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Viertes Kapitel.

Acht Tage später herrschte in dem Haus wieder die gleiche Mißstimmung. Pascal und Clotilde verbrachten von neuem ganze Nachmittage, ohne mit einander zu sprechen; es herrschte ein fortwährender Wechsel in der Stimmung. Selbst Martine lebte in Aufregung. Der Haushalt war zur Hölle geworden.

Dann hatte sich plötzlich noch alles verschlimmert. Ein Kapuziner, der im Rufe großer Heiligkeit stand, war, wie es oft in den Städten des Südens der Fall ist, nach Plassans gekommen, um hier einige Zeit in Zurückgezogenheit zu leben. Er war eine Art Apostel mit einer volkstümlichen und zündenden Beredsamkeit, einem blühenden und bilderreichen Vortrag. Und er predigte über die Nichtigkeit der modernen Wissenschaft in einer außerordentlich mystischen, schleierhaften Weise, indem er die Realität dieser Welt leugnete und das Unbekannte, das Mysterium des Jenseits, erschloß. Alle Betschwestern in der Stadt waren ganz aus der Fassung gebracht.

Seit dem ersten Abende, wo Clotilde, von Martine begleitet, einer Predigt beigewohnt hatte, begann Pascal die fieberhafte Erregung zu bemerken, die sich ihrer bemächtigt hatte. An den folgenden Tagen wurde sie von einer wahren Leidenschaft gepackt; sie kehrte später heim, nachdem sie eine Stunde lang in dem dunklen Winkel einer Kapelle im Gebete zugebracht hatte.

Sie kam schließlich fast gar nicht mehr aus der Kirche heraus, kehrte stets ganz gebrochen heim mit den leuchtenden Augen einer Seherin; und die glühenden Worte des Kapuziners verfolgten sie unablässig. Zorn und Verachtung aller Menschen und Dinge schienen sich ihrer bemächtigt zu haben.

Pascal war beunruhigt und suchte eine Auseinandersetzung mit Martine. Er ging daher eines Morgens zu früher Stunde hinunter, als sie das Zimmer auskehrte.

»Du weißt, daß ich euch, Clotilden und Dir, vollkommene Freiheit lasse, in die Kirche zu gehen, wenn es euch beliebt. Ich will das Gewissen von niemand beschweren ... Aber ich will auch nicht, daß Du sie mir krank machst.«

Die Haushälterin sagte ruhig, ohne in ihrer Arbeit inne zu halten:

»Die Kranken sind vielleicht eher diejenigen, die es nicht zu sein glauben.«

Sie hatte das in einem solchen Tone der Ueberzeugung gesagt, daß er unwillkürlich lächeln mußte.

»Ja, ich, ich bin der kranke Geist, dessen Bekehrung ihr inbrünstig erfleht, während ihr anderen die volle Gesundheit und die ganze Weisheit besitzt ... Martine, wenn Du fortfährst, mich und Dich selbst zu quälen, so werde ich ernstlich böse werden.«

Er hatte mit einer so ärgerlichen und einer so rauhen Stimme gesprochen, daß Martine mit Kehren inne hielt und ihm ins Gesicht sah. Eine unbegrenzte Zärtlichkeit und eine maßlose Verzweiflung spiegelten sich in ihrem alten Mädchengesichte ab, das im Dienste runzelig geworden war. Thränen füllten ihre Augen, und sie lief davon, indem sie stotternd rief:

»Ach, Herr Doktor, Sie lieben uns nicht!«

Darauf blieb Pascal entwaffnet in zunehmender Traurigkeit zurück. Es verstärkte seine Gewissensbisse noch, daß er sich so tolerant gezeigt und Clotildens Erziehung und Ausbildung nicht ganz allein nach seinen Ansichten geleitet hatte. In seinem Glauben, daß die Bäume gerade wachsen, wenn man sie ruhig sich selbst überläßt, hatte er sie ganz nach ihrer Art aufwachsen lassen, nachdem er sie nur lesen und schreiben gelehrt. Nicht nach einem vorher bestimmten Plane, einzig und allein nur infolge ihrer ganzen Lebensrichtung hatte sie nach und nach alles gelesen und sich für die Naturwissenschaften begeistert, indem sie bei seinen Untersuchungen, beim Lesen seiner Korrekturbogen und beim Abschreiben und Ordnen seiner Manuskripte half. Wie bedauerte er heute seine Lässigkeit! Welch kraftvoller Führer hätte er diesem klaren Geiste sein können, der so wissensdurstig war, anstatt ihn auf Abwege geraten und sich verlieren zu lassen in das Dunkel des Jenseits, was die Großmutter Felicité und die gute Martine begünstigten! Während er sich selbst nur streng an das Thatsächliche hielt, sich bemühte, niemals weiter zu gehen als die Naturerscheinung, und während ihm dies glückte infolge seiner gelehrten Bildung, hatte er ruhig zugesehen, wie sie sich mit dem Unbekannten, mit dem Mysterium beschäftigte. Es war bei ihr ein unwiderstehlicher Drang, eine instinktive Neugierde, die zur Qual wurde, als sie keine Befriedigung fand. Es war ein Verlangen, das durch nichts gestillt werden konnte, ein mächtiger Zug nach dem Unerreichbaren, nach dem Unergründlichen. Schon als sie noch klein war, und vor allem später als junges Mädchen ging sie sofort auf das Warum und auf das Wie los und verlangte stets nach den letzten Gründen. Wenn er ihr eine Blume zeigte, so fragte sie, warum diese Blume Samen trüge, warum dieser Samen keime. Dann kam das Geheimnis der Empfängnis, der Geschlechter, der Geburt und des Todes, und die unbekannten Gewalten und Gott und alles. Bei vier Fragen trieb sie ihn jedesmal in die Enge, und wenn er dann nicht mehr wußte, was er antworten sollte, wenn er sich von ihr losmachte in komischem Zorne, dann hatte sie stets ein schönes Lachen des Triumphes; bestürzt kehrte sie in ihre Träume zurück, in das unbegrenzte Reich alles dessen, was man nicht kennt, und alles dessen, was man glauben kann. Oft setzte sie ihn durch ihre Erklärungen in lebhaftes Erstaunen. Ihr wissenschaftlich gebildeter Geist ging von den bewiesenen Wahrheiten aus, machte aber gleich einen solchen Sprung, daß er mit einem Satze hinein mitten in den Himmel der Legenden kam. Es zogen an ihrem Geiste vorüber Vermittler, Engel, Heilige, übernatürliche Kräfte, welche die Materie umgestalteten, ihr das Leben gaben; oder es war auch nur eine Kraft, die Weltseele, welche in fünfzig Jahrhunderten die Dinge und die Wesen in einem endlichen Liebeskusse auflöste. Sie hatte, wie sie sagte, sich dies ausgerechnet.

Niemals übrigens hatte Pascal sie so verstört gesehen. Seit einer Woche, seitdem der Kapuziner in der Kathedrale predigte, verbrachte sie sichtlich die Tage nur in Erwartung der Predigt am Abend, und sie begab sich jedesmal dorthin in der aufgeregten Stimmung eines Mädchens, welches zum erstenmale zu einem Rendezvous geht. Am nächsten Tage dann forderte alles in ihr ihre Lossagung von dem Außenleben, von ihrem gewohnten Dasein, als wenn die sichtbare Welt, die notwendigen Handlungen jeder Minute nur Kinderspiel und Dummheiten wären. Auch hatte sie beinahe ganz ihre sonstigen Beschäftigungen aufgegeben, indem sie sich einer gewissen, unbesiegbaren Faulheit überließ und stundenlang müßig dasaß, die Hände in den Schoß gelegt und die Augen leer und verloren in die Ferne irgend einer Träumerei. Jetzt stand sie, die sonst immer so thätig und früh bei der Hand war, spät auf und erschien nicht eher als beim zweiten Frühstücke. Aber ihre Toilette war nicht schuld daran, daß sie so lange Zeit brauchte, denn sie verlor fast ganz ihre weibliche Koketterie und kam kaum frisirt und in einem schief zugeknöpften Kleide sehr fragwürdig zum Vorschein, aber trotzdem noch immer liebenswehrt, dank ihrer sieghaften Jugend. Ihre Morgenspaziergänge durch die Souleiade, die sie so sehr liebte, die mit Oliven- und Mandelbäumen bepflanzten Terrassen hinab, ihre Besuche in dem harzdurchdufteten Fichtenwalde und ihr langes Verweilen auf dem heißen, freien Platze, wo sie Sonnenbäder nahm, alles das hatte sie aufgegeben; sie zog es vor, in ihrem Zimmer bei geschlossenen Fensterladen zu bleiben, in dem man sie sich nicht rühren hörte. Am Nachmittag dann, in dem Saal, war es der gleiche ermüdende Müßiggang, ein träges Herumirren von Stuhl zu Stuhl, ein Gereiztsein gegen alles, was sie bisher interessirt hatte.

Pascal mußte auf ihre Unterstützung verzichten. Eine Note, die er ihr zum Abschreiben gegeben hatte, blieb drei Tage lang auf ihrem Pulte liegen. Sie ordnete nichts mehr, sie wurde sich nicht einmal gebückt haben, um ein Manuskript vom Boden aufzuheben. Namentlich ihre Pastellmalerei hatte sie ganz aufgegeben, die sehr genau ausgeführten Blumenzeichnungen, welche als Tafeln für ein Werk über künstliche Befruchtung dienen sollten. Große rote Malven von einer neuen, eigentümlichen Färbung waren in ihrer Vase verblüht, ohne daß sie sie fertig abgezeichnet hatte. Und während eines ganzen Nachmittags hatte sie sich mit Leidenschaft an ein überspanntes Bild gemacht, Phantasieblumen, eine ganz außergewöhnliche Blütengattung, die sich in der Sonne des Wunders entfaltet, allenthalben ein Hervorsprießen von goldenen Strahlen in der Form von Aehren inmitten von großen, purpurnen Blumenkronen, die offenen Herzen glichen, aus denen an der Stelle von Pistillen Sternenbündel, Milliarden von Welten emporragten, die sich am Himmel hinzogen wie eine Milchstraße.

»Ach, mein armes Kind!« sagte an diesem Tage der Doktor zu ihr, »wie kann man denn seine Zeit mit dergleichen Phantasien verschwenden, während ich sehnsüchtig auf die Kopie der Malven warte, die Du hast sterben lassen! Und Du machst Dich krank. Es ist weder Gesundheit noch selbst Schönheit möglich außerhalb der Wirklichkeit.«

Oftmals antwortete sie gar nicht, da sie in ihrer trotzigen Ueberzeugung sich in keine Erörterung einlassen wollte. Aber er hatte sie diesmal ohne Zweifel in dem heiligsten ihrer Glaubenssätze getroffen.

»Es gibt keine Wirklichkeit,« erklärte sie kurz.

Er fing an zu lachen, belustigt über diese philosophische Anwandlung bei diesem großen Kinde.

»Ja, ich weiß ... Unsere Sinne sind nicht unfehlbar, wir kennen die Welt nur durch unsere Sinne, daher ist es wohl möglich, daß die Welt nicht existirt ... Oeffnen wir also der Thorheit die Thore, nehmen wir die lächerlichsten Hirngespinnste als möglich an, verlassen wir das Gebiet der Gesetze und Thatsachen, Traumgebilden zu liebe ... Siehst Du denn nicht, daß es gegen die Regel ist, wenn Du die Natur unterdrückst, und daß das einzige Interesse beim Leben ist, an das Leben zu glauben, es zu lieben und alle die Kräfte seines Geistes daran zu setzen, um es besser kennen zu lernen?«

Sie machte eine trotzige und abweisende Geberde, und die Unterhaltung verstummte. Mit großen Blaustiftstrichen durchstrich sie jetzt das Pastell, und es bekam das Aussehen, als ob sie damit das Leuchten über einer hellen Sommernacht hätte darstellen wollen.

Aber zwei Tage später verschlimmerte sich infolge einer neuen Auseinandersetzung die Sache noch. Am Abend war Pascal nach dem Essen hinaufgegangen in den Saal, um zu arbeiten, während sie draußen auf der Terrasse sitzen blieb. Stunden vergingen, und er war ganz erstaunt und beunruhigt, als es Mitternacht schlug, daß er sie noch nicht hatte in ihr Zimmer zurückgehen hören. Sie mußte durch den Saal gehen; er wußte ganz genau, daß sie nicht hinter seinem Rücken durchgegangen war. Unten überzeugte er sich, als er hinabgestiegen war, daß Martine schlief. Die Thüre des Vestibüls war nicht abgeschlossen, Clotilde hatte sich sicherlich draußen vergessen. Das passirte ihr zuweilen während der heißen Nächte; aber noch niemals hatte sie sich derartig verspätet.

Die Unruhe des Doktors wuchs, als er auf der Terrasse den Stuhl leer fand, auf dem das junge Mädchen hätte sitzen sollen. Er hatte gehofft, daß er sie dort eingeschlafen finden würde. Da sie nicht dort war, warum war sie noch nicht zurückgekehrt, wohin konnte sie zu solch später Stunde gegangen sein? Die Nacht war wundervoll, eine Septembernacht, noch heiß, das weite Himmelszelt in seiner tiefdunklen Unendlichkeit mit Sternen besät; und an diesem Himmel ohne Mond funkelten die Sterne so lebhaft und so groß, daß sie die Erde erhellten. Er beugte sich zunächst über die Brüstung der Terrasse, untersuchte die Abhänge, die Terrassen aus mörtellosen Steinmauern, die sich bis hinunter an den Eisenbahndamm zogen; aber nichts rührte sich, er sah nur die runden und unbeweglichen Häupter der kleinen Oelbäume. Dann kam ihm der Gedanke, daß sie ohne Zweifel unter den Platanen wäre bei der Fontäne, bei dem ununterbrochenen Plätschern dieses murmelnden Wassers. Er eilte dorthin, er drang ein in die tiefe Finsternis, die so dicht war, daß selbst er, der doch jeden einzelnen Baumstamm kannte, mit vorgestreckten Armen gehen mußte, um sich nicht zu stoßen. Dann durchsuchte er, vorsichtig weiter tappend, den Fichtenwald, der ebenso dunkel war, ohne jemand zu treffen. Endlich rief er mit einer Stimme, die ihn ganz taub machte:

»Clotilde! Clotilde!«

Die Nacht blieb still und stumm. Von Zeit zu Zeit erhob er seine Stimme von neuem.

»Clotilde! Clotilde!«

Nicht ein Ton, nicht ein Laut! Die Echos schienen eingeschlummert zu sein; seine Stimme verhallte in dem unendlichen Meere der blauen Finsternis. Er rief mit voller Kraft; er kehrte zurück unter die Platanen, eilte wieder in den Fichtenwald wie ein Wahnsinniger, seine ganze Besitzung durchsuchend. Dann befand er sich plötzlich auf dem großen freien Platze.

Zu dieser Stunde lag auch der ungeheure Platz, die weite runde Fläche, wie in tiefem Schlafe. Seit den langen Jahren, da man kein Getreide mehr dort geschwungen hatte, war Gras darauf gewachsen, sogleich von der Sonne verbrannt, goldgelb und wie abgeschnitten, ähnlich der langen Wolle eines Teppichs. Und zwischen den Büscheln dieser weichen Vegetation wurden die runden Kieselsteine niemals kalt, sie dampften während der Abenddämmerung und strahlten in der Nacht die Wärme aus, die sich von so vielen erstickend heißen Mittagen in ihnen angesammelt hatte.

Oede und verlassen breitete sich der Platz aus inmitten dieses heißen Dunstes unter der Stille des Himmels, und Pascal überschritt ihn, um in den Obstgarten zu eilen, als er beinahe über einen menschlichen Körper gestürzt wäre, der lang ausgestreckt dalag und den er nicht hatte sehen können. Er rief erschreckt aus:

»Wie, Du bist hier?«

Clotilde würdigte ihn keiner Antwort. Sie lag auf dem Rücken, die Hände verschlungen unter dem Kopf zurückgelegt, den Blick zum Himmel emporgerichtet; und in ihrem blassen Gesichte sah man nur ihre großen Augen leuchten.

»Ich bin in Unruhe Deinetwegen und rufe Dich schon seit einer Viertelstunde ... Hast Du mich denn nicht rufen hören?«

Endlich öffnete sie die Lippen.

»Ja.«

»Das ist doch zu thöricht! Warum hast Du mir denn nicht geantwortet?«

Sie war aber wieder in ihr früheres Stillschweigen gesunken; sie unterließ es starrköpfig, sich zu erklären, die Blicke wie verloren gen Himmel gerichtet.

»Vorwärts! Komm jetzt zu Bett! Morgen wirst Du es mir sagen.«

Sie rührte sich immer noch nicht; er bat sie zu wiederholtenmalen, mit ihm zurückzukommen: sie machte nicht die geringste Bewegung. Er hat sich schließlich neben sie niedergesetzt in das Gras und fühlte unter sich die Wärme der Steine.

»Du kannst doch nicht hier draußen schlafen ... So antworte doch wenigstens! Was machst Du denn eigentlich hier?«

»Ich stelle Betrachtungen an.«

Und aus ihren großen, unbeweglichen Augen, die starr und weit geöffnet waren, schienen die Blicke immer höher zu dringen zu den Sternen hinauf. Sie war ganz verloren in die unendliche Klarheit des Sommernachtshimmels inmitten der Sterne.

»Ach, Meister,« sagte sie in einem langsamen, gleichmäßigen, ununterbrochenen Tone, »wie ist das alles, was Du weißt, so eng und begrenzt im Vergleich mit dem, was sich sicherlich dort oben befindet ... Wenn ich Dir nicht geantwortet habe, so geschah es, weil ich an Dich dachte und schweren Kummer hatte ... Es ist nicht nötig, mich für böse zu halten.«

Eine solch innige Zärtlichkeit lag in ihrer Stimme, daß er tief bewegt davon war. Er legte sich ebenfalls lang ausgestreckt auf den Rücken. Ihre Ellenbogen berührten sich, sie plauderten miteinander.

»Ich fürchte sehr, meine Liebe, daß Deine Sorgen nicht vernünftig sind ... Du denkst an mich und Du hast Kummer. Warum denn?«

»O, gewisser Dinge wegen, die ich Dir nur mit Mühe würde auseinander setzen können. Ich bin keine Gelehrte. Indessen hast Du mich viel gelehrt, und ich selbst habe noch mehr gelernt, indem ich bei Dir lebte. Vor allem sind es Dinge, die ich fühle ... Vielleicht, daß ich versuchen werde, es Dir zu sagen, da wir hier so allein sind und da es so schönes Wetter ist!«

Sein volles Herz floß über nach den Stunden des Nachdenkens in dem Vertrauen erweckenden Frieden der wunderbaren Nacht. Er sprach kein Wort aus Furcht, sie zu beunruhigen; und er wartete auf ihre Bekenntnisse.

»Als ich klein war, und als ich Dich zuerst von der Wissenschaft sprechen hörte, erschien es mir, als ob Du von dem guten Gotte sprachest, so glühtest Du vor Glauben und Hoffnung. Nichts erschien Dir mehr unmöglich. Mit der Wissenschaft wollte man das Geheimnis der Welt durchdringen und das vollkommene Glück der Menschheit verwirklichen. Nach Dir ging es mit Riesenschritten vorwärts. Jeder Tag brachte seine Entdeckung, seine Gewißheit mit sich. Noch zehn Jahre, noch fünfzig Jahre, noch hundert Jahre vielleicht, und der Himmel würde geöffnet sein, und wir würden die Wahrheit von Angesicht zu Angesicht schauen ... Nun, die Jahre gehen dahin, und nichts öffnet sich, und die Wahrheit weicht immer weiter und weiter zurück.«

»Du bist eine Ungeduldige,« antwortete er einfach. »Wenn zehn Jahrhunderte notwendig sind, so wird man sie wohl abwarten müssen.«

»Das ist wahr, aber ich kann nicht warten. Ich verlange nach Wissen, ich will auf der Stelle glücklich sein und alles mit einemmale wissen und vollkommen, endgültig glücklich sein! Siehst Du, das ist es, weswegen ich leide, daß ich nicht mit einem einzigen Sprunge zu der vollen Erkenntnis gelangen kann, daß ich mich nicht in der vollkommenen Glückseligkeit ausruhen kann, befreit von allen Bedenken und Zweifeln. Heißt das leben, nur immer mit ängstlichem Schritt in der Finsternis vorzudringen, nicht eine Stunde Ruhe genießen zu können, ohne vor dem Gedanken an das nächste Schrecknis erzittern zu müssen! Nein, nein! Die ganze Erkenntnis und das ganze Glück an einem Tage! Die Wissenschaft hat sie uns versprochen, und wenn sie sie uns nicht gibt, dann ist sie bankerott!«

Da fing auch er an leidenschaftlich erregt zu werden.

»Aber das ist ja Thorheit, Kleine, was Du da sagst! Die Wissenschaft ist nicht die Offenbarung. Sie geht ihren Weg, und ihr Ruhm ist ihre Anstrengung selbst ... Und dann, das ist nicht wahr, die Wissenschaft hat nicht das Glück versprochen.«

Lebhaft unterbrach sie ihn.

»Wie, nicht wahr! So schlage doch Deine Bücher dort oben auf! Du weißt genau, daß ich sie gelesen habe. Sie sind voll von derartigen Versprechungen. Wenn man sie liest, so scheint es, als ob man an die Eroberung der Erde und des Himmels gehe. Sie zerstören alles und schwören, daß sie alles ersetzen werden, und zwar durch die reine Vernunft mit Festigkeit und Klugheit ... Ich bin ohne Zweifel wie die Kinder. Wenn man mir etwas versprochen hat, so verlange ich auch, daß man es mir gibt. Meine Phantasie arbeitet; der Gegenstand muß jedenfalls sehr schön sein, um mich zu befriedigen ... Aber es wäre doch so einfach, wenn man mir gar nichts versprechen wollte. Und vor allem wäre es gerade in dieser Stunde bei meinem verzweifelten und schmerzlichen Verlangen schlecht, mir zu sagen, daß man mir nichts versprochen hat!«

Er machte von neuem eine abwehrende und ungeduldige Bewegung in die erhabene klare Nacht hinaus.

»Auf jeden Fall,« fuhr sie fort, »hat die Wissenschaft tabula rasa gemacht, die Erde ist öde, der Himmel ist leer, und was soll nach Deiner Meinung mit mir werden, selbst wenn Du die Wissenschaft von den Hoffnungen freisprichst, die ich auf sie setze? Denn ich kann nicht ohne Gewißheit und ohne Glück leben. Auf welchem festen Grunde soll ich mein Haus aufbauen in dem Augenblicke, da man die alte Welt zertrümmert hat und sich so wenig beeilt, die neue zu errichten? Das ganze alte Gebäude hat gekracht bei der Katastrophe der Prüfung und der Analyse, und es bleibt nichts übrig, als eine wahnwitzige Menge, welche die Ruinen zerstört, die nicht weiß, auf welchen Stein sie ihr Haupt legen soll, die inmitten des Sturmes kampirt und einen festen, endlichen Zufluchtsort verlangt, wo sie das verlorene Leben von neuem beginnen kann ... Man muß sich daher nicht über unsere Entmutigung und unsere Ungeduld wundern. Wir können nicht mehr warten. Da die Wissenschaft zu langsam ist, da sie Bankerott macht, so ziehen wir es vor, uns rückwärts zu flüchten, ja, zurück zu den Glaubenssätzen von ehemals, die Jahrhunderte lang dem Glücke der Welt genügt haben.«

»Ah!« rief er, »das ist ja vortrefflich! Damit sind wir ja wohl an dem Wendepunkt des fin du siècle bei der Erschlaffung, bei der Kraftlosigkeit der entsetzlichen Menge von Kenntnissen, welche das Jahrhundert hervorgerufen hat, angelangt ... Und es ist das ewige Bedürfnis der Lüge, das ewige Bedürfnis der Einbildung, welches die Menschheit zurückführt zu dem Reize des Unbekannten ... Da man niemals alles wissen wird, wozu dann mehr wissen? Warum soll man in den Augenblicken, wo die errungene Wahrheit nicht das unmittelbare und gewisse Glück gewährt, sich nicht zufrieden geben mit der Unwissenheit, jenes dunkle Lager, auf dem die Menschheit ihr erstes Alter tief geschlafen hat? Das ist die feindliche Rückkehr des Mysteriums, das ist die Reaktion gegen hundertjährige Erfahrung und Forschung. Und das mußte sein, man muß sich auf Abtrünnige gefaßt machen, wenn man nicht alle Bedürfnisse auf der Stelle befriedigen kann. Aber es gibt da nur einen Haltepunkt, dort oben! Der Vorwärtsmarsch muß ununterbrochen fortgesetzt werden bis in den unbegrenzten Raum hinauf, der außerhalb unseres Gesichtskreises liegt!«

Eine Zeit lang schwieg sie regungslos, die Blicke verloren in die Milliarden von Welten, die an dem dunklen Himmel leuchteten. Eine Sternschnuppe durchkreuzte in flammender Bahn das Sternbild der Kassiopeia. Und das strahlende All dort oben drehte sich langsam um seine Axe in einem heiligen Glanze, während von der dunklen Erde um sie herum sich nur ein leises Wehen erhob, wie der zarte und heiße Atem einer schlafenden Frau.

»Sage mir,« fragte er in seinem gutmütigen Tone, »ist es Dein Kapuziner gewesen, der Dir heute abend den Kopf so verdreht hat?«

Sie antwortete freimütig:

»Ja, er hat von der Kanzel herab Sachen gesagt, die mich erschütterten; er hat gegen alles gesprochen, was Du mich gelehrt hast, und mir ist, als ob die Wissenschaft, die ich Dir verdanke, mich vernichtete ... Mein Gott, was soll aus mir werden?«

»Mein armes Kind! Aber es ist schrecklich. Dich so zu quälen! Und dennoch bin ich Deinetwegen noch hinreichend ruhig, denn Du bist nicht leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen, Du hast einen guten, kleinen, runden Kopf, klar und fest, wie ich Dir schon oft wiederholt habe. Du wirst Dich schon wieder beruhigen ... Welch' eine Verheerung aber wird er in den Gemütern der andern anrichten, wenn selbst Du, die Gesunde, so verstört bist! Hast Du denn nicht den Glauben?«

Sie schwieg und seufzte tief auf.

»Gewiß, von dem einfachen Gesichtspunkte des Glückes aus ist der Glaube ein fester Wanderstab, und das Gehen wird leicht und angenehm, wenn man das Glück hat, ihn zu besitzen.«

»Ach, ich weiß nicht mehr!« sagte sie. »Es gibt Tage, an welchen ich glaube, es gibt aber auch welche, wo ich es mit Dir und Deinen Büchern halte. Du bist es, der mich unsicher gemacht. Du bist schuld daran, daß ich leide. Und all mein Leiden liegt vielleicht in meiner Auflehnung gegen Dich, den ich liebe ... Nein, nein! Sage mir nichts! Sage mir nicht, daß ich mich beruhigen werde. Das würde mich in diesem Augenblicke nur noch mehr verwirren ... Du leugnest das Uebernatürliche. Das Mysterium ist für Dich nur das Unerklärte. Du gibst sogar zu, daß man niemals alles wissen wird; und demzufolge besteht das einzige Lebensinteresse in Angriffen ohne Ende gegen das Unbekannte, in dem ewigen Bestreben, mehr zu wissen ... Ach! Ich weiß leider schon zu viel davon, um noch glauben zu können. Du hast mich schon zu sehr erobert, und es gibt Stunden, wo es mir scheint, als müßte ich daran zu Grunde gehen.«

Er hatte ihre Hand, die in dem warmen Grase lag, ergriffen und drückte sie heftig.

»Aber es ist das Leben, welches Dir Furcht macht, Kleine! Und wie recht hast Du, wenn Du sagst, das einzige Glück bestehe in dem fortwährenden Streben! Denn in Zukunft ist die Ruhe in der Unthätigkeit unmöglich. Kein Stillstand ist zu hoffen, kein Ausruhen in der freiwilligen Blindheit. Man muß vorwärts schreiten, vorwärts schreiten mit dem Leben, das immer vorwärts geht! Alles, was man vorschlägt, die Rückkehr zur Vergangenheit, die toten Religionen wieder zurechtzustutzen und nach den modernen Bedürfnissen umzuformen, alles das ist dummes Zeug! Lerne doch das Leben kennen, liebe es, sieh es so, wie es gelebt werden soll und muß: es gibt keine andere Weisheit!«

Sie hatte ihm erregt ihre Hand mit einem Rucke wieder entzogen, und ihre bebende Stimme drückte deutlich ihren Widerwillen aus.

»Das Leben ist abscheulich, wie soll ich es denn nach Deiner Ansicht ruhig und glücklich verbringen? Eine schreckliche Helle wirft Deine Wissenschaft auf das Leben, Deine Untersuchungen dringen in alle menschlichen Wunden ein, um daraus den Schrecken ans Licht zu ziehen. Du sagst alles, Du sprichst schonungslos. Du lässest uns nur den Ekel vor den Menschen und den Dingen ohne jeden möglichen Trost.«

Er unterbrach sie mit einem Schrei feuriger Ueberzeugung.

»Alles sagen, ah! Ja, um alles kennen zu lernen, alles zu heilen!«

In wildem Zorne richtete sie sich empor und setzte sich aufrecht hin.

»Wenn wenigstens noch die Gleichheit und die Gerechtigkeit in Deiner Natur existirten! Aber Du siehst es ja selbst ein: das Leben gehört dem Stärksten, der Schwache geht unrettbar zu Grunde, eben weil er schwach ist. Es gibt nicht zwei vollkommen gleiche Wesen, weder an Gesundheit, noch an Schönheit, noch an Verstand: das ist alles abhängig von dem zweifelhaften Glück des Zusammentreffens, dem Zufall der Wahl ... Und alles stürzt zusammen, seitdem die große und heilige Gerechtigkeit nicht mehr ist!«

»Es ist wahr,« sagte er mit leiser Stimme wie zu sich selbst, »die Gleichheit existirt nicht. Jede Gesellschaft, die man darauf gründen würde, könnte nicht leben. Seit Jahrhunderten hat man geglaubt, dem Uebel durch die Nächstenliebe abhelfen zu können. Aber die Welt hat gekracht, und heute schlägt man die Gerechtigkeit vor ... Ist die Natur denn selbst gerecht? Ich halte sie viel eher für logisch. Die Logik ist vielleicht eine natürliche und höhere Gerechtigkeit, die direkt auf die Summe der allgemeinen Arbeit losgeht, auf die große Schlußarbeit.«

»Ist das etwa die Gerechtigkeit,« rief sie, »welche das Einzelwesen zum besten der Rasse zertritt, die eine schwache Gattung zum Nutzen der triumphirenden zu Grunde richtet ... Nein, nein, es ist das Verbrechen. Es gibt nichts als Schändlichkeit und Verbrechen. Er hatte recht heute abend in der Kirche: die Erde ist verdorben, die Wissenschaft zieht aus ihr nur die Fäulnis an das Tageslicht; dort oben ist der Ort, zu dem wir unsere Zuflucht nehmen müssen ... O Meister, ich flehe Dich darum an, laß mich mich retten, laß mich auch Dich retten!«

Clotilde war in Thränen ausgebrochen, und der Klang ihrer Seufzer stieg empor in die reine Stille der Nacht. Vergebens versuchte Doktor Pascal sie zu beruhigen. Aber ihre Stimme übertönte ihn.

»Höre mich an, Meister! Du weißt, daß ich Dich liebe, denn Du bist mir alles ... Und Du bist es, von dem meine Qual kommt; ich meine fast zu ersticken, wenn ich daran denke, daß wir nicht einig sind, daß wir für immer getrennt sein müßten, wenn wir beide morgen sterben würden ... Warum willst Du denn nicht glauben?«

Er versuchte noch einmal, sie zur Vernunft zu bringen.

»Du bist toll, mein Kind ...«

Aber sie hatte sich auf die Kniee geworfen, sie hatte seine Hände ergriffen, sie klammerte sich an ihn in fieberhafter Erregung. Und sie seufzte noch tiefer auf und schluchzte so verzweifelt, daß das dunkle Gefilde in weiter Runde schauerlich davon widerhallte.

»Höre, was er heute in der Kirche gesagt hat ... Man muß sein Leben ändern und Buße thun, man muß allen seinen früheren Irrtümern entsagen, ja. Du mußt Deine Bücher, Deine Akten, Deine Manuskripte verbrennen! Bringe das Opfer, Meister, ich beschwöre Dich auf meinen Knieen ... Und Du wirst sehen, welch köstliches Leben wir dann zusammen führen werden.«

Schließlich empörte er sich.

»Nein, das ist zu viel, schweige!«

»O, höre mich doch an, Meister, thue, was ich will ... Ich versichere Dich, daß ich entsetzlich unglücklich bin, gerade weil ich Dich liebe, wie ich Dich liebe. Es fehlt etwas in unserer Zuneigung. Bis jetzt war sie lebhaft und fruchtlos, und ich habe den unwiderstehlichen Drang, sie mit allem, was es Göttliches und Ewiges gibt, zu erfüllen ... Was kann uns fehlen, wenn es nicht Gott ist? Beuge Deine Kniee und bete mit mir!«

Mit einer heftigen Bewegung riß er sich erzürnt von ihr los:

»Schweige, Du redest unvernünftiges Zeug! Ich habe Dir Deine Freiheit gelassen, laß mir auch die meinige!«

»Meister, Meister! Es ist unser Glück, was ich will! Ich will Dich weit, sehr weit fortführen. Wir wollen in die Einsamkeit gehen, um ganz in Gott zu leben!«

»Schweige! Nein, niemals!«

Dann blieben sie einen Moment stumm, Auge in Auge, und maßen sich mit drohenden Blicken. Die Souleiade breitete sich rings um sie herum in nächtlichem Stillschweigen aus, mit den leichten Schatten ihrer Olivenbäume und dem tiefen Dunkel ihrer Fichten und Platanen, unter dem die Quelle ihr ewiges melancholisches Lied sang; und über ihren Köpfen schien an dem sternenbesäten weiten Himmel ein blasser Schein dahinzuzittern, obgleich die Morgendämmerung noch fern war.

Clotilde hob ihren Arm, als ob sie ihm die Unermeßlichkeit des Himmels zeigen wollte. Aber Pascal hatte mit einem sicheren Griffe ihre Hand wieder erfaßt und hielt sie in der seinigen fest zur Erde hinab. Kein Wort wurde gesprochen; ganz außer sich vor innerer Erregung und feindlich standen sie sich einander gegenüber. Es war ein heißer Kampf.

Plötzlich zog sie ihre Hand zurück und sprang zur Seite wie ein ungezähmtes, edles Tier, das sich bäumt; dann rannte sie mitten durch die Nacht dem Hause zu. Man hörte auf den Steinen des Platzes das Geklapper ihrer kleinen Schuhe, das sich dann in dem Sande der Allee verlor. Er rief ihr ganz untröstlich mit lauter Stimme nach. Aber sie hörte nicht, antwortete nicht, lief nur immerfort. Von Furcht ergriffen, mit beklommenem Herzen eilte er hinter ihr her und bog gerade noch früh genug um die Platanengruppe, daß er noch sehen konnte, wie sie stürmisch das Vestibül betrat. Er stürzte ihr in das Haus nach, sprang die Treppe hinan und stieß gegen die Thür ihres Zimmers, an deren Schloß er heftig rüttelte. Und dort beruhigte er sich und kämpfte mit großer Anstrengung seine Aufregung nieder; er widerstand dem lebhaften Verlangen, zu rufen, sie noch einmal zu rufen, jene Thür einzutreten, um sie wieder zu bekommen, sie zu überzeugen, sie sich ganz wieder zu gewinnen. Einen Augenblick blieb er unbeweglich bei der Totenstille des Zimmers, aus dem nicht das geringste Geräusch kam. Ohne Zweifel erstickte sie, über das Bett geworfen, ihre Schreie und ihre Seufzer in den Kissen. Er entschloß sich endlich, noch einmal hinunterzugehen und die Hausthüre zu schließen; dann stieg er leise wieder hinauf und lauschte, ob er sie klagen hörte. Und es fing schon an Tag zu werden, als er sich endlich niederlegte, verzweifelt und von Thränen fast erstickt.

Von da an herrschte ein Krieg ohne Gnade. Pascal fühlte sich beobachtet, belauscht, bedroht. Er kam sich nicht mehr vor wie zu Hause, er hatte kein Heim mehr: der Feind war fortwährend da, der ihn zwang, alles zu fürchten, alles einzuschließen. Kurz nach einander wurden zwei Fläschchen des von ihm fabrizirten Lebenselixirs in Scherben zerschlagen von ihm aufgefunden, und er mußte sich in seinem Zimmer verbarrikadiren, wo man ihn ganze Tage lang Gehirne zerstoßen hörte; selbst bei den Mahlzeiten zeigte er sich nicht. Er nahm an seinen Besuchstagen Clotilde nicht mehr mit, weil sie die Kranken durch ihre herausfordernd ungläubige Haltung entmutigte. Allein sobald er fortging, hatte er nur das eine Bestreben, so schnell wie möglich wieder heimzukehren, denn er fürchtete, bei seiner Rückkunft einmal die Schlösser erbrochen und seine Schubladen ausgeraubt zu finden. Er benützte das junge Mädchen auch nicht mehr dazu, seine Notizen zu ordnen und abzuschreiben, seitdem mehrere abhanden gekommen waren, als ob sie der Wind davongetragen hätte. Er wagte es sogar nicht mehr, ihr die Korrektur seiner Arbeiten zu übertragen, da er festgestellt hatte, daß sie einmal in einem Artikel einen ganzen Abschnitt weggelassen, dessen Inhalt ihren katholischen Glauben verletzte. Und so lebte sie unthätig dahin, durch die Zimmer schleichend, und ihre ganze Zeit darauf verwendend, eine Gelegenheit zu erspähen, die ihr den Schlüssel des großen Wandschranks in die Hände spielen würde. Das war ihr Traum, das war der Plan, der sie während ihrer langen Muße beschäftigte, wobei ihre Augen leuchteten und ihre Hände fieberhaft zitterten: den Schlüssel zu erhalten, zu öffnen, alles zunehmen, alles zu vernichten in einem Autodafé, das Gott angenehm sein würde. Ein paar Seiten eines Manuskripts, die er auf dem Tische hatte liegen lassen, als er hinausgegangen war, um sich die Hände zu waschen und seinen Ueberrock anzuziehen., waren verschwunden, in dem Kamin nichts zurücklassend als ein kleines Häufchen Asche. Eines Abends, als er sich bei einem Kranken verspätet, hatte ihn, wie er beim Dunkelwerden heimging, in der Vorstadt ein wahnsinniger Schrecken ergriffen beim Anblick einer dichten, schwarzen Rauchwolke, die in Wirbeln aufstieg und den fahlgrauen Himmel schwarz färbte. War das nicht die Souleiade, die ganz in Flammen stand, angezündet durch das Freudenfeuer seiner Papiere? Eilenden Laufes kehrte er heim und beruhigte sich nicht eher wieder, als bis er sah, daß es ein Feuer von Wurzelwerk auf einem nahe liegenden Felde war, aus dem der Rauch langsam emporwallte.

Und welch entsetzlicher Zustand war diese fortwährende Angst für den Gelehrten, der sich auf solche Weise in seiner Intelligenz, in seiner Arbeit bedroht sieht! Die Entdeckungen, die er gemacht hat, die Manuskripte, die er zu hinterlassen gedenkt, sie sind sein Stolz, sie sind Wesen von seinem Blut, seine Kinder, und wer sie vernichtet, verbrennt, wird etwas von seinem Fleische verbrennen. Am meisten gequält bei diesen fortwährenden hinterlistigen Angriffen auf seine Geistesarbeit wurde er von dem Gedanken, daß er diese Feindin, die in seinem Hause wohnte, die sich in sein Herz eingenistet hatte, nicht daraus vertreiben konnte, und daß er sie trotz allem liebte. Er war ganz ohne Waffen, ohne jede mögliche Verteidigung; er wollte nichts thun, er hatte auch kein anderes Mittel als unablässig auf seiner Hut zu sein. Die Schlinge zog sich immer mehr zusammen: er glaubte überall die kleinen diebischen Hände zu fühlen, die in seine Taschen glitten; er hatte keine Ruhe mehr, da er selbst bei verschlossenen Thüren fürchtete, daß man ihn durch die Spalten ausplünderte.

»Aber, unglückliches Kind,« rief er eines Tages, »ich liebe auf der Welt nur Dich, und Du bist es, die mich tötet! Du liebst mich aber dennoch, Du thust das alles, weil Du mich liebst, und das ist entsetzlich, es wäre besser, sofort ein Ende zu machen, indem wir uns ins Wasser stürzen mit einem Stein am Halse.«

Sie antwortete nicht, nur ihre ehrlichen Augen redeten eine heiße Sprache und sagten ihm deutlich, daß sie gern in dieser Stunde sterben würde, wenn es mit ihm wäre.

»Und wenn ich nun heute nacht plötzlich sterben würde, was würde dann morgen geschehen? Würdest Du den Schrank ausräumen, würdest Du die Schubladen leeren, würdest Du einen großen Haufen von allen meinen Werken machen und sie verbrennen? Ja, nicht wahr? Weißt Du aber, daß das ein wirklicher Mord wäre, wie wenn Du jemand erschlügest? Und welche abscheuliche Niederträchtigkeit, die Gedanken zu töten!«

»Nein!« sagte sie mit dumpfer Stimme, »das Schlechte töten, es verhindern, sich auszubreiten und sich zu vermehren!«

Alle ihre Auseinandersetzungen brachten sie beide nur noch mehr in Wut. Und es gab schreckliche Scenen. Eines Abends, als die alte Frau Rougon gerade zu einem solchen Streite gekommen war, blieb diese allein mit Pascal, nachdem sich Clotilde in ihr Zimmer geflüchtet hatte. Eine Zeit lang herrschte tiefes Schweigen.

Trotz der betrübten Miene, die sie angenommen hatte, leuchtete doch in der Tiefe ihrer funkelnden Augen eine geheime Freude.

»Aber euer armes Haus ist ja eine Hölle!« rief sie endlich.

Der Doktor suchte durch eine Handbewegung einer Antwort auszuweichen. Er hatte immer gefühlt, daß seine Mutter hinter dem jungen Mädchen stand, daß sie in Clotilde den Glaubenseifer immer mehr aufstachelte und daß sie diesen Gärungsstoff benützte, um in seinem Hause Unfrieden zu stiften. Er gab sich in dieser Beziehung keinen Illusionen hin, er wußte ganz genau, daß sich die beiden Frauen während des Tages gesehen hatten, und daß er dieser Zusammenkunft, bei der jedenfalls auf schlaue Weise das Gift dem jungen Mädchen eingeimpft worden war, die furchtbare Scene verdankte, unter deren Nachwirkung er noch zitterte. Ohne Zweifel war seine Mutter nur gekommen, um den Schaden festzustellen und nachzusehen, ob man noch nicht bald an die Lösung käme.

»Das kann nicht mehr so fortgehen,« begann sie von neuem. »Warum trennt ihr euch denn nicht, da ihr euch nicht mehr versteht? Du solltest sie zu ihrem Bruder Maxime schicken, der mir in den letzten Tagen geschrieben und sie dringend für sich gefordert hat.«

Er hatte sich wieder gefaßt und seine gewöhnliche Energie wieder erlangt, wenn er auch noch sehr blaß aussah.

»Uns in Unfrieden trennen! Ach, nein, nein! Das würde uns für immer Gewissensbisse verursachen, das wäre eine unheilbare Wunde! Wenn sie eines Tages fort muß, so will ich, daß wir uns auch weit von einander getrennt lieben ... Aber warum fortgehen? Wir beklagen uns ja nicht, weder der eine noch der andere.«

Felicité fühlte, daß sie sich etwas übereilt hatte.

»Ohne Zweifel hat niemand, wenn es euch gefällt, euch zu zanken, etwas hineinzureden ... Allein, mein armer Freund, erlaube mir, in diesem Falle Dir zu sagen, daß ich Clotilden ein wenig recht gebe. Du zwingst mich, Dir zu gestehen, daß ich sie vorhin gesehen habe; ja, es ist besser, daß Du es weißt, trotzdem daß ich versprochen habe, es zu verschweigen. Nun also, sie ist nicht glücklich, sie beklagt sich sehr, und Du kannst Dir denken, daß ich sie ausgescholten, daß ich ihr vollen Gehorsam gepredigt habe ... Das hindert mich jedoch nicht, Dir zu sagen, daß ich Dich ganz und gar nicht verstehe, und der Ansicht bin, daß Du alles thust, um nicht glücklich zu sein.«

Sie hatte sich in einer Ecke des Saales niedergelassen und ihn dadurch gezwungen, sich auch zu setzen; sie schien sehr froh darüber zu sein, ihn endlich einmal allein zu haben, ganz in ihrer Gewalt. Schon mehreremale hatte sie auf diese Weise versucht, ihn zu einer Unterredung zu zwingen, der er auswich. Obgleich sie ihn schon seit Jahren quälte und obgleich er sie durch und durch kannte, blieb er doch der ehrerbietige Sohn; er hatte sich geschworen, niemals aus dieser respektvollen Haltung herauszugehen. Und seitdem sie immer auf gewisse Dinge zu sprechen kam, hüllte er sich auch in vollständiges Stillschweigen.

»Ich begreife ja vollkommen,« fuhr sie fort, »daß Du Clotilden nicht nachgeben willst, aber mir? Wenn ich Dich nun flehentlich bitte, mir diese fürchterlichen Akten zu opfern, die dort in jenem Schranke sind! Nimm nur einmal an, Du würdest plötzlich sterben und diese Papiere fielen in fremde Hände: wir wären ja alle entehrt ... Und das wirst Du doch gewiß nicht wünschen, nicht wahr? Was ist also Deine Absicht? Warum hältst Du so eigensinnig an einem so gefährlichen Spiele fest? Versprich mir, sie zu verbrennen!«

Er schwieg eine Zeit lang, endlich aber antwortete er:

»Liebe Mutter, ich habe Sie schon oft darum gebeten, niemals darüber zu sprechen ... Ich kann Sie nicht zufrieden stellen.«

»Aber so gib mir doch endlich einen vernünftigen Grund an!« rief sie. »Man konnte ja wahrhaftig sagen, daß Dir unsere Familie ebenso gleichgiltig ist wie die Rinderherde, die dort unten vorüberzieht. Und Du gehörst doch dazu. O, ich weiß. Du thust alles, um nicht dazu zu gehören. Ich selbst wundere mich zuweilen und frage mich, wie Du darüber so ruhig sein kannst. Und es ist um so häßlicher von Dir, daß Du Dich dazu hergibst, unseren Namen zu beflecken, weil Du nicht einmal von dem Gedanken an den Kummer, den Du mir, mir, Deiner Mutter, bereitest, davon zurückgehalten wirst ... Das ist einfach schlecht gehandelt.«

Das empörte ihn, und er gab einen Augenblick dem Drange, sich zu verteidigen, nach, trotz seiner Absicht, zu schweigen.

»Sie sind hart, Sie haben unrecht ... Ich habe immer an die Notwendigkeit, an die absolute Wirksamkeit der Wahrheit geglaubt. Es ist wahr, ich sage alles über mich und über die anderen; und das thue ich, weil ich fest glaube, daß ich, indem ich alles sage, das einzig Richtige thue ... Ueberdies sind diese Akten gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt; sie bestehen nur aus privaten Aufzeichnungen, von denen es mir Schmerz verursachen würde, mich zu trennen. Und dann weiß ich sehr wohl, daß es nicht diese Notizen allein sind, die Sie verbrennen wollen: alle meine anderen Arbeiten würden ebenfalls ins Feuer geworfen, nicht wahr? Und das will ich nicht, hören Sie, das will ich nicht, hören Sie! Niemals, so lange ich lebe, wird man hier auch nur eine einzige Zeile Geschriebenes vernichten!«

Aber er bedauerte schon, so viel gesprochen zu haben, denn er sah, wie sie ihm wieder zusetzte, wie sie ihn drängte und zu der grausamen Erklärung brachte.

»So komm jetzt endlich zum Ziele und sage mir, was Du uns vorwirfst ... Ja, mir zum Beispiel, was wirfst Du mir vor? Dazu habe ich euch doch nicht mit so viel Mühe aufgezogen! Ach, es hat lange gedauert, bis wir das Glück erobert haben! Wenn wir jetzt ein wenig Glück genießen, so haben wir es hart erkämpft. Da Du alles gesehen hast und da Du alles in Deine Papierwische dort eintrügst, so wirst Du bezeugen können, daß die Familie anderen mehr Dienste geleistet hat, als ihr geleistet worden sind. Ohne uns hätte Plassans schon zweimal in der Patsche gesessen. Und es ist ganz natürlich, daß heute, da wir nur Undank und Neid geerntet haben, die ganze Stadt über einen Skandal entzückt wäre, der uns mit Kot bespritzen würde ... Du kannst dies nicht wollen, und ich bin gewiß, daß Du meiner würdigen Haltung seit dem Sturze des Kaiserreiches und seit den Unglücksfällen, von denen sich Frankreich ohne Zweifel niemals wieder erholen wird, Gerechtigkeit widerfahren lässest!«

»Lassen Sie doch Frankreich in Ruhe, liebe Mutter!« sagte er; sie hatte damit wieder einen der Punkte berührt, in denen er, wie sie wußte, sehr empfindlich war. »Frankreich hat ein schweres Dasein, und ich finde, daß es im besten Zuge ist, die Welt in Erstaunen zu setzen durch die Schnelligkeit seiner Wiedergenesung. Gewiß, es gibt viel faule Elemente. Ich habe sie nicht verhüllt, ja, ich habe sie vielleicht zu sehr ans Licht gezogen. Aber Sie verstehen mich nicht, wenn Sie sich einbilden, daß ich an den schließlichen Zusammenbruch glaube, wenn ich die Wunden und Schäden zeige. Ich glaube an das Leben, welches ohne Aufhören die schädlichen Elemente ausscheidet, welches neues Fleisch schafft, um die Wunden zu schließen, welches trotz allem zur Gesundheit und zur ununterbrochenen Erneuerung durch Schmutz und Tod hindurch fortschreitet.«

Er war in heftige Erregung geraten, er war sich dessen bewußt, machte eine zornige Bewegung und sprach kein Wort mehr. Seine Mutter hatte zu Thränen ihre Zuflucht genommen, kleinen, kurzen, mühsam herausgepreßten Thränen, die sofort trockneten. Und sie kam auf die Befürchtungen zurück, mit denen sie sich ihr Alter verbitterte, und auch sie bat ihn flehentlich, seinen Frieden mit Gott zu machen, wenigstens aus Rücksicht für die Familie. Gäbe sie denn nicht ein Beispiel von Mut? Ganz Plassans, das Viertel von Saint-Marc, das alte Viertel und die neue Stadt, zollten sie nicht ihrer edlen Haltung alle Ehre? Sie beanspruchte einzig und allein unterstützt zu werden, sie forderte von ihren Kindern nur die gleichen Bemühungen, denen sie sich unterzog. Sie führte auch das Beispiel von Eugen an, des bedeutenden Mannes, der, von seiner Höhe herabgestürzt, sich damit begnügte, ein einfacher Deputirter zu sein, bis zu seinem letzten Atemzuge das entschwundene Regime verteidigend, dessen Ruhm er stets hochgehalten hatte. Sie war auch des Lobes voll für Aristide, der niemals verzweifelte, der sich unter dem neuen Regime eine ganz schöne Stellung wiedererobert hatte trotz der ungerechten Katastrophe, die ihn einen Augenblick unter den Trümmern der Union universelle begraben. Und er, Pascal, er wollte allein zurückbleiben, er wollte nichts thun, damit sie in Frieden sterben könnte, in der Freude des schließlichen Triumphes der Rougons? Er, der so klug, so zartfühlend, so gut wäre! Nein, das wäre unmöglich! Er sollte nächsten Sonntag in die Messe gehen und jene elenden Papiere verbrennen; schon der bloße Gedanke an diese mache sie krank! Sie bat ihn, sie befahl, sie drohte. Aber er antwortete gar nicht mehr, er blieb ruhig, unbesiegbar in seiner sehr unterwürfigen Haltung. Er wollte keinen Streit, er kannte sie zu gut, um hoffen zu können, sie zu überzeugen, und um wagen zu können, die Vergangenheit mit ihr zu erörtern.

»Ach!« rief sie, als sie merkte, daß er unerschütterlich war. »Du gehörst nicht zu uns, ich habe es immer gesagt. Du entehrst uns!«

Er verneigte sich.

»Liebe Mutter, Sie werden sich noch besinnen, Sie werden mir verzeihen.«

An diesem Tage ging Felicité ganz außer sich fort; und als sie Martine an der Hausthüre traf vor den Platanen, erleichterte sie ihr Herz, ohne zu wissen, daß Pascal, der gerade in sein Zimmer gegangen war, dessen Fenster offen standen, alles mit anhörte. Sie machte ihrem Grolle Luft und schwor, daß sie trotz allem wiederkommen würde, um sich der Papiere zu bemächtigen und sie zu vernichten, da er sie nicht selbst zum Opfer bringen wollte. Was den Doktor aber geradezu erstarren machte, das war die Art und Weise, wie Martine sie mit halblauter Stimme zu beruhigen suchte. Sie war augenscheinlich eine Mitverschworene; sie wiederholte, daß man ruhig abwarten müsse, daß man nichts übereilen dürfe, daß das Fräulein und sie geschworen hätten, mit dem Doktor fertig zu werden, indem sie ihm keine ruhige Stunde mehr ließen. Dazu hätten sie sich eidlich verpflichtet, man würde ihn mit dem lieben Gott versöhnen, da es ganz unmöglich wäre, daß solch ein heiliger Mann wie der Herr Doktor ohne Religion bliebe. Und die Stimmen der beiden Frauen wurden immer leiser und waren bald nichts als ein unverständliches Flüstern, ein ersticktes Gemurmel von Klatscherei und Verschwörung, von dem er nur noch vereinzelte Worte auffing, gegebene Befehle, getroffene Maßregeln, alles zur Beschränkung seiner persönlichen Freiheit.

Als seine Mutter endlich fortging, sah er ihr nach, wie sich ihre zarte, mädchenhafte Gestalt mit leichten Schritten, innerlich sehr befriedigt, entfernte.

Das war für ihn eine Stunde der Mutlosigkeit, der vollständigsten Verzweiflung. Pascal hatte sich auf einen Stuhl niederfallen lassen und fragte sich, zu welchem Zwecke er denn stritte, da ja die einzigen, die er liebte, sich gegen ihn verbunden hatten. Diese Martine, die für ihn durchs Feuer gegangen wäre auf ein Wort von seiner Seite hin und die ihn jetzt verriet zu seinem Besten! Und Clotilde, die im Bunde mit der Haushälterin an allen Ecken Verschwörungen anstiftete und sich von ihr helfen ließ, ihm Schlingen zu legen! Jetzt war er ganz allein, er hatte um sich nur Verräterinnen, man vergiftete ihm sogar die Luft, die er atmete. Diese beiden, die ihn liebten, würde er vielleicht schließlich noch mürbe gemacht haben; aber seitdem er wußte, daß seine Mutter hinter ihnen stand, erklärte er sich ihre Erbitterung und hoffte nicht mehr darauf, sie für sich wieder zu gewinnen. In seiner Schüchternheit als Mann, der nur dem Studium gelebt hatte, fern von den Frauen trotz seiner Leidenschaftlichkeit, entmutigte ihn der Gedanke, daß sie gleich zu dreien ihn ihrem Willen unterthan machen wollten. Es war ihm immer, als ob eine von ihnen hinter ihm stünde; wenn er sich in sein Zimmer einschloß, so glaubte er sie an der andern Seite der Wand, und sie kamen oft zu ihm und hielten ihn dadurch in der fortwährenden Furcht, seiner Gedanken beraubt zu werden, wenn er sie in sein Gehirn sehen ließe, selbst noch bevor er diese Gedanken formulirt hatte.

Das war entschieden die Epoche seines Lebens, wo sich der Doktor Pascal am unglücklichsten fühlte. Der fortwährende Verteidigungszustand, in dem er leben mußte, erschöpfte ihn vollständig, und es schien ihm immer, als ob der Boden seines Hauses unter seinen Tritten schwankte. Er bedauerte dann aufrichtig, nicht verheiratet zu sein und keine Kinder zu haben. Hatte er selbst etwa Furcht vor dem Leben gehabt? War er nicht bestraft für seinen Egoismus? Das Bedauern, kein Kind zu haben, quälte ihn zuweilen; er hatte manchmal von Thränen feuchte Augen, wenn er auf der Straße kleine Mädchen traf, die ihn mit hellen Augen anlachten. Clotilde war zwar da, aber das war doch eine ganz andere Liebe, die jetzt gerade von Stürmen erschüttert war, das war keine so ruhige Liebe, keine so unendlich zarte wie die Kindesliebe, in der sein zerrissenes Herz hätte ausruhen können. Dann wäre das da, was er wollte, wenn er das Ende seines Seins kommen fühlte, das Kind, das ihn fortgesetzt hätte. Je mehr er litt, um so mehr würde er bei seinem Glauben an das Leben Trost darin gefunden haben, das Leiden zu vererben. Er fühlte sich frei von den physiologischen Fehlern der Familie; aber selbst der Gedanke, daß die Vererbung oftmals eine Generation übersprang und daß bei einem von ihm erzeugten Sohne die Fehler der Großeltern sich wieder zeigen könnten, schreckten ihn nicht zurück, und diesen noch unbekannten Sohn wünschte er sich an gewissen Tagen trotz des alten angefaulten Stammes, trotz der langen Reihe scheußlicher Eltern, wie man sich einen unverhofften Gewinn, einen so selten eintretenden Glücksfall wünscht, der für immer tröstet und bereichert. Bei der Erschütterung seiner anderen Gefühle blutete sein Herz, da es zu spät war.

In der dumpfen Schwüle der Septembernacht konnte Pascal keinen Schlaf finden. Er öffnete eines der Fenster seines Zimmers; der Himmel war schwarz, in der Ferne mußte ein Gewitter vorüberziehen, denn man hörte ununterbrochenes Donnerrollen. Er unterschied kaum die dunkle Masse der Platanen, welche auf Augenblicke in der Dunkelheit durch fahlgrüne Streiflichter erhellt wurden. Seine Seele war erfüllt von einer furchtbaren Traurigkeit; er durchlebte noch einmal die letzten schlimmen Tage, alle die Klagen, die Qualen des Verrats und Argwohns, die immer großer wurden, als mit einemmale ein schrecklicher Gedanke ihn jäh erzittern ließ. In der Angst, beraubt zu werden, hatte er immer den Schlüssel des großen Schrankes bei sich getragen. An diesem Nachmittag hatte er aber wegen der großen Hitze seine Weste ausgezogen, und er erinnerte sich jetzt, gesehen zu haben, wie Clotilde die Weste von dem Nagel in dem Saale herunternahm. Das war der Schrecken, der ihn jäh durchfuhr. Wenn sie den Schlüssel in der Tasche gefühlt hatte, hatte sie ihn auch geraubt. Er stürzte nach der Weste hin und durchsuchte sie, nachdem er sie auf einem Stuhle ausgebreitet hatte. Der Schlüssel war nicht mehr da. Und gerade in demselben Momente, wo er die Entdeckung machte, beraubte man ihn. Es schlug zwei Uhr morgens; er zog sich nicht erst wieder an, er blieb einfach in den Hosen, die bloßen Füße in den Pantoffeln, die Brust nackt unter dem nachlässig übergeworfenen Nachthemd, und heftig stieß er die Thür auf und sprang in den Saal, den Leuchter in der Hand.

»Ach, ich wußte es!« rief er. »Räuberin! Mörderin!«

Und es war richtig, Clotilde war da, gekleidet wie er, die Füße nackt in den Hausschuhen, die Beine nackt, die Arme nackt, die Schultern nackt, kaum bedeckt von einem kurzen Jäckchen und ihrem Hemd. Aus Klugheit hatte sie kein Licht mitgebracht, sie hatte sich damit begnügt, die Läden eines Fensters aufzuschlagen; und das Unwetter, welches in der gegenüberliegenden Himmelsrichtung, im Süden, vorüberzog an dem dunklen Firmamente, die fortwährenden Blitze, die die Gegenstände in einem bläulichen Lichte badeten, genügten ihr. Der alte Schrank mit den breiten Seitenwänden war weit geöffnet. Schon hatte sie das oberste Fach geleert; die Aktenstücke mit beiden Händen herunternehmend, warf sie sie auf den in der Mitte stehenden Tisch, wo sie sich in buntem Durcheinander aufhäuften. Und in fieberhafter Aufregung, aus Furcht, sie möchte nicht die Zeit haben, alles zu verbrennen, war sie gerade dabei, Pakete aus den Aktenstücken zu machen, in der Absicht, sie zu verbergen um sie später ihrer Großmutter zu schicken, als der plötzliche Lichtschein sie voll beleuchtete und in ihrer erstaunten und kampfbereiten Stellung unbeweglich verharren ließ.

»Du beraubst mich und Du tötest mich!« wiederholte Pascal wütend.

In ihren nackten Armen hielt sie noch eines der Aktenbündel. Er wollte es ihr entreißen. Aber sie umklammerte es mit allen ihren Kräften, in ihrem Zerstörungswerk hartnäckig, ohne Verlegenheit, ohne Reue, wie eine Kämpfende, die das gute Recht für sich hat.

Da stürzte er sich in blinder Wut, einer ruhigen Ueberlegung beraubt, auf sie, und sie rangen mit einander. Er hatte sie in ihrer Nacktheit umfaßt, er mißhandelte sie.

»Töte mich doch,« stammelte sie. »Töte mich, oder ich zerreiße alles!«

Aber er hielt sie fest an sich gedrückt in einer so rohen Umschlingung, daß sie nicht mehr atmen konnte.

»Wenn ein Kind stiehlt, so züchtigt man es!«

Einige Blutstropfen waren an ihrer runden Schulter bei der Achselhöhle, wo eine Quetschung ihre seidenweiche Haut geritzt hatte, sichtbar geworden. Einen Augenblick fühlte er, wie sie, die einer Göttin glich, mit ihrem wundervollen jungfräulichen Körper, ihren schlanken Beinen, ihren biegsamen Armen, ihrer zarten Brust und dem feinen und festen Halse, schmerzlich aufseufzte, so daß er sie etwas freiließ. Mit einer letzten Kraftanstrengung entriß er ihr dann das Aktenbündel.

»Und Du wirst mir helfen, sie wieder dort hinaufzulegen, Donnerwetter! Komm hierher! Du fängst sofort an, sie auf dem Tische zu ordnen ... Du mußt mir gehorchen, hörst Du?«

»Ja, Meister!«

Sie trat an den Tisch heran, sie half ihm, gezähmt, gebrochen durch diese Umarmung eines Mannes, die ihr wie in das Fleisch gedrungen war. Das Licht, das mit einer hohen Flamme in der schwülen Nacht brannte, beleuchtete sie beide; und das ferne Rollen des Donners ließ nicht nach, das offene Fenster schien bei dem Unwetter wie im Feuer zu stehen.


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