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Zweiter Band.

Achtes Kapitel.

Es folgte dann eine Zeit seligen Besitzens, eine glückliche Idylle. Clotilde war der Frühling, der Pascal noch so spät beim Niedergange seines Lebens erblühte. Sie brachte ihm Sonnenschein und Blumen in ihrem hochzeitlichen Gewande mit, und diese Jugend schenkte sie ihm nach dreißig Jahren seiner schweren Arbeit, als er schon müde war und gebrochen von dem Hinabtauchen in die menschlichen Gebrechen. Er lebte wieder auf unter ihren großen, klaren Augen, in dem Hauche ihres reinen Atems. Und bei diesem ewigen Wiederbeginn war noch der Glaube an das Leben, an die Gesundheit, an die Kraft.

An dem Morgen nach der Hochzeitsnacht kam Clotilde als die erste nicht früher denn um zehn Uhr aus dem Zimmer. Sie bemerkte die alte Martine wie angewurzelt mitten in dem Arbeitssaal stehen mit erregtem Gesichte. Am vorhergehenden Abend hatte der Doktor, als er dem jungen Mädchen gefolgt war, die Thüre offen stehen lassen, und die Haushälterin hatte soeben, nachdem sie ungehindert eingetreten war, entdeckt, daß sogar das Bett noch ganz unberührt da stand. Dann hatte sie mit Verwunderung vernommen, wie der Klang der Stimmen aus dem andern Zimmer herausdrang. Ihr Erstaunen war ein derartiges, daß sie davon ganz verwirrt wurde.

Und Clotilde rief ihr heiter und strahlend vor Glück in einem Ausbruch außerordentlicher Fröhlichkeit, der sie ganz mit sich fortriß, zu:

»Martine, ich gehe nicht fort! Der Meister und ich, wir haben uns geheiratet!«

Bei diesen Worten taumelte die alte Haushälterin entsetzt zurück. Ein furchtbarer Schrecken, ein tiefer Schmerz ließ ihr altes, abgelebtes Gesicht erbleichen in nonnenhafter Entsagung unter ihren weißen Haaren. Sie äußerte kein Wort, sie drehte sich einfach um und ging hinunter, wo sie in einer Ecke der Küche fassungslos zusammenbrach und, die Arme auf den Hackklotz gelegt, zwischen ihren gefalteten Händen angstvoll stöhnte und weinte.

Clotilde war ihr beunruhigt und trostlos gefolgt und versuchte, ihr die Sache begreiflich zu machen und sie zu trösten.

»Aber bist Du denn toll? Was faßt Dich denn an? Der Meister und ich, wir werden Dich ebenso lieb wie bisher haben und Dich immer bei uns behalten ... Du wirst gewiß nicht unglücklich sein, weil wir uns geheiratet haben. Im Gegenteil, das Haus wird jetzt vom Morgen bis zum Abend von Lust und Fröhlichkeit widerhallen.«

Aber Martine jammerte nur immer stärker und trostloser.

»So antworte mir doch wenigstens! Sage mir, warum Du betrübt bist und warum Du weinst! Es macht Dir also kein Vergnügen zu wissen, daß der Meister so glücklich ist, so sehr glücklich! Ich werde ihn rufen, den Meister, und er wird Dich schon zwingen, eine Antwort zu geben.«

Auf diese Drohung sprang die alte Haushälterin sofort auf und eilte in ihre Kammer, die sich in die Küche öffnete; und sie warf die Thüre wütend und heftig zu und schloß sich ein. Vergebens rief, klopfte und suchte Clotilde auf alle mögliche Weise eine Antwort zu erhalten.

Auf den Lärm hin kam Pascal endlich herunter.

»Nun, was gibt es denn?«

»Ach, dieser Starrkopf, die alte Martine! Denke Dir nur, sie fing an zu jammern und zu weinen, als sie unser Glück erfahren hatte. Jetzt hat sie sich in ihrem Zimmer verbarrikadirt und gibt keinen Laut von sich .«

Sie rührte sich in der That nicht. Pascal rief und klopfte nun seinerseits. Bald wurde er hitzig, bald bat er. Dann fingen sie, eines nach dem andern, von neuem an. Aber keine Antwort erfolgte, Totenstille herrschte in dem kleinen Räume. Und er sah sie vor sich, diese kleine Kammer in ihrer übertriebenen Sauberkeit mit dem Waschtisch und dem harten, von weißen Vorhängen umrahmten Bett. Ohne Zweifel hatte sich die alte Haushälterin auf dieses Bett, in dem sie ihr ganzes langes Leben hindurch allein geschlafen, geworfen und ihr Gesicht in das Kopfkissen vergraben, um ihre Seufzer zu ersticken.

»Ah, um so schlimmer für sie, daß sie schmollt!« sagte endlich Clotilde in dem Egoismus ihrer Freude.

Dann reichte sie Pascal ihre beiden warmen Hände und hob das reizende Gesicht, aus dem noch das ganze heiße, leidenschaftliche Verlangen sich hinzugeben, sein Eigentum zu sein, sprach, zu ihm empor:

»Du weißt noch nicht, Meister, daß ich es bin, die Dich heute bedienen wird.«

Er küßte sie in dankbarer Rührung auf die Augen, und sofort machte sie sich daran, das Frühstück zu bereiten, und brachte dabei die ganze Küche in Unordnung. Sie hatte eine große blaue Schürze umgebunden; sie sah reizend aus, wie zu einer großen Arbeit hatte sie die Aermel weit zurückgeschlagen, so daß ihre zarten Arme sichtbar waren. Koteletten waren schon zurecht gemacht, die sie ordentlich braten ließ. Sie fügte noch Rühreier hinzu, und auch die Bratkartoffeln gelangen ihr vortrefflich. Es war ein ausgezeichnetes Frühstück, das wohl zwanzigmal durch ihren Eifer unterbrochen wurde. Bald eilte sie hinaus, um Brot zu holen oder Wasser, bald brachte sie noch eine vergessene Gabel herbei. Wenn er es geduldet hätte, so würde sie niedergekniet sein, um ihn zu bedienen. Ah, wie herrlich war es, allein zu sein, nur zu zweien in diesem großen, angenehmen Hause zu leben, fern von der Welt, und die Freiheit zu haben, zu lachen und sich in friedlicher Stille lieben zu können!

Den ganzen Nachmittag beschäftigten sie sich mit der Haushaltung; sie fegten aus, sie machten das Bett. Er hatte ihr dabei helfen wollen. Es war ein lustiges Spiel, und sie amüsirten sich dabei wie zwei lachende Kinder. Von Zeit zu Zeit gingen sie indessen wieder einmal an die Thüre der alten Martine und klopften. Es war zu toll! Sie würde doch nicht etwa gar die Absicht haben, Hungers zu sterben! Hatte man wohl schon jemals einen solchen thörichten Eigensinn gesehen, wo doch niemand ihr etwas gethan oder gesagt hatte? Aber das Klopfen tönte immer dumpf wieder in der Totenstille des Zimmers.

Als der Abend niedersank, mußten sie sich wieder ihr Essen selbst zubereiten, das sie dann, dicht an einander geschmiegt, von demselben Teller verzehrten. Bevor sie zu Bett gingen, machten sie noch einen letzten Versuch bei der alten Martine und drohten, die Thür aufzubrechen, ohne daß ihr Ohr, das sie an das Schlüsselloch gelegt hatten, auch nur das leiseste Geräusch vernahm. Und als sie am folgenden Morgen nach dem Aufstehen herunterkamen, bemächtigte sich ihrer eine ernstliche Unruhe, als sie bemerkten, daß noch alles beim alten geblieben, die Thüre noch immer hermetisch verschlossen war. Es waren jetzt schon vierundzwanzig Stunden, daß die alte Haushälterin kein Lebenszeichen von sich gegeben hatte.

Als sie dann wieder in die Küche traten, aus der sie sich für einen Augenblick entfernt hatten, blieben Pascal und Clotilde vor Verwunderung wie angewurzelt stehen, da sie die alte Martine an ihrem Tische sitzend fanden, damit beschäftigt, den Ampfer für das Frühstück auszuputzen. Sie hatte ganz geräuschlos ihren Platz als Dienerin wieder eingenommen.

»Aber was hast Du denn eigentlich nur gehabt?« rief Clotilde. »Willst Du jetzt endlich sprechen?«

Sie hob ihr trauriges, vom Weinen verwüstetes Gesicht empor. Trotzdem lag eine gewisse Ruhe darüber ausgebreitet, und man sah darin nur das mürrische Alter in seiner Resignation. Mit einem unendlich vorwurfsvollen Blicke sah sie das junge Mädchen an. Dann beugte sie den Kopf wieder auf ihre Arbeit nieder, ohne ein einziges Wort zu sagen.

»Du bist also über uns erzürnt?«

Und da sie noch immer schwieg, mischte sich jetzt Pascal hinein.

»Du zürnst uns, meine gute Martine?«

Da sah die alte Haushälterin ihn an mit der gleichen Verehrung wie früher, als ob sie ihn lieb genug hätte, um alles zu tragen und trotz allem zu bleiben. Und endlich sagte sie:

»Nein, ich zürne niemand ... Der Meister ist frei, und alles ist gut und recht, wenn er zufrieden ist.«

Seitdem kam das neue Leben in Gang. Die fünfundzwanzig Jahre Clotildens, die so lange kindlich geblieben war, entfalteten sich jetzt zu einer vollen, herrlichen Liebesblume. Seitdem ihr Herz angefangen hatte, stürmisch zu klopfen, hatte der kluge junge Bursch, der sie bis jetzt gewesen war mit ihrem runden Kopfe und ihren kurzen lockigen Haaren, einer anbetungswürdigen Frau Platz gemacht, die ganz Weib war, die es liebt, geliebt zu werden. Ihr großer Reiz besaß trotz ihrer Gelehrsamkeit, die sie sich aufs Geratewohl durch ihre Lektüre angeeignet, noch ganz die jungfräuliche Naivität, als wenn ihr unbewußtes Verlangen nach Liebe sie das Geschenk ihres ganzen Seins, ihr völliges Aufgehen in dem Manne, den sie lieben würde, hatte aufbewahren lassen. Sie hatte sich gewiß ebenso aus Dankbarkeit und aus Bewunderung hingegeben wie aus Zärtlichkeit; sie war glücklich, ihn glücklich zu machen, und empfand eine herzliche Freude darüber, daß sie wie ein kleines Kind sich in seine Arme schmiegen konnte, daß sie für ihn ein Etwas war, das er anbetete, ein kostbares Gut, das er auf seinen Knieen küßte in überschwenglicher Verehrung. Von ihrer früheren Frömmigkeit war ihr noch die gläubige Hingabe in die Hände eines bejahrten und allmächtigen Meisters geblieben, aus dem sie ihren Trost und ihre Kraft schöpfte, indem sie sich über die sinnliche Wahrnehmung hinaus den frommen Schauer der gläubigen Seele bewahrte, die sie einst gewesen war. Aber vor allem bot sie in ihrer Liebesleidenschaft, so ganz Weib und so ohnmächtig, den köstlichen Fall, gesund und lustig zu sein, indem sie mit gutem Appetit aß, indem sie ein wenig von der Tapferkeit ihres Großvaters, des alten Soldaten, in sich trug und das Haus erfüllte mit dem frischen Dufte ihrer Haut und es belebte durch die biegsamen Bewegungen ihrer Glieder, durch die Grazie ihrer schlanken Gestalt, ihres schönen Halses, kurz durch ihren ganzen, lebenswarmen, göttergleichen Körper.

Und Pascal selbst war in der Liebe wieder schön geworden, von jener ernsten, reinen Schönheit eines Mannes, der sich unter seinen weißen Haaren die volle Manneskraft erhalten hatte. Sein Gesicht zeigte nicht mehr den schmerzlichen Ausdruck der Monate voller Kummer und Leid, die er soeben durchlebt hatte; er gewann seine gute Figur wieder, seine großen, lebhaften Augen, die noch so jugendlich ins Leben blickten, seine feinen Züge, aus denen die Güte lachte, während seine weißen Haare und sein weißer Bart immer dichter wurden und üppiger wie eine Löwenmähne, deren schneeige Wellen ihn verjüngten. Er hatte sich lange so gehalten in seinem Einsiedlerleben als fleißiger Arbeiter, frei von Lastern und Ausschweifungen, so daß er jetzt seine ganze, unbefriedigt gelassene Manneskraft wieder erwachen fühlte, und jetzt hatte er Eile, sie endlich zufrieden zu stellen. Dieses Erwachen versetzte ihn in einen wahren Taumel, das jugendliche Feuer brach sich Bahn in Bewegungen, in Ausrufen, in dem fortwährenden Bedürfnis, seine Kräfte zu vergeuden und zu leben. Alles wurde ihm wieder neu und reizend, das kleinste Stückchen des weiten Horizontes versetzte ihn in die höchste Verwunderung, und bei der einfachsten Blume brach er in lautes Entzücken über ihren Duft aus, ein alltägliches Wort der Zärtlichkeit, abgeschwächt durch den häufigen Gebrauch, rührte ihn bis zu Thränen wie eine ganz neue Erfindung des Herzens, die noch nicht von Millionen von Lippen entweiht worden war. Das »Ich liebe Dich« von Clotilde war für ihn ein so unendlich süßes Liebeswort, dessen überirdische Bedeutung niemand auf der Welt kannte und empfand, außer er ganz allein. Und mit der Gesundheit, mit der Schönheit lehrte in ihn auch der Frohsinn zurück, jener ruhige Frohsinn, den er früher seiner Liebe zum Leben verdankte und der jetzt seine Leidenschaft verklärte, und ebenso alle die Vernunftgründe, die ihn das bessere Leben wiederfinden ließen.

Sie beide, die Jugend in voller Kraft und die Kraft in voller Reife, beide so gesund, so froh und so glücklich, bildeten ein von Seligkeit strahlendes Paar. Während eines ganzen langen Monats schlossen sie sich ein, sie verließen nicht ein einzigesmal die Souleiade. Zuerst genügte ihnen sogar nur das Zimmer, jenes mit einem alten, mürbe gewordenen, gedruckten Kattunstoff von Hochorangefarbe austapezirte Zimmer mit seinen Möbeln im Empirestil, seinem gewaltigen, steifen Lehnstuhle und dem hohen, monumentalen Stehspiegel. Sie betrachteten mit Vergnügen die Pendule, auf der, an einen Stein von vergoldeter Bronze gelehnt, der lächelnde Amor auf die schlummernde Zeit herabblickte. War das nicht eine Anspielung? Sie scherzten zuweilen darüber. Es herrschte eine freundschaftliche Anhänglichkeit zwischen ihnen und den unbedeutendsten Gegenständen, jenem so traulichen, alten Trödelkram in diesem Zimmer, in dem schon andere vor ihnen geliebt hatten und in dem sie selbst zu dieser Stunde ihren Liebesfrühling verlebten. Eines Abends hatte sie in dem hohen Stehspiegel, wie sie versicherte, eine sehr hübsche Dame gesehen, die sich entkleidete, die sie aber gewiß nicht selbst gewesen war. Sie legte in ihrem Drange nach allem Phantastischen dieser Erscheinung viel Wert bei; auch sie würde einstmals nach hundert Jahren einer andern Verliebten am Abend vor einer seligen Nacht in dieser Weise erscheinen.

Er verehrte in seinem Entzücken dieses Zimmer, in dem er sie überall wiederfand, selbst in der Luft, die er darin atmete. Und er lebte jetzt ganz darin, er bewohnte jetzt nicht mehr sein eigenes, düsteres und eiskaltes Zimmer, aus dem er sich beeilte, so schnell wie möglich wieder herauszukommen wie aus einem dumpfigen Keller, in den seltenen Fällen, wo er es schaudernd betreten mußte.

Dann wurde der große Arbeitssaal der Raum, in dem sie sich mit Vorliebe aufhielten; er war voll von ihren Gewohnheiten und der Vergangenheit ihrer Liebe. Sie blieben den ganzen Tag über darin, aber arbeiteten dennoch gar nichts. Der große Schrank aus Eichenholz ruhte in Frieden, seine Thüren waren geschlossen. Ebenso verhielt es sich mit den Bücherschränken. Auf den Tischen lagen Papiere und Bücher in Menge herum, ohne daß man daran dachte, sie wegzuräumen. Wie junge Ehegatten lebten sie einzig und allein ihrer Leidenschaft, ohne Berücksichtigung ihrer früheren Beschäftigungen, ohne Berücksichtigung des Lebens. Die Stunden schienen ihnen zu kurz zu sein, um den Reiz des Beisammenseins recht genießen zu können. Oft saßen sie dicht aneinander geschmiegt auf dem großen alten Lehnstuhle und freuten sich über die Schönheit des hohen Plafonds, über dieses ihnen ganz gehörige Gebiet, ohne Luxus und ohne Ordnung, erfüllt von Dingen, die ihnen lieb waren, vom Morgen bis zum Abend in froher Stimmung infolge der zunehmenden Wärme der Aprilsonne. Als er, von Gewissensbissen geplagt, einmal wieder anfing, vom Arbeiten zu sprechen, umschlang sie ihn mit ihren biegsamen Armen und hielt ihn lachend fest, da sie nicht wollte, daß er sich durch zu vieles Arbeiten wieder krank machte.

Und unten, da liebten sie in gleicher Weise den Speisesaal, der so freundlich aussah mit seinen hellen, durch blaue Randleisten verzierten Wänden, mit seinen Möbeln aus altem Mahagoniholz, seinen großen Blumenpastellen und mit seinem Kronleuchter aus Kupfer, der immer glänzend geputzt war. Sie aßen dort mit gutem Appetit und verließen ihn nach jeder Mahlzeit nur, um wieder in ihre geliebte Einsamkeit hinaufzusteigen.

Dann später, als ihnen das Haus zu klein schien, hatten sie den Garten, die ganze Souleiade. Der Frühling stieg mit der Sonne, und der April fing an seinem Ende an, die Rosen aufblühen zu lassen. Und welche Freude bot dieses Besitztum, welches so gut mit Mauern abgeschlossen war, daß nichts von außerhalb sie stören konnte! Da saßen sie oft lange, in ihre Träumereien verloren, auf der Terrasse im Angesichte des ungeheuren Horizontes und blickten hinab auf den schattigen Lauf der Viorne und die Hügel von Sainte-Marthe, von den Felsenwänden der Seille bis zu den fernen Staubmassen des Thales von Plassans. Sie hatten dort keinen andern Schatten als den der beiden hundertjährigen Cypressen, die an den beiden Enden der Terrasse standen, wie zwei riesige grüne Wachskerzen, die man drei Meilen weit sehen konnte. Zuweilen stiegen sie den Abhang hinab, um das Vergnügen zu haben, die Riesenstaffeln wieder hinaufklettern zu können, wobei sie auch die kleinen, ohne Mörtel errichteten Mauern, die das Erdreich festhielten, erklommen, um nachzusehen, ob die dürftigen Oliven- und die elenden Mandelbäume Blüten trieben. Oefter auch machten sie köstliche Spaziergänge unter den feinen Nadeln des Fichtenwaldes, die alle bei den heißen Strahlen der Sonne einen betäubenden Harzgeruch ausatmeten. Ohne Unterbrechung wandelten sie die Wege auf und ab, an der Umfassungsmauer entlang, hinter der man nur von Zeit zu Zeit das knarrende Geräusch der Räder eines Wagens in dem Engweg von Fenouillères vernahm. Dann machten sie einen genußreichen Halt auf dem großen, freien Platze, der einstmals als Tenne gedient hatte. Dort sah man den ganzen Himmel, und sie liebten es, sich auf dem Boden ausgestreckt hinzulegen in der wehmütigen Erinnerung an ihre Thränen von einstmals, als ihre Liebe, ihnen selbst noch unbewußt, unter dem sternbesäten Firmament heiße Kämpfe ausfocht. Aber ihr bevorzugter Aufenthaltsort, zu dem sie schließlich immer nach den Spaziergängen ihre Zuflucht nahmen, das war der dichte Schatten der fünf Platanen, der sich damals mit einem zarten Grün färbte, einem Schleier ähnlich. Darunter bildeten die hohen Buchsbaumsträuche, die alten Wegeinfassungen des verschwundenen französischen Gartens eine Art Labyrinth, dessen Ende sie niemals fanden. Und der Wasserfaden der Fontäne, der ewige und reine zitternde Kristallstrahl, schien ihnen in ihren Herzen zu singen. Sie blieben dort sitzen in der Nähe des moosbewachsenen Bassins, sie ließen die Dämmerung hereinbrechen und sich nach und nach von dem schwarzen Schatten der Bäume einhüllen, Hand in Hand und Lipp' auf Lippe, während das Wasser, das sie nicht mehr sahen, seinen flötenartigen Gesang ohne Aufhören fortsetzte.

Bis Mitte Mai lebten Pascal und Clotilde so in stiller Abgeschlossenheit, ohne selbst die Schwelle ihres Zufluchtsortes zu überschreiten. Eines Morgens, als sie sich im Bette verspätet hatte, verschwand er und kam erst nach einer Stunde wieder; und als er sie noch im Bett vorfand, in reizender Unordnung mit nackten Armen und nackten Schultern, steckte er ihr zwei Brillanten in die Ohrläppchen, die er soeben in aller Eile gekauft hatte, da er sich erinnerte, daß der Jahrestag ihrer Geburt auf diesen Tag fiel. Sie liebte Schmucksachen, sie war überrascht und entzückt, sie wollte gar nicht mehr aufstehen, so schön fand sie sich in ihrer leichten Kleidung mit diesen Sternen an dem Rande ihrer Wangen.

Von diesem Tage an verging fast keine Woche, ohne daß er nicht ein- bis zweimal auf diese Art am Morgen verschwand, um stets irgend ein Geschenk bei seiner Rückkehr mitzubringen. Der geringste Vorwand war ihm dazu gut, ein Fest, ein Wunsch, eine einfache Freude. Er benützte diese Stunden der Trägheit und richtete es immer so ein, daß er wieder zurück war, bevor sie aufstand, damit er sie noch im Bett mit seinem Geschenk schmücken konnte. So erhielt sie nach und nach Ringe, Armspangen, Halsketten und ein zartes Diadem. Er holte stets auch die anderen Schmuckgegenstände herbei und machte sich ein Vergnügen daraus, sie ihr alle anzulegen unter Scherzen und Lachen beiderseits. Sie sah wie ein Götterbild aus; den Rücken gegen das Kopfkissen gelehnt, saß sie im Bette aufrecht da, beladen mit Gold: in ihren Haaren trug sie einen goldenen Reifen, Gold um ihre nackten Arme, Gold um ihren nackten Hals; ihre göttergleiche Nacktheit war von Gold und Edelsteinen überrieselt. Ihre weibliche Koketterie fühlte sich dadurch angenehm befriedigt; sie ließ sich auf den Knieen anbeten, indem sie sehr wohl fühlte, daß dies nur eine gesteigerte Form der Liebe war. Dennoch fing sie an, ihn ein wenig zu schelten und ihm weise Vorstellungen zu machen; denn im Grunde waren diese Geschenke sehr thöricht, da sie sie ja dann doch in den Schrank einschließen mußte, ohne sie jemals zu benützen, weil sie nirgends hinging. Sie gerieten in Vergessenheit nach der Stunde der Befriedigung und Anerkennung, die sie ihnen in ihrer Neuheit verschafft hatten. Aber er hörte nicht auf sie, da ihn eine wahre Schenkwut ergriffen hatte; er war vollständig unfähig, dem Drange zu widerstehen, einen Gegenstand zu kaufen, sobald ihm einmal der Gedanke gekommen war, ihr damit ein Geschenk zu machen. Es war eine Freigebigkeit des Herzens, das gebieterische Verlangen, ihr zu beweisen, daß er immer an sie dachte, ein Stolz, sie als die herrlichste, als die glücklichste, als die am meisten beneidete zu sehen; es lag in dieser Schenkwut endlich noch ein tieferes Gefühl, welches ihn dazu trieb, sich zu berauben und weder sein Geld, noch seinen Körper, noch sein Leben zu schonen. Und dann, welches Entzücken, wenn er glaubte, ihr ein wirkliches Vergnügen dadurch bereitet zu haben, wenn er sah, wie sie sich ihm an den Hals warf und ihm tief errötend durch viele heiße Küsse ihren Dank abstattete! Nach den Schmucksachen kamen Kleider und sonstige Putz- und Toilettegegenstände an die Reihe.

Eines Morgens mußte sie sich sehr ärgern. Er hatte ihr einen neuen Ring mitgebracht.

»Aber ich trage sie ja niemals! Und sieh, wenn ich sie alle anstecken wollte, dann würden meine Finger bis vorn an die Spitzen voller Ringe sein! Ich bitte Dich, sei vernünftig!«

Er war ganz bestürzt.

»So habe ich Dir damit kein Vergnügen gemacht?«

Sie mußte ihn in ihre Arme nehmen und ihm schwören, während ihr die Thränen in den Augen standen, daß sie sehr glücklich wäre. Er zeigte sich so gut, er machte sich nur ihretwegen diese großen Kosten!

Und als er an demselben Morgen davon zu sprechen wagte, er wolle das Zimmer neu herrichten, die Wände mit Stoff tapeziren und auf den Fußboden einen Teppich legen lassen, da bat sie ihn von neuem:

»O nein, nein! Bitte, nicht! Rühre nicht an mein altes Zimmer, das ganz voll von Erinnerungen ist, in dem ich groß geworden bin und in dem wir uns geliebt haben! Es würde mir vorkommen, als wenn wir nicht mehr zu Hause wären!«

In dem Hause verurteilte das eigensinnige Stillschweigen der alten Martine diese übertriebenen und unnötigen Ausgaben. Sie hatte eine weniger vertrauliche Haltung angenommen, als wenn sie seit der neuen Gestaltung der Dinge aus der Rolle einer Freundin und Stütze wieder in die alte Stellung eines einfachen Dienstboten zurückgesunken wäre. Namentlich Clotilde gegenüber hatte sie sich sehr verändert; sie behandelte sie wie eine junge Dame, wie eine Herrin, die man zwar weniger liebt, der man aber mehr gehorcht. Wenn sie das Schlafzimmer betrat, wenn sie sie beide im Bette bediente, so bewahrte ihr Gesicht seinen Ausdruck ergebener Unterwürfigkeit; sie betete zwar immer noch ihren Herrn an, war aber im übrigen gleichgültig. Zwei- oder dreimal erschien sie trotzdem am Morgen mit einem verstörten, in Thränen gebadeten Gesicht; ohne direkt auf die an sie gestellten Fragen zu antworten, sagte sie, es wäre gar nichts weiter, sie hätte sich nur etwas erkältet. Und sie machte niemals irgend eine Bemerkung über die Geschenke, mit denen sich die Schubladen anfüllten, ja, sie schien sie nicht einmal zu sehen, sie putzte sie und ordnete sie ohne ein Wort der Bewunderung oder des Tadels. Allein ihre ganze Person empörte sich gegen diese unsinnige Schenkwut, die ihr nicht in den Kopf wollte. Sie protestirte dagegen auf ihre Weise, indem sie ihre Sparsamkeit noch steigerte, die Kosten für die Haushaltung beschränkte und diese so streng und genau führte, daß sie das Mittel fand, selbst an den niedrigsten Ausgaben noch etwas abzuziehen. So nahm sie täglich ein Drittel Milch weniger und machte nur noch am Sonntag eine süße Zwischenspeise. Pascal und Clotilde wagten nicht, sich darüber zu beklagen, sondern lachten nur unter sich über diesen argen Geiz und fingen wieder mit ihren Spöttereien an, mit denen sie sich schon seit zehn Jahren vergnügten, indem sie sich erzählten, die alte Martine ließ die Gemüse, wenn sie Butter daran thäte, in einem Seiher dämpfen, damit sie die durchlaufende Butter unten wieder sammeln könnte.

Am Schlusse des Vierteljahres wollte sie diesmal Rechnung ablegen. Gewöhnlich ging sie selbst zu dem Notar Grandguillot und holte sich alle drei Monate die fünfzehnhundert Franken Zinsen, die sie dann nach ihrem Gutdünken verwendete, indem sie die Ausgaben in ein Buch einschrieb, welches der Doktor schon seit Jahren nicht mehr nachgesehen hatte. Diesmal brachte sie es ihm und forderte ihn auf, einen Blick hineinzuwerfen. Er wehrte sich dagegen und sagte, er fände alles richtig.

»Es geschieht nur, Herr Doktor,« sagte sie, »weil ich diesmal Geld beiseite legen kann, ja, dreihundert Franken ... Hier sind sie.«

Er sah sie etwas verwundert an. Für gewöhnlich glichen sich die beiden Seiten, die Einnahmen und die Ausgaben, gerade aus. Durch welches Wunder von Knauserei hatte sie es fertig gebracht, diesmal eine solche Summe zu ersparen? Er fing endlich an zu lachen.

»Ah, meine arme Martine, deswegen also haben wir so viele Kartoffeln zu essen bekommen! Du bist ein Wunder von Sparsamkeit, aber wirklich, Du könntest uns schon etwas mehr verwöhnen.«

Dieser versteckte Tadel verletzte sie so tief, daß sie sich zu einer Anspielung verleiten ließ.

»Nun wahrhaftig, Herr Doktor! Wenn auf der einen Seite so viel Geld zum Fenster hinausgeworfen wird, so thut man gut daran, auf der andern Seite vernünftig zu sein.«

Er verstand sie, wurde aber deswegen doch nicht böse, sondern amüsirte sich im Gegenteil über die Lektion. »Aha! Meine Ausgaben sind es also, die Du genau kontrollirst! Aber Du weißt doch, Martine, daß auch ich Ersparnisse habe, die unbenutzt da liegen!«

Er sprach von dem Gelde, das seine Patienten ihm zuweilen noch gaben und das er in eine Schublade seines Schreibtisches warf. Seit mehr als sechzehn Jahren legte er auf diese Weise jedes Jahr mehr als viertausend Franken hinein, und es würde sich schließlich dort wirklich ein kleiner Schatz von Gold und Scheinen in buntem Durcheinander angesammelt haben, wenn er nicht von Zeit zu Zeit, ohne zu rechnen, große Summen für seine Experimente und Einfälle davon weggenommen hätte. Alles Geld für die Geschenke kam aus dieser Schublade; er öffnete sie jetzt ohne Unterbrechung immer wieder. Uebrigens hielt er sie für unerschöpflich und hatte sich so daran gewöhnt, daraus zu entnehmen, was er nötig hatte, daß ihm die Furcht gar nicht kam, er könne jemals darin auf den Grund kommen.

»Man kann gut etwas von seinen Ersparnissen verwenden,« fuhr er heiter fort. »Da Du es bist, Martine, die immer zu dem Notar geht, so wirst Du ja auch ganz genau wissen, daß ich auch noch die Zinsen von meinem Vermögen habe.«

Darauf sagte sie mit der leisen Stimme der Geizigen, die immer von dem Schreckensbild eines drohenden Unglücks verfolgt werden:

»Und wenn Sie sie nun nicht mehr hätten?«

Pascal sah sie ganz verblüfft an und begnügte sich, ihr durch eine abweisende Geste zu antworten, denn die Möglichkeit eines Unglücks kam ihm gar nicht in den Sinn. Er glaubte, daß der Geiz der alten Martine den Kopf verdreht hätte, und machte sich am Abend darüber mit Clotilde lustig.

In Plassans bildeten die Geschenke natürlich auch einen willkommenen Stoff zu Klatschereien ohne Ende. Was auf der Souleiade vor sich ging, diese so heiße und eigentümliche Liebesleidenschaft, war ruchbar geworden; die Kunde davon hatte die Mauern überschritten, man wußte nicht genau wie, infolge der Ausbreitungskraft, die die Neugierde in den kleinen Städten nährt und immer wach erhält. Die alte Haushälterin sagte gewiß nichts, aber ihr Gesicht genügte vielleicht; Gerüchte schwirrten umher, man hatte die beiden Liebenden ohne Zweifel über die Mauer hinweg beobachtet und belauscht. Und der Kauf der Geschenke war dann noch hinzugekommen und hatte alles bewiesen, alles erhärtet. Wenn der Doktor am frühen Morgen durch die Straßen schritt und bei den Juwelieren, den Weißwarenhändlern und Modisten eintrat, dann richteten sich die Augen aus allen Fenstern auf ihn, seine unbedeutendsten Einkäufe wurden ausspionirt, und schon am Abend wußte es die ganze Stadt, daß er ihr wieder ein seidenes Kopftuch, mit Spitzen besetzte Hemden oder ein Armband mit Saphiren zum Geschenk gemacht hatte. Die Sache wurde endlich zum Skandal, dieser alte Onkel, der seine Nichte verführt hatte, der ihretwegen Thorheiten beging wie ein junger Mensch und sie wie die heilige Jungfrau schmückte. Die wunderbarsten Geschichten singen an zu zirkulären, und man zeigte sich beim Vorübergehen die Souleiade mit dem Finger.

Vor allen war es die alte Frau Rougon, die furchtbar in Zorn geriet. Sie hatte es aufgegeben, ihren Sohn zu besuchen, seitdem sie erfahren hatte, daß aus der Heirat Clotitdens mit Doktor Ramond nichts wurde. Man machte sich über sie lustig und ging auf keinen ihrer Wünsche ein. Nachdem dann ein Monat seit dem Bruche vorübergegangen war, in dessen Verlaufe sie nichts von den mitleidigen Mienen und den versteckten Beileidsbezeugungen bemerkt hatte, sollte sie jetzt plötzlich alles erfahren, ein Blitzstrahl aus heiterem Himmel. Und sie, die seit der Krankheit Pascals in fortwährender Angst schwebte, daß ihre Familie nicht wieder zum Stadtgespräch werden sollte, hatte in ihrem verletzten Stolze getobt! Das war diesmal sehr schlimm, der Höhepunkt des Skandals, über den man sich die Kehlen heiser reden würde! Von neuem war der Ruf der Rougons in Gefahr; ihr unglücklicher Sohn wußte entschieden nur Dinge anzustellen, die den so mühsam erworbenen Ruhm der Familie vernichteten. In zorniger Aufregung ergriff sie, die sich zur Hüterin dieses Ruhmes gemacht hatte, die entschlossen war, mit allen Mitteln den Ruf der Familie rein zu erhalten, ihren Hut und eilte hinaus auf die Souleiade mit der jugendlichen Lebhaftigkeit ihrer achtzig Jahre.

Es war um zehn Uhr morgens.

Pascal, der sich über den Bruch mit seiner Mutter freute, war glücklicherweise nicht anwesend, da er sich seit einer Stunde auf der Suche nach einer alten silbernen Schnalle befand, die er zu einein Gürtel verwenden wollte. Und Felicité traf Clotilde an, die, gerade mit der Beendigung ihrer Toilette beschäftigt, noch im Unterrocke war, mit aufgelösten Haaren frisch und heiter wie eine Rose.

Der erste Zusammenstoß war heftig. Die alte Dame schüttete ihr ganzes Herz aus; sie war auf das tiefste empört und sprach in leidenschaftlicher Erregung von der Religion und der Moral. Endlich schloß sie:

»Antworte mir! Warum habt ihr diese schreckliche Geschichte angestellt, die eine Herausforderung Gottes und der Menschen ist?«

Lächelnd, aber sonst sehr respektvoll hatte das junge Mädchen sie angehört.

»Weil es uns so gefallen hat, Großmama. Sind wir nicht frei? Wir sind keinem Menschen verpflichtet.«

»Ihr habt keine Pflichten! Also auch nicht gegen mich, gegen unsere Familie? Das ist wieder eine günstige Gelegenheit, uns in den Schmutz zu ziehen! Und glaubst Du vielleicht, daß mir das Vergnügen machen soll?«

Mit einemmale legte sich jedoch ihre Aufregung. Sie sah das junge Mädchen an und fand es anbetungswert. Im Grunde genommen überraschte sie das, was vorgefallen war, nicht besonders; sie spottete darüber und hatte nur den begreiflichen Wunsch, daß die Geschichte auf eine anständige Art und Weise schließen möchte, damit die bösen Zungen zum Schweigen gebracht würden. Und in versöhnlicher Stimmung rief sie:

»Dann heiratet! Warum heiratet ihr denn nicht?«

Clotilde blieb einen Augenblick vor Verwunderung stumm. Weder sie noch der Doktor hatten an die Heirat gedacht. Sie fing wieder an zu lachen.

»Werden wir dadurch glücklicher sein, Großmama?«

»Es handelt sich nicht um euch, es handelt sich auch diesmal wieder um mich und um alle die Unseren ... Wie kannst Du, mein liebes Kind, mit solch heiligen Dingen Scherz treiben? Hast Du denn Deine Scham verloren?«

Aber das junge Mädchen empörte sich nicht, sondern blieb immer sanft und machte eine Bewegung mit der Hand, wie um auszudrücken, daß sie sich ihres Vergehens nicht zu schämen brauche. Ach, mein Gott, wenn das Leben wirklich so viel Verderbtheit und Schwachheit mit sich führte unter dem leuchtenden Himmelszelte, was hätten sie dann Uebles gethan, wenn sie sich das große Glück bereitet hätten, einer dem andern anzugehören? Uebrigens blieb sie nicht eigensinnig bei ihrem Widerstände.

»Wir werden uns ohne Zweifel heiraten, da Du es wünschest, Großmama. Er wird thun, was ich will ... Aber später, es eilt nicht.«

Und sie bewahrte ihre heitere Ruhe. Da sie außerhalb der Welt lebten, warum sollten sie sich denn wegen der Welt beunruhigen?

Die alte Frau Rougon mußte sich mit dieser leeren Versprechung zufrieden geben und ging endlich fort. Von diesem Augenblicke ab gab sie sich den Anschein, als ob sie allen Verkehr mit der Souleiade, diesem Orte der Verderbnis und der Schande, abgebrochen hätte. Sie setzte niemals wieder den Fuß über die Schwelle ihres Sohnes und trug in edler Ergebung Trauer wegen dieser neuen Heimsuchung. Sie beruhigte sich aber dennoch nicht, sondern blieb immer auf der Lauer, bereit, den unbedeutendsten Vorfall zu benützen, den Schauplatz wieder zu betreten, mit jener zähen Ausdauer, die ihr noch immer zum Siege verholfen hatte.

Damals hörten Pascal und Clotilde auch auf, sich von allem abzuschließen. Es war von ihrer Seite keine Herausforderung gewesen, sie wollten nur den gemeinen Gerüchten nicht antworten, indem sie ihr Glück zur Schau stellten. Das bildete sich von selbst heraus wie eine natürliche Erweiterung ihrer Freude. Langsam hatte ihre Liebe das Bedürfnis nach Verbreiterung und Raum empfunden, zuerst außerhalb ihres Zimmers, dann außerhalb des Hauses, jetzt außerhalb des Gartens, in der Stadt und in der weiten Umgebung. Ihre Liebe erfüllte alles, sie war ihre Welt. Der Doktor machte also ruhig wieder seine Krankenbesuche und nahm das junge Mädchen mit, und sie gingen zusammen über die Promenade, durch die Straßen, sie an seinem Arme in einem hellen Kleide, auf dem Kopf einen mit Blumen geschmückten Hut, er in seinen Ueberzieher eingeknöpft und mit einem breiträndrigen Hute. Er war ganz weiß, sie war ganz blond. Sie schritten einher mit stolz erhobenem Haupte, ausrecht und lächelnd, so von Seligkeit und Glück strahlend, daß es den Anschein hatte, als ob sie von einem Glorienschein umgeben wären. Zuerst war die Aufregung riesig groß; die Ladenbesitzer traten an ihre Thüren, die Frauen beugten sich zum Fenster hinaus, die Vorübergehenden blieben stehen, um ihnen mit den Augen zu folgen. Man zischelte sich in die Ohren, man lachte, man zeigte mit den Fingern auf sie. Es war beinahe zu befürchten, daß diese Zeichen feindlicher Neugier die Straßenjungen aufmerksam machen und sie veranlassen könnten, mit Steinen nach den beiden zu werfen. Aber sie waren beide so schön, er stolz und triumphirend, sie so jung, so ergeben und doch so erhaben, daß eine unbesiegliche Nachsicht allmälich die Welt ergriff. Man konnte sich nicht enthalten, sie zu beneiden und zu lieben, man wurde angesteckt von dieser liebenswürdigen Zärtlichkeit. Es ging von ihnen ein solcher Zauber aus, daß er alle Herzen ihnen zuwendete. Die neue Stadt mit ihrer Bevölkerung von Beamten und reich gewordenen Privatleuten wurde zuletzt gewonnen. Das Viertel Saint-Marc zeigte sich trotz seiner übertriebenen Sittenstrenge zuvorkommend und von einer diskreten Duldsamkeit, als sie durch die einsamen, mit Gras bewachsenen Straßen dahinschritten an den alten, schweigsamen und verschlossenen Palästen entlang, aus denen ein Hauch leichtfertiger Liebesabenteuer von ehemals wehte. Und es war vor allem das alte Quartier, das sie bald darauf freudig begrüßte, das alte Quartier, dessen kleine Leute, geleitet von ihrem Instinkte, bald das Schöne an der Legende herausfühlten, den tiefsinnigen Mythus des Paares, wie das schöne, junge Mädchen den königlichen und wieder jung gewordenen Meister stutzte. Man betete dort den Doktor an wegen seiner Güte, und seine Begleiterin wurde rasch populär; man begrüßte sie mit Zeichen der Bewunderung und Lobeserhebung, sobald sie erschien. Sie selbst bemerkten jetzt, wenn sie sich auch den Anschein gegeben hatten, als ob sie nichts von der anfänglichen Feindseligkeit wahrgenommen, sehr gut die verzeihende Nachsicht und die zarte Freundschaft, mit denen man sie umgab, und das machte sie noch schöner: ihr Glück lachte durch die ganze Stadt.

Eines Nachmittags, als Pascal und Clotilde gerade um die Ecke der Rue de la Banne bogen, bemerkten sie auf der andern Seite der Straße den Doktor Ramond. Sie hatten schon am vorhergehenden Abend erfahren, daß er sich jetzt entschlossen hatte, Fräulein Lévêgue, die Tochter des Rechtsanwalts, zu heiraten. Das war jedenfalls das vernünftigste, was er thun konnte, denn das Interesse seiner Stellung erlaubte es ihm nicht, noch länger zu warten, und das junge Mädchen war sehr hübsch und sehr reich und liebte ihn. Er würde sie gewiß auch wieder lieben. Clotilde war ebenfalls sehr glücklich, ihm zulächeln und auf diese Weise als aufrichtige Freundin ihm Glück wünschen zu können. Pascal hatte ihn mit einer freundlichen Handbewegung begrüßt. Einen Augenblick blieb Ramond, den diese Begegnung etwas aufregte, betroffen stehen. Sein erster Gedanke war gewesen, über die Straße zu ihnen hinüber zu gehen. Dann mußte ihm aber der Gedanke gekommen sein und sein Zartgefühl ihm gesagt haben, daß es brutal sein würde, ihren Traum zu unterbrechen, störend einzudringen in diese Einsamkeit der beiden, die sie selbst in dem Gedränge auf den Trottoirs bewahrten. Er begnügte sich daher mit einem freundschaftlichen Gruße und einem Lächeln, durch das er ihnen ihr Glück verzieh. Das war für sie alle drei sehr angenehm.

In dieser Zeit arbeitete Clotilde mehrere Tage lang mit Eifer und großem Vergnügen an einem Pastellgemälde, auf dem sie die rührende Scene zwischen dem alten König David und der jungen Sunemitin Abisaig ins Leben rief. Es war eine Verwirklichung eines Traumbildes, eine jener phantastischen Kompositionen, in denen der andere Teil ihres Ichs, der sich in Hirngespinnste verlor, seinen Geschmack an dem Mystischen niederlegte. Auf einem Grund von ausgestreuten Blumen zeigte sich in einem Sternenregen von Blumen von barbarischer Pracht der alte König David en face, die Hand gelegt auf die nackte Schulter der Abisaig, und das bleiche, junge Mädchen war bis auf den Gürtel ganz nackt. Er, reich gekleidet in ein lang herabwallendes, mit Edelsteinen überladenes Gewand, trug die königliche Binde m seinen schneeweißen Haaren Aber sie war doch noch herrlicher und von göttlicher Anmut, obgleich sie nichts bedeckte als ihre lilienweiße Haut, wie Ende so weich, mit ihrer zarten, schlanken Gestalt, ihrer runden, kräftigen Brust, ihren biegsamen Armen. Er war der König, er stützte sich als mächtiger und geliebter Herr und Gebieter auf seine Unterthane, die ausgewählt war unter allen und die so stolz darauf war, auserlesen zu sein, so beglückt, dem Könige das belebende und erwärmende Blut ihrer Jugend weihen zu dürfen. Ihre ganze durchsichtige und triumphirende Nacktheit drückte die Reinheit ihrer demütigen Unterwerfung aus, die ruhige und voll ständige Hingabe ihrer Person vor dem versammelten Volke im hellen Lichte des Tages Und er war sehr groß und sie war sehr rein, und es ging von ihnen aus ein Glanz wie strahlendes Sternengefunkel.

Bis auf den letzten Augenblick hatte Clotilde die Gesichter der beiden Personen unausgeführt gelassen, als wenn es zwei weiße Flecke gewesen wären Pascal, der hinter ihr stand, neckte sie, da er wohl ahnte, was sie zu thun beabsichtigte. Und wie er vermutet hatte, so wurde es auch, als sie mit einigen Bleistiftstrichen die Gesichter ausführte: der alte König David war er, und sie war die Sunemitin Abisaig. Aber sie blieben eingehüllt in eine traumhafte Klarheit, sie waren idealisirt, er mit seinen schneeweißen, sie mit ihren blonden Haaren die sie wie ein kaiserlicher Mantel bedeckten, mit ihren verzückten Zügen, in denen die himmlische Seligkeit der Engel zum Ausdruck kam, mit einem Blick und einem Lächeln unsterblicher Liebe.

»Ah, Geliebte!« rief er, »Du machst uns zu schön! Du hast Dich da wieder einmal in das Land der Träume emporgeschwungen wie früher, Du erinnerst Dich gewiß noch daran, wie ich Dich tadelte, daß alle Deine Blumen mystische Hirngespinnste wären.«

Und er zeigte mit der Hand auf die Wände, an denen entlang sich ihre alten Pastellgemälde ausbreiteten, eine ungeschaffene Flora, die im Paradiese emporgesproßt war.

Aber sie protestirte lachend.

»Zu schön? Wir können gar nicht zu schön sein! Ich versichere Dich, so wie ich uns fühle, wie ich uns sehe, so sind wir auch ... Und sieh hierher! Ist das nicht die reine Wirklichkeit?«

Sie hatte die alte Bibel aus dem fünfzehnten Jahrhundert zur Hand genommen, die neben ihr lag, und zeigte ihm den naiven Holzschnitt.

»Wie Du siehst, ist es ganz ähnlich.«

Er fing an leise zu lachen bei dieser ruhigen und außerordentlichen Bestätigung.

»O, Du lachst! Du hältst Dich an Einzelheiten in der Zeichnung. Aber der Geist ist es, in den man eindringen muß ... Und sieh Dir die anderen Schnitte an, da ist es ebenfalls so! Ich werde Abraham und Hagar malen, ich werde Ruth und Boas malen, ich werde sie alle malen, die Propheten, die Hirten und die Könige, denen junge, demütige Mädchen, Verwandte und Dienerinnen, ihre Jugend zum Geschenk gemacht haben! Sie sind alle schön und glücklich, Du siehst es ja!«

Dann hörten sie auf zu lachen und beugten sich über die alte Bibel, deren Seiten sie mit ihren zarten Fingern umwendete. Er stand hinter ihr, und sein weißer Bart vermischte sich mit den blonden Haaren des jungen Mädchens. Er fühlte ihren warmen Körper und atmete entzückt den von ihr ausgehenden Duft ein. Er hatte seine Lippen auf ihren zarten Nacken gedrückt, er küßte ihre blühende Schönheit, während die naiven Holzschnitte fortfuhren, an ihnen vorüber zu ziehen, jene biblische Welt, die aus den vergilbten Blättern emporstieg, der freie Trieb einer starken, lebensvollen Rasse, deren Werk die Welt erobern mußte, jene Männer mit ihrer nie erlöschenden Manneskraft, jene immer fruchtbaren Frauen, jene beharrliche, ununterbrochene Fortpflanzung der Rasse durch Verbrechen, Ehebrüche und Liebesverhältnisse hindurch, ohne Rücksicht auf das Alter und die Vernunft. Und er wurde von einer Bewegung ergriffen, von einer Dankbarkeit ohne Grenzen, denn sein Traum hatte sich verwirklicht, seine Liebespilgerin, seine Abisaig war in sein Leben, das sich dem Ende zuneigte, eingetreten und verjüngte es und erfüllte es mit ihrem Dufte.

Dann beugte er sich zu ihrem Ohre hin und fragte sie mit ganz leiser Stimme, ohne sie von sich zu lassen:

»O, Deine Jugend, Deine Jugend, nach der ich so heißes Verlangen habe, sie ist es, die mich erhält! Aber Du, die Du noch so jung bist, hast Du denn nicht auch Verlangen nach Jugend, nachdem Du mich genommen hast, mich, der ich so alt bin, so alt, wie die Welt?«

Sie fuhr erstaunt auf, wendete den Kopf nach ihm um und sah ihn an.

»Du alt? O nein! Du bist jung, viel jünger als ich!«

Und sie lachte laut auf, wobei ihre kleinen weißen Zähne sichtbar wurden, so daß ei nicht umhin konnte, ebenfalls zu lachen. Bald aber hörte er wieder auf und sagte mit leise zitternder Stimme:

»Du antwortest mir nicht ... Hast Du, die Du noch so jung bist, jenes Verlangen nach Jugend denn nicht?«

Da spitzte sie ihre Lippen, die er zärtlich küßte, und sagte nun ihrerseits ganz leise:

»Ich habe nur ein heißes Verlangen, nur den brennenden Durst, geliebt zu werden, so von ganzem Herzen, so über alles geliebt zu werden, wie Du mich liebst!«

Als Martine eines Tages das an der Wand aufgehängte Bild bemerkte, betrachtete sie es eine Zeit lang stillschweigend; dann machte sie das Zeichen des Kreuzes, ohne daß man wissen konnte, ob sie den lieben Herrgott oder den Teufel an sich hatte vorübergehen sehen. Einige Tage vor Ostern hatte sie Clotilden gefragt, ob sie mit in die Kirche gehen wollte, und als diese nein sagte, trat sie einen Augenblick aus der stummen, ergebenen Haltung heraus, die sie jetzt immer beobachtete. Von all dem Neuen, was sie im Hause in Erstaunen versetzte, war die plötzliche Irreligiosität ihrer jungen Herrin dasjenige, was sie am tiefsten erschütterte. Sie erlaubte sich auch, ihren alten ermahnenden Ton wieder anzunehmen und sie zu schelten, als ob Clotilde noch ein kleines Kind Ware, das sein Gebet nicht hersagen wollte. Hatte ihre junge Herrin denn keine Furcht mehr vor Gott? Zitterte sie nicht mehr bei dem Gedanken, in die Hölle zu müssen, um dort in ewiger Verdammnis zu leiden?

Clotilde konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

»O, die Hölle. Nu weißt, daß die mich niemals viel beunruhigt hat ... Aber Du täuschest Dich, wenn Du denkst, daß ich keinen Glauben mehr habe. Wenn ich es aufgegeben habe, die Kirche zu besuchen, so ist es geschehen, weil ich meine Andacht aus andere Art verrichte. Das ist alles.«

Martine sperrte vor Erstaunen den Mund auf und sah sie an, ohne sie verstehen zu können. Es stand jetzt fest, das Fräulein war ganz verloren. Und sie forderte sie niemals wieder auf, sie nach Saint-Saturnin zu begleiten. Nur ihr Glaubenseifer wurde immer größer und artete schließlich zur wahren Wut aus. Man traf sie nicht mehr in ihren freien Stunden, den ewigen Strickstrumpf in der Hand, herumwandelnd und selbst im Gehen noch strickend. Sobald sie nur eine Minute nichts zuthun hatte, lief sie in die Kirche und blieb dort in endlose Gebete versunken. Eines Tages, als die alte Frau Rougon, die immer auf der Lauer lag, sie hinter einem Pfeiler, wo sie sie schon vor einer Stunde hatte knieen sehen, noch immer in eifrigem Gebete angetroffen hatte, war sie rot geworden und hatte sich entschuldigt wie eine Dienstmagd, die man beim Nichtsthun überrascht hat.

»Ich betete für den Herrn Doktor.«

Pascal und Clotilde vergrößerten indessen das Gebiet ihrer Ausflüge immer mehr und mehr; sie dehnten ihre Spaziergänge jeden Tag weiter aus, sie überschritten die Grenzen der Stadt und suchten die weitere Umgebung auf. Und eines Tages, als sie sich nach der Séguiranne begaben, bereiteten sie sich eine große Aufregung dadurch, daß sie an den einsamen, urbar gemachten Feldern vorübergingen, wo sich einstmals die herrliche Wildnis der Gärten des Paradou ausgebreitet hatte. Die Gestalt der Albine war ihm wieder erschienen, Pascal hatte sie wieder gesehen in ihrer Blüte wie der junge Frühling. Früher hatte er, der sich schon für sehr alt hielt, damals, als er hierher kam, um mit diesem kleinen Mädchen zu scherzen, niemals geglaubt, daß sie schon viele Jahre tot sein würde, wenn ihm das Leben, die gute Mutter, das Geschenk eines gleichen Frühlings machen würde, der sein dem Ende zueilendes Dasein mit seinem Dufte erfüllen sollte. Und Clotilde, die gefühlt hatte, daß diese Erscheinung zwischen ihnen vorüberschwebte, hob ihr Gesicht zu ihm empor in einem erneuten Liebesverlangen. Sie war Albine, die ewig Liebende. Er küßte sie auf ihre Lippen, und ohne daß sie ein Wort gewechselt hatten, durchzitterte ein Schauer das flache Land rings umher, das jetzt mit Korn und Hafer bestanden war, und wo einst das Paradou sein geheimnisvolles Blättermeer ausgebreitet hatte.

Jetzt gingen Pascal und Clotilde durch die ausgedörrte, kahle Ebene dahin in dem knirschenden Staube der Wege. Sie liebten diese glühende Natur, diese Felder, bepflanzt mit dürftigen Mandel- und zwerghaften Olivenbäumen, diesen Horizont mit den kahlen Hügeln, von denen die weißen Flecken der kleinen Landhäuschen herabschimmelten in grellem Gegensatze zu den dunklen Wanden der hundertjährigen Cypressen. Sie waren wie die alten Landschaften, wie jene klassischen Landschaften, die man auf den Bildern der alten Schulen erblickt, mit den harten Farben und den harmonischen, großartigen Linien. All der glühende Sonnenbrand, der das Land rings umher gekocht zu haben schien, rollte in ihren Adern, und sie wurden dadurch immer noch lebensfreudiger, immer noch schöner unter dem ewig blauen Himmelszelt, aus dem die helle Flamme unvergänglicher Leidenschaft herniederfiel. Sie, von ihrem Sonnenschirm etwas beschattet, blühte auf, glücklich über dieses Sonnenbad, wie sich eine Pflanze freut über den heißen Mittag, während er, sich verjüngend, in seine Glieder die Feuerkraft der Sonne in einem Strom männlicher Freude eindringen fühlte.

Dieser Spaziergang nach der Séguiranne war eine Idee des Doktors, der von der Tante Dieudonné erfahren hatte, daß sich Sophie nächstens mit einem Müller aus der Umgebung verheiraten würde, und er wollte sehen, ob man sich wohl befinde, ob man glücklich wäre in jenem Erdenwinkel. Eine köstliche Kühle umfing sie sofort, als sie die lange Allee der hohen alten Eichen betraten. Zu beiden Seiten flossen ohne Ende die Quellen, die diese so wohlthuenden. Schatten spendenden Baume ernährten. Als sie dann das Haus des Weißgerbers erreichten, stießen sie gerade auf beide Liebende, die sich in inniger Umarmung umschlungen hielten in der Nähe des Brunnens, denn die Tante war soeben hinunter nach dem Waschplatz hinter den Weiden der Viorne gegangen. Ganz verwirrt und errötend stand das junge Paar da. Aber der Doktor und seine Begleiterin brachen in ein fröhliches Lachen aus, und die Liebenden, die sich inzwischen wieder gefaßt hatten, erzählten, daß die Hochzeit am Johannisfest stattfinden sollte, was zwar noch lange hin sei, aber schließlich trotzdem kommen würde. Sophie hatte entschieden noch zugenommen an Gesundheit und Schönheit, gerettet von dem erblichen Leiden und kräftig emporgewachsen wie einer jener Bäume, deren Wurzeln in dem feuchten Grase standen, während die Wipfel in den blauen Himmel hinein ragten. Ah, dieser glühende unermeßliche Himmel, welche Kraft flößte er den Wesen und den Dingen ein! Sie hatte nur noch einen Schmerz, Thränen zeigten sich an den Rändern ihrer Augenlider, als sie von ihrem Bruder Valentin sprach, der die Woche kaum noch überleben würde. Sie hatte am vorhergehenden Abend wieder Nachricht von ihm bekommen, er war verloren. Und der Doktor mußte etwas lügen, um sie zu trösten, denn er selbst erwartete von Stunde zu Stunde diesen unvermeidlichen Ausgang. Nachdem sie, seine Begleiterin und er, die Séguiranne verlassen hatten, kehrten sie in einem Tempo nach Plassans zurück, das immer langsamer wurde, weich und zärtlich gestimmt durch das Glück ihrer gesunden Liebe und durchzittert von einem leichten Schauder des Todes.

In dem alten Quartier erzählte ihm eine Frau, die er behandelte, daß Valentin soeben gestorben sei. Zwei Nachbarinnen hatten die alte Guiraude mit Gewalt wegführen müssen, da sie sich an dem Leichnam ihres Sohnes festgeklammert und wie wahnsinnig geschrieen hatte. Er ging hinein, Clotilde vor der Thür zurücklassend.

Darauf traten sie endlich schweigend den Rückweg nach der Souleiade an. Seitdem er seine Krankenbesuche wieder aufgenommen hatte, schien er sie nur aus reinem Pflichtgefühl als Arzt zu machen und hoffte nicht mehr auf Wunderwirkungen seines Heilverfahrens. Der Tod Valentins setzte ihn übrigens deswegen in Erstaunen, weil er erst so spät eingetreten war; er hatte die feste Ueberzeugung, daß er das Leben des Leidenden um ein ganzes Jahr verlängert hatte. Trotz dieser außerordentlichen Resultate, die er erzielt hatte, wußte er ganz genau, daß der Tod unvermeidlich bleiben würde. Dennoch aber hätte er sich dadurch doch geschmeichelt fühlen müssen, daß er den Tod seit Monaten im Schach gehalten hatte, wenn nicht der Kummer gewesen wäre, der immer an ihm nagte, daß er, ohne es zu wollen, Lafouasse einige Wochen zu früh getötet hatte. Und es schien nichts mehr davon zurückgeblieben zu sein als eine tiefe Falte, die seine Stirn durchfurchte, als sie wieder ihre teure Einsamkeit betraten.

Aber dort erwartete ihn eine neue Aufregung; er erkannte vor dem Hause unter den Platanen, wo ihn die alte Martine hatte niedersitzen lassen, den Hutmacher Sarteur, den Insassen von Les Tulettes, dem er so lange Einspritzungen gemacht hatte. Und das Experiment schien hier geglückt zu sein; die Einspritzungen der Gehirnsubstanz hatten dem Verrückten Heilung gebracht, da er hier war. Er hatte am Morgen das Asyl verlassen, weil er versicherte, daß er keine Anfälle mehr hätte, daß er vollständig geheilt sei von jener entsetzlichen Mordsucht, die ihn dazu getrieben hatte, sich auf den ersten besten Vorübergehenden zu werfen, um ihn zu erwürgen. Der Doktor sah ihn an, wie er vor ihm stand, klein, mit brauner Gesichtsfarbe, zurückweichender Stirn und einem Gesichte, das dem Schnabel eines Vogels glich. Eine Wange von ihm war dicker als die andere. Er war wieder vollständig bei Verstande und von einer ruhigen Sanftmut; er floß über von Dankbarkeit gegen den Doktor und küßte seinem Retter immer wieder die Hände. Pascal wurde schließlich auch gerührt und entließ ihn mit freundlichen Worten, indem er ihm den Rat erteilte, seine Arbeit wieder aufzunehmen, das sei das beste Gesundheitsmittel für Körper und Geist. Dann wurde er wieder ruhig, setzte sich hierauf zu Tisch und sprach heiter von anderen Dingen.

Clotilde sah ihn erstaunt und sogar etwas beunruhigt an.

»Warum bist Du denn nicht mehr mit Dir zufrieden, Meister?«

Er lachte.

»O, ich bin niemals mit mir zufrieden! Und mit der Medizin, das kommt ganz auf die Tage an, wie Du weißt!«

In dieser Nacht hatten sie auch, als sie im Bett lagen, ihren ersten Streit miteinander. Sie hatten das Licht ausgelöscht und befanden sich in dem tiefen Dunkel des Zimmers, eines in den Armen des andern, sie so zart und so fein, dicht an ihn geschmiegt, der sie ganz umfangen hielt in inniger Umschlingung, den Kopf an ihrem Herzen. Und sie war erzürnt, daß er keinen Stolz, keinen Ehrgeiz mehr besaß, sie kam wieder mit ihren Klagen vom heutigen Tage und tadelte ihn, daß er über die Heilung Sarteurs und selbst über den verlängerten Todeskampf von Valentin nicht triumphire. Jetzt war sie es, die für seinen Ruhm leidenschaftlich besorgt war. Sie erinnerte ihn an seine erfolgreichen Kuren; hatte er sich nicht selbst geheilt? Konnte er die Wirksamkeit seines Verfahrens leugnen? Das heiße Verlangen hatte sie ergriffen, den unermeßlichen Traum wieder zu erwecken, den er einst geträumt hatte, die Schwachheit, die einzige Ursache des Nebels, zu bekämpfen, die leidende Menschheit zu heilen, sie gesund zu machen und auf eine höhere Stufe emporzuheben, indem er allen helfend zur Seite stand und allen Gesundheit verschaffte. Und er besaß das Lebenselixir, das Universalheilmittel, welches diese großartige Aussicht in die Zukunft eröffnete!

Pascal schwieg eine Zeit lang, die Lippen auf die nackte Schulter Clotildens gedrückt. Dann murmelte er:

»Ja, es ist wahr, ich habe mich geheilt, ich habe auch andere damit geheilt und ich glaube immer noch, daß meine Einspritzungen in vielen Fällen wirksam sind ... Ich verwerfe die Medizin nicht, die Gewissensbisse über einen unglücklichen Fall nur, den von Lafouasse, machen mich sicherlich nicht ungerecht ... Uebrigens ist die Arbeit meine Leidenschaft gewesen, es war die Arbeit, die mich bis jetzt so ganz und gar in Anspruch nahm, da ich die Möglichkeit beweisen wollte, die altgewordene Menschheit endlich wieder an Geist und Körper gesund und kräftig zu machen, daß ich daran schließlich beinahe gestorben wäre ... Ja, ein Traum, ein schöner Traum!«

Mit ihren beiden biegsamen Armen umschlang sie ihn so fest, als ob sie sich mit ihm vermischen, als ob sie ganz in ihm aufgehen wollte!

»Nein, nein! Eine Wirklichkeit, die Wirklichkeit Deines Genies, Meister!«

Dann, als sie sich so fest an einander angeschmiegt hatten, dämpfte er seine Stimme noch mehr, so daß seine Worte nur noch ein Flüstern waren, leise wie ein Hauch.

»Höre, ich will Dir jetzt etwas sagen, was ich niemand auf der Welt sagen würde und was ich sogar mir selber nicht laut zu sagen getraue. Die Natur zu korrigiren, helfend dazwischen zu treten, sie umzugestalten und sie in ihrer Entwicklung zu hindern, ist das eine lobenswerte Arbeit? Heilen, den Tod eines Menschen verzögern zu seinem Vergnügen, es verlängern zweifellos zum Schaden der Gattung, heißt das nicht das, was die Natur machen will, vernichten? Und uns eine gesundere, eine kräftigere Menschheit zu erträumen, eine Menschheit, die nach unserer Idee von der Gesundheit und von der Kraft gebildet ist, haben wir dazu das Recht? Was wollen wir da machen, warum wollen wir uns in die mühevolle Arbeit des Lebens hineinmischen, deren Mittel und deren Zweck uns unbekannt sind? Vielleicht ist alles gut. Vielleicht laufen wir Gefahr, die Liebe, das Genie, ja das Leben selbst zu töten ... Hörst Du, ich gestehe es Dir allein: Der Zweifel hat mich gepackt, ich zittere vor dem Gedanken meiner Alchimie des zwanzigsten Jahrhunderts, ich bin schließlich dahin gekommen zu glauben, daß es größer und gesünder ist die Evolution sich erfüllen zu lassen.«

Er unterbrach sich und fügte dann nach einer Weile so leise hinzu, daß sie ihn kaum verstehen konnte:

»Du weißt, daß ich ihnen oft nur mit Wasser Einspritzungen gemacht habe. Du selbst hast die Bemerkung gemacht, daß ich ganze Tage lang nicht mehr mit dem Mörser hantirte, und ich sagte Dir, daß ich noch genug von dem Lebenselixir in Vorrat hätte ... Das Wasser verschafft ihnen Erleichterung, es ist da ohne Zweifel eine mechanische Wirkung vorhanden. Ah! Das Leiden erleichtern, das Leiden unterdrücken, ja, dies beides will ich gewiß noch! Es ist vielleicht meine letzte Schwäche, aber ich kann nicht leiden sehen, das Leiden bringt mich ganz außer mir wie eine ungeheuerliche und unnötige Grausamkeit der Natur ... Ich sorge mich jetzt nur noch darum, das Leiden zu verhindern.«

»Dann,« fragte sie, »ist es also nicht mehr nötig, Meister, alles zu sagen, wenn Du nicht mehr heilen willst, denn die entsetzliche Notwendigkeit, die Wunden zu zeigen, hat keine andere Entschuldigung als die Hoffnung, sie schließen zu können.«

»Doch, doch! Das Wissen ist notwendig, das Wissen ist trotzdem notwendig, man darf nichts verbergen und muß alles von den Menschen und Dingen offen bekennen! Kein Glück ist mehr möglich in der Unwissenheit, die Gewißheit allein macht das Leben ruhig. Wenn man mehr wissen wird, wird man gewiß alles annehmen ... Begreifst Du denn nicht, daß alles heilen wollen, alles regeneriren wollen, ein falscher Ehrgeiz unseres Egoismus ist, eine Auflehnung gegen das Leben, das wir für schlecht erklären, weil wir es von dem Gesichtspunkte unseres Interesses aus beurteilen. Ich fühle wohl, daß meine Zufriedenheit eine größere ist, daß ich meinen Verstand erweitert, gehoben habe, seitdem ich Ehrfurcht vor der Evolution habe. Es ist meine Leidenschaft für das Leben, die triumphirt, da ich es nicht mehr wegen seines Zweckes tadle, seitdem ich mich ihm ganz anvertraue, mich in ihm verliere, ohne es verbessern zu wollen gemäß meiner Auffassung des Guten und Bösen. Das Leben allein ist Herrscher; es allein weiß, was es thut und wohin es geht, und ich kann mich nur bemühen, es kennen zu lernen, um es so zu leben, wie es verlangt, gelebt zu werden ... Und siehst Du, ich verstehe es erst ganz, seitdem Du mir gehörst. So lange ich Dich noch nicht hatte, suchte ich die Wahrheit anderswo; ich plagte mich mit der fixen Idee herum, die Welt zu erretten. Da bist Du mein geworden, und nun ist das Leben ausgefüllt, und die Welt rettet sich jede Stunde selbst durch die Liebe, durch die unermeßliche und ununterbrochene Arbeit alles dessen, was im Räume lebt und sich wieder erzeugt ... Das ist das unfehlbare Leben, das allmächtige Leben, das unsterbliche Leben!«

Das kam aus seinem Munde hervor nur noch wie das zitternde Stammeln einer Glaubensformel, wie ein Seufzer der Hingebung an höhere Mächte. Sie selbst überlegte jetzt auch nicht mehr, sie gab sich auch hin.

»Meister, ich will nichts, was Du nicht willst; nimm mich und mache mich zu der Deinigen, daß ich verschwinde und daß ich wieder geboren werde, ganz mit Dir vereinigt!«

Sie gehörten sich jetzt ganz an. Dann entstand ein heimliches Geflüster, ein idyllisches Leben, ein Dasein voller Ruhe und Kraft mitten auf dem Lande. Zu dieser einfachen Vorschrift eines kräftigenden Mittels führte die Erfahrung des Arztes. Er verabscheute die Städte. Man konnte sich nur wohl befinden, man konnte nur glücklich sein auf dem Lande unter dem sonnendurchglühten Himmelszelt, mit der Bedingung, dem Gelde zu entsagen, dem Ehrgeize, selbst dem übermäßigen Stolze auf seine Geistesarbeiten. Nichts thun als leben und lieben, sein Land bebauen und schöne Kinder zu zeugen!

»Ah!« begann er wieder mit leiser Stimme. »Das Kind, das Kind von uns, das eines Tages erscheinen wird ...«

Und er vollendete seinen Satz nicht in der Aufregung, in die ihn der Gedanke an seine so späte Vaterschaft versetzt hatte. Er vermied es, davon zu sprechen; er wendete seinen Kopf weg und seine Augen wurden feucht, wenn sie auf ihren Spaziergängen irgend ein kleines Mädchen oder ein kleiner Junge anlachte.

Sie sagte darauf einfach mit einer ruhigen Sicherheit:

»Und es wird kommen!«

Das war für sie die natürliche und unausbleibliche Folge ihrer Handlungsweise. In jedem seiner Küsse fand sich der Gedanke an das Kind; denn jede Liebe, die nicht das Kind zum Zwecke hatte, schien ihr unnütz und gemein.

Darin lag sogar eine der Ursachen, warum sie an Romanen kein Interesse hatte. Sie war keine so eifrige Leserin wie ihre Mutter; der fortgesetzte Flug ihrer Phantasie genügte ihr, und sie langweilte sich sofort bei erfundenen Geschichten. Vor allem aber war es für sie ein Grund zu fortwährendem Erstaunen und fortwährender Empörung, wenn sie sehen mußte, daß man sich in den Liebesgeschichten niemals mit dem Kinde beschäftigte. Man dachte in den Romanen gar nicht daran, und wenn es ja einmal mitten hinein in die Abenteuer der Heizens fiel, so verursachte es eine Katastrophe, einen gewaltigen Schrecken und große Verlegenheit. Niemals schienen die Liebenden, wenn sie sich hingebend in den Armen lagen, zu ahnen, daß sie an einem Leben arbeiteten und daß ein Kind daraus entstehen würde. Ihre naturwissenschaftlichen Studien hatten ihr indessen gezeigt, daß die Frucht die alleinige Sorge der Natur war. Sie allein war von Bedeutung, sie allein war der Endzweck; alle Vorsichtsmaßregeln waren genommen, daß der Same nicht verloren geht und daß die Mutter Kinder bekommt. Und im Gegensatz dazu hatte der Mensch, indem er die Liebe verfeinerte und veredelte, alles davon bis auf den Gedanken der Frucht entfernt. In den berühmten Romanen war das Geschlecht der Helden nur eine Maschine für die Leidenschaft. Sie beteten sich an, sie nahmen sich, sie ließen sich wieder los, sie erduldeten Tausende von Todesarten, sie umarmten sich, sie töteten sich, sie entfesselten einen Sturm von sozialen Uebeln, und das alles zum Vergnügen außerhalb der natürlichen Gesetze, ohne daß sie sich daran zu erinnern schienen, daß man, wenn man die Liebe genießt, Kinder schafft. Das war unsauber und einfältig.

Sie war ganz ausgelassen und wiederholte an seinem Halse mit der reizenden Kühnheit der Verliebten und ein wenig verwirrt:

»Es wird kommen ... Da wir alles thun, was dazu nötig ist, warum glaubst Du denn eigentlich nicht, daß es kommt?«

Er antwortete nicht sofort. Sie fühlte, wie ihn in ihren Armen ein Schauer überlief, da er von Bedauern und Zweifeln ergriffen wurde. Dann flüsterte er traurig:

»Nein, nein! Es ist zu spät! Denke doch, Geliebte, an mein Alter!«

»Aber Du bist ja noch jung!« rief sie von neuem in einem Ausbruch heißer Leidenschaft, indem sie ihn glühend an sich preßte und ihn mit Küssen bedeckte.

Dann brachte es sie zum Lachen. Und in dieser Umarmung schliefen sie ein, er auf dem Rücken liegend und sie in seinen linken Arm pressend, sie ihn mit all ihren schlanken und biegsamen Gliedern umschlingend und fest an sich drückend, den Kopf auf seine Brust gelegt, ihre blonden Haare aufgelöst und mit seinem weißen Barte vermischt. Die Sunemitin schlummerte, ihre Wange ruhte auf dem Herzen ihres Königs und Herrn. Und in dem tiefen Stillschweigen rings umher, in dem großen, nachtschwarzen Zimmer, wie geschaffen für ihre Liebe, vernahm man nichts als das leise, sanfte Wehen ihres Atems.


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