als sie eine Stunde später wieder herunterkam, fand sie die alte Martine immer noch auf den Knieen in der weichen Erde liegend und ihre Anpflanzungen beendigend.
Oben habe ihr Pascal nach den ersten Worten, als sie erzählt hätte, daß sie mit Doktor Ramond gesprochen habe und daß er sich sehr ungeduldig zeige, sein Schicksal kennen zu lernen, entschieden beigestimmt; er wäre sehr ernst gewesen und habe mit dem Kopfe genickt, wie um anzudeuten, daß diese Ungeduld ihm sehr natürlich erscheine. Clotilde selbst habe aufgehört zu lächeln, und es habe ganz den Anschein gehabt, als ob sie ihr willfährig zuhöre. Aber dann habe sie doch große Verwunderung gezeigt. Warum man sie denn dränge? Der Meister habe die Heirat auf die zweite Juniwoche festgesetzt, sie habe also noch zwei lange Monate vor sich. In den nächsten Tagen würde sie mit Ramond darüber sprechen. Die Heirat wäre etwas so Ernstes, daß man ihr doch wohl Zeit zur Ueberlegung lassen könnte. Erst in der letzten Minute würde sie sich verloben. Ueberdies hätte sie dies alles mit ihrer klugen Miene gesagt wie eine Person, die entschlossen sei, ihren Standpunkt zu wahren.
Felicité hatte sich damit zufrieden gegeben, daß die beiden oben augenscheinlich auch den Wunsch hegten, die Sache möchte auf diese Weise die vernünftigste Lösung finden.
»Ich glaube wirklich, daß alles jetzt in Ordnung ist,« schloß sie. »Er scheint kein Hindernis in den Weg zu legen und sie will nur die Sache nicht übereilen; sie ist eines von den Mädchen, die sich erst in ihrem Herzen fragen wollen, ehe sie sich für das Leben binden ... Ich will ihr daher auch noch acht Tage zum Ueberlegen lassen.«
Martine hatte sich auf ihre Hacken gesetzt und betrachtete mit starren Blicken die Erde, während ein trüber Schatten sich über ihr Gesicht breitete.
»Ja, ja!« murmelte sie mit leiser Stimme vor sich hin. »Das Fräulein denkt seit einiger Zeit sehr viel nach ... Ich finde sie in allen Ecken träumend sitzen. Spricht man sie an, so erhält man gar keine Antwort von ihr. Sie ist ganz wie die Leute, die den Keim einer Krankheit in sich tragen und deren Augen nach innen gerichtet sind ... Es geht da etwas vor, sie ist nicht mehr dieselbe, gar nicht mehr dieselbe ...«
Dann nahm sie ihr Steckholz wieder zur Hand und grub in ihrem unermüdlichen Arbeitseifer ihre Lauchpflänzchen weiter ein, während die alte Frau Rougon etwas beruhigt fortging, da, wie sie sagte, die Heirat jetzt sicher sei.
Pascal schien in der That Clotildens Heirat als etwas fest Beschlossenes, Unvermeidliches anzusehen. Er hatte mit ihr nicht wieder darüber gesprochen; die seltenen Anspielungen, die sie unter sich darauf machten in ihren stündlichen Gesprächen, ließen sie ganz ruhig. Es war gerade, als ob die beiden Monate, die sie noch mit einander zu verleben hatten, ohne Ende sein müßten, eine Ewigkeit, deren Aufhören sie gar nicht erleben könnten. Sie vor allem sah ihn immer lächelnd an, verscheuchte alle Sorgen, verschob alle Beschlußfassung auf eine spätere Zeit mit einer lustigen, unbekümmerten Miene, die sich ganz auf das wohlthätige Leben verließ. Er, geheilt, fand seine Kräfte mit jedem Tage mehr und mehr wieder und war nur betrübt, wenn er am Abend, nachdem sie sich zur Ruhe begeben hatte, in die Einsamkeit seines Zimmers zurückkehrte. Dann überlief es ihn kalt; ein Schauer durchrieselte ihn bei dem Gedanken, daß nun bald eine Zeit kommen sollte, wo er immer allein sein würde. War es denn das beginnende Greisenalter, das ihn so zittern machte? Das erschien ihm von weitem wie eine in tiefes Dunkel gehüllte Gegend, in der er jetzt schon seine ganze Energie sich auflösen fühlte. Und dann erfüllten ihn auch der schmerzliche Gedanke an die Frau, an das Kind, die ihm fehlten, mit Unwillen und quälte ihn mit unerträglicher Bangigkeit.
Ach, daß er nicht gelebt hatte! In mancher Nacht ging er sogar so weit, die Wissenschaft zu verfluchen, die er beschuldigte, ihm den besten Teil seiner Männlichkeit genommen zu haben. Er hatte sich von der Arbeit ganz aufzehren lassen, sie hatte ihm das Gehirn zernagt, sie hatte ihm das Herz zernagt, sie hatte ihm die Muskeln zernagt.
Außer jener einzigen großen Leidenschaft war er nur für die Bücher geboren, nur für beschriebenes Papier, das der Wind ohne Zweifel davontragen würde, deren kalte, leblose Blätter ihm die Hände erstarren ließen, wenn er sie öffnete. Und er hatte keine lebenswarme Frauenbrust an die seine zu drücken, keine weichen Kinderhaare zu küssen! Er hatte nur in der kalten Hülle eines egoistischen Gelehrten gelebt, und darin würde er auch sterben. Sollte er denn wirklich so sterben? Sollte er denn nicht auch das Glück genießen wie die einfachen Packträger und Fuhrleute, deren Peitschen unter seinen Fenstern knallten? Aber dann hätte er sich schon beeilen müssen, denn ohne Zweifel würde bald keine Zeit mehr dazu sein. Seine ganze ungenossene Jugend, alle seine zurückgedrängten und aufgespeicherten Wünsche stiegen ihm in einem aufbrausenden Strom in die Adern. Es war das leidenschaftliche Verlangen nach Liebe, es war der heiße Wunsch, noch einmal aufzuleben, um die Leidenschaften erschöpfend zu genießen, die er noch nicht gekostet hatte, sich an allem zu berauschen, bevor er ein Greis würde. Er würde an die Thüren klopfen, er würde die Vorübergehenden anhalten, er würde das Land und die Stadt durchsuchen. Dann am folgenden Morgen, wenn er sich mit kaltem Wasser gewaschen hatte und sein Zimmer verließ, legte sich seine fieberhafte Aufregung wieder, die glühenden Bilder verschwanden, und er fiel wieder zurück in seine natürliche Schüchternheit. In der folgenden Nacht aber brachte ihm die Furcht vor dem Alleinsein die gleiche Schlaflosigkeit wieder, sein Blut wurde rebellisch, und die gleichen verzweifelten Zustände traten ein, die gleiche Erregtheit, das gleiche Verlangen, nicht zu sterben, ohne das Weib erkannt zu haben.
Während dieser fieberheißen Nächte träumte er bei offenen Augen immer den nämlichen Traum. Eine Straßendirne ging vorüber, ein wunderbar schönes Mädchen von zwanzig Jahren, sie trat bei ihm ein und ließ sich vor ihm auf die Kniee nieder in demütiger Verehrung, und er heiratete sie. Es war eine jener Liebespilgerinnen, wie man sie in den alten Geschichten findet, die einem Sterne gefolgt war und kam, um einem alten, sehr mächtigen und ruhmbedeckten König die Gesundheit und die Kraft wieder zu verleihen. Er war der alte König und sie betete ihn an, sie bewirkte mit ihren zwanzig Jahren das Wunder, ihm seine Jugend wieder zu verschaffen. Er ging triumphirend aus ihren Armen hervor, er hatte den Glauben, den Mut zum Leben wieder gefunden In einer Bibel aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die er besaß und die mit naiven Holzschnitten geschmückt war, interessirte ihn vor allem ein Bild: Der alte König David, in sein Zimmer zurückkehrend, die Hand gelegt auf die nackte Schulter der Abisaig, der jungen Sunemitin. Und er las den Text aus der gegenüberliegenden Seite: »Als der König David alt geworden war, konnte er sich gar nicht erwärmen, obgleich man ihn fest zudeckte. Da sagten seine Diener zu ihm ›Wir werden ein junges Madchen, eine Jungfrau, für den König, unsern Herrn, suchen, damit sie immer in der Nähe des Königs bleibt, damit sie ihn unterhalten kann und damit sie, bei ihm schlafend, den König, unsern Herrn, erwärmt.‹ Sie suchten also in allen Landen Israels ein Mädchen, das jung und schön war, sie fanden Abisaig, die Sunemitin, und führten sie zu ihm; sie war ein junges Mädchen von großer Schönheit, sie schlief bei dem König und sie diente ihm ...« War das Frieren des alten Königs nicht dasselbe, was ihn jetzt durchkältete, wenn er allein in seinem Bette lag unter dem düstern Plafond seines Zimmers? Und die Straßendirne, die Liebespilgerin, die sein Traum ihm zuführte, war das nicht die unterwürfige und gelehrige Abisaig, die aus Liebe Dienende, die sich ganz ihrem Herrn hingab, einzig und allein zu seinem Besten? Er sah sie immer vor sich als Sklavin, die glücklich war, sich ihm ganz widmen zu dürfen, gewärtig des leisesten Winkes, von einer so auffallenden Schönheit, daß sie ihm fortwährend zur Freude gereichte, und von einer solch liebenswürdigen Sanftmut, daß er sich wie überströmt von süß duftenden Essenzen fühlte. Dann zogen, wenn er so zuweilen die alte Bibel durchblätterte, noch andere Bilder an ihm vorüber, und seine Phantasie verlor sich in jene entschwundene Welt der Patriarchen und Könige. Welcher Glaube an die lange Lebensdauer des Mannes, an seine Zeugungskraft, an seine Allmacht über die Frauen lebte damals, als jene außerordentlichen Männer der Geschichte noch im Alter von hundert Jahren ihre Gattinnen schwängerten, ihre Sklavinnen in ihr Bett aufnahmen und auch sonst noch junge Witwen und Jungfrauen, die ihnen begegneten! Da war der hundertjährige Abraham, der Vater von Ismael und Isaak, der Gemahl seiner Schwester Sarah und der gehorsame Herr seiner Sklavin Hagar! Da war die köstliche Idylle von Ruth und Boas; sie kam als junge Witwe nach Bethlehem während der Erntezeit und legte sich in einer lauwarmen Nacht zu den Füßen ihres Herrn schlafen, der das Recht, das sie forderte, verstand und sie heiratete als eine Verwandte durch Verschwägerung, nach dem Gesetze. Das war jener freie Trieb eines starken und lebenskräftigen Volkes, dessen Werke die Welt erobern mußten, jene Männer mit ihrer niemals erlöschenden Manneskraft, jene immer fruchtbaren Frauen, jene ununterbrochene, kräftige Fortpflanzung des Geschlechtes durch Verbrechen, Ehebruch, Blutschande und Liebe, die kein Alter und keine Vernunft kannte, hindurch! Und sein Traum nahm endlich vor diesen allen naiven Holzschnitten für ihn eine wirkliche Gestalt an. Abisaig trat in sein düsteres Zimmer, das sie erhellte und mit süßem Duft erfüllte; sie öffnete ihre nackten Arme, ihre nackten Schenkel, sie zeigte ihre ganze göttergleiche Nacktheit, um ihm ihre königliche Jugend zum Geschenke zu geben.
Ah, die Jugend! Er hatte nach ihr einen wahren Heißhunger! Beim Niedergange seines Lebens war dieses leidenschaftliche Verlangen nach der Jugend die Auflehnung gegen das drohende Greisenalter, ein verzweifeltes Streben nach einem Rückschreiten in die Vergangenheit, nach einem Wiederanfangen. Und bei diesem Wunsch, noch einmal mit dem Leben anfangen zu dürfen, empfand er nicht nur das Bedauern um das versäumte erste Glück, den unschätzbaren Wert der vergangenen Stunden, denen die Erinnerung den Reiz verleiht, sondern er hatte auch den festen Willen, diesesmal seine Gesundheit und seine Kraft zu genießen, nichts von den Liebesfreuden zu verlieren. Ah, die Jugend, wie würde er sich darin festgebissen haben mit der ganzen Kraft seiner Zähne, wie würde er sie noch einmal genossen und durchkostet haben, bevor er alt wurde! Eine schmerzliche Erregung packte ihn, als er sich noch einmal als Jüngling von zwanzig Jahren sah mit schlanker Gestalt und der gesunden Kraft einer jungen Eiche, mit glänzend weißen Zähnen und üppigen schwarzen Haaren. Mit welcher Begeisterung würde er sie feiern, diese damals verachteten Gaben, wenn ein Wunder sie ihm wieder verliehen hätte! Und die Jugend bei der Frau, ein junges Mädchen, das an ihm vorüberging, beunruhigte ihn, versetzte ihn in tiefe Rührung. Und dies brachte sogar oft, ganz abgesehen von der Person, allein nur das Bild der Jugend hervor, der reine Duft und Glanz, der von ihr ausging, die hellen Augen, die gesunden Lippen, die frischen Wangen, vor allem der zarte, atlasweiche, runde Hals, beschattet von den widerspenstigen Löckchen im Nacken; und die Jugend erschien ihm immer schon und groß, einer Göttin gleich in ihrer ruhigen Nacktheit. Seine Blicke folgten der Erscheinung, sein Herz versank in ein unendliches Verlangen. Nur die Jugend war gut und begehrenswert, sie war die Blume der Welt, die einzige Schönheit, die einzige Freude, das einzige wahre Gut neben der Gesundheit, welches die Natur dem Sein verleihen konnte. Ach, noch einmal wieder anfangen, noch einmal wieder jung sein, für sich in heißer Umarmung ein junges Weib ganz haben zu können!
Pascal und Clotilde hatten jetzt, seitdem die schönen Apriltage die Obstbäume zum Blühen gebracht hatten, ihre Morgenpromenaden durch die Souleiade wieder aufgenommen. Er machte seine ersten Rekonvaleszentenspaziergänge, sie führte ihn auf den großen freien Platz, wo es schon sehr heiß war, sie geleitete ihn durch die Alleen des Fichtenwaldes und brachte ihn zurück auf die Terrasse, die nur die Schattenstreifen der beiden hunderjährigen Cypressen durchschnitten. Die Sonne brannte schon heiß auf die alten Steinplatten, unendlich breitete sich der Horizont aus unter dem strahlenden Himmelszelte.
Und eines Morgens, als Clotilde rasch gegangen war, kehrte sie sehr erregt, sich schüttelnd vor Lachen, in lustiger Stimmung zurück, daß sie gleich in den Saal hinaufstieg, ohne vorher den Gartenhut und das leichte Spitzentuch, das sie um den Hals geschlungen hatte, abgelegt zu haben
»Ach!« rief sie, wie ist mir heiß! Und wie dumm bin ich, daß ich unten nicht erst abgelegt habe! Ich will gleich wieder hinuntergehen!«
Sie hatte beim Hereinkommen das Spitzentuch auf einen Fauteuil geworfen. Aber ihre Hände wurden ungeduldig, als sie die Bindbänder ihres großen Strohhutes lösen wollte
»Das ist ja sehr schön! Da habe ich einen Knoten gemacht! Damit werde ich nicht allein fertig werden! Du mußt nur zu Hilfe kommen!«
Pascal war auch angeregt von dem Spaziergange und freute sich, wie er sie so schön und glücklich vor sich sah. Er trat näher und mußte sich ganz an sie anlegen.
»Paß auf, hebe das Kinn in die Höhe! Ach, Du bewegst Dich ja immer! Wie glaubst Du wohl, daß ich mich damit zurecht finden soll?«
Sie lachte noch lauter; er sah dieses Lachen, das in einer sonoren Tonwelle ihrer Kehle entströmte. Seine Finger verwirrten sich unter dem Kinn, in jenem köstlichen Teile des Halses, dessen seidenweiche Haut er unwillkürlich immer berührte. Sie hatte ein sehr weit ausgeschnittenes Kleid an; er genoß ihre ganze Schönheit durch diese Oeffnung, aus der der ganze lebenswarme Duft der Frau aufstieg, die reine Blüte ihrer Jugend, erhitzt von der glühenden Sonne. Da erfaßte ihn mit einemmale ein Schwindel, er glaubte in Ohnmacht zu fallen.
»Nein, nein, ich kann es nicht, wenn Du nicht ruhig bleibst!«
Eine Blutwelle hämmerte in seinen Schläfen, seine Finger wurden nervös, während sie sich immer unruhiger hin und her bewegte, wobei ihre Jungfräulichkeit, ohne daß sie es wußte, ihn in arge Versuchung führte. Sie war eine Erscheinung von stolzer Jugend mit ihren hellen Augen, ihren gesunden Lippen, ihren frischen Wangen und dem zarten, seidenweichen, runden Halse unter dem Lockengewirr am Nacken. Und er fühlte ihren eleganten, schlanken Wuchs, ihre zarte Brust in ihrer aufblühenden, göttlichen Schönheit.
»Da, jetzt ist es geschehen!«
Ohne zu wissen, wie, hatte er die Bänder gelöst. Die Wände drehten sich mit ihm, aber er sah sie noch, jetzt ohne Hut, mit ihrem Sternenangesicht, wie sie lachend ihre blonden Haarwogen schüttelte. Da erfaßte ihn die Angst, er könnte sie in seine Arme nehmen und wahnsinnig küssen auf alle Stellen, wo sie etwas von ihrer Nacktheit zeigte. Aber er entzog sich der Gefahr, indem er ihren Strohhut, den er in der Hand hielt, forttrug, wobei er stotternd sagte:
»Ich will ihn unten im Vestibül aufhängen ... Warte hier auf mich, ich muß mit Martine sprechen.«
Unten flüchtete er sich in den verlassenen Salon und verschloß die Thüre doppelt, aus Angst, sie mochte ungeduldig werden und herunterkommen, um ihn zu suchen. Er war ganz außer sich und verstört, gleich als ob er ein Verbrechen begangen hätte. Er sprach ganz laut mit sich selbst und erzitterte heftig bei dem ersten Laut, der von seinen Lippen kam: »Ich habe sie immer geliebt und heiß ersehnt!« Ja, seitdem sie zum Weibe herangewachsen war, betete er sie an. Und er sah plötzlich klar, er sah in ihr nur das reife Weib, das sie geworden war, nachdem sie sich aus einem Gassenjungen ohne Geschlecht zu einem solch reizenden und liebenswerten Wesen entwickelt hatte, mit ihren langen, schlanken Beinen, mit ihrem hoch gewachsenen und kräftigen Oberkörper, ihrer runden Brust, ihrem runden Halse und ihren runden, biegsamen Armen. Ihr Nacken und ihre Schultern waren so weiß wie Milch, so weich und glatt wie Seide und von unendlicher Zartheit. Und es war entsetzlich, aber nur zu wahr, er empfand Verlangen nach diesem allen, verzehrendes Verlangen nach dieser Jugend, nach diesem so reinen, blühenden Fleische, das so süß duftete.
Dann brach Pascal, der sich auf einen wackligen Stuhl geworfen und das Gesicht in seine beiden verschlungenen Hände verborgen hatte, als ob er das Tageslicht nicht mehr sehen wollte, in schwere Seufzer aus. Mein Gott! Was sollte daraus werden? Ein kleines Mädchen, das ihm sein Bruder anvertraut und das er bis jetzt als guter Vater auferzogen hatte, das war heute jene Versucherin von fünfundzwanzig Jahren, das Weib in seiner ganzen gebietenden Allmacht! Er fühlte sich widerstandsloser, schwächer wie ein Kind.
Und abgesehen von diesem physischen Verlangen, liebte er sie noch mit einer unendlichen Zärtlichkeit, entzückt von ihrer moralischen und intellektuellen Persönlichkeit, von der Geradheit ihres Empfindens und von ihrem munteren, tapferen und entschlossenen Geiste. Bis zu ihrer Veruneinigung war von jener Ungewißheit des Mysteriums, das sie plagte und das sie ihm schließlich lieb und wert machte als ein Wesen, so ganz verschieden von ihm selbst, in welchem er etwas von der Unendlichkeit der Dinge wiederfand, nichts zu merken gewesen. Sie gefiel ihm in ihrer auflehnenden Haltung, wenn sie ihm die Stirne bot. Sie war seine Kameradin und Schülerin, er sah sie als die, die er aus ihr gemacht hatte, mit ihrem großen Herzen, ihrer leidenschaftlichen Freimütigkeit, ihrem siegreichen Verstande. Und ihre Anwesenheit war ihm immer notwendig; er konnte es sich gar nicht vorstellen, wie es möglich sein könnte, daß er eine Luft atmete, in der sie nicht mehr lebte. Er empfand ein stetes Bedürfnis nach ihrem Atem, nach dem Rauschen ihrer Kleider um ihn herum, nach ihren Gedanken und nach ihrer Zuneigung, von der er sich umschwebt fühlte, nach ihren Blicken, nach ihrem Lächeln, kurz nach ihrer ganzen täglichen Thätigkeit als Frau, die sie ihm bisher gewidmet hatte und die sie jetzt nicht die Grausamkeit haben würde, ihm zu entziehen. Bei dem Gedanken, daß sie fortgehen könnte, war es ihm, als ob der Himmel über seinem Haupte einstürzen sollte, als ob das Ende von allem, das letzte ewige Dunkel nahte. Sie allein existirte für ihn auf der Welt, sie allein war die Erhabene und Gute, sie die einzige Einsichtige und Kluge, die einzige Schöne, von einer wunderbaren Lieblichkeit. Warum wagte er es denn nicht, da er sie doch anbetete und da er doch ihr Meister war, sie in seine Arme zu nehmen und sie wie ein Götterbild zu küssen? Sie waren ja beide ganz frei; sie wußte ja alles ganz genau und hatte das Alter, Frau zu sein. Das würde das Glück sein.
Pascal, der jetzt nicht mehr weinte, erhob sich und wollte nach der Thür hingehen. Aber mit einemmale sank er auf den Stuhl zurück, von neuen Seufzern und Bedenken gequält. Nein, nein! Das war abscheulich, das war unmöglich! Es war ihm jetzt, als fühle er seine weißen Haare wie Eis auf seinem Kopfe; er bekam einen heftigen Schrecken wegen seines Alters, wegen seiner neunundfünfzig Jahre, wenn er an sie, an ihre fünfundzwanzig Jahre dachte. Ein Zittern hatte ihn ergriffen, vor Schreck über die Gewißheit, daß sie ihn ganz besaß, daß er ganz machtlos gegen diese tägliche Versuchung sein sollte. Und er sah sie vor sich, wie sie ihm die Bänder an ihrem Hute zu lösen gab, wie sie ihn rief und ihn zwang, sich über sie herabzubeugen, um in ihrer Arbeit irgend eine Verbesserung anzubringen, und er sah sich, wie er, verblendet und ganz außer Fassung gebracht, mit gierigen Blicken ihren Hals, ihren Nacken verschlang. Oder am Abend, was noch schlimmer war, wenn sie beide zögerten, die Lampe bringen zu lassen, das Schwachwerden bei dem langsamen Niedersinken der mitschuldigen Nacht, das unwillkürliche, unwiderstehliche Verlangen, sich gegenseitig in die Arme zu sinken. Ein heftiger Zorn regte sich in ihm gegen diese mögliche Lösung, die sogar gewiß eintreten würde, wenn er nicht den Mut zur Trennung fände. Das würde von seiner Seite das schlimmste der Verbrechen, ein Vertrauensmißbrauch, eine gemeine Verführung sein. Seine Empörung dagegen war eine derartige, daß er sich diesmal mutig erhob und wieder die Kraft besaß, hinauf in den Saal zu gehen, fest entschlossen, den Kampf zu wagen.
Oben hatte sich Clotilde still an eine Zeichnung gemacht, sie wendete nicht einmal den Kopf um, sondern begnügte sich zu sagen:
»Wie lange bist Du weg gewesen! Ich glaubte schließlich, daß Martine in ihrer Rechnung einen Fehler von zehn Sous gemacht hätte.«
Diese gewohnte Spötterei über den Geiz der alten Haushälterin brachte ihn zum Lachen. Dann setzte auch er sich ruhig an seinen Tisch. Sie sprachen nichts mehr bis zum Dejeuner. Ein süßer Frieden überkam ihn, beruhigte ihn, seitdem er wieder bei ihr war. Er wagte sie anzusehen, er wurde durch ihr feines Profil gerührt, durch ihr ernstes, stolzes Mädchenantlitz. Hatte er da unten denn einen bösen Traum gehabt? Sollte er sich so leicht besiegen können?
»Ah!« sagte er, als die alte Martine sie zum Essen rief. »Ich habe gewaltigen Hunger! Du sollst sehen, wie ich mir wieder Kräfte verschaffe!«
In fröhlicher Stimmung war sie an ihn herangetreten und hatte seinen Arm genommen.
»Das ist recht, Meister! Man muß vergnügt und mutig sein!«
Aber während der Nacht in seinem Zimmer begann die Todesangst von neuem. Bei dem Gedanken, sie zu verlieren, mußte er das Gesicht in das Kopfkissen vergraben, um seine Schreie zu ersticken. Verschiedene Bilder waren ihm deutlich vor die Seele getreten; er hatte sie in den Armen eines andern gesehen, wie sie diesem andern das Geschenk ihres jungfräulichen Körpers machte, und eine wilde Eifersucht quälte ihn. Niemals würde er den Heroismus finden, zu einem solchen Opfer seine Zustimmung zu geben. Alle Arten Pläne jagten sich in seinem armen Kopfe: er wollte sie von der Heirat abbringen, er wollte sie bei sich behalten, ohne daß sie jemals etwas von seiner Leidenschaft erfahren sollte; er wollte mit ihr fortgehen, er wollte mit ihr von Stadt zu Stadt reisen; er wollte ihrer beider Gedanken mit endlosen Studien beschäftigen, um ihr kameradschaftliches Verhältnis als Lehrer und Schülerin zu erhalten; ja, er wollte sie sogar, wenn es sein müßte, zu ihrem Bruder schicken, dessen Krankenpflegerin sie werden sollte; er wollte sie lieber verlieren, als sie einem Gatten geben. Und bei jedem dieser Pläne fühlte er, wie sein Herz blutete, wie es vor Angst aufschrie in seinem gebieterischen Verlangen, sie ganz und gar zu besitzen. Er gab sich nicht mehr zufrieden mit ihrer bloßen Anwesenheit; er wollte sie ganz allein für sich haben, so daß sie mit ihrer reinen Nacktheit, nur umwogt von der entfesselten Flut ihrer prachtvollen Haare, Licht in dem Dunkel seines Zimmers verbreitete. Seine Arme umschlangen die Leere, er sprang aus dem Bette wie ein Betrunkener hin und her taumelnd, und erst wenn er eine Zeit lang mit seinen nackten Füßen in der Dunkelheit auf dem Parket des Saales umhergeirrt war, erwachte er aus dieser plötzlichen tollen Wahnvorstellung. Großer Gott! Wohin sollte das führen? Sollte er an die Thüre des schlummernden Kindes klopfen? Sollte er sie vielleicht mit einem Schulterstoß eindrücken? Ein leichter Hauch, den er mitten in der tiefen Stille zu vernehmen glaubte, traf ihn in das Gesicht und trieb ihn wie ein heiliger Wind zurück. Er warf sich wieder auf sein Bett nieder in dem entsetzlichen Gefühl seiner Schande und Verzweiflung.
Am nächsten Morgen, als Pascal aufstand, ganz zerschlagen von seiner Schlaflosigkeit, hatte er einen festen Entschluß gefaßt. Er nahm wie an jedem Tage sein Bad und fühlte sich dadurch wieder gestählt und gesünder. Der Plan, an dem er schließlich festgehalten hatte, bestand darin, Clotilden zu zwingen, Doktor Ramond ihr Wort zu geben. Wenn sie ausdrücklich erklärte, Ramond heiraten zu wollen, so glaubte er, daß diese unwiderrufliche Lösung ihm Erleichterung verschaffen, ihm sein thörichtes Hoffen verbieten würde. Das wäre noch eine unüberschreitbare Schranke mehr, die zwischen ihm und ihr sich aufrichtete. Er würde dann in Zukunft gewappnet gegen jenes thörichte Verlangen sein, und wenn er auch immer darunter leiden müßte, so würde es doch nur der Schmerz allein sein, den er empfand, ohne jene schreckliche Angst, ein ehrloser Mensch zu werden, eines Nachts sich wieder zu erheben, um sie vor dem andern zu besitzen.
An diesem Morgen, als er dem jungen Mädchen erklärte, sie dürfe jetzt nicht mehr länger die Sache hinausschieben, sie müsse dem braven Burschen, der nun schon so lange darauf wartete, endlich eine bestimmte Antwort geben, zeigte sie sich zuerst erstaunt. Sie sah ihm scharf ins Gesicht, in seine Augen. Und er besaß die Kraft, sich nicht aus der Fassung bringen zu lassen; er behielt seine etwas bekümmerte Miene bei, als wenn er betrübt darüber wäre, daß er ihr diese Dinge zu sagen hätte.
Endlich zeigte sich auf ihrem Gesicht ein schwaches Lächeln und sie wendete ihren Kopf weg.
»Dann willst Du also, Meister, daß ich Dich verlasse?«
Er antwortete nicht direkt.
»Mein liebes Kind, ich versichere Dich, daß ein längeres Hinausschieben lächerlich wäre. Ramond würde das Recht haben, deswegen böse zu werden.«
Sie war an ihr Pult getreten, um die darauf liegenden Papiere zu ordnen. Nach einer Weile sagte sie:
»Es ist wirklich komisch., Dich jetzt in dieser Angelegenheit im Bunde mit der Großmama und der alten Martine zu sehen. Sie verfolgen mich ordentlich, daß ich der Sache ein Ende machen soll ... Ich glaubte, noch einige Tage Zeit zu haben. Aber wahrhaftig, wenn ihr alle drei zusammen mich treibt ...«
Sie vollendete ihren Satz nicht, und er zwang sie nicht, sich bestimmt zu erklären.
»Wann willst Du denn, daß ich Ramond zum Kommen auffordern soll?«
»Aber, mein Gott, er kann doch kommen, wann er will; mir sind ja seine Besuche niemals unangenehm gewesen ... Beunruhige Dich deswegen nicht; ich werde ihm sagen lassen, daß wir ihn an einem der nächsten Nachmittage erwarten.«
Am zweitfolgenden Tage wiederholte sich die Scene. Clotilde hatte in der Angelegenheit gar nichts gethan, und Pascal zeigte sich diesmal heftig. Er litt schwer, er hatte Anfälle von Angst und Verzweiflung, wenn sie nicht mehr da war, um ihn durch ihr frisches Lachen zu beruhigen. Er forderte von ihr mit rauhen Worten, daß sie sich als vernünftiges Mädchen betrage, daß sie nicht länger mit einem ehrbaren Manne, der sie liebte, ihr Spiel treiben sollte.
»Zum Teufel, wenn die Sache einmal vor sich gehen soll, so wollen wir auch ein Ende damit machen! Ich kündige Dir daher jetzt an, daß ich heute noch Ramond auffordern werde, morgen nachmittag um drei Uhr hierher zu kommen.«
Sie hatte ihn stumm angehört, die Augen zu Boden gesenkt. Weder der eine noch die andere schien der Frage näher treten zu wollen, als ob die Heirat fest beschlossen wäre, sie gingen von dem Gedanken aus, daß eine frühere, unwiderruflich gefaßte Bestimmung bestünde. Als er sah, daß sie ihren Kopf wieder emporhob, zitterte er, denn er hatte einen Hauch verspürt, der an ihm vorüberwehte, und er glaubte, daß sie im Begriffe stünde, ihm zu sagen, sie habe sich selbst gefragt und widersetze sich dieser Heirat. Mein Gott! Was sollte dann werden, was sollte er dann thun? Er war zugleich von einer unendlichen Freude und von einem wahnsinnigen Schrecken ergriffen. Aber sie sah ihn mit einem sanften, liebenswürdigen Lächeln an, das nicht wieder von ihren Lippen schwand, und antwortete mit einer unterwürfigen Miene
»Wie es Dir recht ist, Meister! Laß ihm sagen, er solle morgen nachmittag um drei Uhr hier sein.«
Die Nacht war so fürchterlich für Pascal, daß er erst sehr spät aufstand, indem er vorgab, er habe wieder einen Migräneanfall gehabt. Nur unter dem eiskalten Wasser der Douche verspürte er einige Erleichterung. Dann ging er gegen zehn Uhr aus, um, wie er sagte, Ramond selbst aufzusuchen. Aber dieser Ausgang hatte einen ganz andern Zweck; er mußte bei einer Wiederverkäuferin in Plassans ein Mieder von alten Alençonspitzen, das dort schlummerte, in der Erwartung der freigebigen Thorheit eines Verliebten; der Gedanke, Clotilden damit ein Geschenk zu machen, war ihm während der qualvollen Nacht gekommen; sie sollte sich mit den kostbaren Spitzen ihr Hochzeitskleid ausputzen. Dieser bittere Gedanke, sie auszuschmücken, sie schön zu machen für das Geschenk ihres Körpers, erweichte sein der Aufopferung müdes Herz. Sie kannte das Mieder, sie hatte es eines Tages mit ihm bewundert. Ganz entzückt davon, hegte sie nur den einen Wunsch, es in Saint-Saturnin um die Schulter der heiligen Jungfrau legen zu können, einer alten Muttergottesfigur aus Holz, die von den Gläubigen hoch verehrt wurde. Die Wiederverkäuferin übergab es ihm in einem kleinem Karton, der nichts verriet, und den er, nach Hause gekommen, in seinem Sekretär versteckte.
Um drei Uhr stellte sich Ramond ein und traf Pascal und Clotilde im Saale an, die ihn in aufgeregter Stimmung erwarteten; sie hatten übrigens ängstlich vermieden, noch einmal mit einander von seinem Besuche zu sprechen. Man lachte vergnügt, und der ganze Empfang war von einer übertriebenen Herzlichkeit.
»Sie sind ja vollständig wiederhergestellt, Meister!« sagte der junge Mann. »Noch niemals haben Sie ein so gesundes Aussehen gehabt.«
Pascal hob den Kopf in die Höhe.
»O ja! Gesund, vielleicht! Aber das Herz ist es nicht mehr!«
Dieses unwillkürliche Geständnis rief eine Bewegung bei Clotilde hervor, die die beiden Männer betrachtete, als ob sie, durch die Macht der Umstände selbst gezwungen, beide mit einander vergleichen wollte. Ramond zeigte wie immer das lachende und stolze Gesicht des schönen, von den Frauen angebeteten Arztes mit seinem schwarzen Barte und seinen dichten schwarzen Haaren, alles an ihm atmete männliche Jugendkraft. Und Pascal verriet in seinem ganzen Aussehen, mit seinen weißen Haaren und seinem weißen Barte, diesem noch so üppigen schneeigen Schmucke, die tragische Schönheit der sechsmonatlichen Qualen, die er soeben durchgemacht hatte. Sein schmerzverzogenes Gesicht war etwas gealtert, nur seine großen Augen waren jugendlich geblieben, braune, lebhafte und klare Augen. In diesem Augenblicke drückte jeder seiner Züge eine solche Freundlichkeit, eine so übergroße Güte aus, daß Clotilde schließlich ihre Blicke mit einer tiefen Zärtlichkeit auf ihm ruhen ließ. Es herrschte eine Zeit lang Schweigen, ein leichter Schauder ergriff ihre Herzen.
»Nun, meine Kinder,« nahm endlich Pascal mutvoll wieder das Wort, »ich glaube, ihr habt genug mit einander zu plaudern ... Ich habe inzwischen unten etwas zu thun, werde aber bald wieder herauf kommen.«
Und er ging fort, ihnen freundlich zulächelnd.
Sobald sie allein waren, trat Clotilde ohne Ziererei mit ausgestreckten Händen nahe an Ramond heran. Sie ergriff die seinigen und hielt sie, während sie sprach, fest.
»Hören Sie mich an, mein Freund! Ich muß Ihnen einen schweren Kummer bereiten! Sie brauchen mir aber deswegen nicht zu arg zu zürnen, denn ich schwöre Ihnen, daß ich für Sie eine innige Freundschaft empfinde.«
Er hatte sie sogleich verstanden und war blaß geworden.
»Clotilde, ich bitte Sie, geben Sie mir keine Antwort, nehmen Sie sich Zeit, wenn Sie sich noch überlegen wollen!«
»Das ist unnütz, mein Freund, ich habe meine Entscheidung getroffen.«
Sie sah ihn an mit ihrem schönen, aufrichtigen Blick, sie hatte seine Hände nicht losgelassen, damit er fühlen konnte, daß sie ohne Fieber und ihm freundlich gesinnt war. Und er war es, der mit tiefer Stimme wieder begann:
»Sie sagen also nein?«
»Ich sage nein und versichere Sie, daß ich darüber sehr bekümmert bin. Fragen Sie mich nichts, Sie werden später alles erfahren.«
Er hatte sich auf einen Stuhl niedergeworfen, von der Aufregung, die ihn ergriffen hatte, überwältigt, er, der kräftige und gesetzte Mann, dessen Gleichgewicht selbst die schlimmsten Leiden nicht erschüttern durften. Niemals hatte ihn ein Kummer so aus der Fassung gebracht. Er konnte kein einziges Wort herausbringen, während sie, vor ihm stehend, fortfuhr:
»Und vor allem, mein Freund, glauben Sie ja nicht, daß ich mit Ihnen kokettirt habe ... Wenn ich Ihnen Hoffnung gab, wenn ich Sie habe auf Antwort warten lassen, so geschah es deswegen, weil ich selbst nicht mehr klar in mir sah ... Sie können sich nicht denken, welch schreckliche Zeit ich durchgemacht habe; es war wie ein furchtbares Unwetter, das alles um mich her in Dunkel hüllte, so daß ich mich schließlich kaum noch wiederfinden konnte.«
Endlich sagte er:
»Da Sie es wünschen, will ich Sie nichts fragen ... Es genügt übrigens, wenn Sie mir eine einzige Frage beantworten. Sie lieben mich nicht, Clotilde?«
Sie zögerte nicht, sie sagte ernst mit einer innigeren Teilnahme, die die Freimütigkeit ihrer Antwort milderte:
»Es ist wahr, ich liebe Sie nicht, ich empfinde für Sie nur eine aufrichtige, freundschaftliche Zuneigung.«
Er hatte sich wieder erhoben; mit einer Handbewegung wehrte er die guten Worte ab, nach denen sie noch suchte.
»Es ist vorbei, wir wollen niemals wieder davon sprechen. Ich will Sie nur glücklich sehen. Beunruhigen Sie sich meinetwegen nicht! In diesem Augenblicke ist mir zu Mute wie einem Manne, dem das Haus über dem Kopfe eingestürzt ist. Aber ich muß mich aus dieser Stimmung herausreißen.«
Eine Glutwelle schoß ihm in das bleiche Gesicht, und der Atem ging ihm aus; er trat an das Fenster und kam dann zurück mit schleppendem Gange, bestrebt, seine Haltung wieder zu gewinnen. Tief atmete er auf.
Da hörte man in dem peinlichen Stillschweigen, das eingetreten war, Pascal geräuschvoll die Treppe heraufsteigen, um seine Rückkehr von weitem anzuzeigen.
»Ich bitte Sie,« flüsterte Clotilde hastig, »sagen Sie dem Meister nichts! Er kennt meine Entschließung nicht; ich möchte sie ihm selbst mitteilen, möglichst schonend, denn er wünschte diese Heirat sehr.«
Pascal blieb auf der Schwelle stehen. Er wankte und war ganz außer Atem, als ob er die Treppe zu rasch heraufgestiegen wäre. Er hatte jedoch noch die Kraft, ihnen freundlich zuzulächeln.
»Nun, meine Kinder, habt ihr euch ins Einvernehmen gesetzt?«
»Gewiß!« antwortete Ramond, der ebenso zitterte wie Pascal.
»Jetzt ist also alles im reinen?«
»Vollständig,« antwortete Clotilde ihrerseits, die eine Schwäche angewandelt hatte.
Pascal trat jetzt vollends in das Zimmer ein, sich beim Gehen an die Möbel anhaltend, und ließ sich vor seinem Arbeitstische in den Lehnstuhl fallen.
»Ja, ja, ihr seht, mit den Beinen geht es nicht mehr recht! Mein Körper ist eben eine alte Ruine geworden! Aber das Herz ist gesund! Und ich bin sehr glücklich, sehr glücklich, meine Kinder! Euer Glück soll mich wieder herstellen!«
Dann, nachdem sie sich einige Minuten zusammen unterhalten hatten, wurde er, als Ramond fortgegangen war, von neuem von Unruhe ergriffen, da er sich wieder mit dem jungen Mädchen allein fand.
»Es ist alles geordnet, alles in Richtigkeit, Du schwörst es mir?«
»Vollständig in Ordnung!«
Von da an sagte er nichts mehr, er hob den Kopf in die Höhe, er sah aus, als ob er wiederholen wollte, daß er entzückt sei, weil alles nun geordnet und alle jetzt endlich wieder ruhig leben könnten. Seine Augen hatten sich geschlossen, und er stellte sich, wie wenn er eingeschlafen wäre. Aber sein Herz klopfte zum Zerspringen, und die fest geschlossenen Augenlider hielten die Thränen zurück.
Als an diesem Abend Clotilde gegen zehn Uhr hinuntergegangen war, um der alten Martine noch einen Auftrag zu geben, benützte Pascal die Gelegenheit, um den kleinen Karton, der das Spitzenmieder enthielt, auf das Bett des jungen Mädchens zu legen. Sie kam wieder herauf und wünschte ihm wie gewöhnlich gute Nacht; und es waren kaum zwanzig Minuten vergangen, seitdem er sich in sein Zimmer zurückgezogen, und er war schon in Hemdsärmeln, als vor seiner Thür eine laute Fröhlichkeit ausbrach. Eine kleine Hand klopfte, und eine frische Stimme rief unter Lachen:
»Komm doch, komm doch und sieh es Dir an!«
Diesem Rufe der Jugend konnte er nicht widerstehen und gewonnen durch diese Freude öffnete er die Thüre.
»O, komm doch, komm doch und sieh Dir an, was ein guter Geist mir auf mein Bett gelegt hat!«
Und sie führte ihn in ihr Zimmer, ohne daß er etwas dagegen einwenden konnte. Sie hatte dort die beiden Kerzen angezündet, so daß das ganze alte Zimmer ein freundliches Aussehen hatte mit seinen Tapeten von einem unendlich zarten verblaßten Rosa und in eine Kapelle umgewandelt zu sein schien; und auf das Bett hatte sie das Mieder aus alten Alençonspitzen ausgebreitet wie einen heiligen Rock, der zur Anbetung für die Gläubigen ausgestellt ist.
»Nein, diese Ueberraschung! Denke Dir nur, ich habe den Karton zuerst gar nicht gesehen ... Wie alle Abende machte ich meine Toilette für die Nacht; ich zog mich aus, und als ich dann an mein Bett ging, um mich hineinzulegen, da bemerkte ich erst Dein Geschenk ... Ah, welche Ueberraschung! Mein Herz kehrte sich dabei ganz um! Ich fühlte gleich, daß ich nicht bis morgen würde warten können. Ich zog daher rasch meine Jacke wieder an und eilte an Dein Zimmer, um Dich zu suchen.« Da erst bemerkte er, daß sie nur halb angekleidet war, wie an jenem Gewitterabend, wo er sie überrascht hatte, als sie im Begriffe stand, die Akten zu rauben. Und sie erschien ihm göttlich in dem vornehmen Ebenmaß ihres jungfräulichen Körpers, mit ihren schlanken Beinen, ihren biegsamen Armen, ihrem geschmeidigen Oberkörper und ihrem zarten, nackten Busen.
Sie hatte seine Hände ergriffen, sie drückte sie mit ihren kleinen Händen, die die seinen zärtlich umschlossen, an sich.
»Wie gut Du bist, und wie ich Dir danke! Ein solches Wunderwerk, ein so schönes Geschenk mir, die ich doch ein Nichts bin! Und Du hast Dich daran erinnert, daß ich es einmal bewundert habe, dieses Wunderwerk der alten Kunst, daß ich gesagt habe, die heilige Jungfrau allein wäre würdig, es um ihre Schultern zu tragen ... Ich bin zufrieden, o, wie zufrieden! Denn, siehst Du, es ist wahr, ich bin kokett, von einer Koketterie, die zuweilen Thörichtes wünscht, buntgestickte Kleider, Spinnengewebe, hergestellt aus dem Blau des Himmels ... Wie schön werde ich sein! Wie schön werde ich sein!«
Strahlend in ihrer überfließenden Dankbarkeit drückte sie sich an ihn, während sie immer das Mieder ansah und ihn so zwang, es mit ihr zu bewundern. Dann erfaßte sie eine plötzliche Neugierde.
»Aber sage mir doch, zu welchem Zwecke hast Du mir denn eigentlich dieses königliche Geschenk gemacht?«
Seitdem sie herbeigeeilt war, um ihn in einem lauten Freudenausbruch zu suchen, wandelte Pascal wie in einem Traume befangen umher. Er fühlte sich durch diese so zarte Dankbarkeit zu Thränen gerührt, und dieses Gefühl hielt an ohne die Angst, die er davor hatte; er fühlte sich im Gegenteile beruhigt, ganz von Freude erfüllt wie beim Nahen eines großen, wunderbaren Glückes. Dieses Zimmer, das er niemals betreten hatte, atmete den stillen Frieden der heiligen Orte, die den unbefriedigten Durst nach dem Unmöglichen stillen.
Sein Gesicht drückte trotzdem lebhafte Verwunderung aus und, er antwortete:
»Dieses Geschenk, mein liebes Kind, ist natürlich für Dein Hochzeitskleid bestimmt.«
Sie blieb einen Augenblick vor Verwunderung stumm und sah aus, als ob sie ihn nicht verstünde. Dann aber erheiterten sich ihre Züge von neuem, und ihre Lippen umspielte wieder das eigentümliche süße Lächeln, was er schon seit einigen Tagen an ihr bemerkt hatte.
»Ach, es ist wahr! Meine Heirat!«
Darauf wurde sie wieder ernst und fragte ihn:
»Du willst mich also los werden, Du willst mich nicht mehr hier bei Dir behalten, da Du es Dir so angelegen sein läßt, mich zu verheiraten? Hältst Du mich denn immer noch für Deine Feindin?«
Er fühlte die Qual von neuem nahen, er sah sie gar nicht mehr an, da er standhaft sein wollte.
»Ohne Zweifel! Bist Du denn nicht meine Feindin? Wir haben während der letzten Monate so viel gelitten, der eine durch den andern! Es ist besser, wenn wir uns trennen! Und dann weiß ich ja auch gar nicht, was Du denkst! Du hast mir niemals die Antwort gegeben, die ich erwartete!«
Vergebens suchte sie seine Augen. Sie schickte sich an, von jener schrecklichen Nacht zu sprechen, in der sie die Akten zusammen durchgelesen hatten. Es war richtig, in der Erschütterung ihres ganzen Wesens hatte sie ihm noch nicht gesagt, ob sie für ihn oder gegen ihn wäre. Er hatte das Recht, eine Antwort zu fordern.
Sie ergriff seine Hände wieder; sie zwang ihn, sie anzusehen.
»Und deswegen, weil ich Deine Feindin bin, schickst Du mich fort? Ich bin nicht Deine Feindin, ich bin Deine Sklavin, Dein Eigentum, Dein Werk ... Hörst Du? Ich bin mit Dir, ich bin für Dich, für Dich allein!«
Er strahlte, ein Abglanz unendlicher Freude zeigte sich in seinen Augen.
»Ja, ich werde diese Spitzen anlegen! Sie sollen mir in meiner Hochzeitsnacht dienen, denn ich will schön sein, sehr schön sein für Dich ... Aber Du hast mich noch immer nicht verstanden! Du bist mein Meister, Du bist es, den ich liebe ...«
Bestürzt versuchte er ihr mit der Hand den Mund zu verschließen, aber vergebens! Sie vollendete ihren Satz:
»Und Du bist es, den ich will!«
»Nein, nein! Schweige, Du machst mich sonst noch wahnsinnig! Du bist mit einem andern verlobt. Du hast Dein Wort verpfändet; diese ganze Tollheit ist glücklicherweise unmöglich.«
»Der andere! Ich habe ihn mit Dir verglichen und ich habe Dich gewählt ... Ich habe ihm den Abschied gegeben, er ist fortgegangen, er wird niemals wiederkommen ... Jetzt sind wir beide nur noch da, und Du bist es, den ich liebe, und Du liebst mich, ich weiß es bestimmt, und ich ergebe mich ...«
Ein Zittern überflog seinen Körper, er wehrte sich schon nicht mehr, von dem glühenden Wunsche beseelt, sie zu umarmen, in ihr die ganze Zartheit und den ganzen Duft einer Frau in der Blüte einzuatmen.
»O, nimm mich doch, denn ich ergebe mich!«
Es war kein Fallen; das glorreiche Leben hob sie empor, in überfließender Freude gehörten sie sich an. Das große Zimmer mit seiner alten Ausstattung, das alles mit ansah, wurde dadurch mit hellem Glanze erfüllt. Weder Furcht, noch Schmerzen, noch Bedenken waren mehr vorhanden: sie waren frei, sie schenkte sich ihm, da sie ihn kannte, da sie ihn wollte, und er nahm das herrliche Geschenk ihres Körpers an wie ein unschätzbares Gut, das er durch die Gewalt seiner Liebe errungen hatte. Der Raum, die Zeit, der Altersunterschied waren verschwunden. Es blieb nur die unsterbliche Natur, die Leidenschaft, die besitzt und erschafft, das Glück, das leben will. Sie, geblendet und entzückt, hatte nichts als den leisen Schrei ihrer verlorenen Jungfräulichkeit, während er mit einem Seufzer des Entzückens sie fest umschlang und ihr dankte, daß sie aus ihm wieder einen Mann gemacht hatte, ohne daß sie es recht verstehen konnte.
Pascal und Clotilde hielten sich in den Armen, jubelnd, in göttliche Freude und Verzückung versunken. Die Nachtluft war mild, und eine wollüstige Ruhe atmete die tiefe Stille rings umher. Stunde auf Stunde verfloß ihnen in dem beseligten Gefühle, die Freude zu genießen. Sie hatte ihm gleich ins Ohr geflüstert mit zärtlicher Stimme und langsamen Worten ohne Ende:
»Meister! O, Meister, Meister!«
Und dieses Wort, das sie sonst gewöhnlich gebrauchte, nahm in dieser Stunde eine tiefere und weitere Bedeutung an, gleich als ob es das Geschenk ihres ganzen Seins hätte ausdrücken wollen. Sie wiederholte es mit der heißen Dankbarkeit einer Frau, die wissend ist und sich ergibt. War das nicht die Niederlage des Mysteriums, der Sieg der Wirklichkeit, die Verherrlichung des Lebens im Bunde mit der endlich erkannten und endlich befriedigten Liebe?
»Meister, Meister! Das reicht schon weit zurück, ich muß es Dir bekennen und erzählen ... Es ist wahr, ich ging in die Kirche, um glücklich zu sein. Das Unglück war, daß ich nicht glauben konnte: ich wollte zu viel verstehen, eure Dogmen empörten meine Vernunft, euer Paradies schien mir eine unwahrscheinliche Kinderei; indes glaubte ich, daß die Welt nicht bloß aus dem bestände, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können, daß es noch eine ganze unbekannte Welt gäbe, der man auch Rechnung tragen müsse, und das, Meister, das glaube ich auch jetzt noch, das ist die Idee des Jenseits, die selbst das Glück, das ich endlich an Deinem Herzen gefunden habe, nicht verwischen wird ... Aber dieses Verlangen nach dem Glück, das Bedürfnis, sofort glücklich zu sein, eine Gewißheit zu haben, wie habe ich darunter gelitten! Wenn ich in die Kirche ging, so geschah es nur, weil mir etwas fehlte und weil ich es suchte. Meine Angst rührte von jenem unwiderstehlichen Verlangen her, meinen Wunsch erfüllt zu sehen ... Du wirst Dich vielleicht erinnern, wie Du von meinem unstillbaren Durst nach Einbildung und Lüge sprachest. Gedenkst Du noch jener Nacht auf dem großen freien Platze unter dem weiten gestirnten Himmelszelt? Ich fühlte Entsetzen vor Deiner Wissenschaft, ich wurde erzürnt über die Trümmer, mit denen sie den Erdboden besät, ich wandte mich schaudernd ab von den furchtbaren Wunden, die sie aufdeckt, und ich wollte Dich, Meister, in die Einsamkeit entführen, damit wir beide, fern von der Welt, in unwissender Verschlossenheit nur für Gott lebten ... Ach, welche Qual, Durst zu haben, sich herumzuquälen und doch niemals befriedigt zu werden!«
Sanft, ohne ein Wort zu sagen, küßte er sie auf ihre beiden Augen.
»Dann, Meister, Du wirst Dich doch erinnern,« fuhr sie mit einer Stimme fort, die leise wie ein Hauch war, »dann kam jener schwere moralische Schlag in der Gewitternacht, als Du mir die schreckliche Vorlesung über das Leben hieltest, indem Du mich in Deine Akten einweihtest. Du hattest mir schon immer gesagt: ›Lerne das Leben kennen, liebe es, sieh es so, wie es gelebt werden muß!‹ Aber welch ein entsetzlicher und unermeßlicher Strom, der, einem menschlichen Meere vergleichbar, dahinrollte und in der unbekannten Zukunft immer größer wurde ... Und siehst Du, Meister, das geheime Drängen und Treiben in mir, das stammt von daher. Von dort aus ist in meinem Herzen, in meinem Fleische die bittere Kraft der Wirklichkeit entstanden. Zuerst war ich ganz vernichtet, so gewaltig war der Schlag. Ich konnte mich gar nicht wiederfinden; ich beobachtete vollständiges Stillschweigen, da ich nichts Bestimmtes zu sagen hatte. Dann erfolgte nach und nach die Umgestaltung meines Ichs; noch einigemale empörte ich mich dagegen, meine Niederlage einzugestehen. Indes befestigte sich in mir mit jedem weiteren Tage die Wahrheit; ich fühlte deutlich, daß Du mein Herr warst, daß es für mich kein Glück ohne Dich gab, ohne Deine Wissenschaft und ohne Deine Güte. Du bist das Leben selbst, das duldende Leben ohne Beschränkung, indem Du alles sagst, alles annimmst, in Deiner einzigen Liebe für die Gesundheit und die Arbeit, indem Du an das Werk der Welt glaubst, indem Du den Sinn der Bestimmung in diese mühevolle Arbeit legst, die wir alle mit Leidenschaft vollbringen, indem wir eifrig darauf bedacht sind, zu leben, zu lieben und immer wieder und wieder das Leben erneuern trotz unserer Schandthaten und unseres Elends ... O, leben, leben, das ist die große Aufgabe, die fortgesetzte Arbeit, die eines Tages vollendet sein wird!«
Immer noch stillschweigend, lächelte er und küßte sie auf den Mund.
»Und, Meister, wenn ich Dich auch immer geliebt habe, schon seit den fernen Tagen meiner Kindheit, so ist es doch, wie ich glaube, jene schreckliche Nacht, in der Du mich gezeichnet hast, gewesen, die mich zu der Deinigen gemacht hat ... Du erinnerst Dich gewiß an jene heftige Umarmung, in der Du mich fast ersticktest. Eine Quetschung und einige Blutstropfen an der Schulter waren ihre Folge. Ich war halb nackt, Dein Körper war wie in den meinigen eingedrungen. Wir hatten mit einander gerungen, Du warst der Stärkere, und seitdem fühlte ich das Verlangen nach einer Stütze. Zuerst hielt ich mich für erniedrigt, dann aber sah ich, daß es nur eine unendlich süße Unterwerfung, ein unendlich leichtes Joch war. Immer fühlte ich Dich in mir. Schon von weitem ließ mich eine einfache Handbewegung von Dir erzittern, denn es schien mir, als ob sie mich leise berührt hätte. Ich hätte so gerne gemocht, daß mich Deine Arme wieder umfingen, daß sie mich an Dich preßten, bis daß ich für immer in Dir aufginge. Und ich ahnte es, ich wußte es, daß Dein Wunsch der gleiche war, daß die Gewalt, die mich zu der Deinigen gemacht hatte, Dich mir zu eigen gegeben, daß Du mit Dir rangest, um mich nicht, wenn ich an Dir vorüberging, an Dich zu reißen und für immer festzuhalten ... Schon damals, als ich Dich pflegte, während Du krank warst, beruhigte ich mich etwas, und das geschah von dem Augenblicke an, wo ich Dich verstand. Ich ging nicht mehr in die Kirche, denn ich fing an, bei Dir, in Deiner Nähe glücklich zu sein. Du wurdest für mich die Gewißheit ... Denke daran, wie ich Dir damals auf dem großen freien Platze zurief, daß etwas an unserer Zärtlichkeit fehle. Sie war inhaltslos, ich fühlte das lebhafte Bedürfnis, sie auszufüllen. Was konnte uns anders helfen, wenn es nicht Gott war, als das Recht, menschlich zu sein? Und es war in der That die alles bezwingende Macht, der vollständige Besitz, die Liebes- und Lebenslust.«
Es war bei ihr jetzt nicht mehr ein verlegenes Herausstammeln der Worte; er lachte über ihr sieghaftes Hervorbrechen, und sie nahmen sich wieder in die Arme. Die ganze Nacht hindurch herrschte in dem vom Hauche des Glückes, der Jugend und der Leidenschaft erfüllten Zimmer die Seligkeit.
Als der junge Tag erschien, öffneten sie weit die großen Fenster, damit der Frühling einziehen könne. Die befruchtende Aprilsonne stieg an dem weiten Himmelszelte empor in einer Reinheit sonder Makel, und die Erde, gehoben von dem geheimnisvollen Schwellen der Keime, stimmte ein frohes Hochzeitslied an.