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Zwölftes Kapitel.

Vom folgenden Tag an schloß sich Pascal in seinem großen öden Haus ein. Er kam gar nicht mehr heraus; die wenigen ärztlichen Besuche, die er noch gemacht hatte, gab er ganz auf und lebte so bei geschlossenen Thüren und Fenstern in vollständiger Einsamkeit und Stille. Und er hatte der alten Martine den bestimmten Befehl gegeben, sie durfte unter keinen Umständen irgend jemand hereinlassen.

»Aber, Herr Doktor, Ihre Mutter, Frau Felicité!«

»Meine Mutter noch weniger als die anderen. Ich habe meine Gründe ... Du wirst ihr sagen, daß ich arbeitete, daß ich sehr notwendig hätte, mich zu sammeln, und daß ich sie daher bäte, mich zu entschuldigen.«

Dreimal, ganz kurz hintereinander, hatte sich die alte Frau Rougon eingestellt. Sie polterte unten im Parterre herum, er hörte es ganz deutlich, wie sie ihre Stimme erhob und zornig wurde und sich den Zutritt durchaus erzwingen wollte. Dann aber ließ der Lärm nach, es war nur noch ein Flüstern und Klagen hörbar, und ein neues Komplot zwischen ihr und der Haushälterin kam zu stande. Aber nicht ein einzigesmal gab er nach, nicht ein einzigesmal beugte er sich über das Treppengeländer herunter, um ihr zuzurufen, sie solle heraufkommen.

Eines Tages wagte es die alte Martine, zu ihm zu sagen:

»Das ist doch trotz allem sehr hart, Herr Doktor, seiner Mutter den Eintritt zu verweigern, um so mehr, da doch Frau Felicité mit den besten Absichten hergekommen ist, denn sie kennt ja die große Not des Herrn Doktors und wollte nur ihre Dienste anbieten.«

Ganz außer sich vor Zorn rief er:

»Ich will kein Geld von ihr, hörst Du? Ich werde arbeiten, zum Teufel! Ich werde mir meinen Lebensunterhalt selbst verdienen!«

Die Geldfrage wurde indessen immer drückender. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, nicht einen Sou mehr von den fünftausend Franken wegzunehmen, die in seinem Sekretär eingeschlossen lagen. Jetzt, wo er allein war, gab er sich einer vollständigen Sorglosigkeit hin in Bezug auf alles, was das materielle Leben betraf, und er würde mit Brot und Wasser zufrieden gewesen sein; und jedesmal, wenn die alte Martine ihn fragte, von was sie Wein, Fleisch oder irgend etwas kaufen sollte, zuckte er mit den Achseln: zu was denn? Es wäre ja vom vorhergehenden Abend noch eine Brotrinde übrig geblieben, ob denn die nicht genügend sei? Sie aber war in ihrer zärtlichen Liebe zu dem Meister, der, wie sie wußte, schwer litt, ganz untröstlich über diesen Geiz, der noch schlimmer war als der ihrige, über dieses armselige Bettelmannsleben, dem er sich mit dem ganzen Hause hingab. Man lebte bei den Arbeiterfamilien in der Vorstadt wirklich besser. Einen ganzen Tag lang schien sie die Beute eines entsetzlichen innern Kampfes zu sein. Ihre Liebe, die der Anhänglichkeit eines gelehrigen Hundes glich, stritt mit ihrer Leidenschaft für das Geld, das sie Sou auf Sou gesammelt und irgendwo versteckt hatte, wo es, wie sie zu sagen pflegte, wieder Kinder zeugte. Sie würde lieber ein Stück von ihrem eigenen Fleische hergegeben haben. So lange ihr Herr nicht allein gelitten hatte, war ihr der Gedanke, ihren Schatz anzugreifen, überhaupt gar nicht gekommen. Und es war ein ganz außerordentlicher Heroismus, als sie eines Morgens, zum Aeußersten gebracht, nachdem sie ihre kalte Küche und die leeren Schränke darin gesehen hatte, auf eine Stunde verschwand und dann mit Vorräten und mit einem Hundertfrankenscheine barem Geld wieder heimkehrte.

Pascal, der gerade die Treppe herunterkam, war mit Recht verwundert und fragte, woher denn dieses Geld stammte; er war schon ganz außer sich und schon bereit, alles auf die Straße hinauszuwerfen, da er glaubte, sie wäre zu seiner Mutter gegangen.

»Aber nein, aber nein, Herr Doktor!« stotterte sie verlegen. »Das ist ja durchaus nicht so ...« Und schließlich brachte sie die Lüge vor, die sie sich ausgedacht hatte.

»Denken Sie sich, die Angelegenheiten des Herrn Grandguillot sind geordnet oder man ist wenigstens gerade dabei. Heute morgen kam mir plötzlich der Gedanke, einmal hinzugehen und nachzuschauen, und da hat man mir gesagt, daß Sie ganz bestimmt etwas wiederbekommen würden, und daß ich gleich hundert Franken haben könnte ... Ja, man hat sich sogar mit einer Empfangsbescheinigung von mir zufrieden gegeben. Sie können ja später die Sache in Richtigkeit bringen.«

Pascal schien kaum verwundert zu sein. Sie hoffte mit Bestimmtheit, daß er nicht ausgehen würde, um die Sache zu untersuchen. Dann fühlte sie sich sehr erleichtert, als sie sah, mit welcher sorglosen Leichtgläubigkeit er ihre Geschichte aufnahm.

»Ah, um so besser!« rief er aus. »Ich habe es ja immer gesagt, man muß niemals verzweifeln. Das wird mir noch die Zeit geben, meine Angelegenheiten zu ordnen.«

Seine Angelegenheiten waren der Verkauf der Souleiade, an den er schon hie und da oberflächlich gedacht hatte. Aber welch schrecklichen Schmerz würde es ihm bereiten, dieses Haus zu verlassen, in dem Clotilde groß gezogen worden war, in dem er beinahe achtzehn Jahre mit ihr zusammengelebt hatte! Schon seit zwei bis drei Wochen hatte er sich vorgenommen, ernstlich sich mit der Sache zu beschäftigen. Seitdem er aber Hoffnung hatte, etwas von seinem Gelde wieder zurückzubekommen, dachte er überhaupt nicht mehr daran. Von neuem ließ er alles seinen Gang gehen und bemerkte selbst nichts von der peinlichen Ordnung, mit der Martine ihn umgab. Wie früher lag sie wieder in Anbetung vor ihm auf den Knieen und obgleich es ihr Schmerz verursachte, daß sie ihren kleinen Schatz hatte angreifen müssen, war sie doch so glücklich darüber, daß sie ihn jetzt ernährte, ohne daß er die geringste Ahnung davon hatte, woher das Geld für seinen Lebensunterhalt stammte.

Uebrigens belohnte er sie für ihre Aufopferung nur wenig. Er wurde zwar in der Folge etwas sanfter und bedauerte seine Heftigkeit. Aber in dem Zustande fieberhafter Verzweiflung, in dem er sich jetzt befand, hinderte ihn dies nicht, immer wieder von neuem anzufangen und bei der geringsten Veranlassung zur Unzufriedenheit böse zu werden. Eines Abends, als er seine Mutter noch endlos lange in der Küche mit der alten Haushälterin hatte schwatzen hören, geriet er in einen fürchterlichen Zorn.

»Hörst Du, Martine, ich will es nicht, daß sie die Souleiade wieder betritt ... Wenn Du sie noch ein einzigesmal unten empfängst, jage ich Dich fort.«

Erschrocken horte sie ihn an. Seit den zweiunddreißig Jahren, die sie bei ihm im Dienste stand, hatte er ihr niemals so mit dem Fortschicken gedroht. Dicke Thränen traten ihr in die Augen.

»O, Herr Doktor, Sie würden wohl den Mut dazu haben, aber ich würde dennoch nicht fortgehen, ich würde ruhig da bleiben.«

Er schämte sich aber schon seiner zornigen Aufwallung und wurde viel freundlicher gegen sie als vorher.

»Das kommt nur daher, weil ich ganz genau weiß, was vorgeht. Sie will Dich einfach instruiren, wie Du Dich verhalten sollst, sie will Dich nur gegen mich aufhetzen, nicht wahr? Ja, sie hat es auf meine Papiere abgesehen, sie will alles rauben, alles zerstören, was oben in meinem Schranke ist. Ich kenne sie, wenn sie etwas will, so läßt sie nicht eher davon ab, als bis sie es erreicht hat ... Du kannst ihr also sagen, daß ich immer auf meiner Hut bin, daß ich sie gar nicht an den Schrank herankommen lassen werde, so lange ich am Leben bleibe. Hier in meiner Tasche befindet sich stets der Schlüssel dazu.«

In der That hatte sich die Angst des verfolgten und bedrohten Gelehrten von neuem bei ihm vollständig eingestellt. Seitdem er wieder allein war, hatte er das Gefühl, daß eine Gefahr im Anzuge sei, daß ihn fortwährend jemand im geheimen beobachte und belaure. Der Kreis verengerte sich immer mehr, und wenn er sich gegen die versuchten Eingriffe so heftig zeigte, wenn er die Anerbietungen seiner Mutter zurückwies, so geschah es, weil er sich nicht im mindesten über deren wirkliche Absichten täuschte, und weil er fürchtete, schwach zu werden. Wenn sie da wäre, dann würde sie ihn nach und nach vollständig in Besitz nehmen und ihn ihrem Willen unterwerfen. Auch seine Beängstigungen begannen wieder von neuem. Tagelang brachte er jetzt auf der Lauer zu, am Abend verschloß er selbst die Thüren, und des Nachts stand er oft aus dem Bette auf, um sich zu versichern, daß man die Schlösser nicht aufbräche. Seine beständige Furcht war, die alte Martine möchte, verführt durch den Glauben, ihm dadurch das ewige Heil zu erwerben, seiner Mutter die Thüre öffnen. Er sah die Aktenstücke schon im Kamin brennen; er stellte sich in ihrer Nähe auf Wache, von neuem von einer krankhaften Leidenschaft ergriffen, von einer ihn selbst peinigenden Liebe für diesen leblosen Stoß von Papieren, für diese kalten Manuskriptseiten, denen er schon die geliebte Frau geopfert hatte und die er sich bemühte so zu lieben, daß er über ihnen alles andere vergaß.

Seitdem Clotilde nicht mehr bei ihm war, stürzte sich Pascal ganz in die Arbeit; er versuchte es, sich dadurch zu betäuben, sich darin zu verlieren. Wenn er sich einschloß, wenn er die Füße nicht mehr in den Garten setzte, wenn er eines Tages, als die alte Martine hinaufgestiegen war, um ihm den Doktor Ramond zu melden, die Kraft gehabt hatte, ihm sagen zu lassen, daß er ihn nicht empfangen könnte, so hatte dieses unfreundliche Verlangen nach Einsamkeit keinen andern Zweck, als sich in unablässiger, mühevoller Arbeit zu Grunde zu richten. Der arme Ramond! Wie gern hätte er ihn umarmt! Denn er ahnte, welch edles Gefühl den jungen Mann veranlaßt hatte herbeizueilen, um seinen alten Lehrer zu trösten. Aber warum sollte er eine Stunde verlieren? Warum sollte er sich der Gefahr einer neuen thränenreichen Aufregung aussetzen, aus der er matt und angegriffen hervorgehen würde? Von Tagesanbruch an saß er an seinem Schreibtische und verbrachte dort seine Vormittage und seine Nachmittage; zuweilen setzte er seine Arbeit auch bei der Lampe bis sehr spät in die Nacht hinein fort. Es war ein altes Projekt, das er da zur Ausführung zu bringen beabsichtigte: er wollte seine Theorie von der Vererbung noch einmal vornehmen und nach einem neuen Plane umarbeiten; er wollte sich dazu der Aktenstücke bedienen, der Dokumente, die ihm durch seine Familie geliefert worden waren, um festzustellen, daß sich in einer Anzahl von Wesen das Leben nach bestimmten Gesetzen verteilt und mathematisch genau von einem Menschen zu einem andern fortsetzt, indem es dabei den Verhältnissen Rechnung trägt: eine weit ausgedehnte heilige Schrift, die Genesis der Familien, der Gesellschaften, der ganzen Menschheit überhaupt. Er hoffte, daß der gewaltige Umfang eines solchen Planes, daß die zur Verwirklichung eines solchen kolossalen Gedankens notwendige Anstrengung ihn vollständig in Anspruch nehmen und ihm seine Gesundheit, seinen Glauben, seinen Stolz in dem erhabenen Genusse des vollendeten Werkes wiedergeben würde. Aber wenn er sich auch begeistern, wenn er sich auch mit einer wahren Wut der Arbeit widmen wollte, so brachte er es doch nur so weit, daß er seinen Körper und seinen schon an und für sich zerstreuten Geist überanstrengte, und daß er mit seinem von der Arbeit weit entfernten Herzen immer kränker und verzweifelter wurde. War es denn wirklich ein vollständiges Aufhören seiner Arbeitskraft? Er, dem die Arbeit das ganze Leben ausgefüllt und in Anspruch genommen hatte, der sich als die einzige bewegende Kraft, als der Wohlthäter, als der Tröster angesehen hatte, sollte denn nun gerade er gezwungen sein, zu dem Schlusse zu kommen, daß Lieben und Geliebtwerden in der Welt über alles geht? Er verfiel für Augenblicke in tiefes Nachdenken, er fuhr fort, sich in seine neue Theorie von dem Gleichgewicht der Kräfte zu verbohren, die darin bestand, festzustellen, daß der Mensch alles, was er durch sinnliche Wahrnehmungen empfängt, in Bewegungen wieder hergeben muß. Welch normales, volles und glückliches Leben wäre es, wenn man es hätte ganz leben können in der Thätigkeit einer gut geregelten Maschine, die das, was sie an Brennmaterial empfängt, als Kraft wiedergibt, die sich selbst in Kraft und Schönheit durch das logische und gleichzeitige Wirken ihrer Teile erhält! Er sah darin ebenso sehr körperliche wie geistige Arbeit, ebenso sehr Gefühl wie Raisonnement, die Teilnahme an der erzeugenden Funktion wie an der Gehirnthätigkeit, ohne jegliche Ueberanstrengung weder von der einen noch von der andern Seite, denn die Ueberanstrengung ist nichts anderes als die Störung des Gleichgewichtes und die Krankheit. Ja, ja! Das Leben wieder von neuem anzufangen, zu verstehen, es richtig zu leben, die Erde umzugraben, die Welt zu studiren, das Weib zu lieben, zu der menschlichen Vollkommenheit zu gelangen, zu dem Zukunftsstaat des allgemeinen Glückes, durch die rechte und richtige Verwendung des ganzen Seins, welches schöne Testament würde da ein philosophischer Arzt hinterlassen! Und dieser weit entlegene Traum, diese dazwischen geschneite Theorie erfüllte ihn nun vollends noch mit Kummer und Bitterkeit bei dem Gedanken, daß er von nun an nichts anderes wäre als eine verdorbene und verlorene Kraft.

Sogar in seinem Kummer beherrschte Pascal das alles andere in den Hintergrund drängende Gefühl, daß es mit ihm zu Ende ginge. Der Schmerz um Clotilde, die Qual, sie nicht mehr bei sich zu haben, die Gewißheit, daß er sie niemals wieder besitzen würde, das alles überflutete ihn in einem gewaltigen Schmerze, der alles mit sich fortriß, zu jeder Stunde immer mehr und mehr. Die Arbeit war besiegt, er ließ zuweilen seinen Kopf auf die Seite, an der er gerade arbeitete, niedersinken und weinte stundenlang, ohne den Mut zu finden, die Feder wieder in die Hand zu nehmen. Ein übertriebener Arbeitseifer, seine tagelange freiwillige Selbstvernichtung brachten ihm schreckliche Nächte, Nächte fieberhafter Schlaflosigkeit, in deren Verlaufe er in seine Betttücher und Kissen biß, um nicht laut den Namen Clotildens zu rufen. Sie war überall in diesem traurigen, wie ausgestorbenen Hause, in dem er sich einschloß. Er fand sie in jedem Zimmer, durch das er hindurchging, wieder, sie saß auf jedem Sitze und stand hinter allen Thüren. Unten in dem Eßzimmer konnte er sich nicht mehr an den Tisch setzen, ohne daß er sie nicht sich gegenüber sah. Oben in dem Arbeitssaal fuhr sie fort, zu jeder Sekunde seine Gefährtin zu sein; sie hatte so lange dort eingeschlossen gelebt, daß von allen darin befindlichen Gegenständen ihr Bild auszugehen schien. Ohne Aufhören fühlte er sie in seiner Nähe, er ahnte sie, wie sie in ihrer geraden und zarten Gestalt hinter ihrem Pulte stand, wie sie sich mit ihrem feinen Profil auf ein Pastellgemälde niederbeugte. Und wenn er nicht aus dem Hause ging, um dieser Heimsuchung durch die teure und quälende Erinnerung zu entfliehen, geschah es nur deswegen, weil er die Gewißheit hatte, daß er sie auch in dem Garten überall wiederfinden würde, wie sie am Rande der Terrasse träumte, wie sie mit langsamen Schritten auf den Wegen des Fichtenwaldes dahinwandelte, wie sie in der frischen Kühle unter den Platanen bei dem ewigen Gesänge der Quelle saß oder wie sie beim Niedersinken der Dämmerung auf dem großen freien Platze im Grase lag und, die Augen in die unergründliche Ferne verloren, die Sterne erwartete. Es gab für ihn aber vor allem einen Ort der Sehnsucht und des Schreckens, ein geweihtes Heiligtum, das er nur zitternd betrat: das Zimmer, in dem sie sich ihm geschenkt hatte, in dem sie zusammen geschlafen hatten. Er bewahrte den Schlüssel dazu, er hatte darin keinen Gegenstand von seinem Platze entfernt seit dem traurigen Morgen ihrer Abreise, und ein vergessener Rock lag noch auf einem Stuhle. Dort atmete er noch ihren frischen Jugendduft, der in der Luft zurückgeblieben war wie ein Wohlgeruch. Entzückt und verliebt öffnete er die Arme und schloß sie um ein Phantom, das in dem fahlen Zwielicht der geschlossenen Läden, in dem verblaßten orangefarbenen Rosa der alten Kattuntapete der Wände umherflatterte. Er weinte vor den Möbeln, er küßte das Bett, die Stelle, wo die schlanke Form ihres göttlichen Körpers sich abgedrückt hatte. Und die Freude da zu sein, das Bedauern, Clotilde nicht zu sehen, überhaupt die ganze Aufregung erschöpfte ihn in dem Maße, daß er es nicht wagte, diesen gefürchteten Ort jeden Tag zu betreten; er legte sich lieber in seinem kalten Zimmer nachts zur Ruhe nieder, wo ihm seine Schlaflosigkeit sie nicht so nahe und so lebhaft zeigte.

Mitten in seiner angestrengten Arbeit hatte Pascal noch eine andere große, schmerzliche Freude, die Briefe Clotildens. Sie schrieb ihm regelmäßig zweimal in der Woche, lange Briefe von acht bis zehn Seiten, in denen sie ihm ihr tägliches Leben ausführlich erzählte. Es hatte nicht den Anschein, als ob sie in Paris sehr glücklich wäre. Maxime, der seinen Krankenstuhl nicht mehr verließ, mußte sie mit Forderungen und Wünschen wie ein verwöhntes und krankes Kind quälen, denn sie schrieb, daß sie eine wirkliche Einsiedlerin sei, die immer in seiner Nähe weilen müßte und nicht einmal an das Fenster treten dürfe, um einen Blick hinunter auf die Straße zu werfen, wo ein wahrer Strom von Spaziergängern auf und ab wogte, und aus gewissen Redewendungen fühlte man deutlich heraus, daß ihr Bruder, nachdem er sie so ungeduldig herbeigewünscht hatte, sie schon beargwöhnte und anfing, sie mit seinem Mißtrauen und seinem Hasse zu verfolgen, wie er es bei allen Personen machte, die ihn bedienten, in der fortwährend ihn beunruhigenden Angst, ausspionirt und beraubt zu werden. Zweimal hatte sie ihren Vater gesehen, der immer heiter war und überbürdet von Geschäften; in der politischen und finanziellen Welt wieder oben auf, hatte er sich zur Republik bekehrt. Saccard hatte sie beiseite genommen, um ihr auseinanderzusetzen, daß der arme Maxime wirklich unerträglich wäre und daß sie großen Mut haben müßte, wenn sie einwilligte, sein Opfer zu sein. Da sie nicht alles thun konnte, hatte er die Liebenswürdigkeit gehabt, ihr am folgenden Tage die Nichte seines Friseurs zu schicken, ein kleines junges Mädchen von achtzehn Jahren, sehr blond und von unschuldigem Aussehen, das ihr gegenwärtig bei der Pflege des Kranken half. Uebrigens beklagte sich Clotilde nicht; sie gab sich sogar Mühe, Gleichmut und Zufriedenheit zu zeigen, nachdem sie auf das Leben Verzicht geleistet hatte. Ihre Briefe waren voll von Mut, ohne jeden Groll gegen die grausame Trennung, ohne verzweifelten Anruf der Liebe Pascals, daß er sie zurückholen sollte. Aber zwischen den Zeilen las er es, fühlte er es heraus, wie sie vor innerer Erregung und Empörung zitterte, wie sie sich mit ganzer Seele nach ihm sehnte und jederzeit zu der Thorheit bereit war, bei dem geringsten ermutigenden Worte sofort zu ihm zurückzukehren!

Und gerade dieses Wort wollte Pascal nicht schreiben. Die Sachen würden sich schon auf das beste ordnen, Maxime würde sich schon mit der Zeit an seine Schwester gewöhnen; das Opfer müßte bis zum Schlusse gebracht werden, jetzt, wo es nun doch einmal zur Thatsache geworden wäre. Eine einzige Zeile, in einer schwachen Minute von ihm geschrieben, und der Erfolg der Anstrengung war dahin, und das Elend begann von neuem. Niemals hatte Pascal größeren Mut nötig gehabt, als wenn er Clotilden antwortete. Während der heißen Nächte kämpfte er heftig mit sich, wütend rief er ihren Namen, er stand auf, um an sie zu schreiben, um sie sofort durch eine Depesche zurückzurufen. Am Tage dann, wenn er viel geweint hatte, ließ sein Fieber nach; und seine Antwort war immer sehr kurz, fast kalt. Er prüfte sorgfältig jeden seiner Sätze, er fing noch einmal von neuem an, wenn er sich vergessen zu haben glaubte. Aber welche Qual waren für ihn diese entsetzlichen, so kurzen und so kühlen Briefe, bei denen er ganz gegen sein Herz handelte, einzig, um sie fernzuhalten, um alles Unrecht auf sich zu nehmen und um sie glauben zu machen, sie dürfte ihn vergessen, da er sie vergaß! In Schweiß gebadet und zum Tode erschöpft war er jedesmal darnach wie nach einer schwierigen, anstrengenden Heldenthat.

Man befand sich in den letzten Tagen des Oktober, einem Monat, seitdem Clotilde weggegangen war, als Pascal eines Morgens einen heftigen Erstickungsanfall bekam. Schon zu wiederholtenmalen hatte er derartige leichte Beklemmungen gehabt, die er auf Rechnung der Arbeit setzte. Aber diesmal zeigten sich die Symptome so klar und deutlich, daß er sich nicht täuschen konnte: ein stechender Schmerz, der die ganze Brust einnahm und die ganze Länge des linken Armes hinunterging, ein schreckliches, erdrückendes und beängstigendes Gefühl, während kalter Schweiß an seinem Körper herabrann. Es war ein Anfall von Herzbeklemmung, Er dauerte nicht länger als eine Minute, und Pascal war zunächst mehr verwundert als erschreckt darüber. In der Verblendung, in der die Aerzte zuweilen in Betreff des Zustandes ihrer eigenen Gesundheit befangen sind, hatte er niemals eine Ahnung davon gehabt, daß sein Herz krank sein könnte.

Als er wieder Atem holen konnte, kam Martine gerade die Treppe heraufgestiegen, um zu melden, daß Doktor Ramond wieder unten wäre und dringend darum bäte, empfangen zu werden. Und Pascal, der vielleicht in diesem Augenblicke einem unbewußten Verlangen nach Klarheit nachgab, rief:

»Nun gut! So soll er denn heraufkommen, da er so hartnäckig darauf besteht! Das wird mir Vergnügen machen!«

Die beiden Männer umarmten sich; mit keinem Worte wurde auf die Abwesende angespielt, auf die, deren Weggang das Haus öde gemacht hatte.

»Sie wissen nicht, warum ich komme?« rief Ramond sofort. »Es handelt sich um eine Geldangelegenheit ... Mein Schwiegervater, Herr Lévêque, der Notar, den Sie ja kennen, hat gestern wieder mit mir von dem Gelde gesprochen, das Sie bei dem Notar Grandguillot deponirt hatten. Und er gibt Ihnen den Rat, die Sache nicht ruhen zu lassen, denn es ist einigen geglückt, wie man sagt, wenigstens etwas wieder zu erhalten.«

»Aber das weiß ich ja schon,« sagte Pascal, »daß die Sache geordnet wird. Ich glaube, meine alte Martine hat schon zweihundert Franken geholt.«

Ramond schien sehr erstaunt zu sein.

»Wie, Martine? Ohne daß Sie vermittelnd dazwischen getreten sind? Wollen Sie vielleicht meinen Schwiegervater bevollmächtigen, Ihre Sache in die Hand zu nehmen? Er wird die Angelegenheit bald ins klare bringen, da Sie ja weder die Zeit dazu haben, noch Vergnügen an einer derartigen Beschäftigung finden.«

»Gewiß, ich bevollmächtige Herrn Lévêque, und sagen Sie ihm, daß ich ihm tausendmal danke.«

Nachdem diese Angelegenheit so erledigt war, fragte der junge Mann, der das bleiche Aussehen des Doktors sofort bemerkt hatte, nach der Ursache.

Pascal antwortete lächelnd:

»Denken Sie sich nur, mein junger Freund, ich habe gerade vorhin, bevor Sie kamen, einen Anfall von Herzbeklemmung gehabt! O nein, nein, es ist keine Einbildung, ältere Symptome waren vorhanden! Und da Sie nun einmal da sind, mein lieber Ramond, so sollen Sie mich gleich einmal ordentlich untersuchen.«

Zuerst weigerte sich Ramond und stellte sich, als wolle er die Untersuchung aus Scherz vornehmen. Würde es denn jemals ein Rekrut wie er wagen, sich über seinen General auszusprechen? Aber er fragte ihn dennoch aus, da er sein Gesicht entstellt und verstört fand und aus seinen Augen eine besondere Angst sprach. Schließlich untersuchte er ihn auch noch mit großer Aufmerksamkeit, indem er das Ohr lange an seine Brust legte. Mehrere Minuten vergingen in tiefem Stillschweigen.

»Nun?« fragte Pascal, nachdem sich der junge Arzt wieder emporgerichtet hatte.

Ramond sprach nicht sofort Er fühlte die Augen des Meisters fest auf die seinen gerichtet. Auch er wendete seine Blicke nicht ab und antwortete auf die so gefaßt und ruhigen Mutes gestellte Frage einfach:

»Ja, es ist wahr! Ich glaube, es ist Sklerose vorhanden.«

»Ah, das ist edel von Ihnen, daß Sie nicht lügen!« entgegnete der Doktor. »Ich habe einen Augenblick gefürchtet, Sie würden mir nicht die Wahrheit sagen, und das würde mir Schmerz bereitet haben!«

Ramond hatte sich von neuem niedergebeugt, um noch einmal an Pascals Brust zu horchen, und sagte mit leiser Stimme:

»Ja, der Schlag ist kräftig; das erste Geräusch klingt dumpf, während das zweite im Gegenteil sehr laut ist ... Man fühlt, daß die Spitze sich senkt und gegen die Achselhöhle gedrückt ist ... Ja, es ist Sklerose vorhanden, oder vielmehr, es ist zum mindesten sehr wahrscheinlich.«

Dann stand er auf und fügte hinzu:

»Man kann zwanzig Jahre damit leben.«

»Ohne Zweifel, zuweilen,« antwortete Pascal, »wofern man nicht, vom Schlage getroffen, sofort stirbt.«

Sie plauderten noch eine Zeit lang zusammen und wunderten sich über einen ganz eigentümlichen Fall von Sklerose des Herzens, der im Hospital von Plassans beobachtet worden war. Und als der junge Arzt fortging, kündigte er an, daß er wiederkommen würde, sobald er etwas Neues in der Sache Grandguillot erfahren hatte.

Als Pascal allein war, fühlte er, daß er verloren war. Jetzt erklärte er sich auch alles, sein Herzklopfen seit einigen Wochen, seine Schwindelanfälle, seine Beklemmungen, und vor allem war es die Schwäche seines armen, von Leidenschaft und Arbeit überanstrengten Herzens, das Gefühl unendlicher Mattigkeit und des nahen Endes, über das er sich zu dieser Stunde nicht mehr täuschte. Und dennoch war es zunächst nicht Furcht, was er empfand. Sein erster Gedanke war vielmehr, daß auch er für seine Person der Vererbung Tribut zahlen müsse, daß die Sklerose eine Form der Entartung, sein Anteil des physiologischen Uebels sei, das unvermeidliche Vermächtnis seiner schrecklichen Vorfahren. Bei einigen hatte sich das Nervenleiden, die ursprüngliche Krankheit, in Tugenden oder in Laster umgewandelt: in Genie, in Verbrechen, in Trunksucht, in Heiligkeit; andere waren an der Lungenschwindsucht, an der Epilepsie, an der Ataxie zu Grunde gegangen; er hatte von der Leidenschaft gelebt und sollte durch das Herz sterben. Und er zitterte nicht mehr davor, er erzürnte sich nicht über diese offenbare, verhängnisvolle und ohne Zweifel notwendige Erbschaft. Ihn ergriff im Gegenteil eine wahre Demut, die Gewißheit, daß jedes Auflehnen gegen die Naturgesetze schlecht ist. Warum frohlockte er denn, einstmals, von Freude erfüllt bei dem Gedanken, daß er nicht zu seiner Familie gehörte, daß er sich verschieden von ihr, daß er sich außer jeder Gemeinschaft mit ihr fühlte? Nichts war weniger philosophisch. Nur Monstra weichen von dem richtigen Wege ab. Und jetzt, mein Gott! Schien ihm denn jetzt die Zugehörigkeit zu seiner Familie nicht ebenso gut und schön, als wenn er zu einer andern gehörte? Glichen sie sich denn nicht alle, war denn die Menschheit nicht überall dieselbe mit der nämlichen Summe von Gutem und Bösem? Er kam jetzt, sehr bescheiden und sehr sanft, dahin, daß er bei der drohenden Nähe des Leidens und des Todes alles vom Leben annahm.

Seitdem lebte Pascal in dem Gedanken, daß er von einer Stunde zur andern sterben konnte. Und dieser Gedanke machte ihn schließlich größer und hob ihn empor zum vollständigen Vergessen seiner selbst. Er hörte zwar nicht zu arbeiten auf, aber er hatte niemals besser begriffen, wie viel Anstrengung in sich selbst seine Belohnung findet, da das Werk immer vergänglich war und trotz allem unvollendet blieb.

Eines Abends beim Essen erzählte ihm die alte Martine, daß der Hutmacher Sarteur, der alte Insasse des Asyles von Les Tulettes, sich vor kurzem erhängt hätte. Den ganzen Abend dachte er an diesen eigentümlichen Fall, an diesen Mann, den er von seiner Mordsucht geheilt zu haben glaubte durch sein Heilmittel, durch die Einspritzungen unter die Haut, und der, augenscheinlich von einem Rückfall ergriffen, noch so viel klaren Verstand besessen hatte, sich selbst zu erdrosseln, anstatt dem ersten besten Vorübergehenden an die Kehle zu springen. Er sah ihn wieder vor sich, so vollständig vernünftig wie damals, als er ihm den Rat gegeben hatte, seine frühere Thätigkeit als guter und fleißiger Arbeiter wieder aufzunehmen. Welches war denn diese zerstörende Kraft, dieses Verlangen nach Mord, das sich in Selbstmord umwandelte, da der Tod doch trotz allem seine Arbeit noch that? Mit diesem Manne verschwand sein letzter Stolz als Arzt, das letzte bißchen Glauben an die Heilkraft des Arztes; und jeden Morgen, wenn er sich wieder an die Arbeit machte, hielt er sich für nichts mehr als für einen Schüler, der buchstabirt und immer die Wahrheit sucht in gleichem Maße, wie diese sich immer weiter entfernt und sich immer mehr vergrößert und erweitert.

Aber in dieser heiteren Ruhe blieb ihm doch eine Sorge, die Angst, zu wissen, was aus Bonhomme, dem alten treuen Rosse, werden würde, wenn er vor ihm sterben sollte. Jetzt war das arme Tier vollständig blind und seine Beine ganz gelähmt, so daß es gar nicht mehr seine Streu verlassen konnte. Als sein Herr es besuchte, so hörte es ihn doch noch kommen, wendete langsam den Kopf nach ihm um und fühlte deutlich die beiden derben Küsse, die er ihm auf die Nase gab. Die ganze Nachbarschaft zuckte die Achseln und machte ihre Witze über den alten Verwandten, den der Doktor nicht totschlagen lassen wollte. Sollte er denn zuerst von hinnen scheiden mit dem Gedanken, daß man gleich am nächsten Tage den Schinder herbeiholen würde? Und eines Morgens, als er wieder in den Stall kam, da hörte ihn Bonhomme nicht mehr, da hob er seinen Kopf nicht mehr empor. Er lag da, mit einem friedlichen Ausdruck, als fühle er sich erleichtert, so sanft an dieser Stelle gestorben zu sein. Sein Herr war neben ihm auf die Kniee gesunken und küßte ihn noch einmal; er sagte ihm Lebewohl, während zwei dicke Thränen über seine Wangen herabrannen.

An diesem Tage war es auch, wo Pascal zum letztenmal seinen Nachbar, den Herrn Bellombre, sah. Er war an ein Fenster getreten und sah ihn über die Mauer des Gartens hinweg, wie er im matten Sonnenschein der ersten Novembertage seinen gewohnten Spaziergang machte; und der Anblick des alten Professors, der so vollkommen glücklich lebte, versetzte ihn zunächst in Erstaunen. Es kam ihm vor, als ob er noch niemals daran gedacht hätte, daß ein Mann von siebenzig Jahren existirte, ohne eine Frau, ohne ein Kind, ohne einen Hund, und daß dieser Mann sein ganzes egoistisches Glück aus der Freude schöpfte, ganz entfernt von dem Leben zu leben. Dann aber erwachte sein Zorn gegen diesen Mann wieder, sein Spott über dessen Furcht vor dem Leben; er dachte an all das Unglück, das er ihm schon gewünscht hatte; er dachte daran, daß er immer gehofft hatte, daß einmal die Strafe kommen würde in der Gestalt einer Dienerin und Geliebten oder einer unerwarteten Verwandten, die dann die Rache sein würde. Aber nein! Er fand ihn immer so rüstig und fühlte deutlich, daß jener noch lange sein Greisenalter so fortsetzen würde, hart, geizig, überflüssig, aber glücklich. Indessen verabscheute er ihn nicht mehr, ja, er würde ihn sogar beklagt haben; für so lächerlich hielt er ihn, weil er nicht geliebt wurde. Er, er ging zu Grunde, weil er allein war! Sein herz wollte brechen, weil es zu erfüllt von liebevoller Sorge für die anderen war! Das Leiden, das Leiden allein war ihm lieber als jener Egoismus, jenes Absterben von allem, was man Lebendes und Menschliches in sich hat!

In der darauffolgenden Nacht hatte Pascal einen neuen Anfall von Herzbeklemmungen. Er dauerte beinahe fünf Minuten lang, und Pascal glaubte schon, ersticken zu müssen, ohne daß er die Kraft gehabt hätte, die alte Martine herbeizurufen. Als er dann später wieder Luft bekam, wollte er sie nicht mehr stören; er zog es vor, niemand etwas von dieser Verschlimmerung seines Uebels zu sagen; aber er war jetzt fest überzeugt, daß es mit ihm zu Ende ging, daß er vielleicht nicht einmal mehr einen ganzen Monat zu leben hatte. Sein erster Gedanke eilte zu Clotilden. Warum schrieb er ihr nicht, daß sie schnell herbeikommen sollte? Er hatte gerade am vorhergehenden Abend einen Brief von ihr erhalten und wollte ihr noch an diesem Morgen antworten. Dann stieg bei ihm plötzlich der Gedanke an seine Akten auf. Wenn er nun plötzlich sterben würde, dann würde seine Mutter hier die Herrin sein und würde sie vernichten; und es waren nicht allein die Alten, es waren auch seine sonstigen Papiere, seine Manuskripte, dreißig Jahre seiner geistigen Arbeit. So würde das Verbrechen begangen werden, das er so sehr gefürchtet hatte; während so vieler fieberheißen Nächte hatte die fortwährende Angst davor ihn zitternd aus dem Bette getrieben, und er hatte sich auf die Lauer gelegt und gehorcht, ob man nicht den Wandschrank aufbräche. Kalter Schweiß perlte ihm von der Stirne, er sah sich beraubt, beschimpft, er sah die Asche seiner Werke in alle vier Winde zerstreut. Und er dachte sofort wieder an Clotilde, er sagte sich, daß es genügen würde, sie einfach zurückzurufen; sie würde dann da sein, sie würde ihm die Augen schließen, sie würde sein Andenken verteidigen. Schon hatte er sich hingesetzt, schon wollte er sich eilig daran machen, an sie zu schreiben, damit der Brief noch mit dem Morgenschnellzuge fortkäme.

Als Pascal aber vor dem weißen Blatte saß mit der Feder in der Hand, da überkamen ihn immer großer werdende Bedenken, eine Unzufriedenheit mit sich selbst. War denn die Sorge um die Akten, der schöne Plan, ihnen eine Wächterin zu geben und sie so zu retten, nicht nur eine Eingebung seiner Schwäche, ein Vorwand, den er gegen sich gebrauchte, nur um Clotilde wieder bei sich zu haben? Der Egoismus war doch die letzte Ursache davon. Er dachte an sich und nicht an sie. Er sah sie wieder in dieses arme Haus eintreten, dazu verdammt, einen gebrechlichen, kranken Greis zu pflegen; vor allem aber sah er sie in ihrem Schmerze, in ihrer Verzweiflung über seinen Todeskampf, wenn er eines Tages sie dadurch erschrecken würde, daß er, wie vom Blitze getroffen, plötzlich neben ihr niederstürzen würde. Nein, nein! Das war ja gerade der schreckliche Augenblick, den er ihr ersparen wollte, es warm die paar schrecklichen Abschiedstage und dann das Elend, das traurige Geschenk, das er ihr machen konnte, ohne sich für einen Verbrecher zu halten. Nur allein um ihre Ruhe, um ihr Glück handelte es sich; was kam es auf das Uebrige an? Er würde in seinem Winkel sterben, glücklich indem Glauben, daß sie glücklich sei. Was die Rettung der Manuskripte anbetraf, so würde er sehen, ob er die Kraft haben würde, sich von ihnen zu trennen, indem er sie Ramond übergab. Und selbst wenn alle diese Papiere untergehen sollten, so gab er sich damit zufrieden; er wollte, daß nichts mehr von ihm da sein sollte, nicht einmal seine Gedanken, damit fürderhin nichts von ihm mehr das Leben seiner geliebten Clotilde beunruhige und störe.

Daher machte sich Pascal jetzt daran, eine seiner gewöhnlichen Antworten zu schreiben, die er zwar mit großer Mühe, aber doch aus eigenem Antrieb so nichtssagend und kalt als möglich abfaßte. Clotilde ließ in ihrem letzten Briefe, ohne sich gerade über Maxime zu beklagen, durchfühlen, daß ihr Bruder gar kein Interesse für sie habe, daß er sich mehr mit Rose abgäbe, der Nichte des Friseurs von Saccard, jenem kleinen, jungen, sehr blonden Mädchen mit dem unschuldigen Aussehen. Und er ahnte irgend ein Manöver des Vaters von Maxime, eine schlaue Intrigue, mit der Saccard den Kranken auf seinem Stuhle umspann, den seine schon so früh zu Tage getretene Lasterhaftigkeit beim Herannahen des Todes wieder ganz in Besitz zu nehmen schien. Aber trotz seiner Unruhe unterließ er es keineswegs, Clotilde in seinem Briefe gute Ratschläge zu erteilen, indem er ihr wiederholte, daß es ihre Pflicht wäre, bis zum Ende auszuharren. Als er seinen Namen unterschrieb, verdunkelten Thränen seinen Blick. Ihm stand der Tod eines alten, einsamen Tieres bevor, der Tod ohne einen Kuß, ohne eine Freundeshand. Dann waren ihm wieder Zweifel gekommen: that er recht daran, wenn er sie dort ließ, mitten in diesem wüsten Treiben, wo, wie er genau wußte, alle Arten von Abscheulichkeiten sie umgaben?

Der Briefträger brachte Morgens gegen neun Uhr die Briefe und Zeitungen auf die Souleiade; und Pascal hatte die Gewohnheit angenommen, wenn er einen Brief an Clotilde geschrieben, den Briefträger abzupassen und ihm den Brief persönlich zu übergeben, um ganz sicher zu gehen, daß man seine Korrespondenz nicht unterschlüge. An diesem Morgen nun war er sehr verwundert, als er hinunterkam, um dem Postboten den Brief, den er soeben an Clotilde geschrieben halte, zu übergeben, von diesem ein Schreiben der jungen Frau zu erhalten, da es noch gar nicht der Tag war. Dennoch ließ er den seinigen fortgehen. Dann stieg er wieder hinauf, nahm seinen Platz am Schreibtische wieder ein und zerriß das Couvert.

Gleich bei den ersten Zeilen bemächtigte sich Pascals eine heftige Aufregung, eine große Bestürzung. Clotilde schrieb ihm, daß sie schon seit zwei Monaten schwanger sei. Wenn sie so lange gezögert hätte, ihm diese Neuigkeit mitzuteilen, so wäre dies nur deswegen geschehen, weil sie selbst erst die unumstößliche Gewißheit hätte haben wollen. Jetzt könnte sie sich aber nicht mehr täuschen; die Empfängnis hätte sicherlich in den letzten Tagen des Monats August stattgefunden, in jener glücklichen Nacht, in der sie ihm das königliche Geschenk ihrer Jugend gemacht hätte, an dem Abende ihres Bettelganges von Thüre zu Thüre. Hätten sie nicht bei einer ihrer Umarmungen damals das wachsende göttliche und wollüstige Gefühl nach dem Kinde verspürt? Nach dem ersten Monate seit ihrer Ankunft in Paris hätte sie es geahnt und an eine Verzögerung, Indisposition geglaubt, die bei der Unruhe und dem Schmerz ihrer Abreise erklärlich wäre. Da sie aber im zweiten Monat noch nichts gesehen hätte, so hätte sie noch einige Tage gewartet. Heute nun sei sie jedoch fest überzeugt von ihrem schwangeren Zustande, den ihr übrigens alle Symptome bestätigten. Der Brief war kurz, er berichtete nur einfach die Thatsache, aber dennoch war er erfüllt von glühender Freude, von unbegrenzter Liebe und Zärtlichkeit, aus der das sehnsüchtige Verlangen nach sofortiger Heimkehr deutlich sprach.

In seiner Bestürzung und in der Angst, sie nicht recht verstanden zu haben, las Pascal den Brief noch einmal durch. Ein Kind! Das Kind, das er, wie er in seinem Mißtrauen gegen sich selbst immer geglaubt hatte, nicht mehr wurde erzeugen können, damals am Tage der Abreise bei dem verheerenden Wüten des Mistrals, und das damals doch schon da war und das sie mit davontrug, als er den Zug von weitem durch das ebene Land dahineilen sah! Ah! Das war das wahre Werk, das einzige Gute, das einzige Lebende, dasjenige, das ihn auf den Gipfel des Glückes und des Stolzes emporhob! Seine Arbeiten, seine Befürchtungen wegen der Vererbung waren geschwunden. Das Kind würde da sein, was kam es darauf an, wie es sein würde, es war eine Fortsetzung, es war ein vererbtes, verlängertes Leben, ein anderes Ich! Er war davon bis in das Innerste seines Heizens ergriffen, ein süßer Schauer durchzitterte seinen ganzen Körper. Er lachte, er sprach laut mit sich selbst und küßte wie wahnsinnig den Brief. Aber da ließ ihn ein Geräusch von Tritten wieder etwas ruhiger werden. Er wendete seinen Kopf um und sah die alte Martine an der Thüre stehen.

»Herr Doktor Ramond ist unten!«

»Ah! Er soll heraufkommen! Er soll heraufkommen!«

Es war noch ein Glück, was da kam. Ramond rief schon an der Thüre mit lauter und freudiger Stimme:

»Viktoria, Meister! Ich bringe Ihnen Ihr Geld, zwar nicht alles, aber doch eine hübsche Summe!«

Und er erzählte den Sachverhalt: Es war ein unvorhergesehener Glücksfall, den sein Schwiegervater, Herr Lévêque, ans Licht gebracht hatte. Die Empfangsbescheinigungen für die einhundertundzwanzigtausend Franken, die Pascal zu einem persönlichen Gläubiger des Notars Grandguillot machten, nützten gar nichts, da dieser zahlungsunfähig war. Das Heil mußte von der Vollmacht kommen, die der Doktor einst dem Notar ausgestellt hatte auf dessen Ersuchen, des Inhalts, daß er, Grandguillot, Pascals ganzes Geld oder einen Teil davon in Hypotheken anlegen dürfe. Da der Name des Mandatars unausgefüllt geblieben war, so hatte der Notar, wie es zuweilen geschieht, einen seiner Angestellten als Strohmann genommen; und achtzigtausend Franken hatten sich soeben auf diese Weise wiedergefunden, die in guten Hypotheken durch Vermittlung eines braven Mannes ganz außerhalb des Geschäftskreises seines Prinzipals angelegt waren. Wenn sich Pascal um die Sache bekümmert hatte, wenn er zum Staatsanwalt gegangen wäre, so würde die Sache schon seit langer Zeit in Ordnung gewesen sein. So kamen denn endlich doch wenigstens viertausend Franken wieder in seine Taschen zurück.

Er hatte die Hände des jungen Mannes ergriffen und drückte sie, während seine Augen noch von Thränen feucht waren.

»Ah, mein junger Freund! Wenn Sie wüßten, wie unendlich glücklich ich bin! Dieser Brief hier von Clotilde meldet mir ein großes Glück. Ja, ich wollte sie zu mir zurückrufen; aber der Gedanke an mein Elend, an meine Armut, die Entbehrungen, die ich ihr notgedrungen hatte auferlegen müssen, verdarben mir die Freude über ihre Rückkehr ... Aber da nun das Geld glücklich wiedergekommen ist, so weiß ich doch wenigstens, wie und womit ich meine kleine Welt einrichten und erhalten soll.«

In der Überschwenglichkeit seiner Freude hatte er Ramond den Brief hingereicht und zwang ihn ihn zu lesen. Als ihm dann der junge Mann das Schreiben lächelnd und gerührt, ihn so beglückt zu sehen, wieder reichte, da gab er dem überströmenden Verlangen seiner Zärtlichkeit nach und schloß ihn in seine Arme wie einen Kameraden, wie einen Bruder. Die beiden Männer küßten sich kräftig auf die Wangen.

»Da das Glück Sie schickt, so werde ich Sie noch um eine Gefälligkeit bitten. Sie wissen, daß ich hier gegen alle Welt Mißtrauen hege, selbst gegen meine alte Haushälterin. Deshalb sollen Sie mir diese Depesche hier auf das Telegraphenbureau tragen.«

Er hatte sich wieder an seinen Schreibtisch gesetzt und schrieb einfach: »Ich erwarte Dich. Reise heute abend.«

»Nicht wahr,« begann er dann von neuem, »wir schreiben heute den sechsten November? Es ist beinahe zehn Uhr; sie wird die Depesche gegen zwölf Uhr erhalten. Das gibt ihr hinreichend Zeit, ihre Koffer zu packen und heute abend um acht Uhr den Schnellzug zu benutzen, der morgen früh zum Frühstück in Marseille sein wird. Da es aber keinen Zug gibt, der gleich Anschluß hat, so wird sie morgen am siebenten November nicht früher hier sein können als um fünf Uhr.«

Nachdem er die Depesche zusammengefaltet hatte, erhob er sich.

»Mein Gott! Morgen um fünf Uhr! Wie ist das doch noch so lange hin! Was soll ich denn bis dahin machen?«

Dann wurde er ernst, wie von einer plötzlichen Ahnung ergriffen, und fragte:

»Ramond, mein lieber Freund und Kamerad! Wollen Sie mir den großen Freundschaftsdienst erweisen und ganz offen zu mir sein?«

»Was soll das heißen, Meister?«

»Ja, Sie werden mich schon verstehen ... Gestern haben Sie mich untersucht. Glauben Sie, daß ich noch ein Jahr werde leben können?«

Und er hielt den jungen Mann mit seinem streng auf ihn gerichteten Blicke fest und verhinderte ihn so, die Augen abzuwenden. Dennoch versuchte jener, sich ihm zu entziehen, indem er scherzend fragte, ob es denn wirklich ein Arzt wäre, der eine solche Frage an ihn stellte?

»Ich bitte Sie dringend, Ramond, seien Sie ernst!«

Darauf antwortete Ramond mit voller Aufrichtigkeit, daß er nach seiner Ansicht sich sehr wohl der Hoffnung hingeben könnte, noch ein Jahr zu leben. Er gab seine Gründe an, der verhältnismäßig sehr wenig vorgeschrittene Zustand der Sklerose und die vollkommene Gesundheit der anderen Organe. Ohne Zweifel müßte man jedoch auch dem Unbekannten Rechnung tragen, dein, was man nicht wissen könnte, denn ein plötzlicher Vorfall, der schädlich sein könnte, wäre immer möglich. Und so kamen die beiden dazu, den Fall eingehender zu besprechen mit der gleichen Ruhe, als wenn sie sich an dem Lager eines Kranken in Beratung befänden, das Für und Wider abwägend, indem jeder seine Beweise anführte, und indem sie nach den mit der schärfsten Genauigkeit und der größten Klugheit festgestellten Anzeichen den tödlichen Ausgang im voraus bestimmten.

Pascal hatte seine Kaltblütigkeit, sein heroisches Selbstvergessen wieder gewonnen, als ob es sich gar nicht um ihn gehandelt hätte.

»Ja,« flüsterte er endlich. »Sie haben recht, ein Jahr Leben ist noch möglich ... Ah, sehen Sie, lieber Freund, was ich gern mochte, das wären noch zwei Jahre Leben, ein thörichter Wunsch ohne Zweifel, aber eine Ewigkeit voller Freude ...«

Und dann verlor er sich in diesen Zukunftstraum und flüsterte leise weiter:

»Das Kind wird gegen Ende Mai geboren werden ... O, es wäre so gut und schön, wenn ich es könnte noch ein wenig heranwachsen sehen bis zu seinem achtzehnten, bis zu seinem zwanzigsten Monat! Halt! Jetzt aber nicht weiter! Nur die Zeit, wo es sich etwas entwickelt, wo es seine ersten Schritte macht ... Ich verlange sonst ja nichts weiter, ich mochte es nur noch laufen sehen, und nachher, mein Gott, nachher ...«

Er vollendete seinen Gedanken durch eine Handbewegung. Dann fuhr er fort, wie von seiner Phantasie hingerissen:

»Aber zwei Jahre, das ist durchaus nicht vollständig unmöglich ... Ich habe einmal einen sehr merkwürdigen Fall gehabt, einen Stellmacher aus der Vorstadt, der noch vier Jahre lebte und dadurch alle meine Vermutungen zunichte machte ... Zwei Jahre, nur zwei Jahre, ich werde sie leben! Ich muß sie leben!«

Ramond hatte den Kopf gesenkt und antwortete nicht mehr. Er geriet in Verlegenheit bei dem Gedanken, daß er sich vielleicht allzu optimistisch gezeigt hatte, und die Freude des Meisters beunruhigte ihn, sie war ihm schmerzlich, gleich als ob diese freudige Aufregung selbst, die seinen früher so starken Geist verwirrte, ihm eine dunkle und drohende Gefahr anzeigte.

»Wollen Sie nicht die Depesche da sofort wegschicken?«

»Ja, ja, gewiß! Gehen Sie schnell, mein lieber Ramond! Ich erwarte Sie übermorgen wieder. Dann wird sie auch da sein und ich will, daß Sie dann herkommen und sie begrüßen.«

Der Tag war lang. Und in der Nacht darauf wurde Pascal gegen vier Uhr, gerade als er im Begriffe stand, endlich einzuschlafen nach langen, schlaflosen, aber glücklichen, an hoffnungsvollen Träumen reichen Stunden durch einen schrecklichen Anfall wieder aufgeweckt. Es war ihm, als wenn eine ungeheure Last, das ganze Haus, auf seine Brust zusammengestürzt sei, so daß der platt zusammengedrückte Brustkasten den Rücken berührte; er konnte keinen Atem mehr bekommen, der Schmerz ergriff seine Schultern, den Hals und lähmte seinen linken Arm. Uebrigens war er vollständig bei Bewußtsein; er hatte das Gefühl, als ob sein Herz still stände, als ob das Leben im Begriffe wäre, zu erlöschen unter dieser fürchterlichen, zermalmenden Last, die ihn erstickte. Bevor der Anfall seinen Höhepunkt erreichte, hatte er noch die Kraft, sich zu erheben und mit einem Stocke auf den Fußboden zu klopfen, um die alte Martine heraufzurufen. Dann hatte er sich wieder auf sein Bett geworfen; er konnte sich nicht rühren und konnte nicht sprechen, während er wie gebadet von kaltem Schweiß war.

Martine hatte bei der tiefen Stille, die in dem Hause herrschte, glücklicherweise das Klopfen gehört. Sie zog sich schnell an, hüllte sich in ein Tuch und kam dann rasch mit dem Lichte in der Hand heraufgestiegen. Die Nacht war noch fast ganz dunkel, der neue Tag begann eben erst zu erscheinen. Und als sie ihren Herrn bemerkte, von dem die Augen allein noch am Leben zu sein schienen, die sie ansahen, als sie die krampfhaft zusammengepreßten Kinnbacken, die gelähmte Zunge, das von einer entsetzlichen Angst entstellte Gesicht wahrnahm, da erschrak sie fürchterlich und konnte nur noch auf das Bett zustürzen, indem sie rief:

»Mein Gott, mein Gott, Herr Doktor! Was haben Sie denn? Antworten Sie mir doch, Herr Doktor, Sie machen mir ja fürchterliche Angst!«

Während einer langen bangen Minute wurde Pascal immer schwächer, da es ihm nicht gelang, seinen Atem wieder zu bekommen. Als dann endlich der eiserne Druck auf seiner Brust etwas nachließ, murmelte er ganz leise:

»Die fünftausend Franken im Sekretär gehören Clotilde ... Du wirst ihr sagen, daß die Sache mit dem Notar geordnet ist und daß sie dort die Mittel zum Leben finden wird ...«

Da geriet Martine, die ihm mit offenem Munde zugehört hatte, in Verzweiflung und gestand ihre Lüge ein, da sie von den guten Nachrichten, die Ramond gebracht hatte, nichts wußte.

»Herr Doktor, Sie müssen mir verzeihen, ich habe gelogen; aber es würde schlecht von mir sein, wenn ich noch weiter lügen wollte ... Als ich Sie so einsam und allein sah und so unglücklich, da habe ich von meinem Gelde genommen ...«

»Meine arme Alte, das hast Du gethan?!«

»O! Ich hatte die leise Hoffnung, daß der Herr Doktor mir das Geld eines Tages wiedergeben würde!«

Der Anfall ließ jetzt nach, er konnte den Kopf wieder drehen und sie ansehen. Er war erstaunt und gerührt. Was war denn in dem Herzen dieser alten, geizigen Jungfer vor sich gegangen, die während dreißig Jahren ihren Schatz mühsam angesammelt und niemals auch nur einen einzigen Sou davon weggenommen hatte weder für andere noch für sich selbst? Er verstand sie noch nicht, er wollte sich einfach als dankbar und gut zeigen.

»Du bist ein braves Mädchen, Martine! Alles dies wird Dir wieder zurückerstattet werden ... Ich glaube bestimmt, daß ich bald sterben werde ...«

»Sterben! Sie, Herr Doktor! Sie wollen vor mir sterben! Ich will es nicht, ich werde alles thun, ich werde es gewiß verhindern!«

Und sie hatte sich vor dem Bette auf die Kniee geworfen, sie hatte seine fieberheißen zitternden Hände ergriffen; sie befühlte sie, als wollte sie untersuchen, wo er litt; sie hielt ihn fest, gerade als ob sie gehofft hätte, daß man es dann nicht wagen würde, ihn ihr zu nehmen.

»Sie müssen mir sagen, was Sie haben, ich werde Sie pflegen, ich werde Sie erretten! Wenn es nötig ist, daß ich Ihnen etwas von meinem Leben gebe, so werde ich Ihnen etwas davon geben ... Ich kann Ihnen ganz gut meine Tage und meine Nächte opfern. Ich bin noch kräftig und stark, und Sie werden sehen, ich würde stärker sein als Ihr Leiden ... Sterben, sterben! Ach nein! Das ist nicht möglich! Der liebe Gott kann eine solche Ungerechtigkeit nicht wollen! Ich habe ihn so viel und so oft in meinem Leben angefleht, daß er mich auch ein wenig erhören muß, und er wird mich erhören, Herr Doktor, und wird Sie retten!«

Pascal sah sie an und hörte ihr zu, und eine plötzliche Klarheit stieg in ihm auf. Ja, sie liebte ihn, dieses bedauerungswürdige alte Mädchen, und hatte ihn immer geliebt! Er rief sich die dreißig Jahre ihrer blinden Ergebenheit wieder ins Gedächtnis zurück, ihre frühere stumme Anbetung, wo sie ihm auf den Knieen gedient hatte, und wo sie noch jung war, und dann später ihre heimliche Eifersucht auf Clotilde, alles, was sie während dieser Zeit unbewußt hatte leiden müssen. Und sie lag noch heute da auf ihren Knieen vor seinem Sterbelager mit ergrauten Haaren, mit ihren aschfarbenen Augen, und ihrem bleichen, durch die Ehelosigkeit stumpf gewordenen Gesichte. Und er fühlte, daß sie noch ganz unklar über ihr eigenes Empfinden war, daß sie noch gar nicht wußte, mit welcher Liebe sie ihn geliebt hatte, da sie ihn nur liebte wegen des Glückes, ihn lieben, bei ihm sein, ihm dienen zu können.

Thränen waren in Pascals Augen gestiegen. Sein armes, halbgebrochenes Herz floß über von schmerzlichem Mitleide, von unendlicher menschlicher Zärtlichkeit.

»Meine arme Alte, Du bist das beste von allen Mädchen ... Komm, umarme mich, wie Du mich liebst, mit all Deiner Kraft!«

Auch sie seufzte und weinte. Sie ließ ihr greises Haupt auf die Brust ihres Herrn niedersinken, ihr durch ihre lange Dienstbarkeit abgenutztes Gesicht. Zärtlich küßte sie ihn und legte ihr ganzes Leben in diesen Kuß hinein.

»Nun genug! Machen wir uns jezt nicht weich, weil es jetzt bei uns handeln heißt; denn das wird trotz allem doch das Ende sein! Wenn Du willst, daß ich Dich lieb haben soll, so mußt Du mir gehorchen.«

Zunächst bestand er hartnäckig darauf, nicht in seinem Zimmer bleiben zu wollen. Es schien ihm zu kalt, zu hoch, zu leer und zu dunkel. Der Wunsch war ihm gekommen, in einem andern Zimmer zu sterben, in Clotildens Zimmer, wo sich beide geliebt hatten und das er stets nur mit einem frommen Schauer seit ihrer Abreise wieder betreten hatte. Und die alte Martine mußte sich zum letztenmale aufopfern, sie mußte ihn stützen, sie mußte den Schwankenden führen bis zu dem noch warmen Bette. Er hatte den Schlüssel zu dem großen Schranke unter sein Kopfkissen gelegt, wo er ihn jede Nacht aufbewahrte; und er schob auch jetzt den Schlüssel unter das andere Kopfkissen, um über ihm zu wachen, so lange er noch am Leben sein würde. Der junge Tag war kaum angebrochen, die alte Haushälterin hatte das Licht auf den Tisch gesetzt.

»Jetzt, wo ich hier wieder ruhig liege und auch wieder etwas besser Atem holen kann, wirst Du mir die Gefälligkeit erweisen und zu dem Doktor Ramond laufen ... Du wirst ihn wecken lassen und gleich mit hierher bringen.«

Sie wollte schon forteilen, als er plötzlich von einer unbestimmten Furcht gepackt wurde.

»Uebrigens will ich Dir noch ausdrücklich verbieten, meiner Mutter irgend welche Mitteilung zu machen.«

Bestürzt und bittend kam sie wieder zu ihm zurück.

»O, Herr Doktor! Frau Felicité, die sich von mir hat fest versprechen lassen ...«

Aber er blieb unerbittlich. Sein ganzes Leben hindurch hatte er sich ehrerbietig und unterwürfig seiner Mutter gegenüber bewiesen, und er glaubte das Recht erworben zu haben, sich gegen sie zu schützen im Augenblicke seines Todes. Er weigerte sich, sie zu sehen. Die alte Haushälterin mußte ihm schwören, verschwiegen zu sein. Erst dann fand er ein schwaches Lächeln wieder.

»Gehe rasch! Du wirst mich schon noch wieder sehen, denn für jetzt hat es noch keine Gefahr!«

Der Tag brach endlich an, ein trüber, trauriger Novembertag, in fahlem, grauem Morgenlichte. Pascal hatte die Fensterläden öffnen lassen; und als er allein war, sah er zu, wie die Helligkeit zunahm, ohne Zweifel das Licht des letzten Tages, den er noch leben würde. Am vorhergehenden Abend hatte es geregnet, die Sonne war noch verschleiert, und draußen herrschte eine drückende Schwüle. Von den benachbarten Platanen hörte er die Morgenlieder der Vögel herübertönen, wahrend in weiter Ferne durch die noch im Schlummer liegende Ebene die Lokomotive in ununterbrochenen Klagetönen keuchte. Und er war allein, allein in dem großen einsamen Hause, dessen Leere er um sich spürte, dessen unheimliche Stille er vernahm. Der Tag nahm langsam zu; er fuhr fort, das Größerwerden der hellen Lichter auf den Fensterscheiben zu beobachten. Dann erlosch die Kerze, und das ganze Zimmer erschien in dem gleichen fahlen Lichte des erwachenden Tages. Er erwartete davon eine Erleichterung, und er täuschte sich nicht; er schöpfte gleichsam Trost aus der alten, orangenfarbenen Tapete, aus jedem der alten vertrauten Möbelstücke, aus dem großen Bette, in dem er so sehr geliebt und in das er sich zum Sterben niedergelegt hatte. Unter dem hohen Plafond hin, durch das ganze Zimmer flutete immerfort in zitternden Luftwellen ein zarter Hauch von Jugend und unendlicher, zarter Liebe, die ihn wie mit inniger Zärtlichkeit umhüllte und ihn kräftigte.

Indessen litt Pascal, obgleich die Krisis überwunden war, noch immer fürchterlich. Ein stechender Schmerz in der Herzgrube war zurückgeblieben, und sein linker empfindungsloser Arm hing von der Schulter herab, so schwer als wäre er von Blei. Wahrend des endlosen Wartens auf die Hilfe, die Martine herbeiholen sollte, hatte er schließlich sein ganzes Denken auf das Leiden gerichtet, von dem sein Körper geplagt war. Und er ergab sich darein; die Aufregung und Empörung, die früher in ihm aufgestiegen war als das einzige Kennzeichen eines physischen Schmerzes, kam nicht wieder. Der Schmerz hatte ihn früher als eine ungeheuerliche und unnötige Grausamkeit zur Verzweiflung gebracht. Bei seinen Zweifeln an der Heilkraft des Arztes hatte er seine Patienten nur behandelt, um ihn zu bekämpfen. Wenn er heute, wo er selbst unter seiner Qual litt, schließlich dazu gekommen war, den Schmerz als etwas Unabänderliches hinzunehmen, geschah dies nicht deswegen, weil er noch einen Grad höher in seinem Glauben an das Leben gestiegen und den Gipfel der Erhabenheit gelangt war, von dem aus betrachtet das Leben vollkommen gut erscheint selbst mit der verhängnisvollen Bedingung des Leidens, die vielleicht die Triebfeder davon ist? Ja, das ganze Leben zu leben, es ganz zu leben und zu leiden, ohne Empörung, ohne zu glauben, daß man es besser machen würde, wenn man es schmerzlos machte, das sprach klar und deutlich aus den Augen des dem Tode Verfallenen als der höchste Mut und die höchste Weisheit. Und um sich das Warten zu verkürzen, um seine Schmerzen zu betäuben, nahm er im Geiste seine letzten Theorien noch einmal vor und träumte von einem Mittel, das Leiden nutzbar zu machen, es in Thätigkeit, in Arbeit umzuwandeln. Wenn der Mensch in dem Verhältnis, wie er in der Zivilisation vorschreitet, auch den Schmerz mehr fühlt, so ist es sicher, daß er auch stärker, gewappneter, widerstandsfähiger wird. Das thätige Organ, das Gehirn, entwickelt sich, verdichtet sich, damit das Gleichgewicht nicht gestört wird bei den Eindrücken, die es empfängt, und bei der Arbeit, die es thut. Könnte man dem zufolge nicht das Bild einer Menschheit herstellen, in dem die Summe der Arbeit den gleichen Wert hätte wie die Summe der Eindrücke, so daß dabei das Leiden selbst verwendet und gleichsam unterdrückt würde?

Jetzt ging die Sonne auf; Pascal wälzte in seinem Geiste seine Hoffnungen in bunter Verwirrung hin und her während des Halbschlafes seines Leidens, als er in seiner Brust einen neuen Anfall kommen spürte. Einen Augenblick packte ihn eine fürchterliche Angst: war das wirklich schon das Ende? Sollte er ganz allein und verlassen sterben? Aber gerade in denselben Augenblicke kamen eilige Schritte die Treppe herauf und Ramond trat ein, gefolgt von der alten Martine. Und der Kranke besaß noch so viel Kraft, ihm zuzurufen, bevor er einen neuen Erstickungsanfall bekam:

»Machen Sie mir Einspritzungen, machen Sie mir sofort Einspritzungen mit purem Wasser! Und zweimal, mindestens zehn Gramm!«

Unglücklicherweise mußte der Doktor erst die kleine Spritze suchen und dann alles vorbereiten. Das dauerte einige Minuten, und der Anfall war schrecklich. Mit Angst und Bangen folgte er den Fortschritten desselben, wie das Gesicht sich verzerrte und wie die Lippen anfingen, blau zu werden. Als er endlich die Einspritzungen gemacht hatte, bemerkte er, daß die Erscheinungen, die einen Augenblick gedauert hatten, dann nach und nach langsam abnahmen. Diesmal war eine Katastrophe noch glücklich vermieden worden.

Als Pascal aber nicht mehr mit den Erstickungsanfällen zu kämpfen hatte, warf er einen Blick auf die Uhr und sagte mit schwacher, ruhiger Stimme:

»Mein lieber Freund! Jetzt ist es sieben Uhr ... In zwölf Stunden, heute abend um sieben Uhr, werde ich tot sein!«

Und als der junge Mann Einwendungen dagegen machen wollte, war er sofort zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung bereit und erwiderte:

»Nein, nein, lügen Sie nicht! Sie waren bei dem Anfall zugegen und sind daher ebenso gut unterrichtet wie ich ... Von jetzt an wird alles in mathematisch genauer Weise seinen Verlauf nehmen, und Stunde für Stunde würde ich Ihnen die Phasen des Leidens beschreiben können ...«

Er hielt plötzlich mitten in seiner Rede inne, um mit vieler Mühe Atem zu holen; dann setzte er hinzu:

»Uebrigens ist alles so recht! Ich bin ja zufrieden ... Clotilde wird um fünf Uhr hier sein; ich verlange nichts weiter, als sie noch ein einzigesmal zu sehen und in ihren Armen zu sterben.«

Dennoch zeigte er sich bald als ein besonders empfänglicher Mensch. Die Wirkung der Einspritzungen war geradezu wunderbar; er konnte sich in seinem Bette aufrecht hinsetzen, den Rücken gegen die Kopfkissen gelehnt. Die Stimme wurde wieder leicht und frei. Niemals war die Klarheit seines Verstandes deutlicher zu Tage getreten.

»Sie wissen, Meister,« sagte Ramond, »daß ich Sie nicht verlasse. Ich habe meine Frau schon darauf vorbereitet, wir werden den ganzen Tag beisammen bleiben; und obgleich Sie von so etwas sprachen, hoffe ich doch, daß es noch nicht der letzte sein wird ... Nicht wahr, Sie erlauben doch, daß ich mir es hier bequem mache, gerade als wenn ich in meinem eigenen Heim wäre?«

Pascal lächelte. Er erteilte der alten Martine verschiedene Auftrage; er ordnete an, daß sie für Ramond ein Frühstück zubereite. Wenn man sie nötig hätte, würde man sie rufen. Und die beiden Männer blieben allein in einem vertraulichen, freundschaftlichen Gespräch, der eine mit seinem großen weißen Barte lag im Bett und sprach wie ein Weiser, während der andere in der ehrerbietigen Haltung eines Schülers daneben saß und zuhörte.

»Die Wirkung dieser Einspritzungen,« flüsterte der Meister so leise vor sich hin, als ob er mit sich selbst gesprochen hatte, »ist wirklich eine ganz außerordentliche.«

Dann verstärkte er seine Stimme und fuhr in fröhlichem Tone fort.

»Mein lieber Freund Ramond! Es ist vielleicht kein bedeutendes und wertvolles Geschenk, aber ich werde Ihnen meine Manuskripte hinterlassen. Ja, Clotilde hat den Auftrag, sie Ihnen zu übergeben, wenn ich nicht mehr sein werde ... Sie werden darin herumblättern und vielleicht Sachen finden, die nicht zu schlecht sind. Wenn Sie daraus eines Tages irgend eine gute Idee schöpfen, so wird es um so besser für die ganze Welt sein.«

Und von diesem Gedanken ausgehend, gab er sein wissenschaftliches Testament. Er hatte die feste Ueberzeugung, nichts als ein einzelner Pionier gewesen zu sein, ein Vorläufer, der die zu Grunde liegenden Pläne entwarf, der in der Praxis herumtappte und der wegen seiner noch unfertigen Methode scheiterte. Er kam auf seinen Enthusiasmus zu sprechen, der ihn damals erfüllt, als er geglaubt hatte, daß es ihm gelingen würde, mit seinen Einspritzungen der stärkenden Substanz das Universalheilmittel zu entdecken. Dann sprach er von seinem Mißgeschick, von seiner Verzweiflung, von dem schrecklichen Tode des Schenkwirts Lafouasse, von der Schwindsucht Valentins, die diesen trotz der Einspritzungen dahingerafft hatte, von dem Wiederausbruch des Wahnsinns bei dem Hutmacher Sarteur, der den Unglücklichen dazu brachte, sich zu erhängen. Voller Zweifel schied er von der Erde, da er nicht mehr den notwendigen Glauben an die Heilkraft des Arztes hatte; er war schließlich dahin gekommen, seine einzige Hoffnung in das Leben zu setzen, das er so sehr liebte, und er war der festen Ueberzeugung, daß das Leben ganz allein aus sich selbst seine Gesundheit und seine Kraft schöpfen würde. Aber er wollte nicht die Zukunft ausschließen, er war im Gegenteil glücklich, seine Hypothese der Jugend vererben zu können. Alle zwanzig Jahre änderten sich die Theorien, nur allein die errungene Wahrheit bliebe unerschütterlich bestehen, auf der die Wissenschaft fortführe, weiter zu bauen. Selbst wenn er nur das Verdienst gehabt hatte, die Hypothese eines Augenblicks zu veranlassen, so würde seine Arbeit nicht verloren gewesen sein, denn der Fortschritt läge sicherlich in der immer fortschreitenden Thätigkeit, in dem immer weiter vordringenden Verstande. Und was schließlich würde, wer wußte es denn? Er konnte ruhig sterben, gebrochen und müde, ohne daß sich seine Hoffnung mit den Einspritzungen verwirklicht hatte, andere Arbeitskräfte wurden kommen, junge, begeisterte, überzeugte Männer, die den Gedanken wieder aufnehmen, ihn erklären, ihn erweitern winden. Und vielleicht würde ein ganz neues Zeitalter, eine ganz neue Welt daraus hervorgehen.

»Ach, mein lieber Ramond« fuhr er fort. »Wenn man doch ein anderes Leben leben könnte! Ja, ich würde noch einmal von neuem anfangen, ich würde meine Idee noch einmal vornehmen, denn ich bin seit kurzem von dem sonderbaren Resultate, daß die mit einfachem Wasser gemachten Einspritzungen beinahe ebenso wirksam waren, auf das lebhafteste betroffen worden ... Auf die eingespritzte Flüssigkeit kommt es also dabei gar nicht an, es ist nur ein einfach mechanischer Vorgang ... Während des ganzen letzten Monats habe ich viel darüber geschrieben ... Sie werden unter meinen Papieren merkwürdige Aufzeichnungen und Beobachtungen finden ... Im ganzen bin ich dahin gekommen, einzig und allein an die Arbeit zu glauben und anzunehmen, daß die Gesundheit in der gleichmäßigen Thätigkeit aller Organe besteht, eine Art dynamischer Therapeutik, wenn ich ein solches Wort wagen darf.«

Er geriet nach und nach immer mehr in leidenschaftliche Erregung, er kam dahin, das nahe bevorstehende Ende ganz und gar zu vergessen und dachte nur noch an seine brennende Wißbegierde in Betreff des Lebens. Und er entwickelte in großen Zügen seine letzte Theorie. Der Mensch badete sich gleichsam in einem Milieu, der Natur, die fortwährend durch Berührungen die empfindlichen Enden der Nerven reizte. Daher stammte die Tätigkeit nicht allein der Sinne, sondern auch aller äußerlichen und innerlichen Oberflächen des Körpers. Nun aber waren es diese Eindrücke, die, indem sie in das Gehirn, in das Rückenmark, in die Nervencentren zurückgeworfen wurden, sich dort in Spannkraft, in Bewegungen und in Gedanken umwandelten; und er hatte die Ueberzeugung, daß das Sichwohlbefinden in dem normalen Zuge dieser Arbeit bestünde: die Eindrücke aufzunehmen, sie in Bewegungen und Gedanken wiederzugeben und so die menschliche Maschine durch das regelmäßige Zusammenwirken aller Organe zu ernähren. Die Arbeit war also das große Gesetz, der Ordner des lebenden Alls. Deshalb war es notwendig, daß, wenn das Gleichgewicht gestört wurde, wenn die von außen kommenden Anregungen aufhörten, genügend zu sein, die Therapeutik künstliche schuf, um die Spannkraft wiederherzustellen, die den vollkommenen Gesundheitszustand bedeute. Und er sah in seinen Träumen eine neue Heilmethode voraus: die Suggestion, die allmächtige Autorität der Aerzte für die Sinne, die Elektrizität, die Reibungen, die Massage für die Haut und für die Sehnen; die Ernährungsmaßregeln für den Magen; die Luftkuren auf hohen Bergen für die Lungen, die Transfusionen, die Einspritzungen mit destillirtem Wasser für den ganzen Zirkulationsapparat. Es war die unleugbare und rein mechanische Thätigkeit jener letzteren, die ihn auf den Weg gebracht hatte; er brauchte jetzt nur noch die Hypothesen zu erweitern auf Verlangen seines verallgemeinernden Geistes; er sah von neuem die gerettete Welt in diesem Gleichgewichte, wo so viel Arbeit geleistet wird, wie Eindrücke empfangen sind, den wiederhergestellten Lauf der Welt in seiner ewigen, mühevollen Arbeit.

Dann fing er an zu lachen und sagte freimütig:

»Gut! Da bin ich noch bei dem, von dem ich ausgegangen bin! Und ich bin es doch, der im Grunde glaubt, daß die einzige Weisheit ist, sich nicht hineinzumischen, sondern die Natur allein machen zu lassen! Ah! Immer noch der alte, unverbesserliche Narr!«

Aber Ramond hatte seine beiden Hände ergriffen in dem überströmenden Gefühl der Verehrung und Bewunderung.

»Meister, Meister! Eine Leidenschaft, eine Thorheit wie die Ihrige kommt von dem Genie! Seien Sie ohne Furcht! Ich habe Ihnen zugehört und habe Sie verstanden! Ich werde versuchen, Ihrer Erbschaft würdig zu sein, und bin wie Sie des Glaubens, daß der große Morgen vielleicht ganz da ist.«

In dem stillen, traulichen Zimmer schickte sich Pascal dann an, weiter zu sprechen mit dem Mute und der Ruhe eines sterbenden Philosophen, der seine letzte Vorlesung hält. Jetzt kam er auf seine persönlichen Beobachtungen zurück; er setzte auseinander, daß er sich selbst oft durch die Arbeit geheilt hätte, durch ein geregeltes und methodisches Arbeiten ohne Uebermaß.

Es schlug elf Uhr; er wollte, daß Ramond jetzt frühstücken sollte, und setzte die Unterredung sehr weitläufig und laut fort, während die alte Martine das Frühstück servirte. Die Sonne hatte endlich die grauen Wolken des Vormittags durchbrochen; sie war aber immer noch verschleiert und noch sehr schwach, und ihr goldiges Strahlennetz erwärmte nur mäßig das weite Gemach.

Pascal trank einige Schlucke Milch und schwieg dann still.

In diesem Augenblicke aß der junge Arzt gerade eine Birne.

»Haben Sie vielleicht wieder Schmerzen?«

»Nein, nein! Essen Sie nur ruhig weiter!«

Aber er konnte nicht lügen. Es war wieder ein Anfall und zwar ein noch schlimmerer. Wie ein Blitzstrahl überkam ihn der Erstickungsanfall und warf ihn in die Kissen zurück, während das Gesicht ganz blau wurde. Mit seinen beiden zusammengeballten Händen hatte er die Decke gepackt und klammerte sich krampfhaft daran an, gerade als wollte er einen Stützpunkt finden und die entsetzliche Last emporheben, die ihm die Brust eindrückte. Sein Gesicht war schrecklich verzerrt und ganz blau; seine großen, weit geöffneten Augen hielt er starr mit einem Ausdruck fürchterlicher Verzweiflung und namenlosen Schmerzes auf die Uhr gerichtet. Und während zehn langer Minuten kämpfte er so mit dem Erstickungstode.

Ramond hatte ihm sofort Einspritzungen gemacht. Es dauerte lange, ehe sich eine Erleichterung zeigte, und die Wirkung war sehr gering.

Große Thränen erschienen in den Augen Pascals, als das Leben ihm zurückkehrte. Er sprach noch nicht, er weinte nur. Dann sagte er leise, während er immer noch die Uhr mit von Thränen verschleierten Blicken betrachtete:

»Mein lieber Ramond! Ich werde schon um vier Uhr sterben! Ich werde sie nicht wiedersehen!«

Und als Ramond, um seine Gedanken zu zerstreuen, gegen den Augenschein behauptete, daß das Ende noch nicht so nahe wäre, wurde er wieder von seiner Leidenschaft als Gelehrter gepackt und wollte dem jungen Arzte eine letzte Lehre erteilen, die sich auf eine direkte Beobachtung stützte. Er hatte mehrere dem seinigen ähnliche Fälle behandelt und erinnerte sich besonders des einen Falles, wo er das Herz eines armen, alten Mannes, der an der Sklerose gestorben war, sezirt hatte.

»Ich sehe es, mein Herz ... Es ist von der Farbe eines abgestorbenen Blattes, seine Fasern sind spröde; man könnte es abgemagert nennen, obwohl es an Umfang zugenommen hat; der Entzündungsprozeß hat es hart machen müssen, so daß man es leicht zerschneiden könnte ...«

Er fuhr mit leiserer Stimme zu sprechen fort. Er hatte sogleich deutlich gespürt, daß sein Herz erschlaffte, daß die Schläge langsamer und schwächer wurden. Anstatt des normalen Blutstrahles ging durch die Aorta nur ein roter Schleim heraus. Die Venen waren mit schwarzem Blute überfüllt, und die Gefahr einer Erstickung nahm in dem gleichen Maße zu, wie sich die einsaugende Druckpumpe, die die ganze Maschine regulirte, verlangsamte. Und nach der Einspritzung hatte er trotz seines elenden Zustandes das fortschreitende Wiedererwachen seines Organs verfolgt, den Peitschenschlag, der es wieder in Bewegung gebracht hatte, der das schwarze Blut aus dem Wege geräumt und ihm von neuem Kraft mit dem roten Blute der Arterien eingeflößt hatte. Aber der Anfall würde sich wiederholen, sobald die mechanische Wirkung der Einspritzung aufgehört haben würde. Er konnte es fast bis auf einige Minuten vorhersagen. Dank den Einspritzungen würde er noch zwei solche Anfälle aushalten können. Der dritte aber würde ihn hinwegraffen, er würde um vier Uhr sterben.

Dann hielt er noch mit immer schwächer und schwächer werdender Stimme eine letzte begeisterte Lobrede auf die Tapferkeit des Herzens, jenes unverdrossenen unermüdlichen Arbeiters des Lebens, der zu jeder Sekunde des Daseins ohne Aufhören bei der Arbeit wäre, selbst während des Schlafes, wenn die anderen Organe sich träge der Ruhe hingäben.

Ah, tapferes Herz, wie kämpfst du so heldenmütig! Welche Gewissenhaftigkeit welcher Edelmut dieses nimmermüden Muskels! Du hast zu viel geliebt, du hast zu heißblütig geschlagen, und deshalb brichst du nun, mein tapferes Herz, das du nicht sterben willst und dich immer wieder aufraffst, um noch zu schlagen!«

Aber der erste angekündigte Anfall trat ein. Als er vorüber war, konnte Pascal nur noch keuchend Atem holen und nur noch ganz leise und mühsam sprechen. Dumpfe Klagen entschlüpften seinen Lippen trotz seines Mutes: Mein Gott! Würde denn diese Qual nicht endigen? Und dennoch hatte er nur noch den einen heißen Wunsch, seinen furchtbaren Todeskampf zu verlängern, noch so lange zu leben, um noch ein einzigesmal, zum letztenmal, Clotilde zu umarmen. Wenn er sich wirklich täuschte, wie Ramond immer von neuem hartnäckig wiederholte! Wenn er noch bis um fünf Uhr leben könnte! Seine Augen waren zu der Uhr zurückgekehrt, seine Blicke verließen die Zeiger nicht mehr, und er maß den Minuten die Dauer einer Ewigkeit zu. Ehemals hatten sie oft über diese alte Uhr im Empirestil gescherzt, einen Stein aus Bronze, an dem ein lächelnder Amor lehnte, der die eingeschlummerte Zeit betrachtete. Sie zeigte auf drei Uhr. Dann zeigte sie dreiundeinhalb Uhr. Nur noch zwei Stunden Leben, nur noch zwei Stunden, du lieber Gott! Die Sonne sank dem Horizont zu, und tiefe Stille senkte sich herab von dem blassen Novemberhimmel; und er hörte auf Augenblicke das ferne Keuchen der Lokomotiven, die durch die baumlose Ebene dahinrasten. Dieser Zug war der, der an Les Tulettes vorüberfuhr; der andere, der von Marseille kam, würde der denn niemals eintreffen?

Nach zwanzig Minuten gab Pascal Ramond ein Zeichen, nahe zu ihm herzukommen. Er konnte nicht mehr laut genug sprechen, um sich auf einige Entfernung verständlich zu machen.

»Der Puls müßte, damit ich bis sechs Uhr leben könnte, weniger matt sein. Ich hoffte noch, aber der zweite Schlag ist beinahe gar nicht mehr zu spüren.«

Und in leisem, klagendem Ton rief er den Namen Clotilde. Es war ein herzzereißender, mühsam gelallter Abschiedsruf, der deutlich den schrecklichen Schmerz, daß er sie nicht wiedersehen sollte, verriet.

Dann packte ihn die Sorge um seine Manuskripte wieder, und in seinen Augen brannte eine Zeit lang ein unruhiges Feuer.

»Verlassen Sie mich nicht! Der Schlüssel liegt unter meinem Kopfkissen. Sie werden Clotilde sagen, daß sie ihn an sich nehmen soll; sie hat meine Aufträge.«

Zehn Minuten vor vier Uhr blieb eine neue Einspritzung ohne Wirkung. Und es schlug gerade vier Uhr, als der zweite Anfall sich einstellte. Plötzlich warf er sich, nachdem er beinahe erstickt war, aus dem Bette und wollte in einem letzten Erwachen seiner Kräfte aufstehen und gehen. Ein heftiges Verlangen nach Raum, nach Licht, nach frischer, freier Luft trieb ihn vorwärts, trieb ihn hinaus. Dann war es der unwiderstehliche Drang des Lebens, seines ganzen Lebens, das er aus dem nebenan liegenden Saale zu sich kommen hörte. Und er strebte dorthin, schwankend und keuchend, den Körper nach der linken Seite hin gekrümmt und sich an den Möbeln festhaltend.

Doktor Ramond war rasch herbeigesprungen, um ihn zurückzuhalten.

»Meister, Meister! Legen Sie sich wieder hin, ich bitte Sie flehentlich darum!«

Aber Pascal blieb den Bitten gegenüber taub; er hatte es sich in den Kopf gesetzt, stehend zu sterben. Die Leidenschaft, noch zu leben, der heroische Gedanke der Arbeit hielten in ihm stand, rissen ihn mit fort wie eine Masse. Er röchelte und stammelte mühsam hervor:

»Nein, nein! Hinüber, hinüber!«

Sein Freund mußte ihn stützen, und so ging er weiter, stolpernd und unsicher, bis in den Saal und ließ sich dort in seinen Stuhl niederfallen vor dem Schreibtische, wo noch eine gerade angefangene Seite lag mitten in der Unordnung der Papiere und Bücher.

Dort schöpfte er einen Augenblick Atem, und seine Augen schlossen sich. Bald öffnete er sie wieder, während seine zitternd und unsicher umhertastenden Hände nach der Arbeit suchten. Sie trafen auf den Stammbaum mitten unter den anderen umhergestreuten Aufzeichnungen. Noch am zweiten Tage vorher hatte er darin einige Daten berichtigt. Er erkannte ihn wieder, zog ihn heran und breitete ihn aus.

»Meister, Meister! Sie töten sich!« wiederholte Ramond zitternd, von Mitleid und Bewunderung auf das tiefste ergriffen.

Pascal hörte ihn nicht, verstand ihn nicht. Er hatte einen Bleistift unter seinen herumtastenden Fingern hin und her rollen fühlen. Er hielt ihn fest, er beugte sich über den Stammbaum, als wenn seine schon halb erloschenen Augen nicht mehr gut sehen konnten. Und zum letztenmale ließ er die Glieder seiner Familie Revue passiren. Beim Namen von Maxime hielt er an und schrieb: »Gestorben an der Ataxie im Jahre 1873«, in der Gewißheit, daß sein Neffe das Jahr nicht mehr überleben würde. Dann kam er daneben zu dem Namen Clotilde. Auch hier vervollständigte er seine Aufzeichnungen und setzte hinzu: »hat im Jahre 1874 von ihrem Onkel Pascal einen Sohn.« Dann suchte er, erschöpft aus dem Papier weiter umherirrend, seinen Namen. Als er ihn endlich gefunden hatte, wurde seine Hand wieder fest, und er vollendete mit großer, sicherer Schrift die ihn betreffende Notiz: »Gestorben an einer Herzkrankheit am 7. November 1873.« Das war die äußerste Anstrengung, das Röcheln nahm zu, er bekam einen neuen Erstickungsanfall, gerade als er unter Clotildens Namen das weiße Blatt bemerkte. Seine Finger konnten kaum noch den Bleistift halten. Trotzdem fügte er in schwachen, unsicheren Schriftzügen, in denen sich die ganze zärtliche Qual, das schwere Leid seines armen Herzens deutlich aussprach, noch hinzu: »Das unbekannte Kind, das im Jahre 1874 zur Welt kommen wird. Wie wird es sein?« Dann bekam er eine durch die Stockung des Herzschlages herbeigeführte Ohnmacht, und Ramond und die alte Martine hatten große Mühe, ihn auf sein Bett zurückzutragen.

Der dritte Anfall hatte um vierundeinviertel Uhr stattgefunden. Bei diesem letzten Erstickungsanfall drückte das Gesicht Pascals einen furchtbaren Schmerz aus. Bis auf die Neige mußte er sein Martyrium als Mensch und Gelehrter durchmachen. Seine gebrochenen Augen schienen noch die Uhr zu suchen, um die Stunde festzustellen. Und als Ramond sah, daß er seine Lippen bewegte, beugte er sich zu ihm nieder und hielt sein Ohr ganz nahe an den Mund des Sterbenden. Und wirklich flüsterte er noch Worte, ganz leise Worte, die wie ein Hauch waren:

»Vier Uhr ... Das Herz steht still ... Mehr rotes Blut in die Aorta ... Die Klappe wird schwach, sie zerreißt ...«

Ein fürchterliches Röcheln erschütterte ihn. Der kurze Atem wurde immer schwächer und leiser.

»Das geht zu schnell ... Verlassen Sie mich nicht ... Der Schlüssel liegt unter dem Kopfkissen ... Clotilde ... Clotilde ...«

Am Fußende des Bettes hatte sich die alte Martine auf die Kniee niedergeworfen, halb erstickt vom Seufzen und Weinen. Sie sah deutlich, daß der Meister sterben würde. Sie hatte es aber doch nicht gewagt, fortzulaufen und den Priester herbeizuholen trotz ihres lebhaften Verlangens; und sie sprach daher selbst die Sterbegebete, sie bat den lieben Gott in heißem Flehen, daß er dem Herrn Doktor verzeihen möge, damit der Herr Doktor geradewegs in das Paradies eingehen könnte.

Pascal starb. Sein Gesicht war ganz blau. Nach einigen Sekunden vollständiger Regungslosigkeit wollte er Atem holen; er schob seine Lippen vor und öffnete seinen armen Mund wie ein kleiner Vogel seinen Schnabel, um zum letztenmale Luft einzuatmen.

Und das war der Tod, ein sehr einfacher Tod.


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