Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In der Stadt und in den benachbarten Ortschaften setzte also Doktor Pascal seine ärztlichen Besuche fort. Und fast immer hatte er Clotilde am Arm, die mit ihm bei den armen Leuten eintrat.
Aber es waren, wie er ihr in einer Nacht ganz heimlich eingestanden hatte, nur noch Gänge der Erleichterung und Tröstung von jetzt an. Schon früher hatte er, als er schließlich dahin gekommen, den Widerstand der Krankheit zu brechen, die ganze Leere der Therapeutik empfunden. Die Empirie machte ihn ganz untröstlich. Von dem Augenblick an, wo die Medizin nicht mehr eine Experimentalwissenschaft war, sondern eine Kunst, blieb er unruhig angesichts der unbegrenzten Komplikation der Krankheit und des Heilmittels im Hinblick auf den Kranken. Die Heilmethoden änderten sich mit den Hypothesen; wie viele Menschen waren früher den heutzutage aufgegebenen Methoden schon zum Opfer gefallen! Die feine Nase des Arztes war alles, der Heiler war nur ein talentvoller Wahrsager, der selber nur im Finstern umhertappte und seine Heilungen allein seinem glücklichen Talente verdankte. Und das erklärte auch, warum Pascal, nachdem er zwölf Jahre praktizirt, seine Praxis beinahe ganz aufgegeben hatte, um sich auf das reine Studium zu werfen. Als dann seine großen Arbeiten über die Vererbung einen Augenblick ihm die Hoffnung vorgespiegelt hatten, daß er im stande sein würde, helfend dazwischen zu treten und mit seinen Einspritzungen unter die Haut Heilungen zu erzielen, da hatte er sich von neuem begeistert bis zu dem Tage, an welchem sein Glaube an das Leben, der ihn dazu getrieben hatte, den Vorgang zu unterstützen, indem er die Lebenskräfte wieder erneuerte, sich noch erweitert und ihn zu der höheren Ueberzeugung geführt hatte, daß das Leben sich selbst genüge, daß es der einzige Erzeuger von Kraft und Gesundheit sei. Und er setzte seine Besuche mit seinem gewohnten ruhigen Lächeln nur bei den Kranken fort, die laut und flehentlich nach ihm riefen und die sich wunderbar erleichtert fühlten, selbst wenn er ihnen nur noch mit reinem Wasser Einspritzungen machte.
Clotilde erlaubte sich jetzt zuweilen darüber zu spotten. Sie blieb doch in ihrem Innern die leidenschaftliche Anhängerin des Mysteriums; und sie sagte in fröhlichem Tone, daß es, wenn er auf diese Weise Wunder wirkte, nur dadurch geschehe, weil er in sich die Kraft dazu hätte, und daß er deswegen auch ein wirklicher guter Gott sei!
Dann freute er sich darüber, daß die wirkende Kraft ihrer gemeinsamen Besuche sich bei ihm wieder eingestellt hatte, und erzählte, daß er niemand mehr heilen könne, wenn sie nicht dabei sei, und daß sie es wäre, die den Hauch des Jenseits mitbrachte, die unbekannte und notwendige Kraft. Daher fuhren denn auch die reichen Leute, die Bourgeois, bei denen sie sich nicht erlaubte mit einzutreten, zu jammern und zu wehklagen fort ohne irgend welche Erleichterung. Und dieser zarte Streit belustigte sie, sie gingen jedesmal fort wie auf neue Entdeckungen und fanden bei den Kranken Blicke des Verständnisses. Ah, dieses elende Leiden! Wie empört waren sie darüber! Wie glücklich waren sie, wenn sie das Leiden, das sie allein nur noch bekämpfen wollten, für besiegt hielten! Sie fühlten sich göttlich belohnt, wenn sie sahen, wie der kalte Schweiß sich trocknete, wenn der stöhnende Mund des Kranken ruhig wurde und in die abgestorbenen Gesichtszüge das Leben zurückkehrte. Das war entschieden ihre Liebe, die sie herumführten und die diesem kleinen Teile der leidenden Menschheit Ruhe und Linderung brachte.
»Sterben ist nichts, das ist ganz in der Ordnung,« sagte Pascal oft. »Aber warum leiden? Das ist abscheulich und einfältig!«
Eines Nachmittags wollte der Doktor mit dem jungen Mädchen in das Dorf Sainte-Marthe und dort einen Kranken besuchen. Um Bonhomme zu schonen, benutzten sie die Eisenbahn. Auf dem Bahnhofe hatten sie eine eigentümliche Begegnung. Der Zug, den sie erwarteten, kam von Les Tulettes. Sainte-Marthe war die erste Station auf der Route nach Marseille. Und als der Zug angekommen, eilten sie auf ein Coupé zu und wollten gerade die Thüre desselben öffnen, als sie die alte Frau Rougon heraussteigen sahen aus diesem Coupé, das sie für leer gehalten hatten. Sie sprach nicht mit ihnen; trotz ihres Alters verließ sie mit einem leichten, gewandten Sprunge den Wagen und ging mit einem starren und sehr würdevollen Gesichte fort.
»Heute ist der erste Juli,« sagte Clotilde, als der Zug im Gange war. »Großmama kommt von Les Tulettes zurück, wohin sie jeden Monat einmal zum Besuche der Tante Dide geht ... Hast Du den Blick gesehen, den sie mir zugeworfen hat?«
Pascal war im Grunde glücklich über die Entzweiung mit seiner Mutter, denn sie befreite ihn von der fortwährenden Unruhe ihrer Anwesenheit.
»Bah!« sagte er einfach. »Wenn man sich nicht versteht, ist es auch viel besser, wenn man sich gar nicht mehr besucht.«
Aber das junge Mädchen blieb betrübt und nachdenklich. Dann sagte sie mit leiser Stimme:
»Ich habe sie verändert gefunden, ihr Gesicht sah sehr blaß aus ... Und hast Du bemerkt? Sie, die sonst so peinliche Sorgfalt auf ihre Toilette verwendete, sie trug nur an der einen Hand einen Handschuh, an der rechten Hand, einen grünen Handschuh ... Ich weiß nicht warum, ihr Anblick hat mir das Herz schwer gemacht.«
Darauf machte er, gleichfalls betreten, eine bedauernde Handbewegung. Seine Mutter würde gewiß schließlich auch einmal anfangen, alt zu werden wie alle Welt. Sie rege sich gleich viel zu sehr auf und sei noch viel zu leidenschaftlich. Er teilte ihr dann mit, daß sie die Absicht hätte, ihr Vermögen der Stadt Plassans zu vermachen; man sollte damit eine Versorgungsanstalt errichten, die den Namen der Rougons führen sollte.
Dann fingen sie wieder an lustig zu werden und zu lachen, als er plötzlich rief:
»Halt! Morgen wollen wir auch hinaus nach Les Tulettes fahren und unsere Kranken besuchen! Und Du weißt ja auch, daß ich versprochen habe, Charles zum Onkel Macquart zu bringen.«
Felicité kam in der That an diesem Tage von Les Tulettes zurück, wohin sie sich regelmäßig am ersten eines jeden Monats begab, um sich nach dem Befinden der Tante Dide zu erkundigen. Schon seit vielen Jahren interessirte sie sich leidenschaftlich für den Gesundheitszustand der Irren, auf das höchste erstaunt, sie immer weiter leben zu sehen, und wütend darüber, daß sie ein so zähes Leben hatte, ganz über das gewöhnliche Maß hinaus, ein wahres Wunder von Langlebigkeit! Welche Erleichterung würde ihr der Tag bringen, an dem sie diesen lästigen Zeugen der Vergangenheit beerdigen würde, dieses Schreckbild der Hoffnung und der Sühne, das alle Schandtaten der Familie wieder lebendig machte! So viele von den anderen waren schon dahin gegangen; nur sie, die Wahnsinnige, die nicht einen Funken Leben mehr in den Augen hatte, schien vollständig vergessen zu sein! Auch an diesem Tage hatte sie sie noch immer in ihrem Lehnsessel sitzend gefunden, vertrocknet und aufrecht, unverändert. Wie die Wärterin sagte, war aller Grund vorhanden, anzunehmen, daß sie wahrscheinlich niemals sterben würde. Sie war jetzt schon hundertundfünf Jahre alt.
Felicité war, als sie das Asyl verließ, sehr verstimmt. Sie dachte an den Onkel Macquart. Noch einer, der ihr sehr lästig war und der auch mit einer Hartnäckigkeit am Leben blieb, die sie zur Verzweiflung brachte! Obgleich er erst vierundachtzig Jahre alt war, nur drei Jahre mehr als sie, schien er doch von einer lächerlichen Greisenhaftigkeit zu sein, die alle erlaubte Grenzen überschritt. Und er war noch dazu ein Mann, der sehr liederlich lebte, der seit sechzig Jahren jeden Abend besinnungslos betrunken war! Die Vernünftigen, die Nüchternen gingen dahin; er sah blühend aus und gedieh, strahlend vor Gesundheit und Lebenslust. Früher, als er nach Les Tulettes gekommen war, um sich dort niederzulassen, hatte sie ihm zuweilen Wein, Liqueur und Schnaps zum Geschenk gemacht, in der stillen Hoffnung, die Familie auf diese Weise recht bald von dem wirklich lästigen Trunkenbold zu befreien, von dem man nur Unannehmlichkeiten und Schande erwarten konnte. Aber sie hatte sehr bald bemerkt, daß all dieser Alkohol ihm im Gegenteil nur zu vortrefflich bekomme, denn sein Gesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Augen glänzten verschmitzt und spöttisch. Sie hatte daher die Geschenke unterlassen, da das vermeintliche Gift bei ihm so außerordentlich gut anschlug. Sie hegte gegen ihn einen schrecklichen Zorn, ja, sie würde ihn sogar umgebracht haben, wenn sie es gewagt hatte, jedesmal, sobald sie ihn wiedersah, wenn er so stolz und sicher auf seinen schwankenden Beinen des Säufers ihr entgegenkam, mit dem höhnischen Gesicht, da er sehr genau wußte, daß sie auf seinen Tod lauerte, und hoch erfreut darüber, daß er ihr nicht das Vergnügen bereitete, mit ihm zugleich die alte unsaubere Wäsche, das Blut und den Schmutz der beiden Eroberungen von Plassans einscharren zu können.
»Sehen Sie, Felicité,« sagte er oft zu ihr mit seiner gewöhnlichen spöttischen Miene, »ich bin hier, um die alte Mutter zu bewachen, und der Tag, an dem wir uns beide entschließen werden, zusammen zu sterben, der wird gewiß für Sie ein wahrer Freudentag werden, einfach deswegen, weil Sie dadurch der Mühe überhoben werden, hierher zu kommen und nach uns zu sehen, wozu Sie jetzt Ihr gutes Herz jeden Monat treibt.«
Gewöhnlich schenkte sie sich den Besuch bei dem Onkel Macquart, da sie die nötige Auskunft über ihn im Asyl erhielt. Diesmal aber plagte sie, als sie erfahren hatte, daß er sich jetzt gerade in einem Stadium hochgradiger Saufwut befände und seit vierzehn Tagen gar nicht nüchtern geworden sei, so daß er überhaupt nicht mehr ausgehen könnte, die Neugierde, ihn sich einmal in diesem Zustande anzusehen. Sie machte daher, als sie nach dem Bahnhofe zurückging, einen Umweg, um an dem Landhäuschen des Onkels vorüberzukommen.
Der Tag war herrlich, ein heißer, strahlender Sommertag. Zur Rechten und zur Linken des schmalen Fußpfades, den sie einschlagen mußte, sah sie die Felder, die er sich einst hatte schenken lassen, jenes ganze fette Land, als Preis für seine Verschwiegenheit und für sein Wohlverhalten. In dem hellen Sonnenschein erschien ihr das Haus mit seinen roten Ziegeln und seinen mit greller gelber Farbe angestrichenen Mauern in einem freundlich strahlenden Glanze. Unter den alten Maulbeerbäumen auf der Terrasse genoß sie die köstliche Frische und erfreute sich an der wunderbaren Aussicht. Welch würdiger und klug ausgewählter Ruhesitz, welch glücklicher Winkel für einen alten Mann, der in einer friedlichen Abgeschiedenheit ein langes, ehrbares und arbeitsvolles Leben beschließen konnte!
Aber sie sah ihn nicht, sie hörte ihn nicht. Tiefe Stille herrschte rings umher. Nur die Bienen summten um die großen Malven. Und auf der Terrasse befand sich nur ein kleiner gelber Hund, ein Loubet, wie man sie in der Provence nennt, der in seiner ganzen Länge auf der bloßen Erde im Schatten ausgestreckt lag. Er kannte die Ankommende, er hatte den Kopf knurrend in die Höhe gehoben und wollte zu bellen anfangen. Dann aber legte er sich wieder nieder und rührte sich nicht mehr.
Da wurde sie in dieser Einsamkeit unter den freundlich lachenden Sonnenstrahlen von einem eigentümlichen leichten Schauder ergriffen, und sie rief:
»Macquart! Macquart!«
Die Thüre des kleinen Landhauses unter den Maulbeerbäumen stand weit offen. Aber sie wagte es nicht, einzutreten in das öde Haus, das so weit offen stand. Und sie rief von neuem:
»Macquart! Macquart!«
Nichts rührte sich, kein Laut war hörbar. Das tiefe Stillschweigen dauerte fort, nur die Bienen summten lauter um die großen Malven.
Schließlich ergriff Felicité die Scham über ihre Furcht, und sie trat mutig ein. Auf dem Vorplatz war die Thüre zur Linken, die in die Küche führte, wo sich der Onkel für gewöhnlich aufzuhalten pflegte, verschlossen. Felicité stieß sie auf, konnte aber zuerst nichts darin unterscheiden, denn er hatte die Läden zumachen müssen, um sich gegen die Hitze zu schützen. Sie hatte zunächst die Empfindung, als ob ihr die Kehle zugeschnürt würde von dem fürchterlichen Alkoholgeruche, der den Raum vollständig erfüllte; es schien, als ob jedes einzelne Stück Möbel diesen Geruch aushauchte, als ob das ganze Haus damit getränkt wäre. Als sich dann ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, bemerkte sie endlich den Onkel. Er saß an dem Tische, auf dem ein Glas und eine vollständig geleerte Flasche des gemeinsten Fusels standen. In seinen Stuhl zurückgesunken, lag er wieder sinnlos betrunken in tiefem Schlafe.
Dieser widerwärtige Anblick erregte ihren Zorn und ihre Verachtung aufs neue.
»Aber, Macquart, das ist denn doch zu unvernünftig und gemein, sich in einen solchen Zustand zu versetzen ... Wachen Sie doch auf! Das ist ja schmachvoll!«
Sein Schlaf war aber so tief, daß man selbst nicht einmal seinen Atem vernahm. Vergebens verstärkte sie ihre Stimme und schüttelte ihn heftig mit ihren Händen hin und her.
»Macquart! ... Macquart! ... Macquart! ... Ach, wie schrecklich! ... Sie sind wirklich ein ganz ekelhafter Kerl, mein Verehrtester!«
Und sie ließ ihn schlafen, sie bekümmerte sich nicht mehr um ihn, sie ging ungenirt im Hause hin und her und sah sich alle Gegenstände genau an. Der staubige Weg vom Asyle bis hierher hatte ihr einen brennenden Durst verursacht. Ihre Handschuhe wurden ihr lästig; sie zog sie daher aus und legte sie auf eine Ecke des Tisches. Dann hatte sie das Glück, den Wasserkrug zu finden; sie wusch ein Glas aus, das sie darauf bis an den Rand mit Wasser voll füllte, und wollte es gerade austrinken, als ein ungewöhnlicher Anblick sie derartig in Aufregung versetzte, daß sie es, ohne zu trinken, neben die Handschuhe aus den Tisch stellte.
Sie sah immer besser und deutlicher in dem Raume, den nur die durch die Spalten der alten, klaffenden Fensterläden eindringenden zitternden Lichtstrahlen erhellten. Sie erkannte den Onkel Macquart genau, der wie immer sauber mit einem Anzuge aus blauem Tuche bekleidet war und auf dem Kopfe die unvermeidliche Pelzmütze hatte, die er von einem Ende des Jahres bis zum andern trug. Er war seit fünf oder sechs Jahren noch dicker geworden und bildete einen wirklichen Fettklumpen, der von Speckfalten eingefaßt war. Und sie bemerkte soeben, daß er beim Rauchen eingeschlafen sein mußte, denn seine Pfeife, eine kurze schwarze Pfeife, war ihm auf die Kniee herabgefallen. Dann blieb sie ganz regungslos vor Schrecken: der glimmende Tabak hatte sich verstreut und die Hose dadurch Feuer gefangen, und durch das Loch in dem Stoffe, das ebenso groß wie ein Hundertsousstück war, sah man den nackten Schenkel, einen roten Schenkel, aus dem eine kleine blaue Flamme emporzüngelte.
Zuerst glaubte Felicité, die Leinwand der Unterhose oder des Hemdes wäre es, die brannte. Aber es war kein Zweifel möglich, sie sah ganz deutlich das nackte Fleisch und die kleine blaue Flamme, die daraus emporzüngelte, leicht und hüpfend wie die bewegliche Flamme an der Oberfläche eines mit Spiritus gefüllten und angezündeten Gefässes. Sie war noch nicht höher als die Flamme einer Nachtlampe, von einer ruhigen Zartheit und so unstet, daß der geringste Luftzug sie von ihrem Platze verscheuchte. Aber sie wurde größer, sie verbreitete sich rasch, und die Haut zerplatzte und das Fett fing an zu schmelzen.
Ein unwillkürlicher Schrei entrang sich der Kehle Felicités:
Aber er rührte sich nicht, seine Gefühllosigkeit mußte eine vollständige sein. Die Trunkenheit hatte bei ihm eine Art Schlafsucht hervorgerufen, eine vollständige Lähmung des Gefühls, denn er lebte noch; man sah ganz deutlich, wie der Atem langsam und gleichmäßig seine Brust hob und senkte.
»Macquart! ... Macquart!«
Jetzt drang das Fett durch die Risse in der Haut und gab der Flamme neue Nahrung, die nun den Körper ergriff. Und Felicité sah ein, daß der Onkel in Brand geraten sei wie ein Schwamm, der mit Branntwein ganz voll gesogen ist. Er war damit schon seit Jahren vollständig durchtränkt und zwar mit dem stärksten und am leichtesten entzündlichen Branntwein. Er würde ohne Zweifel alsbald vom Kopfe bis zum Fuße eine Flamme bilden.
Da gab sie es auf, ihn erwecken zu wollen, weil er so gut schlief. Eine Zeit lang wagte sie es noch, ihn zu betrachten in lebhafter Erregung, und kam erst nach und nach zu einem festen Entschlusse. Dennoch fingen ihre Hände an leise zu zittern wie in einem leichten Fieberanfall, den sie nicht unterdrücken konnte. Sie erstickte fast, sie ergriff mit beiden Händen das Glas Wasser, das sie auf einen Zug leerte. Auf den Fußspitzen schlich sie sich hinaus. Da erinnerte sie sich ihrer Handschuhe. Sie kam noch einmal zurück und glaubte beide zusammen vom Tische wegzunehmen mit einem unruhigen Griffe ins Blaue hinein. Dann ging sie endlich hinaus und verschloß die Thüre sorgfältig und mit Vorsicht, als ob sie Angst hätte, jemand zu stören.
Als sie sich auf der Terrasse befand in der freundlich lachenden Sonne, in der reinen Luft und im Angesichte des ungeheuren, sonnendurchglühten Horizontes, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Die Gegend rings umher war einsam, sicherlich hatte niemand sie kommen und gehen sehen. Es war immer nur noch der kleine gelbe Hund da, der ausgestreckt auf dem Boden lag und es nicht einmal für nötig hielt, den Kopf in die Höhe zu heben. Dann ging sie fort mit ihren kleinen, eiligen Schritten und dem leichten Wiegen ihres mädchenhaften Körpers. Als sie etwa hundert Schritte weit entfernt war, zwang sie eine unwiderstehliche Gewalt, obgleich sie sich heftig dagegen sträubte, sich umzudrehen und noch ein letztesmal das Haus zu betrachten, das so friedlich und freundlich auf der Mitte des Abhanges in dem leuchtenden Sonnenschein des sinkenden Tages dalag. Allein in der Eisenbahn bemerkte sie, als sie ihre Handschuhe wieder anziehen wollte, daß einer davon fehlte. Aber sie hatte die feste Ueberzeugung, daß er auf dem Perron gefallen sei, als sie in den Waggon einstieg. Sie hielt sich für sehr ruhig und dennoch hatte sie nur an der einen Hand einen Handschuh, während die andere bloß war, was bei ihr nur das Zeichen einer starken Erregung sein konnte.
Am folgenden Tage benutzten Pascal und Clotilde den Dreiuhrzug, um sich nach Les Tulettes zu begeben. Die Mutter von Charles, die Sattlersfrau, hatte den Kleinen zu ihnen gebracht, da sie sich der Mühe unterziehen wollten, ihn zum Onkel Macquart mitzunehmen, bei dem er die ganze Woche bleiben sollte. Neue Zwistigkeiten hatten Unfrieden in dem Hause des Sattlers gestiftet; der Mann weigerte sich ganz entschieden, auch noch fernerhin dieses Kind eines andern in seiner Familie zu dulden, den blödsinnigen und müßigen königlichen Knaben. Da es die Großmama Rougon war, die ihn mit Kleidern versorgte, so war er an diesem Tage wirklich ganz in schwarzen, mit goldenen Spitzen besetzten Sammet gekleidet wie ein junger vornehmer Herr von ehedem, der als Page an den königlichen Hof ging. Und während der Viertelstunde, die die Fahrt dauerte, amüsirte sich Clotilde in dem Coupé, in dem sie allein waren, damit, ihm seine Mütze abzunehmen und seine wundervollen blonden Haare glatt zu streichen, seinen königlichen Haarschmuck, dessen Locken ihm auf die Schultern herabwallten. Sie trug aber an dem einen Finger einen Ring, und als sie mit ihrer Hand kosend über seinen weißen Hals fuhr, nahm sie zu ihrem Schrecken wahr, daß ihre Zärtlichkeit dort eine blutige Spur hinterließ. Man konnte ihn nicht anrühren, ohne daß der rote Tau aus seiner Haut perlte. Das war eine Erschlaffung der Gewebe, noch verschlimmert durch die Entartung, so daß die geringste Reibung einen Blutfluß verursachte. Der Doktor wurde sofort unruhig und fragte ihn, ob er noch oft aus der Nase blute. Und Charles konnte kaum antworten; zuerst sagte er nein, dann aber besann er sich und erzählte, daß er am vorhergehenden Tage sehr stark aus der Nase geblutet habe. Er schien in der That schwächer zu sein; er wurde wieder in dem Maße, in dem er an Alter zunahm, ganz zum Kinde in Hinsicht auf seinen Verstand, der niemals recht erwacht war und sich jetzt vollständig verschleierte. Dieser große Junge von fünfzehn Jahren schien nicht älter als zehn Jahre zu sein; er war so schön und sah mit seinem Teint einer im Dunkeln erblühten Blume aus wie ein kleines Mädchen. Ganz sanft und mit bekümmertem Herzen setzte Clotilde, die ihn auf ihrem Schoß gehabt hatte, ihn nieder auf die gepolsterte Bank, als sie bemerkte, daß er mit seiner kleinen Hand in den Ausschnitt ihrer Taille zu gleiten versuchte, in einem frühreifen instinktiven Verlangen eines kleinen, lasterhaften Geschöpfes.
In Les Tulettes angekommen, beschloß Pascal, zuerst den Knaben zum Onkel Macquart zu bringen. Und sie stiegen den Abhang hinauf auf einem holperigen Wege. Von weitem lachte das kleine Haus ihnen entgegen wie am vorhergehenden Abend im vollen Sonnenscheine mit seinen roten Ziegeln, seinen gelben Mauern, seinen grünen Maulbeerbäumen, die ihre gekrümmten Zweige nach allen Seiten hin ausbreiteten und die Terrasse mit einem dichten Blätterdach überdeckten. Ein köstlicher Frieden schwebte über diesem einsamen Erdenwinkel, diesem Ruhesitz für einen Gelehrten, wo man nur das Summen der Bienen um die hohen Malven vernahm.
»Ah, dieser Dummkopf von Onkel!« brummte Pascal lächelnd vor sich hin. »Wie ich ihn beneide!«
Aber er war erstaunt, ihn nicht schon an der Ecke der Terrasse stehend zu sehen. Und als Charles eilends davonsprang, Clotilde mit sich ziehend, um nach den Kaninchen zu sehen, setzte Pascal allein den Aufstieg fort und war noch mehr erstaunt, als er oben ebenfalls niemand fand. Die Fensterladen waren geschlossen, und die weit geöffnete Thür des Vorplatzes gähnte ihm entgegen. Es war niemand da als der kleine gelbe Hund, der auf dem Boden lang ausgestreckt lag mit seinen vier steifen Pfoten und seinem struppigen Fell und ununterbrochen ein leises Winseln hören ließ. Als er den Besucher kommen sah, den er ohne Zweifel kannte, schwieg er einen Augenblick still, erhob sich dann, um sich etwas weiter entfernt wieder niederzulegen, und fing von neuem an, leise zu winseln.
Von einer unbestimmten Furcht ergriffen, konnte Pascal den ängstlichen Ruf, der ihm auf die Lippen kam, nicht unterdrücken.
»Macquart! ... Macquart!«
Niemand antwortete; in dem Hause herrschte eine Totenstille, und die weit geöffnete Thüre starrte ihm entgegen wie ein schwarzes Loch. Der Hund heulte immer weiter.
Pascal wurde jetzt ungeduldig und rief lauter:
»Macquart! ... Macquart!«
Nichts rührte sich, die Bienen summten, und der unendliche lichte Glanz des Himmels umfloß diesen einsamen Erdenwinkel. Dann kam er zu einem Entschlusse. Vielleicht schlief der Onkel. Als er aber die Thür zur Linken, die in die Küche führte, aufgestoßen hatte, drang daraus ein entsetzlicher Geruch hervor, der unerträgliche Geruch von Knochen und Fleisch, die auf ein glühendes Kohlenbecken geraten waren. In dem Raume konnte er kaum atmen. Von einer Art dickem Qualm, einer unbeweglichen, Uebelkeit erregenden Dunstwolke, wurde er fast erstickt und blind gemacht. Die schmalen Lichtstreifen, die durch die Spalten der alten morschen Fensterläden hereinfielen, erlaubten ihm nicht, klar zu sehen; dennoch war er gleich nach dem Kamin hingeeilt, ließ aber seinen ersten Gedanken an eine Feuersbrunst fallen, da gar kein Feuer darin gewesen war und auch alle Möbel um ihn herum ein unbeschädigtes Aussehen hatten. Und da er nicht klug daraus werden konnte und doch fühlte, daß er in dieser verpesteten Luft bald ohnmächtig werden würde, eilte er nach den Fenstern hin, um die Läden zu öffnen. Ein Lichtstrom ergoß sich in den Raum.
Was dann der Doktor endlich feststellen konnte, erfüllte ihn mit Verwunderung. Jeder Gegenstand befand sich auf seinem Platze; das Glas und die Schnapsflasche standen leer auf dem Tische; nur der Stuhl, auf dem der Onkel hätte sitzen sollen, zeigte Spuren von Feuer, die Vorderfüße waren geschwärzt und das Stroh halb verbrannt. Aber was war aus dem Onkel geworden? Wo konnte er denn nur hingekommen sein? Und vor dem Stuhle lag auf der durch eine Fettlache beschmutzten Steinfliese ein kleines Häufchen Asche und daneben die Pfeife, eine kleine schwarze Pfeife, die beim Herunterfallen nicht einmal zerbrochen war. Der ganze Onkel war da in dieser Hand voll seiner Asche, und er war auch in jener rötlich braunen Rauchwolke, die durch das offene Fenster hinauszog, in der Decke von Ruß, die die ganze Küche überzogen hatte, ein ekelhafter, fettiger Niederschlag von verbranntem Fleisch, der alles umhüllte und der sich zähe anfaßte.
Das war der schönste Fall einer von selbst erfolgten Verbrennung, den ein Arzt jemals hätte beobachten können. Der Doktor hatte wohl in verschiedenen Abhandlungen von überraschenden Fällen gelesen, unter anderen den von der Frau eines Schuhmachers, einer Säuferin, die auf einem Fußwärmer eingeschlafen war und von der man nur einen Fuß und eine Hand wieder gefunden hatte. Er selbst hatte bis dahin Mißtrauen gehegt; er hatte nicht annehmen können wie die Alten, daß ein vollständig von Alkohol durchdrungener Körper ein unbekanntes Gas entwickelte, das fähig wäre, sich selbst zu entzünden und das Fleisch und die Knochen zu verzehren. Aber jetzt leugnete er es nicht mehr; er erklärte sich übrigens alles, indem er die Thatsachen feststellte: die Schlafsucht der Trunkenheit, die vollständige Gefühllosigkeit, die Pfeife, die auf die Kleider gefallen war und sie in Brand gesteckt hatte, das mit Alkohol durchtränkte Fleisch, welches brannte und aufsprang, das Fett, das geschmolzen und von dem ein Teil auf die Erde herabgeflossen war, während der andere bei der Verbrennung fördernd mitgewirkt hatte, und schließlich all das übrige, die Muskeln, die Organe, die Knochen, die in dem schnell auflodernden Feuer des ganzen Körpers verzehrt worden waren. Der ganze Onkel lag da mit seinen Kleidern aus blauem Tuche, mit seiner Pelzmütze, die er von dem einen Ende des Jahres bis zum andern trug. Ohne Zweifel hatte er, seitdem er so wie im Freudenfeuer zu brennen angefangen, nach vorn fallen müssen, wodurch auch erklärt wurde, warum der Stuhl vom Feuer kaum geschwärzt war; und nichts war von ihm übrig geblieben, nicht ein Knochen, nicht ein Zahn, nicht ein Finger- oder Fußnagel, nichts als das kleine Häufchen grauer Staub, das der durch die weit geöffnete Thür hereindringende Luftzug hinwegzuwehen drohte.
Inzwischen war Clotilde eingetreten, während Charles draußen geblieben war, da ihn das fortwährende Heulen und Winseln des Hundes lebhaft interessirte.
»Ach, mein Gott! Welcher Geruch!« sagte sie. »Was ist denn passirt?«
Und als Pascal ihr die außergewöhnliche Katastrophe auseinandergesetzt hatte, überlief sie ein heftiges Zittern, Sie hatte schon die Flasche in die Hand genommen, um sie genau zu untersuchen; aber sie setzte sie sofort voll Abscheu wieder hin, als sie den klebrigen Niederschlag von dem verbrannten Fleisch des Onkels Macquart fühlte. Man konnte nichts anrühren, die kleinsten Gegenstände waren wie überzogen von dieser braungelben Masse, die an den Händen fest klebte.
Ein Schauder des Ekels und des Schreckens durchrieselte sie; sie fing an zu weinen und stotterte schluchzend hervor:
»Ein trauriger Tod! ... Ein entsetzlicher Tod!«
»Entsetzlich, warum? Er war vierundachtzig Jahre alt und hat nicht gelitten ... Ich finde diesen Tod für einen solchen alten Lump, wie der Onkel einer gewesen ist, geradezu großartig. Mein Gott! Man kann es ja jetzt ganz ruhig sagen, er hat ein wenig frommes Leben geführt ... Du erinnerst Dich an seine Thaten; er hat wirklich schreckliche und schmutzige Sachen auf seinem Gewissen, was ihn aber nicht gehindert hat, sich später wieder zu rangiren und alt zu werden in allen Genüssen, als ein braver, spottlustiger Mann, belohnt für die großen Tugenden, die er gar nicht besessen hat ... Und nun ist er königlich gestorben, wie ein Fürst der Säufer, sich selbst verbrennend, sich verzehrend auf dem in Brand gesteckten Scheiterhaufen seines eigenen Körpers!«
Voller Begeisterung wies der Doktor auf den Schauplatz mit seiner gewöhnlichen stolzen Handbewegung hin.
»Sieh Dir es an! In dem Grade betrunken zu sein, daß man nicht einmal mehr fühlt, daß man brennt, sich selbst anzuzünden wie ein Feuer am Johannistage, sich in Rauch aufzulösen bis auf den letzten Knochen, ja, das ist etwas Außerordentliches! Ha! Siehst Du, wie der Onkel durch die ganze Küche gegangen ist, wie er sich zuerst in den vier Ecken dieses Raumes ausgebreitet hat, wie er, in Luft aufgelöst, umhergeschwebt ist und alle Dinge, die ihm gehört haben, umhüllt hat? Siehst Du, wie er dann in einer Staubwolke durch das Fenster entschlüpft, das ich geöffnet habe und auffliegt zum klaren Himmel, den Horizont erfüllend! Ja, das ist ein bewunderungswürdiger Tod! Verschwinden, nichts von sich zurücklassen als ein kleines Häufchen Asche und daneben eine Pfeife!«
Und er hob die Pfeife vom Boden auf, um sie, wie er hinzufügte, als Andenken an den Onkel aufzubewahren, während Clotilde, die aus seiner Anwandlung lyrischer Bewunderung eine Spitze scharfen Spottes herauszufühlen glaubte, noch immer durch fieberhaftes Zittern ihren Schrecken und ihren Abscheu zu erkennen gab.
Da sah sie etwas unter dem Tische liegen, vielleicht der Ueberrest eines verbrannten Gegenstandes.
»Sieh doch hier, dieser Lappen!«
Sie bückte sich nieder und war auf das höchste überrascht, als sie einen Frauenhandschuh, einen grünen Handschuh aufhob.
»Ah!« rief sie. »Das ist der Handschuh von Großmama! Du erinnerst Dich, der Handschuh, der ihr gestern abend fehlte.«
Sie sahen sich beide an, die gleiche Erklärung kam ihnen auf die Lippen: Felicité war am vorhergehenden Abend hierhergekommen, und im Geiste des Doktors bildete sich die plötzliche Ueberzeugung, ja, die Gewißheit, daß seine Mutter gesehen hatte, wie der Onkel in Brand geriet, und daß sie ihn nicht gelöscht hatte. Das ergab sich für ihn aus mehreren Anzeichen, aus dem Zustand der vollständigen Abkühlung, in dem sich das Zimmer befand, aus der von ihm sofort angestellten Berechnung der Stunden, die zu der Verbrennung nötig waren. Er sah deutlich an den entsetzten Augen seiner Begleiterin, daß auch in ihr der gleiche Gedanke aufgetaucht war. Da es ihm aber unmöglich erschien, jemals die Wahrheit zu erfahren, so ersann er gleich laut die einfachste Geschichte.
»Ohne Zweifel wird Deine Großmutter, als sie aus dem Asyl zurückkam, hier eingetreten sein, um dem Onkel Macquart guten Tag zu sagen und zwar, bevor er sich ans Trinken gemacht hatte.«
»Laß uns fortgehen! Laß uns fortgehen!« schrie Clotilde. »Ich ersticke, ich kann nicht länger hier bleiben!«
Pascal wollte überdies sofort den Tod Macquarts anzeigen. Er ging hinter ihr hinaus, schloß das Haus ab und steckte den Schlüssel in seine Tasche. Und draußen vernahm er von neuem den kleinen gelben Hund, der nicht aufgehört hatte zu heulen. Er hatte sich zwischen die Beine von Charles geflüchtet, und das Kind belustigte sich damit, ihn mit dem Fuße zu stoßen und zu hören, wie er winselte, ohne jedes Verständnis.
Der Doktor begab sich sofort zu Herrn Maurin, dem Notar von Les Tulettes, der auch zu gleicher Zeit der Maire der Gemeinde war. Seit ungefähr zehn Jahren verwitwet, lebte er in Gesellschaft seiner Tochter, die ebenfalls Witwe war und keine Kinder hatte. Er unterhielt gute Beziehungen zu dem alten Macquart und hatte zuweilen ganze Tage lang den kleinen Charles bei sich im Hause gehabt, da seine Tochter innige Teilnahme für das so schöne und doch so beklagenswerte Kind empfand. Herr Maurin war sehr bestürzt und wollte mit dem Doktor sogleich hinaufgehen, um den Unglücksfall zu konstatiren; er versprach, einen regelrechten Todesschein auszustellen. Was eine religiöse Feierlichkeit anbetraf, so stieß sie auf Schwierigkeiten. Als man nämlich wieder die Küche betrat, hatte der durch die Thüre hereinwehende Wind die Asche davongetragen; und als man sich bemühte, die Ueberreste in pietätvoller Weise zu sammeln, war es nur gelungen, das zusammenzubringen, was man von dem Steinfußboden abkratzte, ganz alten Schmutz, in dem sich wohl nur sehr wenig von den irdischen Ueberresten des Onkels Macquart vorgefunden haben dürfte. Was sollte man also begraben? Es war daher das beste, wenn man darauf verzichtete. Und man verzichtete darauf. Uebrigens hatte der Onkel auch fast gar keine näheren Bekannten, und die Familie begnügte sich damit, später Messen für die Ruhe seiner Seele lesen zu lassen.
Der Notar hatte indessen Pascal sofort mitgeteilt, daß ein Testament vorhanden und bei ihm deponirt wäre. Er lud den Doktor, ohne zu zögern, auf den übernächsten Tag ein zur offiziellen Eröffnung desselben; denn er glaubte ihm sagen zu können, daß der Onkel Macquart ihn zum Testamentsvollstrecker auserwählt hätte. Und er schloß mit dem Anerbieten, bis dahin den kleinen Charles bei sich behalten zu wollen, da er einsah, wie störend der bei seiner Mutter so schlecht behandelte Kleine zwischen all den Geschichten sein würde. Charles war sehr erfreut darüber und blieb in Les Tulettes zurück.
Es war schon sehr spät geworden, als Pascal und Clotilde endlich mit dem Siebenuhrzuge nach Plassans zurückkehrten, nachdem der Doktor vorher noch die beiden Kranken besucht, nach denen er zu sehen hatte.
Als sie aber am zweitfolgenden Tage zur Zusammenkunft mit dem Notar Maurin nach Les Tulettes kamen, waren sie höchst unangenehm überrascht, die alte Frau Rougon dort schon vorzufinden. Sie hatte natürlich den Tod des alten Macquart erfahren und war herbeigeeilt, ganz aufgelöst und überfließend von mitteilsamem Schmerze. Es machte ganz den Eindruck, als ob sie von diesem berühmten Testamente schon Kenntnis gehabt hätte. Die Verlesung desselben war übrigens sehr einfach und ging ohne Zwischenfall vorüber. Macquart hatte alles, was er von seinem kleinen Vermögen hatte erübrigen können, zur Errichtung eines stolzen Grabdenkmals aus Marmor für sich bestimmt, mit zwei großen Engeln, die ihre Flügel zusammengefaltet hatten und weinten. Es war ein Gedanke von ihm, die Erinnerung an ein ähnliches Denkmal, das er in der Fremde gesehen hatte, vielleicht in Deutschland, als er Soldat war; und so beauftragte er seinen Neffen Pascal, die Ausführung des Monumentes zu überwachen, da er allein, wie er hinzufügte, in der ganzen Familie Geschmack hätte.
Während der Verlesung des Testaments war Clotilde im Garten des Notars geblieben und hatte sich im Schatten eines Roßkastanienbaums auf eine Bank niedergesetzt. Als Pascal und Felicité wieder erschienen, entstand für einen Augenblick eine große Verlegenheitspause, denn sie hatten seit Monaten nicht mehr mit einander gesprochen. Uebrigens heuchelte die alte Dame vollkommene Ungezwungenheit ohne jede Anspielung auf die neue Lage der Verhältnisse und gab zu verstehen, daß man ganz gut zusammentreffen und vor der Welt einig erscheinen könnte, ohne sich deswegen zu einander zu setzen oder gar zu versöhnen. Aber sie that unrecht, allzu sehr den großen Kummer herauszukehren, den ihr der Tod des alten Macquart verursacht haben sollte. Pascal, der ihre übergroße Freude, ihre endliche Befriedigung bei dem Gedanken, daß dieser wunde Punkt der Familie, der dieses Scheusal von Onkel gewesen war, endlich zu heilen anfing, ahnte, gab der Ungeduld und Empörung nach, die ihn erfaßt hatte. Seine Augen hatten sich unwillkürlich auf die Handschuhe seiner Mutter geheftet, die heute schwarz waren.
Sie that gerade besonders niedergeschlagen und sagte mit sanfter Stimme:
»War es denn auch vernünftig, so eigensinnig zu sein und in seinem Alter so ganz allein für sich zu leben wie ein Wolf? Wenn er doch wenigstens eine Magd bei sich gehabt hätte!«
Und der Doktor sagte darauf, ohne das bestimmte Bewußtsein davon zu haben, einem solch unwiderstehlichen Drucke nachgehend, daß er bestürzt war, als er sich reden hörte:
»Aber, liebe Mutter, da Sie dort waren, warum haben Sie ihn denn nicht ausgelöscht?«
Die alte Frau Rougon wurde entsetzlich bleich. Wie konnte ihr Sohn das wissen? Sie sah ihn einen Augenblick mit offenem Munde an, während Clotilde ebenfalls blaß geworden war wie sie, der das Verbrechen deutlich auf der Stirne geschrieben stand. Es war ein Bekenntnis, dieses entsetzte Stillschweigen, das zwischen der Mutter, dem Sohne und der Enkelin eingetreten war, jenes fröstelnde Stillschweigen, in dem die Familien ihre häuslichen Tragödien zu begraben pflegen. Die beiden Frauen fanden keinen Ausweg. Der Doktor, in der Verzweiflung gesprochen zu haben, er, der mit so viel Sorgfalt unangenehme und unnütze Auseinandersetzungen vermied, suchte bestürzt seine Worte rückgängig zu machen, als eine neue Katastrophe sie dieser entsetzlichen Verlegenheit entriß.
Felicité wollte Charles wieder mitnehmen, um die liebenswürdige Gastfreundschaft des Notars Maurin nicht zu mißbrauchen. Da dieser den Kleinen nach dem Frühstücke in das Asyl hatte bringen lassen, damit er noch eine oder zwei Stunden bei der Tante Dide verweilte, hatte er soeben seine Dienstmagd mit dem Auftrage dorthin geschickt, Charles sofort wieder zurückzuholen. In diesem Augenblick erschien nun die Magd, die sie im Garten erwarteten, in Schweiß gebadet, ganz atemlos und verstört, und schrie schon von weitem:
»Mein Gott! Mein Gott! Kommen Sie rasch! Der junge Herr Charles schwimmt im Blute ...«
Sie erschraken furchtbar und eilten alle drei zusammen nach dem Asyl.
Die Tante Dide hatte heute gerade einen ihrer guten Tage; sie war sehr ruhig, sehr sanft und saß aufrecht in ihrem Lehnstuhl, in welchem sie seit zweiundzwanzig Jahren die Stunden, die langen Stunden damit verbrachte, in das Leere vor sich hinzustarren. Sie schien noch magerer geworden zu sein; alles Fleisch war verschwunden, ihre Arme, ihre Beine waren nur noch Knochen, umhüllt von ihrer pergamentartigen Haut; und ihre Wärterin, das kräftige blonde Mädchen, mußte sie tragen; sie fütterte sie wie ein kleines Kind und verfügte über sie wie über eine Sache, die man an einen Platz setzt und wieder wegnimmt. Die Urahne, die Vergessene, die Große, die Nachkommenreiche, die Unheimliche, blieb regungslos; nur ihre Augen, die Augen, die so klar wie Quellwasser waren, lebten noch in ihrem schmalen, eingetrockneten Gesichte. Noch am Morgen war eine heftige Thränenflut über ihre Wange herabgeströmt, dann hatte sie eine Menge zusammenhangloser Worte hervorgestottert; das schien zu beweisen, daß trotz ihrer greisenhaften Erschlaffung und dem unaufhaltsam zum vollständigen Wahnsinn fortschreitenden Verfall ihrer Geisteskräfte die Verknöcherung des Gehirns noch keine vollständige sein konnte: Erinnerungen waren noch vorhanden, lichte Augenblicke noch möglich. Sie hatte wieder ihr stummes, gleichgiltiges Wesen gegen Menschen und Sachen angenommen; zuweilen lachte sie über ein Unglück, über einen Fall, meistens aber sah und horte sie nichts bei ihrem endlosen Vorsichhinstarren in das Leere.
Als Charles zu ihr gebracht worden war, setzte ihn die Wärterin sofort an den kleinen Tisch, seiner Urahne gegenüber. Sie bewahrte für ihn immer ein Paket von Bildern auf, Soldaten, Offiziere, Könige, in Purpur und Gold gekleidet, und gab sie ihm jetzt zusammen mit der Schere.
»Da, amüsire Dich hübsch ruhig und sei artig! Du siehst, Großmama ist heute sehr, sehr brav, und da mußt Du auch brav sein!«
Das Kind hatte den Blick zu der Irren erhoben, und die beiden sahen sich an. In diesem Augenblick kam ihre außerordentliche Aehnlichkeit deutlich zum Vorschein. Vor allem waren ihre Augen, die leeren und hellen Augen, die sich in einander verloren, ganz die gleichen. Es war die Physiognomie, es waren die verlebten Gesichtszüge der Hundertjährigen, die über drei Generationen hinweg auf diese zarte Kindergestalt sich übertragen hatten, so verwischt, so gealtert und abgenutzt sie auch waren. Sie lächelten sich nicht an, sie betrachteten sich nur genau mit der ernsten Miene der Gebrechlichkeit.
»Ja, ja!« fuhr die Wärterin fort, die die Gewohnheit angenommen hatte, laut mit sich selbst zu sprechen, als ob sie sich mit ihrer Irren unterhielte. »Sie können sich nicht verleugnen. Wer den einen gemacht hat, hat auch den andern gemacht. Sie sind sich wie aus den Augen geschnitten ... So lacht doch ein bißchen und seid heiter, da es euch doch Vergnügen macht, bei einander zu sein!«
Aber die geringste längere Aufmerksamkeit ermüdete Charles; er senkte zuerst seinen Kopf und schien sein ganzes Interesse seinen Bildern zu widmen, während Tante Dide, die eine erstaunliche Ausdauer besaß, fortfuhr, ihn unausgesetzt anzusehen, ohne mit den Augenlidern zu zucken.
Eine Zeit lang hantirte die Wärterin noch herum in dem kleinen Zimmer, das von der Sonne hell beschienen war und wegen seiner weißen Tapete mit blauen Blumen ein sehr freundliches Aussehen hatte. Sie machte das Bett, das in der frischen Luft gelegen hatte, und ordnete Wäsche in den Fächern des Schrankes. Gewöhnlich aber benutzte sie die Anwesenheit des Kleinen, um sich etwas zu erholen. Sie durfte ihre Pflegebefohlene eigentlich nie verlassen; wenn der Kleine da war, hatte sie es jedoch schließlich gewagt, die Irre ihm anzuvertrauen.
»Höre,« sagte sie daher auch heute, »ich muß jetzt einmal fortgehen; wenn sie sich rührt, wenn sie mich braucht, dann wirst Du mir klingeln und wirst mich sofort rufen, nicht wahr? Du wirst mich verstehen. Du bist jetzt groß genug, um zu wissen, wie man jemand ruft.«
Er hatte den Kopf in die Höhe gehoben und machte ein Zeichen, daß er sie verstanden hätte und daß er rufen würde. Und als er sich allein befand mit der Tante Dide, beschäftigte er sich wieder vernünftig mit seinen Bildern. Dies währte eine Viertelstunde lang in der tiefen Stille des Asyles, wo man nur wie in einem Gefängnis hie und da ein verlorenes Geräusch hörte, einen verstohlenen Schritt oder das Klappern eines Schlüsselbundes und zuweilen laute Schreie, die aber sofort unterdrückt wurden. Infolge des glühend heißen Tages jedoch mußte das Kind müde sein; der Schlaf übermannte es, und bald schien sein lilienweißes Haupt sich zu neigen unter der allzu schweren Last seines königlichen Haarschmuckes; er ließ es sanft zwischen seine Bilder hinabsinken, und er schlief ein, mit einer Wange auf den goldenen und purpurnen Königen ruhend. Die Wimpern seiner geschlossenen Augenlider warfen einen Schatten, und schwach pulsirte das Leben in den kleinen blauen Adern seiner zarten Haut. Er war von einer engelgleichen Schönheit, die, verbunden mit der undefinirbaren Verderbtheit eines ganzen Geschlechts, sich über die Lieblichkeit seines Gesichts ausbreitete. Und Tante Dide betrachtete ihn mit ihrem leeren Blicke, in dem weder Freude noch Leid lag, mit einem Blick, der in die Ewigkeit hineinschaute.
Dennoch schien nach einigen Minuten ein Interesse in ihren hellen Augen zu erwachen. Etwas, was ihre Teilnahme erregte, spielte sich soeben ab – ein roter Tropfen, der immer länger wurde, zeigte sich am Rande des linken Nasenloches des Kindes. Der Tropfen fiel herab, und dann bildete sich ein anderer und folgte ihm. Das war Blut, was da hervorperlte, diesmal ohne jede Reibung, ohne jede Verletzung; nur infolge der durch die Entartung hervorgerufenen Erschlaffung rann es heraus. Die Tropfen wurden zu einem dünnen Faden, der auf das Gold der Blätter herabfloß. Ein kleiner See benetzte sie, der sich schließlich einen Weg nach der Kante des Tisches bahnte. Dort bildeten sich dann wieder Tropfen, schwere, dicke Tropfen, die rasch nach einander auf den steinernen Fußboden des Zimmers herabfielen. Und er schlief immer weiter mit der göttlich ruhigen Miene eines Cherubim, sogar ohne es zu merken, daß das Leben ihm entfloh; und die Irre fuhr fort, ihn anzuschauen, ihr Gesicht drückte immer mehr und mehr zunehmendes Interesse aus, aber ohne Schrecken, sie amüsirte sich vielmehr über den Vorgang, der ihr Auge fesselte wie das Hin- und Herfliegen der großen Fliegen, dem sie oft stundenlang folgte.
So gingen mehrere Minuten vorüber; der kleine rote Faden wurde immer stärker, die Tropfen folgten in rascherer Reihenfolge auf einander mit dem leichten, eintönigen und stetigen klatschenden Geräusch ihres Falles. Und Charles machte eine Bewegung, er öffnete für einen Augenblick die Augen und bemerkte, daß er ganz voll Blut war. Aber er erschrak durchaus nicht darüber, denn er war daran gewöhnt, eine solche Blutquelle von sich ausgehen zu sehen bei der geringsten Verletzung. Er klagte über Langeweile. Der Instinkt mußte ihn aber dann dennoch warnen, denn er wurde ängstlich und klagte lauter, verwirrte Rufe hervorstammelnd:
»Mama! Mama!«
Aber seine Schwäche mußte schon zu groß sein, denn eine unbezwingliche Mattigkeit befiel ihn wieder, und er ließ seinen Kopf von neuem auf den Tisch niedersinken; seine Augen schlossen sich, er schien wieder eingeschlafen zu sein, und von Zeit zu Zeit erklang immer schwächer und verlorener, gleich als ob er im Schlafe seine Klagen fortgesetzt hätte, der leise Seufzer:
»Mama! Mama!«
Die Bilder waren vollständig von Blut überschwemmt, der schwarze, goldgestickte Sammet seiner Jacke und seiner Hofe war mit langen, blutigen Streifen befleckt, und der kleine rote Faden, der ununterbrochen aus seinem linken Nasenloche herauszufließen fortfuhr, lief durch den purpurnen See auf dem Tische hindurch zum Fußboden hinab, wo er schließlich eine große Blutlache bildete. Ein lauter Ruf der Irren, ein Schreckensschrei würde genügt haben. Aber sie schrie nicht, sie rief nicht, sie saß, ohne sich zu rühren, mit den starren Augen der Ahnfrau, die zusieht, wie das Geschick sich erfüllt, aufrecht in ihrem Lehnstuhl und ausgetrocknet wie eine Mumie da; ihre Glieder und ihre Sprache waren durch ihre hundert Jahre gefesselt, das Gehirn durch den Wahnsinn verknöchert und sie so vollständig unfähig, zu wollen und zu handeln. Der Anblick des kleinen roten Baches fing aber schließlich doch an, in ihr eine Bewegung hervorzurufen. Ein leichtes Zittern war über ihr abgestorbenes Gesicht gehuscht, und eine leise Röte stieg in ihre Wangen. Ein letztes schwaches Wehklagen des Kleinen weckte sie ganz aus ihrer Lethargie.
»Mama! Mama!«
Da tobte in der Tante Dide sichtbar ein schrecklicher Kampf. Sie hob ihre beiden skeletartigen Hände zu ihren Schläfen empor, als ob sie gefühlt hätte, daß ihr Kopf zerspringen wollte. Ihr Mund hatte sich weit geöffnet, aber nicht ein Ton kam daraus hervor: der entsetzliche Kampf, der in ihr wütete, hatte ihr die Zunge gelähmt. Sie bemühte sich aufzustehen und zu gehen, aber sie hatte keine Kraft mehr, sie war wie angenagelt. Ihr ganzer armer Körper zitterte von der übermäßigen Anstrengung, die sie machte, um wenigstens um Hilfe zu rufen, ohne im stande zu sein, die Fesseln ihres Greisenalters und ihres Wahnsinns zu brechen. Ihr Gesicht war verstört, ihr Geist geweckt, sie konnte alles sehen.
Und es war ein langsamer und sehr sanfter Todeskampf, dessen Schauspiel noch lange Minuten andauerte. Und Charles, der jetzt ganz still war und wieder eingeschlummert zu sein schien, verlor nach und nach das ganze Blut aus seinen Adern, die sich unaufhaltsam leerten mit leisem Geräusch. Seine lilienweiße Gesichtsfarbe nahm zu, sie wurde schließlich zur Blässe des Todes. Seine Lippen entfärbten sich und gingen in ein blaßes Rosa über, dann wurden sie schließlich ganz weiß. Und dem Erlöschen nahe, öffnete er noch einmal seine großen Augen und heftete sie noch einmal auf die Urahne, die darin dem letzten Glanz folgen konnte. Sein ganzes wachsbleiches Antlitz war schon abgestorben, als die Augen noch lebten. Sie bewahrten bis zum letzten Augenblicke ihre Durchsichtigkeit, ihre Klarheit. Dann wurden sie plötzlich leer, sie erloschen. Das war das Ende, der Tod der Augen; und Charles war gestorben, ohne irgend welche äußere Veranlassung, erschöpft wie eine Quelle, deren Wasser sich vollständig verlaufen hat. Das Leben pulsirte nicht mehr in den Adern seiner zarten Haut, es war nichts mehr da als der Schatten seiner Augenwimpern aus seinem bleichen Antlitz. Aber er blieb schön wie ein Gott, wie er so da lag, den Kopf in seinem Blute, umflossen von seinem blonden königlichen Haarschmuck, einem jener kleinen blutlosen Dauphins gleich, die die verfluchte Erbschaft ihres Geschlechts nicht tragen konnten und die als schwächliche Greise von ihrem fünfzehnten Jahre an langsam dahinsiechten.
Das Kind hatte soeben seinen letzten schwachen Seufzer ausgehaucht, als Doktor Pascal, gefolgt von Felicité und Clotilde eintrat. Und sobald er die Masse von Blut gesehen hatte, von der der steinerne Fußboden des Zimmers überschwemmt war, rief er:
»O, mein Gott! Das, was ich befürchtete, ist geschehen! Der arme kleine Liebling! Niemand war da! Es ist zu Ende!«
Sie blieben alle drei wie von Schreck gelähmt vor dem außergewöhnlichen Schauspiel stehen, das sich ihnen da darbot. Der Tante Dide, die infolge der übermenschlichen Anstrengung wieder etwas Kraft bekommen hatte, wäre es beinahe gelungen, sich aus ihrem Lehnstuhl zu erheben. Und aus ihren Augen, die fest auf den kleinen Toten, der so bleich und so friedlich da lag, und auf das Blut ringsum, auf die Blutlache, die schon zu gerinnen anfing, gerichtet waren, leuchtete zum erstenmal nach einem langen Schlummer von zweiundzwanzig Jahren wieder ein Gedanke. Jene letzte Verschlimmerung ihres Wahnsinns, die unabwendbare Umnachtung ihres Geistes, war ohne Zweifel noch nicht vollständig genug, daß nicht plötzlich die dort schlummernde Erinnerung an ein fernes Ereignis durch einen schrecklichen Schlag, der sie traf, hätte geweckt werden können. Und die Vergessene lebte von neuem wieder auf, sie schüttelte ihre Lethargie ab und saß aufrecht da trotz ihres gebrochenen Körpers wie ein Gespenst des Schreckens und des Schmerzes.
Einen Augenblick saß sie keuchend da. Dann konnte sie nur, während ein Zittern ihren Körper durchlief, die Worte mühsam hervorstammeln:
Pascal, Felicité und Clotilde hatten sie verstanden. Sie sahen sich unwillkürlich an, sie zitterten. Das war die ganze sturmbewegte Geschichte der alten Mutter, der Mutter von ihnen allen, die durch diese Worte wachgerufen wurde, die verzweifelte Leidenschaft ihrer Jugend, das lange Leiden ihres reifen Alters. Schon zwei moralische Schläge hatten sie schrecklich erschüttert: der erste in der vollen Blüte ihres Lebens, als ein Gendarm durch einen Schuß ihren Geliebten, den Schmuggler Macquart, niedergestreckt hatte wie einen Hund, und das zweitemal, viele Jahre später, als wieder ein Gendarm durch einen Pistolenschuß den Kopf ihres Enkels Silvère zerschmettert hatte, des Insurgenten, des Opfers der Gehässigkeiten und blutigen Streitigkeiten der Familie. Sie war immer mit Blut befleckt. Und ein dritter moralischer Schlag gab ihr den Rest und bespritzte sie mit Blut, mit jenem verderbten Blute ihres Geschlechtes, das sie soeben hatte so lange fließen sehen und das dort auf dem Fußboden sich ausgebreitet hatte, während der bleiche königliche Knabe mit leerem Herzen und leeren Adern schlief.
Und dreimal hintereinander wiederholte sie stammelnd, als sie so ihr ganzes Leben wieder an sich vorüberziehen sah, ihr an Leidenschaft und Qual so reiches Leben, welches von dem Bilde des sühnenden Gesetzes beherrscht wurde:
»Der Gendarm! Der Gendarm! Der Gendarm!«
Und darauf sank sie wieder in ihrem Lehnstuhl zusammen. Sie hielten sie für tot, sie glaubten, daß der Schlag sie gerührt habe.
Da kam endlich die Wärterin zurück, nach Entschuldigungen suchend und ihrer Entlassung gewiß. Als Doktor Pascal ihr geholfen hatte, die Tante Dide auf ihr Bett zu legen, konstatirte er, daß sie noch lebte. Sie sollte erst am folgenden Tage sterben, im Alter von hundertundfünf Jahren, drei Monaten und sieben Tagen, an einer Gehirnlähmung, verursacht durch den letzten Schlag, den sie empfangen hatte.
Pascal teilte es sofort seiner Mutter mit.
»Sie wird nicht vierundzwanzig Stunden mehr leben, morgen wird sie tot sein ... Ah! Erst der Onkel, dann sie und dieses arme Kind! Schlag auf Schlag! Welches Elend und welche Trauer!«
Er unterbrach sich und fügte mit leiserer Stimme hinzu:
»Die Familie lichtet sich, die alten Bäume fallen und die jungen sterben stehend!«
Felicité mußte an eine neue Anspielung glauben. Sie war wirklich ganz verstört durch das tragische Ende des kleinen Charles. Aber trotzdem empfand sie neben dem Schauer eine ungeheure Erleichterung. Welche Beruhigung würde es in der kommenden Woche, wenn man zu weinen aufgehört hätte, gewähren, sagen zu können, der ganze Schrecken von Les Tulettes existirt nicht mehr, der Ruhm der Familie kann endlich steigen und strahlen in der Geschichte!
Dann erinnerte sie sich daran, daß sie noch keine Antwort auf die unbeabsichtigte, von ihrem Sohne ihr entgegengeschleuderte Anschuldigung bei dem Notar gegeben hatte. Und sie fing wieder mutig von Macquart an zu sprechen.
»Du siehst, daß die Dienstboten zu gar nichts nütze sind. Hier war nun eine da, und sie hat doch nichts verhindert; und es würde daher auch dem Onkel gar nichts geholfen haben, wenn er sich hätte behüten lassen, er würde jetzt trotz allem doch Asche sein!«
Pascal verneigte sich, und seine Haltung drückte wieder ganz die gewohnte Ehrerbietung seiner Mutter gegenüber aus.
»Sie haben recht, liebe Mutter!«
Clotilde war auf die Kniee niedergefallen. Ihr alter Glaube als ergebene Katholikin war soeben in diesem Zimmer voll Blut, Wahnsinn und Tod wieder erwacht. Ihre Augen strömten über von Thränen, ihre Hände hatten sich gefaltet und sie betete heiß für das Seelenheil der teuren Wesen, die nicht mehr waren. Mein Gott! Möchten ihre Leiden doch nun beendet sein, möchte man ihnen ihre Fehler verzeihen und sie nur zu einem andern Leben ewiger Glückseligkeit wieder auferwecken! Und sie betete mit heißer Inbrunst, aus Angst vor der Hölle, die nach einem elenden Leben die Leiden bis in alle Ewigkeit verlängern würde.
Am Schlusse dieses traurigen Tages machten sich Pascal und Clotilde eng an einander geschmiegt in weicherer Stimmung auf den Weg, um ihre Kranken zu besuchen. Vielleicht hatte sich in ihm das Bewußtsein seiner Ohnmacht der notwendigen Krankheit gegenüber noch verstärkt Die alleinige Weisheit war, die Natur sich selbst entwickeln, die gefährlichen Elemente ausstoßen zu lassen und sich abzumühen an der Schlußarbeit für die Gesundheit und Kraft. Aber die Verwandten, die man verliert, die leiden und die sterben, lassen im Herzen eine Erbitterung zurück gegen das Uebel, ein unwiderstehliches Verlangen, es zu bekämpfen und zu besiegen. Und niemals hatte der Doktor eine größere Freude empfunden, als wenn es ihm gelungen war, mit Hilfe seiner Einspritzungen die Schmerzen zu lindern und die wimmernden Kranken zu beruhigen und einzuschläfern. Sie wiederum betete ihn an und war sehr stolz, gleich als ob ihre Liebe die Stütze wäre, die sie auf ihrer Pilgerfahrt durch diese armselige Welt mit sich führten.