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Aber von der folgenden Nacht an begann auch die ruhelose Schlaflosigkeit von neuem. Weder Pascal noch Clotilde klagten sich ihren Kummer, und in der bedrückenden Dunkelheit des Zimmers lagen sie stundenlang Seite an Seite und stellten sich schlafend, während sie doch beide über ihre Lage nachdachten, die sich immer verschlimmerte. Jedes vergaß seine eigene Traurigkeit und zitterte des andern wegen. Man hatte seine Zuflucht zum Schuldenmachen nehmen müssen: Martine entnahm das Brot, den Wein und das wenige Fleisch auf Kredit; sie schämte sich entsetzlich, daß sie gezwungen war, zu lügen, und sie mußte dabei mit großer Klugheit verfahren, denn jedermann kannte den Ruin des Hauses. Dem Doktor war der Gedanke gekommen, die Souleiade mit Hypotheken zu belasten; allein das war die letzte Hilfsquelle, er hatte nur noch dieses Besitztum, das ungefähr zwanzigtausend Franken wert war und für das er, wenn er es verkaufte, vielleicht keine fünfzehntausend Franken bekommen würde; und dann würde das traurigste Elend anfangen, wenn kein Stein mehr ihm gehörte, um das Haupt darauf zu legen. Auch Clotilde bat ihn inständig, damit zu warten und sich in keine unwiderrufliche Geschichte einzulassen, so lange ihre Lage noch keine ganz verzweifelte wäre.
Drei bis vier Tage gingen so vorüber. Der September kam heran, und das Wetter verschlechterte sich unglücklicherweise: es gab furchtbare Stürme, die die Gegend durchtobten; eine Mauer der Souleiade wurde umgerissen, man konnte sie aber nicht wieder ausbauen lassen, und die durch den Einsturz entstandene Lücke blieb offen. Man wurde schon unhöflich bei dem Bäcker. Als die alte Haushälterin eines Morgens das Frühstück hereinbrachte, weinte sie und erzählte, daß der Fleischer ihr nur die schlechtesten Stücke gäbe. Einige Tage noch, und man würde nichts mehr auf Kredit bekommen. Man müsse jetzt auf jeden Fall irgendwie Rat schaffen und Geldmittel für die kleinen täglichen Ausgaben ausfindig machen.
Eines Montags, als eine neue Woche der Qual und Sorge begann, war Clotilde den ganzen Morgen in großer Aufregung. In ihrem Innern schien ein heftiger Kampf zu toben; sie kam jedoch augenscheinlich erst während des Frühstücks zu einem Entschluß, als sie sah, daß Pascal seine kleine Fleischportion zurückwies. Mit ruhiger, entschlossener Miene ging sie darauf mit der alten Martine aus, nachdem sie ein kleines Paket alter Leinwand, das sie verschenken wollte, wie sie sagte, in den Korb gelegt hatte.
Als sie nach zwei Stunden wiederkam, war sie sehr bleich. Aber ihre großen, klaren und ehrlichen Augen strahlten. Sie ging sofort zu dem Doktor, sah ihm offen ins Gesicht und beichtete.
»Ich habe Dich um Verzeihung zu bitten, Meister, denn ich bin soeben ungehorsam gegen Dich gewesen und werde Dir durch mein Bekenntnis sicherlich viel Kummer bereiten.«
Er verstand sie nicht und wurde unruhig.
»Was hast Du denn gemacht?«
Langsam und ohne die Augen wegzuwenden, zog sie aus ihrer Tasche ein Couvert, dem sie mehrere Banknoten entnahm. Eine plötzliche Eingebung klärte ihn auf, und er stieß einen Schrei aus:
»O, mein Gott! Die Schmuckgegenstände, alle meine Geschenke!«
Und er, der gewöhnlich so sanft, so gut war, geriet in einen furchtbaren Zorn. Er hatte ihre beiden Hände ergriffen, ja, er hätte sie beinahe mißhandelt und ihr die Finger zerquetscht, die die Banknoten hielten.
»Mein Gott, was hast Du da angestellt. Unglückliche! Es ist mein ganzes Herz, was Du verkauft hast! Es ist unser ganzes Herz, das in diesen Schmuckstücken liegt und das Du mit ihnen für Geld hingegeben hast! Wie soll ich wohl nach Deiner Ansicht diese Kleinodien, die ich Dir zur Erinnerung an unsere himmlischsten Stunden geschenkt hatte, die Dein Eigentum waren, Dein alleiniges Eigentum, wie soll ich sie wieder zurücknehmen und davon Gebrauch machen? Ist es denn nur möglich? Hast Du denn nicht an den fürchterlichen Kummer gedacht, den mir das verursachen würde?«
Sie antwortete sanft:
»Und glaubst Du denn, Meister, daß es mir möglich gewesen wäre, uns noch länger in der traurigen Lage zu lassen, in der wir uns jetzt befinden, wo uns sogar das tägliche Brot fehlt, während jene Ringe, jene Halsketten, jene Ohrgehänge in meinem Besitze waren und in einer Schublade verborgen schlummerten? Mein ganzes Ich empörte sich dagegen, ich hätte mich für geizig, für eine grasse Egoistin gehalten, wenn ich sie noch länger aufbewahrt hätte ... Und wenn es mir auch Kummer bereitet hat, mich davon zu trennen – o ja, ich gestehe offen, einen so großen Kummer, daß ich beinahe gar nicht den Mut gefunden hätte, es zu thun – so bin ich doch gewiß, nur das gethan zu haben, was ich thun mußte als Frau, die Dir immer gehorsam ist und die Dich anbetet.«
Als er dann immer noch nicht ihre Hände losgelassen hatte, traten ihr Thränen in die Augen und sie fügte mit derselben sanften Stimme und einem schwachen Lächeln hinzu:
»Drücke etwas weniger stark. Du thust mir sehr weh!«
Da fing er auch an zu weinen, und sein Zorn verwandelte sich in tiefe Rührung.
»Ich bin wie ein wildes Tier, daß ich so in Zorn gerate! Du hast recht gethan. Du konntest gar nicht anders handeln. Aber verzeihe mir, es hat mich so wütend gemacht. Dich beraubt zu sehen ... Gib mir Deine Hände, gib mir Deine armen kleinen Hände, daß ich sie wieder heile!«
Und er nahm behutsam ihre Hände, er bedeckte sie mit Küssen, er fand sie wunderbar und zart auch ohne den Schmuck der Ringe. Jetzt erzählte sie ihm, erleichtert aufatmend und froh ihren Streich, wie sie die alte Martine ins Vertrauen gezogen hatte und wie sie beide zusammen dann zu der Verkäuferin gegangen waren, derselben, die ihm das Mieder mit den alten Alençonspitzen verkauft hatte. Endlich hatte ihr diese Frau nach einer genauen Prüfung der einzelnen Stücke und einem endlosen Hin- und Herhandeln sechstausend Franken für alle Schmuckgegenstände zusammen gegeben.
Wieder unterdrückte er einen Ausruf der Verzweiflung. Sechstausend Franken! Nur sechstausend Franken, während ihn diese Schmucksachen mehr als das dreifache, wenigstens zwanzigtausend Franken gekostet hatten!
»Höre mich an!« sagte er endlich. »Ich nehme dieses Geld, da Dein gutes Herz es ist, das mir es bringt. Aber es ist ganz selbstverständlich, daß es Dir gehört. Ich schwöre Dir, daß ich noch geiziger sein werde als Martine, daß ich ihr nur die wenigen für unseren Unterhalt unumgänglich notwendigen Sous geben werde, und Du wirst in dem Sekretär alles finden, was von der Summe noch übrig ist. Daß ich sie niemals werde vervollständigen und sie Dir ganz zurückgeben können, weißt Du ja.«
Er hatte sich niedergesetzt und hielt sie auf seinen Knieen in einer vor Aufregung zitternden Umarmung. Dann flüsterte er ihr mit gedämpfter Stimme ins Ohr:
»Und Du hast alles verkauft, wirklich alles?«
Ohne zu sprechen, knöpfte sie ihr Kleid oben am Halse ein wenig auf und faßte in reizender Verlegenheit mit den Spitzen ihrer Finger hinein. Unter tiefem Erröten lächelte sie ihm zu. Endlich zog sie die feine Kette heraus, an der sieben Perlen wie milchweiße Sterne glänzten. Und es war ihm, als ob sie mit diesem Schmuckstücke ein wenig von ihrer verborgenen Nacktheit mit herauszöge, als ob der ganze lebensfrische Duft ihres Körpers dem Kleinod entströme, das sie an ihrem Herzen aufbewahrt trug an dem verstecktesten und geheimnisvollsten Orte ihres Körpers. Dann schob sie es sofort wieder hinein und ließ es verschwinden.
Er war ebenfalls rot geworden wie sie, und sein Herz erfüllte innige Freude. Liebeglühend umarmte er sie.
»O! Wie reizend bist Du, und wie liebe ich Dich!«
Seit diesem Abend aber lag die Erinnerung an die verkauften Schmuckgegenstände wie eine drückende Last auf seinem Herzen, und er konnte das Geld in seinem Sekretär nicht sehen, ohne Schmerz dabei zu empfinden. Es war die drohende Armut, die unvermeidliche Armut, die ihn bedrückte; es war eine noch viel schlimmere Angst, der Gedanke an sein Alter, an seine sechzig Jahre, die ihn unbrauchbar machten und unfähig, der geliebten Frau ein glückliches Leben zu verschaffen, es war ein Erwachen zu der beängstigen den Wirklichkeit mitten m dem trügerischen Traum ewiger Liebe. Jetzt, da er plötzlich ins Unglück gekommen war, fühlte er sich sehr alt, der Gedanke daran ließ ihn erstarren und erfüllte ihn mit Gewissensbissen: Verzweiflung und Zorn gegen sich selbst erfaßten ihn, als wenn es seinem Leben einen dunklen Punkt gegeben hätte.
Dann wurde es plötzlich furchtbar klar in ihm. Eines Morgens, als er allein war, empfing er einen Brief mit dem Poststempel Plassans; er sah das Couvert genau an, darüber erstaunt, daß er die Schrift nicht kannte. Der Brief war nicht unterzeichnet, und gleich nach dem Durchlesen der ersten Zeilen machte er eine zornige Bewegung, als ob er das Schreiben zerreißen wollte. Dann aber setzte er sich vor Erregung zitternd nieder, er mußte den Brief bis zum Schlusse durchlesen. Der Stil bewahrte übrigens vollständig den Anstand, die langen Sätze waren maßvoll und schonend gehalten wie die Worte eines Diplomaten, dessen einziger Zweck ist, zu überzeugen. Man erklärte ihm mit einem Aufwand vieler schöner Worte, daß der Skandal auf der Souleiade schon zu lange gedauert hätte. Wenn die Leidenschaft auch bis zu einem gewissen Punkte den Verstoß gegen die gute Sitte erklärte, so wäre er als ein Mann in seinem Alter und in seiner Stellung dennoch jetzt nahe daran sich vollständig verächtlich und unmöglich zu machen, indem er eigensinnig den vollständigen Ruin seiner jungen Verwandten, die er auf Abwege gebracht hätte, herbeiführte. Jedermann wüßte ja ganz genau, welche Gewalt er über sie gewonnen hatte, und man nähme an, daß sie ihren Ruhm darin suchte, sich ihm zu opfern. Aber wäre es denn nicht an ihm, zu begreifen, daß sie doch unmöglich einen Greis lieben könnte, daß es von ihrer Seite nur Mitleid und Dankbarkeit wäre und daß es die höchste Zeit sei, sie aus dieser Liebesgeschichte mit einem Greise zu befreien, aus der sie doch nur entehrt und von der Gesellschaft verachtet und ausgestoßen hervorgehen würde? Und da er ihr nicht einmal mehr ein kleines Vermögen hinterlassen könnte, so hoffe man, daß er endlich wie ein ehrbarer Mann handeln und die Kraft finden werde, sich von ihr zu trennen, damit er ihr dadurch ihr Glück sichere, so lange es noch Zeit wäre. Und der Brief endete mit den Worten, daß ein schlechtes Benehmen schließlich immer bestraft würde.
Schon aus den ersten Sätzen erkannte Pascal, daß dieser anonyme Brief von seiner Mutter herrührte. Die alte Frau Rougon mußte ihn diktirt haben, denn er hörte sie bis auf die Modulation ihrer Stimme heraus. Nachdem er aber einmal die Lektüre des Schreibens in einer zornigen Aufwallung begonnen hatte, las er ihn auch, bleich vor Wut und mit den Zähnen klappernd, bis zum Ende durch. Er befand sich in jenem fieberhaften Zustande, der ihn nun zu jeder Stunde heimsuchte. Und dennoch hatte der Brief recht, er klärte ihn auf über seine unbehagliche Stimmung, er zeigte ihm, daß er sich Gewissensbisse deswegen mache, weil er alt und arm sei und trotzdem Clotilde bei sich behalte. Er stand auf, trat vor einen Spiegel und blieb lange davor stehen, bis seine Augen nach und nach von Thränen verdunkelt wurden, aus Verzweiflung über seine Runzeln und seinen weißen Bart. Die tödliche Kälte, die über ihn kam, wurde verursacht von dem Gedanken, daß die verhängnisvolle Trennung jetzt notwendig, unvermeidlich geworden war. Er wies diese Zumutung zurück, er konnte sich gar nicht vorstellen, daß er eines Tages in diese Trennung einwilligen würde; aber sie würde dennoch wieder an ihn herantreten, er würde jetzt keine ruhige Minute mehr erleben, ohne daß er nicht davon heimgesucht wäre, ohne daß sein Herz nicht von dem Kampfe zwischen seiner Liebe und seiner Vernunft zerrissen würde bis zu dem schrecklichen Tage, an dem er die Kraft fände, zu entsagen. Bei seinem jetzigen unentschlossenen, feigen Zustande zitterte er vor nichts anderem als dem Gedanken, den Mut dazu später doch einmal zu haben. Und als dies endlich vorüber war, dann fing das an, was nicht wieder gut zu machen war; die Angst um Clotilde packte ihn, die noch so jung und so schön war, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie vor ihm zu retten.
Dann verfolgten ihn wieder die Worte und die Gedanken des Briefes; und er quälte sich zuerst damit, daß er sich überreden wollte, sie liebe ihn nicht, sie empfinde für ihn nur Mitleid und Dankbarkeit. Das würde ihm, wie er glaubte, die Trennung erleichtert haben, wenn er sich überzeugt hätte, daß sie sich opferte; wenn er sie dann noch länger bei sich behielte, dann würde er einfach seinen schrecklichen Egoismus befriedigen. Aber wie er sie auch prüfte, welchen Proben er sie auch unterwarf, er fand sie gleich zärtlich, gleich leidenschaftlich in seinen Armen. Er war bestürzt über dieses Resultat, das gegen den gefürchteten Ausgang sprach und sie ihm nur lieber machte, und er bemühte sich, die Notwendigkeit ihrer Trennung sich zu beweisen, und prüfte die Beweggründe dafür. Das Leben, das sie seit Monaten führten, dieses Leben ohne Schranken, ohne Pflichten, ohne jede Arbeit, war sehr traurig. Er hielt sich für nichts anderes mehr gut, als daß er in einem Winkel sich unter die Erde schlafen legte; allein war dies nicht für sie ein unangenehmes Dasein, aus dem sie gleichgiltig und verdorben, unfähig zu wollen, hervorging? Er vernichtete ihren Ruf, indem er sie unter dem Hohngelächter der skandalsüchtigen Welt zu einer Göttin machte. Und dann sah er sie plötzlich tot vor sich, er ließ sie allein auf der Straße ohne alle Hilfsmittel, verachtet und vor Hunger sterbend. Niemand nahm sie auf, sie irrte durch die Straßen, sie hatte keinen Gatten und leine Kinder mehr. Nein, nein! Das würde ein Verbrechen sein! Er konnte ihr für die paar glücklichen Tage, die sie ihm noch bereitete, nur diese Erbschaft von Schande und Elend hinterlassen.
Eines Morgens, als Clotilde allein ausgegangen war, um eine Besorgung in der Nachbarschaft zu machen, kam sie ganz verstört, bleich und zitternd zurück. Als sie oben bei ihm war, sank sie halb ohnmächtig in Pascals Arme. Sie brachte stotternd nur einige unzusammenhängende Worte hervor.
»O, mein Gott! ... O mein Gott! ... Diese Weiber ...«
Erschreckt bestürmte er sie mit Fragen.
»Erzähle mir alles genau! Was ist Dir denn zugestoßen?«
Da färbte eine Blutwelle ihr Gesicht purpurrot, Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und barg ihr Gesicht an seiner Schulter.
»O, diese Weiber! ... Als ich in den Schatten kam, machte ich meinen Sonnenschirm zu und hatte dabei das Unglück, ein Kind umzustoßen ... Da stürmten sie alle auf mich ein und haben mir Sachen zugeschrieen, o, mein Gott, was für schreckliche Sachen! Daß ich gar keine Kinder haben würde, daß Geschöpfe meiner Art niemals Kinder bekämen! ... Und noch andere fürchterliche Sachen, o, mein Gott! Noch andere Sachen, die ich nicht wiederholen kann, die ich gar nicht verstanden habe!«
Sie weinte bitterlich. Er war ganz totenbleich geworden und fand nichts, was er ihr hätte erwidern können; er küßte sie nur zärtlich und weinte wie sie. Und vor seinen Augen wiederholte sich der ganze Vorgang; er sah sie verfolgt und mit gemeinen Worten beschimpft. Dann flüsterte er ihr stotternd zu:
»Es ist meine Schuld! Meinetwegen leidest Du! ... Höre mich an! Wir wollen von hier fortgehen, weit, sehr weit fort, an irgend einen Ort, wo man uns nicht kennt, wo man uns grüßen wird und wo Du glücklich sein wirst!«
Aber mit Anstrengung richtete sie sich wieder mutig empor und stillte ihre Thränen, als sie ihn weinen sah.
»Ah! Das ist schändlich und feig, was ich da soeben gethan habe! Ich, die ich mir so oft das Verbrechen gegeben hatte, nichts zu sagen! Und als ich mich dann wieder zu Hause befand, da fühlte ich mich so unglücklich, daß alles wie von selbst mir über die Lippen kam ... Du siehst, es ist jetzt vorüber; mache Dir deswegen keinen Kummer mehr ... Ich liebe Dich!«
Sie lächelte; sie hatte ihn wieder sanft in ihre Arme genommen und küßte ihn, wie man einen Verzweifelten küßt, dessen Schmerz man einschläfern will.
»Ich liebe Dich, ich liebe Dich so sehr, daß das mich für alles trösten wird! Du nur allein bist für mich auf der Welt! Was kümmert mich das, was Du nicht bist! Du bist so gut, Du machst mich so glücklich!«
Aber er weinte immer weiter, und da fing sie auch wieder zu weinen an; und es herrschte lange Zeit eine unendliche Traurigkeit, eine Niedergeschlagenheit, während der sich ihre Küsse und ihre Thränen mischten.
Als Pascal allein geblieben war, erklärte er sich für ein Ungeheuer. Er konnte nicht länger diesem Kinde, das er anbetete, Unglück bereiten. Und an dem Abende desselben Tages trat ein Ereignis ein, das ihm die Lösung brachte, die er bis jetzt unter der fortwährenden Angst, sie zu finden, vergeblich gesucht hatte. Nach dem Diner führte ihn die alte Martine mit sehr geheimnisvoller Miene zur Seite.
»Frau Felicité, die ich heute getroffen habe, hat mir aufgetragen, Ihnen diesen Brief hier zu übergeben, Herr Doktor; ich habe außerdem noch den Auftrag, Ihnen zu sagen, daß sie Ihnen den Brief selbst gebracht haben würde, wenn ihr guter Ruf sie nicht hinderte, jemals wieder hierher zu kommen ... Sie läßt Sie auch bitten, ihr den Brief des Herrn Maxime zurückzuschicken und sie zugleich die Antwort des Fräuleins wissen zu lassen.«
Es war in der That ein Brief von Maxime. Felicité, glücklich darüber, ihn erhalten zu haben, benützte ihn als wirksames Mittel, nachdem sie vergebens erwartet hatte, daß ihr das Unglück ihren Sohn in die Hände liefern würde. Da aber weder Pascal noch Clotilde kamen, um sie um Unterstützung zu bitten, so änderte sie ihren Plan noch einmal und nahm ihre alte Idee, sie von einander zu trennen, wieder auf. Und diesmal schien ihr die Gelegenheit entscheidend. Der Brief von Maxime war sehr dringend, er richtete ihn an die Großmutter, damit diese seine Sache vor seiner Schwester vertrat. Die Ataxie war jetzt deutlich zu Tage getreten, er konnte schon nicht mehr anders als am Arme eines Dieners gehen. Vor allein aber beklagte er einen Fehler, den er gemacht hatte: ein reizendes braunlockiges Mädchen hatte sich bei ihm einzuschmuggeln gewußt und er hatte nicht vermocht, ihr fern zu bleiben, so daß er auf dem Punkte stand, in ihren Armen seine letzte Kraft zu lassen; und das Schlimmste war, daß er jetzt die Gewißheit hatte, daß diese männermordende Huldin ein geheimes Geschenk seines Vaters war. Saccard hatte sie ihm aus Berechnung geschickt, um die Erbschaft zu beschleunigen. Auch hatte sich Maxime, nachdem er das Mädchen an die Luft gesetzt, in seinem Palais gewissermaßen verschanzt und den Befehl gegeben, seinen Vater gleich an der Thüre abzuweisen, in der fortwährenden Angst, ihn eines schönen Tages durch die Fenster zurückkehren zu sehen. Andererseits aber fürchtete er sich vor dem Alleinsein und verlangte verzweifelt nach seiner Schwester; er wollte sie als Schutzwehr gegen diese abscheulichen Anschläge Saccards haben, sie sollte ihn pflegen, da sie ein sanftes und ehrliches Wesen wäre. Der Brief gab außerdem zu verstehen, daß sie, wenn sie sich gut mit ihm einlebte, es gewiß nicht zu bereuen haben würde. Und er schloß, indem er das junge Mädchen an das Versprechen erinnerte, welches sie ihm während seiner letzten Anwesenheit gegeben hatte, daß sie zu ihm kommen wollte, sobald als sie ihm eines Tages wirklich notwendig sein sollte.
Pascal war wie versteinert. Er las die vier Seiten noch einmal durch. Das war ja die Trennung, die sich ihm hier von selbst darbot, annehmbar für ihn und für Clotilde glückverheißend und so bequem und so natürlich, daß man sofort dazu seine Zustimmung geben mußte; und trotzdem seine Vernunft ihm sagte, daß dies das Richtige sei, fühlte er sich doch noch so wenig fest, so wenig entschlossen, daß er sich eine Zeit lang niedersetzen mußte, weil seine Beine heftig zitterten. Aber er wollte heroisch sein, er zwang sich zur Ruhe und rief seine Gefährtin.
»Hier! Lies diesen Brief, den Großmama mir schickt!«
Clotilde las den Brief bis zum Schlusse aufmerksam durch, ohne ein Wort zu sagen und ohne eine Bewegung zu machen. Dann sagte sie sehr einfach:
»Nun, Du wirst doch antworten, nicht wahr? Ich gehe nicht!«
Er mußte mit Gewalt an sich halten, um nicht einen lauten Freudenschrei auszustoßen. Aber schon hörte er sich, als ob ein anderer ihm das Wort weggenommen hätte, sehr vernünftig sagen:
»Du weigerst Dich? Das ist unmöglich! Wir müssen die Sache genau überlegen! Warten wir bis morgen, ehe wir eine Antwort geben! Und plaudern wir jetzt, willst Du?«
Aber sie war ganz erstaunt über ihn und geriet in große Aufregung.
»Wie? Uns trennen? Und warum? Und Du willst wirklich Deine Zustimmung dazu geben? Welche Thorheit! Wir lieben uns und sollen uns trennen, und ich soll von hier fortgehen an einen Ort, wo mich niemand liebt! Und daran hast Du gedacht? Das wäre ja schrecklich dumm!«
Er vermied, sich auf dieses Gespräch einzulassen, und redete von gegebenen Versprechungen, von Pflichten.
»Erinnerst Du Dich noch, Geliebte, wie bewegt Du damals warst, als ich Dir mitteilte, was Deinem Bruder Maxime bevorstünde? Jetzt hat ihn die Krankheit erfaßt; er ist schwach, hat niemand bei sich und ruft Dich nun zu sich! Du kannst ihn nicht in seiner traurigen Lage allein lassen. Hier heißt es für Dich, eine Pflicht zu erfüllen!«
»Eine Pflicht!« rief sie aus. »Habe ich denn überhaupt Pflichten gegen einen Bruder, der sich niemals um mich gekümmert hat? Meine Pflicht ist da, wo mein Herz ist!«
»Aber Du hast es versprochen, zu kommen. Ich habe es für Dich versprochen und gesagt, daß Du vernünftig sein würdest ... Und Du wirst mich doch nicht Lügen strafen wollen!«
»Vernünftig? Du bist es, der es nicht ist! Es ist unvernünftig, sich zu trennen, wenn man vor Kummer dabei stirbt, der eine wie der andere.«
Und darauf schnitt sie kurz das Gespräch durch eine stolze Handbewegung ab, da sie jede weitere Erörterung dieses Themas vermeiden wollte.
»Zu welchem Zwecke sollen wir uns übrigens streiten? Nichts ist einfacher, es bedarf keines einzigen Wortes mehr. Willst Du mich vielleicht fortschicken?«
Er stieß einen Schrei aus.
»Ich Dich fortschicken? Großer Gott!«
»Wenn Du mich also nicht fortschickst, dann bleibe ich!«
Jetzt lachte sie wieder, eilte nach ihrem Schreibpulte hin und schrieb mit einem roten Bleistifte quer über den Brief ihres Bruders folgende drei Worte: »Ich weigere mich.« Dann rief sie die alte Martine herein, da sie durchaus wollte, daß der Brief unter Couvert sofort wieder zurückgetragen würde. Und er war von einer solchen Glückseligkeit erfüllt, daß er sie ruhig gewähren ließ. Die Freude, sie zu behalten, raubte ihm alle klare Vernunft
Aber welche Gewissensbisse, daß er so feig gewesen war, quälten ihn dann in der Nacht, als sie eingeschlafen war! Noch einmal hatte er dem Verlangen nach Glück nachgegeben, jenem Wonnegefühl, sie an jedem Abend wiederzufinden, wie sie, an seine Brust gedrückt, so sein und so zart in ihrem langen Nachtgewande, ihn mit dem frischen Dufte ihrer Jugend umhüllte. Nach ihr würde er nicht mehr lieben; und das, wonach sein ganzes Wesen schrie, das war das Weib und die Liebe. Angstschweiß trat ihm auf die Stirn, wenn er sich vorstellte, sie sei fort, und wenn er sich allein sah, ohne sie, ohne alles das Liebenswürdige und Zarte, das sie der Luft mitteilte, in der er lebte, ihren Atem, ihren heiteren Sinn, ihre unerschrockene Rechtlichkeit, ihre ganze liebe, moralische und physische Gegenwart, die seinem Leben jetzt so notwendig war wie das Licht des Tages. Sie mußte ihn verlassen, und er mußte die Kraft finden, daran zu sterben. Ohne sie aufzuwecken, hielt er die sanft Schlummernde fest an sein Herz gedrückt, leise hob sich ihre Brust wie beim Atmen eines Kindes. Er verachtete sich wegen seines geringen Mutes, er beurteilte die Lage mit einer schrecklichen Klarheit. Es war zu Ende; dort erwartete sie eine geachtete Lebensstellung, ein Vermögen: er, der alte Mann, konnte seinen Egoismus nicht so weit treiben, daß er sie noch länger hielt in seinem Elend, allen möglichen Schmähungen ausgesetzt. Und halb ohnmächtig vor Schmerz, als er sie so anbetungswürdig, so vertrauend und so ergeben, wie eine Sklavin, die sich ihrem alten König hingegeben hatte, in seinen Armen liegen fühlte, da leistete er sich selbst den Eid, daß er stark sein wollte, daß er das Opfer dieses Kindes nicht mehr annehmen, daß er sie selbst gegen ihren Willen dem Glücke, dem Leben wiedergeben wollte.
Von nun an begann der Kampf der Entsagung. Einige Tage vergingen, und er hatte sie ordentlich empfinden lassen die Härte ihres »Ich weigere mich« auf dem Briefe von Maxime, was sie an ihre Großmama geschrieben hatte, ohne ihre Weigerung zu motiviren. Aber sie wollte die Souleiade noch immer nicht verlassen. Und als er anfing, sehr geizig zu werden, um so wenig wie möglich von dem aus dem Verkauf der Schmuckgegenstande gelösten Gelde zu verbrauchen, überbot sie ihn noch und aß ihr trockenes Brot unter fröhlichem Lachen. Eines Morgens überraschte er sie dadurch, daß er der alten Martine Anweisungen zur Sparsamkeit gab. Zehnmal während eines Tages sah sie ihn scharf an, warf sich an seinen Hals und bedeckte ihn mit Küssen, um den entsetzlichen Gedanken der Trennung zu bekämpfen, den sie immerwährend in seinen Augen sah. Dann hatte sie noch ein anderes Argument. Eines Abends bekam er nach dem Essen heftiges Herzklopfen und wäre beinahe ohnmächtig geworden. Er war sehr verwundert darüber, denn er hatte niemals am Herzen gelitten und glaubte daher einfach, daß sein Nervenleiden wiedergekommen sei. Seit jener großen Freude, die ihm widerfahren war, fühlte er sich weniger kräftig; er hatte das sonderbare Gefühl, als ob etwas Zartes, Tiefinnerliches in ihm gebrochen wäre. Sie wurde sofort sehr unruhig und machte sich eifrig mit ihm zu schaffen. Nun, jetzt werde er doch wohl nicht mehr von Abreise sprechen! Wenn man die Leute lieb hätte, und diese wären krank, so bliebe man bei ihnen und pflegte sie.
So wiederholte sich der Kampf alle Stunden. Es war ein fortwährender Ansturm von Zärtlichkeit, von Selbstvergessen in der alleinigen Besorgnis um das Glück des andern. Wenn aber die Freude, sie so gut und so liebend zu sehen, die Trennung immer gräßlicher machte, so sah er ein, daß diese Notwendigkeit sich täglich steigerte. Sein Wille war von nun an klar. Nur befand er sich in einer verzweifelten Lage, auf welche Weise er sie dazu bringen sollte. Zitternd und zaudernd stand er vor der Entscheidung. Es würde wieder zu einer verzweiflungsvollen und thränenreichen Scene kommen. Was sollte er thun? Was sollte er ihr sagen? Wie konnte es möglich sein, daß sie sich zum letztenmale umarmten und sich niemals wiedersahen? Und die Tage gingen dahin, er fand nichts und fing wieder an, sich einen Feigling zu nennen an jedem Abend, wenn sie ihn, nachdem das Licht ausgelöscht war, in ihre jugendlichen Arme schloß, in glücklichem Triumphe darüber, daß sie ihn so besiegte.
Oft scherzte sie und sagte mit einem Anfluge zärtlichen Spottes:
»Meister, Du bist zu gut, Du wirst mich behalten.«
Das verstimmte ihn, er geriet in Aufregung und sagte finster:
»Nein, nein! Sprich mir nicht von meiner Güte! Wenn ich wirklich gut wäre, dann müßtest Du schon lange dort sein, wo Dich Reichtum und Achtung erwarten und eine schöne und ruhige Zukunft vor Dir liegt, anstatt daß Du hartnäckig darauf bestehst, hier zu bleiben, wo man Dich beschimpft und Du arm und ohne Hoffnung als die traurige Gefährtin eines alten Narren meiner Gattung lebst! Nein, ich bin nur ein feiger, ein ehrloser Mensch!«
Lebhaft brachte sie ihn zum Schweigen. Und es war in Wirklichkeit seine Güte, die blutete, jene unendliche Güte, die er seiner Liebe für das Leben verdankte und die er auf alle Dinge und auf alle Wesen ausdehnte in der fortwährenden Sorge um das Glück aller. Hieß denn nicht für ihn gut sein, sie glücklich wissen, sie glücklich machen zu wollen um den Preis seines Glückes? Er mußte diese Güte haben und fühlte deutlich, daß er sie auch haben werde, entscheidend, heroisch. Aber er wartete wie die Unglücklichen, die zum Selbstmorde entschlossen sind, auf die passende Gelegenheit, auf den günstigen Augenblick und auf das Mittel zur Ausführung seines Entschlusses.
Als er eines Morgens um sieben Uhr aufgestanden war, war sie lebhaft erstaunt, wie sie in den Saal trat, ihn an seinem Tische sitzend zu finden. Schon seit vielen Wochen hatte er weder ein Buch aufgeschlagen, noch eine Feder angerührt.
»Was? Du arbeitest?«
Er hob den Kopf nicht in die Höhe und antwortete wie einer, der von seiner Arbeit vollständig in Anspruch genommen ist, ganz kurz:
»Ja, es ist der Stammbaum! Selbst den habe ich nicht mehr aus dem Laufenden erhalten!«
Ein paar Minuten blieb sie hinter ihm stehen und sah ihm beim Schreiben zu. Er vervollständigte die Bemerkungen über die Tante Dide, den Onkel Macquart und den kleinen Charles, zeichnete ihren Tod auf und setzte die Daten hinzu. Als er sich dann aber immer noch nicht rührte und sich die Miene gab, als wüßte er gar nicht, daß sie da sei und auf die freudige Begrüßung und die Küsse wie an jedem anderen Morgen warte, ging sie an das Fenster und kam nach einer Weile wieder zurück, immer noch ohne Arbeit.
»So ist es also wirklich ernst, man arbeitet?«
»Ohne Zweifel! Du siehst ja, daß ich schon im vorigen Monat diese Sachen hätte einschreiben müssen. Und ich habe da einen ganzen Haufen von Arbeiten, die sehnlichst auf mich warten.«
»Gut! So arbeiten wir denn ... Wenn Du irgend welche Untersuchungen hast, die ich machen kann, oder wenn Du Aufzeichnungen zu kopiren hast, so gib sie mir!«
Und seit diesem Tage that er, als ob er sich wieder ganz der Arbeit in die Arme geworfen hatte. Es war übrigens eine seiner Theorien, daß die absolute Ruhe nichts tauge, daß man sie selbst dem Überarbeiteten nicht verordnen dürfe. Der Mann lebt nur durch eine äußere Thätigkeit, in der er aufgeht; die Eindrücke, die er dadurch empfängt, verwandeln sich bei ihm in Bewegung, Gedanken und Handlungen, und zwar so, daß, wenn absolute Ruhe eintritt, wenn man fortwährend neue Eindrücke empfängt, ohne sie wieder verarbeitet und umgewandelt von sich zu geben, dann eine Stockung, ein Mißbehagen, der unvermeidliche Verlust des Gleichgewichts eintritt. Er hatte immer die Erfahrung gemacht, daß die Arbeit der beste Regulator seines Lebens war. Selbst in den Tagen schlechten Befindens hatte er sich morgens an die Arbeit gesetzt. Niemals fühlte er sich wohler, als wenn er seine im voraus genau bestimmte Aufgabe fertig brachte, so und so viel Seiten an jedem Morgen in der nämlichen Zeit; und er verglich diese Aufgabe mit einer Balancierstange, die ihn mitten in dem täglichen Elend, den Schwächen und dummen Streichen aufrecht erhielt. Auch beschuldigte er die Faulheit und den Müßiggang, in dem er seit Wochen dahingelebt hatte, daß sie die einzige Ursache des heftigen Herzklopfens wären, das ihn manchmal zu ersticken drohte. Wenn er sich wieder ganz gesund machen wollte, dünn brauchte er nur seine großen Arbeiten wieder vorzunehmen.
Diese Theorien entwickelte und erklärte Pascal stundenlang mit fieberhaftem, übertriebenem Enthusiasmus Clotilden. Er schien wieder ganz von jener Liebe zur Wissenschaft ergriffen worden zu sein, die, bis zur Leidenschaft gesteigert, sein Leben früher allein Verfehlungen hatte. Er wiederholte ihr, daß er sein Werk nicht unvollendet lassen konnte, daß er noch sehr viel zu thun hätte, wenn er sich ein dauerndes Denkmal errichten wollte! Die Sorge um die Akten schien ihn wieder zu packen, er öffnete von neuem den großen Schrank wohl zwanzigmal an einem Tage, er holte sie aus dem oberen Fache herunter und fuhr fort, sie zu bereichern. Seine Gedanken über die Vererbung änderten sich schon, er hätte gewünscht, alles noch einmal prüfen, alles gänzlich umarbeiten und aus der natürlichen und sozialen Geschichte seiner Familie in großen Zügen eine weite Synthese, ein Resumé der ganzen Menschheit ziehen zu können. Daneben kam er dann auch auf seine Behandlung durch Einspritzungen zurück, um sie zu erweitern: ein unklares Hirngespinnst einer neuen Therapeutik, eine unbestimmte, verschwommene Theorie, die sich in ihm aus seiner Ueberzeugung und persönlichen Erfahrung gebildet hatte in Betreff des guten, selbstthätigen Einflusses der Arbeit.
Jedesmal, wenn er sich jetzt an seinen Schreibtisch setzte, fing er an zu klagen:
»Niemals würde ich Jahre genug vor mir haben, das Leben ist zu kurz!«
Man hätte glauben können, er dürfte nicht eine Stunde mehr verlieren! Und eines Morgens hob er plötzlich den Kopf von der Arbeit empor und sagte zu seiner Gefährtin, die an seiner Seite saß und ein Manuskript noch einmal abschrieb:
»Höre, Clotilde! Wenn ich sterben sollte ...«
Erschreckt erhob sie dagegen Einwendungen.
»Was ist das nun wieder einmal für ein Gedanke!«
»Höre mich aufmerksam an! Wenn ich sterben sollte, so wirst Du sofort die Thüren verschließen. Die Akten wirst Du für Dich behalten, für Dich allein. Und meine anderen Manuskripte wirst Du zusammensuchen und sie Ramond übergeben ... Hörst Du, das sind meine letzten Wünsche!«
Sie schnitt ihm das Wort ab und weigerte sich, ihn weiter anzuhören.
»Nein, nein! Du sprichst dummes Zeug!«
»Clotilde, schwöre mir, daß Du die Akten für Dich behalten und die anderen Papiere Ramond übergeben wirst!«
Sie war sehr ernst geworden, Thränen traten ihr in die Augen, und sie schwur. Er war ebenfalls sehr aufgeregt, er hatte sie in seine Arme geschlossen und überschüttete sie mit Zärtlichkeiten, gleich als ob sich sein Herz mit einem Schlage wieder geöffnet hätte. Dann beruhigte er sich und sprach von seinen Befürchtungen. Seitdem er sich von neuem eifrig an die Arbeit machte, schienen sie sich seiner wieder ganz bemächtigt zu haben; er legte sich wieder in der Nähe des Schrankes auf die Lauer, da er, wie er behauptete, gesehen habe, wie die alte Martine in verdachterregender Weise herumgestrichen sei. Konnte man denn wirklich die blinde Ergebenheit dieser alten Person ins Schwanken bringen, sie zu einer schlechten Handlung verleiten, indem man ihr einredete, daß sie ihren Herrn dadurch rettete? Er hatte so sehr vom Argwohn zu leiden! Er verfiel bei dem drohenden Nahen der Einsamkeit von neuem seiner Qual, der Angst des Gelehrten, der sich in seinem Hause von den Seinigen verfolgt und an seinem Fleische selbst, an dem Werke seines Geistes bedroht fühlt.
Eines Abends kam er wieder mit Clotilde auf diesen Gegenstand zu sprechen, und es entschlüpfte ihm dabei:
»Du begreifst, wenn Du nicht mehr da sein wirst ...«
Sie wurde leichenblaß und sagte zitternd, als sie sah, daß er abbrach:
»O Meister, Meister! Denkst Du denn immer noch an diese schreckliche Geschichte? Ich sehe ganz deutlich in Deinen Augen, daß Du mir etwas verbirgst, daß Du einen Gedanken hast, der nicht mir gehört ... Wenn ich aber fortgehe und Du stirbst, wer wird dann da sein, Dein Werk zu verteidigen?«
Er glaubte, daß sie anfing, sich mit dem Gedanken ihres Weggangs vertraut zu machen, und fand die Kraft, in fröhlichem Tone zu antworten:
»Glaubst Du denn, daß ich mich sterben lassen würde, ohne Dich noch einmal wiedergesehen zu haben? Zum Teufel, ich werde Dir schreiben, und Du wirst dann sofort zurückkommen und mir die Augen schließen.«
Jetzt weinte sie, nachdem sie sich hatte in den Stuhl fallen lassen:
»Mein Gott! Ist es denn möglich? Du willst, daß wir schon morgen nicht mehr zusammen sind, wir, die wir uns nicht eine Minute verlassen, die wir nur eines in den Armen des andern leben können? Und dennoch, wenn das Kind gekommen wäre ...«
»Ah! Du verurteilst mich!« unterbrach er sie heftig. »Wenn das Kind gekommen wäre, dann würdest Du niemals fortgegangen sein ... Siehst Du denn nicht, daß ich viel zu alt bin und daß ich mich verachte! Mit mir wirst Du unfruchtbar bleiben, mit mir wirst Du den Schmerz erleben, nicht das ganze Weib, nicht Mutter zu sein! So geh denn fort, da ich kein Mann mehr bin!«
Vergeblich bemühte sie sich, ihn zu beruhigen.
»Nein! Ich weiß sehr genau, wie Du denkst; wir haben schon zwanzigmal darüber gesprochen: Wenn das Kind nicht das Ziel ist, dann ist die Liebe nur eine unnötige Gemeinheit ... Du hast gestern abend den Roman, den Du gelesen, fortgeworfen, weil die Helden in starrer Verwunderung darüber, daß sie ein Kind erzeugt hatten, ohne nur daran gedacht zu haben, daß sie eins bekommen könnten, nicht wußten, wie sie sich davon befreien sollten ... Ach! Und ich! Wie habe ich mich darnach gesehnt, wie würde ich es geliebt haben, das Kind von Dir!«
An diesem Tage schien sich Pascal noch mehr in die Arbeit zu vertiefen. Es vergingen jetzt oft vier bis fünf Stunden, ganze Vormittage und Nachmittage, ohne daß er den Kopf emporhob. Er übertrieb seinen Eifer, indem er verbot, daß man ihn störte, daß man ein einziges Wort an ihn richtete. Und zuweilen, wenn Clotilde auf den Fußspitzen leise hinausging, da sie unten Anordnungen zu treffen oder einen Ausgang zu machen hatte, versicherte er sich erst durch einen verstohlenen Blick, daß sie nicht mehr da war und ließ dann seinen Kopf auf den Tischrand sinken mit dem Ausdruck äußerster Erschöpfung. Das war ein schmerzliches Nachlassen der Kräfte infolge der außerordentlichen Anstrengung, die er machen mußte, so lange er sie in seiner Nähe wußte, um ruhig an seinem Tische sitzen zu bleiben und sie nicht in seine Arme zu nehmen und stundenlang so in inniger Umschlingung zu halten und zärtlich zu küssen. Ach, die Arbeit! Wie heiß flehte er sie um Hilfe an, als den einzigen Zufluchtsort, wo er hoffte, sich zu betäuben, sich zu vergessen! Aber meistens konnte er überhaupt nicht arbeiten; er mußte Komödie spielen und thun, als ob er angestrengt arbeitete, die Augen fest auf das Buch gerichtet, seine traurigen Augen, die sich durch Thränen verschleierten, während sein Gedächtnis schlummerte, verwirrt, entrückt und immer von dem nämlichen Bilde erfüllt. Sollte er denn wirklich diesen Bankerott der Arbeit erleben, er, der sie für die Beherrscherin, die einzige Schöpferin und Ordnerin der Welt hielt? Sollte er denn das Handwerkszeug fortwerfen, sollte er auf alle Thätigkeit verzichten und nichts anderes thun als leben und die schönen Mädchen lieben, die ihm entgegenkamen? Oder war nicht vielmehr nur sein Alter schuld daran, wenn er unfähig war, eine Seite zu schreiben, wie er unfähig war, ein Kind zu zeugen? Die Furcht vor der Impotenz hatte ihn immer gequält. Während er so mit der Wange auf der Tischplatte ohne Kraft dalag, übermannt von seinem Elend, träumte ihm, er wäre erst dreißig Jahre alt und er schöpfte jede Nacht am Halse Clotildens die für seine Arbeit am folgenden Tag nötige Kraft. Und Thränen rannen in seinen weißen Bart hinab. Und wenn er sie dann zurückkommen hörte, richtete er sich lebhaft wieder auf und nahm seine Feder, damit sie ihn finden sollte, wie sie ihn verlassen hatte, in tiefes Nachdenken versunken, obgleich er nur in das Leere starrte und Kummer seine Gedanken erfüllte.
Man befand sich in der Mitte des Septembers; zwei Wochen waren unter diesen unerquicklichen Verhältnissen dahingegangen, als Clotilde eines Morgens durch den Besuch ihrer Großmutter Felicité auf das höchste überrascht wurde. Am Abend vorher hatte Pascal sie auf der Rue de la Banne getroffen und sich, von dem ungeduldigen Verlangen getrieben, der Aufopferung Clotildens ein Ende zu machen, und da er nicht die Kraft fand, selbst eine Trennung herbeizuführen, ihr anvertraut trotz seines inneren Widerstrebens und sie gebeten, am nächsten Tage zu kommen. Sie hatte gerade wieder einen Brief von Maxime erhalten, der ganz trostlos und flehentlich bittend lautete.
Zuerst erklärte sie ihre Anwesenheit.
»Ja, ich bin es, mein Liebling, und es müssen, wie Du wohl einsehen wirst, sehr schwer wiegende Gründe sein, die mich bestimmt haben, meinen Fuß wieder über eure Schwelle zu setzen ... Aber, in Wahrheit, Du wirst noch verrückt, und ich kann es nicht zulassen, daß Du Dein Leben auf diese Weise verpfuschst, ohne Dich noch ein letztesmal aufzuklären.«
Sie las dann sofort den Brief von Maxime mit verschleierter Stimme vor. Er war an den Krankenstuhl gefesselt und schien von einer sehr schmerzhaften, rasch fortschreitenden Ataxie ergriffen zu sein. Auch forderte er jetzt eine definitive Antwort von seiner Schwester, da er immer noch hoffte, daß sie kommen würde, und bei dem Gedanken zitterte, daß er gezwungen sein würde, eine andere Krankenwärterin zu suchen. Dennoch, so sehr er sich auch davor scheute, würde er dies thun müssen, wenn man ihn seiner traurigen Lage überließe. Und als sie ihre Vorlesung beendigt hatte, gab sie zu verstehen, wie ärgerlich sie sein würde, wenn das Vermögen von Maxime in fremde Hände übergehen würde. Vor allem aber sprach sie von der Pflicht, von der Hilfe, die man einem Verwandten schuldig wäre, und auch sie behauptete, Clotilde hätte ein wirkliches Versprechen gegeben.
»So frage doch Dein Gedächtnis, mein Liebling! Du hast ihm gesagt, daß Du, wenn er wirklich Deiner bedürfe, zu ihm kommen würdest. Ich höre Dich noch sprechen ... Nicht wahr, mein Sohn?«
Pascal hatte, seitdem seine Mutter da war, geschwiegen; er ließ sie handeln und saß blaß mit gesenktem Kopfe da. Er antwortete nur durch ein leichtes bejahendes Zeichen.
Dann wiederholte Felicité alle die Gründe, die er selbst schon Clotilde angegeben hatte: der abscheuliche Skandal, der jetzt in öffentliche Beschimpfungen ausartete, das drohende Elend, das für sie beide so schwer sein würde, die Unmöglichkeit, dieses schlechte Leben noch länger fortzusetzen, bei dem er, in seinem Alter, den Rest seiner Gesundheit verlieren würde, während sie, noch jung, sich für ihr ganzes zukünftige Leben kompromittirte. Auf welche Zukunft konnten sie noch hoffen, jetzt, da das Elend gekommen wäre? Es wäre gemein und grausam, sich jetzt noch starrköpfig zu zeigen.
Regungslos und mit verschlossener Miene hatte Clotilde bis jetzt vollständiges Stillschweigen bewahrt und so jede Auseinandersetzung vermieden. Als ihre Großmutter ihr aber immer mehr zusetzte und sie quälte, sagte sie endlich:
»Noch einmal, ich habe keine Pflicht gegen meinen Bruder; meine Pflicht ist hier! Er kann ganz nach seinem Gutdünken über sein Vermögen verfügen; ich will nichts davon haben. Wenn wir zu arm werden sollten, dann wird der Meister die alte Martine fortschicken und mich als Dienerin behalten!«
Mit einer bezeichnenden Handbewegung schloß sie. O ja! Wie herrlich würde es sein, sich seinem Herrn und Gebieter zu weihen, ihm sein Leben zu widmen und, ihn an der Hand führend, durch die Straßen betteln zu gehen! Und dann bei der Heimkehr ebenso wie an jenem Abend, wo sie von Thüre zu Thüre gegangen waren, ihm das Geschenk ihrer Jugend zu machen und ihn zu erwärmen in ihren reinen Armen!
Die alte Frau Rougon hob das Kinn in die Höhe.
»Bevor Du seine Magd sein willst, hättest Du besser daran gethan, erst damit anzufangen, seine Frau zu werden... Warum habt ihr euch denn eigentlich nicht geheiratet? Das wäre einfacher und anständiger!«
Sie erinnerte daran, daß sie eines Tages hierhergekommen sei, um diese Heirat zu fordern und dadurch den entstehenden Skandal zu ersticken; und das junge Mädchen hätte sich überrascht gezeigt und gesagt, daß weder sie noch der Doktor daran gedacht hätten, und daß sie gleichwohl, wenn es durchaus sein müßte, sich später heiraten würden, was aber gar keine Eile hätte.
»Uns heiraten! Ja, das will ich gewiß!« rief Clotilde. »Du hast vollständig recht, Großmama!«
Darauf wandte sie sich an Pascal und sagte:
»Hundertmal hast Du mir wiederholt, daß Du alles thun würdest, was ich wollte ... Jetzt hörst Du es, heirate mich! Ich werde Deine Frau sein und dann hier bleiben, denn eine Frau verläßt ihren Gatten nicht!«
Er antwortete nur durch eine Handbewegung, als wenn er befürchtet hätte, daß seine Stimme ihn verraten und daß er mit einem Schrei unendlicher Dankbarkeit dieses ewige Band annehmen würde, das sie ihm anbot. Seine Handbewegung konnte ein Zaudern, eine Weigerung ausdrücken. Welch einen Zweck sollte diese Heirat jetzt noch haben, wo doch alles aus war?
»Das sind ohne Zweifel schöne Gefühle!« entgegnete Felicité. »Du legst Dir alles in Deinem kleinen Kopfe sehr hübsch zurecht. Aber die Heirat ist es nicht, die euch die Mittel zum Leben verschaffen wird; und während ihr wartet und wartet, kommst Du ihm sehr teuer: Du bist für ihn die schwerste Last.«
Die Wirkung, die diese Worte auf Clotilde ausübten, war eine außerordentliche; in heftiger Erregung, mit purpurroten Wangen und thränenfeuchten Augen trat sie auf Pascal zu.
»Meister! Meister! Ist es wahr, was Großmama soeben gesagt hat? Ist es wahr, daß Du so weit gekommen bist, das Geld zu bedauern, das ich Dich hier koste?«
Pascal war noch blässer geworden und rührte sich nicht in seiner gebrochenen Haltung. Aber er murmelte mit einer Stimme, die wie von fern herüberklang, als wenn er mit sich selbst spräche:
»Ich habe so viel Arbeit! Ich mochte gern alle meine Akten, meine Manuskripte und Aufzeichnungen noch einmal vornehmen und das Werk meines Lebens vollenden! Wenn ich allein wäre, ließe sich vielleicht alles einrichten. Ich wurde die Souleiade verkaufen, o! um ein Stück Brot, denn sie ist nicht viel wert. Ich wurde mich mit allen meinen Papieren in ein kleines Zimmer setzen. Ich würde vom Morgen bis zum Abend arbeiten, ich würde versuchen, nicht zu sehr unglücklich zu sein.«
Er vermied es jedoch, sie anzusehen; und in der heftigen Aufregung, in der sie sich befand, konnte ihr dieses schmerzliche Hervorstammeln gewiß nicht genügen Bei jedem Worte fuhr sie erschreckt zusammen, denn sie fühlte deutlich, daß das Unvermeidliche gesagt werden sollte.
»Sieh mich an, Meister, sieh mir in das Gesicht! Und ich beschwöre Dich, sei aufrichtig und wähle zwischen Deinem Werke und mir, da es mir vorkommt, als ob Du sagen wolltest, Du wolltest mich fortschicken, um besser arbeiten zu können!«
Der Augenblick der heroischen Lüge war gekommen. Er hob den Kopf in die Höhe und sah ihr mutig in das Gesicht; und mit dem Lächeln eines Sterbenden, der den Tod herbeiwünscht, antwortete er, wobei seine Stimme ihren früheren Klang himmlischer Güte wiedergewonnen hatte:
»Wie Du Dich ereiferst! Kannst Du denn nicht einfach Deine Pflicht thun wie alle Welt? Ich habe viel zu arbeiten und muß dazu notwendigerweise allein sein; und Du, Geliebte, Du mußt zu Deinem Bruder gehen. Gehe also, dann ist alles in Ordnung!«
Einige Sekunden herrschte eine furchtbare Stille. Sie sah ihn immer noch starr an, in der Hoffnung, er würde seine Worte widerrufen. Sagte er denn wirklich die Wahrheit, opferte er sich nicht, damit sie glücklich wäre? Einen Augenblick hatte sie das Gefühl, als ob ein zitternder Hauch, der von ihm ausging, ihr es mitgeteilt hätte.
»Dann schickst Du mich also für immer fort? Du willst mir also nicht erlauben, daß ich morgen wiederkomme?«
Er blieb standhaft, er schien durch ein neues Lächeln zu antworten, daß man nicht fortgehe, um nur so mir nichts dir nichts wiederzukommen. Alles geriet bei ihr in Verwirrung; sie hatte nur noch eine ganz unklare Empfindung, sie konnte glauben, daß er die Arbeit gewählt hätte einfach als Mann der Wissenschaft, bei dem das Werk über das Weib den Sieg davongetragen. Sie war wieder ganz bleich geworden. Sie wartete noch eine kurze Zeit in dem schrecklichen drückenden Stillschweigen; dann sagte sie langsam mit ihrem gewöhnlichen Ausdruck zarter und vollständiger Ergebenheit:
»Es ist gut, Meister! Ich werde reisen, wenn Du willst, und nicht eher wieder zurückkehren als an dem Tage, an welchem Du mich zurückrufen wirst.«
Das war der Axthieb, der trennend zwischen ihnen niederfuhr. Das Unwiderrufliche war geschehen. Felicité, die höchlich überrascht war, daß sie nicht mehr zu reden brauchte, verlangte, daß man sofort das Datum der Abreise festsetzen sollte. Sie beglückwünschte sich zu ihrer hartnäckigen Standhaftigkeit, sie glaubte, daß sie nur dadurch den Sieg in diesem schweren Kampfe davongetragen hatte. Man schrieb Freitag, und es wurde ausgemacht, daß Clotilde am Sonntag reisen sollte. Es wurde sogar eine Depesche an Maxime abgeschickt.
Schon seit drei Tagen wehte der Mistral. Am Abend aber wurde er immer stärker und stürmte mit verdoppelter Heftigkeit, und Martine sagte vorher, daß er mindestens noch drei Tage anhalten würde nach der allgemeinen im Volke herrschenden Ansicht. Die Stürme, die Ende September durch das Thal der Viorne brausen, sind schrecklich. Die alte Martine hatte auch die Aufgabe, in allen Zimmern nachzusehen, ob die Fensterläden fest verschlossen waren. Wenn der Mistral über du Dächer von Plassans fegte, dann packte er die Souleiade ordentlich, die so ausgesetzt auf dem kleinen Plateau dalag, auf dem sie erbaut war. Und es war ein wütender Wirbelsturm, der das Haus fortgesetzt peitschte und es vom Keller bis zum Speicher erschütterte Tage und Nächte hindurch ohne Unterlaß. Die Dachziegel flogen herum, die Fensterbeschläge wurden abgerissen, während der Wind durch die Spalten in das Innere des Hauses eindrang in seufzenden Klagetönen und die Thüren bei dem geringsten Versehen mit furchtbarem Donnergepolter zuschlug. Man hätte bei dem Lärm und dem Getöse glauben können, die Souleiade habe eine vollständige Belagerung auszuhalten.
Am folgenden Tage beabsichtigten Pascal und Clotilde sich in dem einsamen, vom Winde durchrüttelten Hause mit den Reisevorbereitungen zu beschäftigen. Die alte Frau Rougon wollte nicht eher wiederkommen, als am Sonntag zum Abschiednehmen. Als Martine die bevorstehende Trennung erfahren hatte, wurde sie erregt, sagte aber kein Wort; nur aus ihren Augen strahlte eine kurze Freude; und als man sie aus dem Zimmer weggeschickt hatte, da man sie, wie man sagte, zum Packen der Koffer nicht brauche, war sie wieder in ihre Küche gegangen, wo sie sich ihren gewöhnlichen Geschäften widmete und sich den Anschein gab, als ob sie gar nichts von der Katastrophe wüßte, die ihrer bisherigen Haushaltung zu dreien ein so jähes Ende bereiten sollte. Aber bei dem geringsten Rufe Pascals eilte sie so bereitwillig, so flink, mit einem so freudigen Gesichte, erhellt durch den Eifer, ihm zu dienen, herbei, daß es schien, als ob sie wieder ein junges Mädchen geworden wäre. Pascal verließ Clotilde jetzt nicht eine einzige Minute; er half ihr bei allem, da er sich zu überzeugen wünschte, daß sie auch alles mitnahm, was sie notwendig brauchen würde. Zwei große Koffer standen geöffnet da mitten in der Unordnung des Zimmers. Pakete und Kleidungsstücke lagen auf dem Boden überall umher; es war ein fortwährendes Hin- und Hergehen von einer Schublade zur andern. Und mit dieser Arbeit, mit diesem ihrem eifrigen Bemühen, nichts zu vergessen, erstickten sie den heftigen Schmerz, den sie beide, der eine wie der andere, in ihrem Herzen empfanden. Eine Zeit lang betäubten sie so ihren Kummer: er sorgte mit großer Aufmerksamkeit dafür, daß kein Raum verloren ging, verwendete die Hutschachtel für die kleineren Wäschegegenstände und schob die Pakete zwischen die Hemden und Taschentücher, während sie die Kleider aus dem Schranke nahm, auf dem Bette zusammenlegte und darauf achtete, daß sie zuletzt in den Koffer oben darauf gelegt wurden. Als sie sich dann ermüdet aufrichteten und sich Auge in Auge gegenüber standen, lächelten sie sich zuerst an und fingen dann plötzlich an zu weinen bei dem Gedanken an das unvermeidliche Unglück, welches sie so schwer betraf. Sie blieben aber stark trotz ihres heißblütigen Herzens. Mein Gott! War es denn wahr, daß sie schon nicht mehr beisammen waren? Und dann vernahmen sie den Sturm, den schrecklichen Sturm, der das Haus einzustürzen drohte.
Wie vielemale traten sie an diesem Tage, angelockt von dem Unwetter, an das Fenster, mit dem Wunsche, es möchte die ganze Welt davontragen! Während dieser Mistralstürme hörte die Sonne nicht zu scheinen auf, und der Himmel blieb fortwährend blau; aber es war ein fahlblauer Himmel wegen der aufgewirbelten Staubmassen, und die Sonne hatte einen blaßgelben Schein. Sie sahen in der Ferne die ungeheuren grauen Staubwolken, die von den Straßen aufflogen, sie sahen die zerzausten, niedergebogenen Bäume, die alle den Eindruck machten, als ob sie in derselben Richtung fliehen wollten und in demselben rasenden Tempo; sie sahen die ganze erschöpfte und durch die Gewalt des sich immer gleich bleibenden Sturmes ausgetrocknete Landschaft, der ohne Aufhören mit Donnergrollen daherbrauste. Aeste brachen ab und verschwanden, Dächer wurden in die Höhe gehoben und so weit mit fortgetragen, daß man sie gar nicht mehr wiederfand. Warum nahm der Mistral sie denn nicht alle zusammen mit hinweg und setzte sie in dem unbekannten Lande nieder, wo man glücklich sein konnte? Die Koffer waren soeben fertig gepackt, als er einen Fensterladen wieder aufmachen wollte, den der Sturm gerade zugeschlagen hatte. Aber durch das nicht gut schließende Fenster drang der Sturm so heftig herein, daß sie ihm zu Hilfe eilen mußte. Erst als sie sich mit all ihrem Gewichte dagegen stemmten, konnten sie den Drehriegel umwenden. Im Zimmer waren die letzten Stücke Leinwand in alle Ecken herumgeflogen; einen kleinen Handspiegel, der vom Stuhle herabgefallen war, hoben sie in Stücken vom Fußboden auf. War dies vielleicht ein Zeichen des nahen Todes, wie die Weiber in der Vorstadt es nannten?
Am Abend, nach einem sehr trübseligen Essen in dem hellen Speisezimmer mit den großen blühenden Bouquets, sprach Pascal davon, daß sie sich beizeiten zu Bette legen wollten. Clotilde sollte am nächsten Morgen um zehneinviertel abreisen; und er war in Sorge wegen der Länge der Fahrt, zwanzig Stunden mit der Eisenbahn. Dann umarmte er sie in dem Augenblicke, wo sie zur Ruhe gehen wollten, und bestand hartnäckig darauf, sein Zimmer aufzusuchen und schon in dieser Nacht wieder allein zu schlafen. Er wollte durchaus, wie er fügte, daß sie ordentlich ausruhen sollte. Wenn sie aber beisammen bleiben würden, dann würde weder der eine noch der andere von ihnen die Lider schließen, es würde eine schlaflose, unendlich traurige Nacht geben. Vergebens bat sie ihn flehentlich mit zärtlichen Blicken ihrer großen Augen, vergebens streckte sie ihm ihre göttlichen Arme entgegen: er besaß die außerordentliche Kraft, wegzugehen und ihr wie einem Kinde Küsse auf die Augen zu drücken, während er sie in ihre Decken einhüllte und ihr empfahl, recht vernünftig zu sein und gut zu schlafen. War denn die Trennung nicht schon vollzogen? Es würde ihm Gewissensbisse und Schande bereitet haben, wenn er sie noch einmal ganz besessen hätte, da sie ihm doch gar nicht mehr gehörte. Aber wie entsetzlich war die Rückkehr in das feuchte, verlassene Zimmer, wo das kalte Lager der Ehelosigkeit ihn erwartete! Es war ihm, als ob er wieder in sein Greisenalter einträte, das ihn nun für immer festhielte wie eine Umhüllung von Blei. Zuerst gab er dem Sturme die Schuld an seiner Schlaflosigkeit. Das sonst so totenstille Haus hallte wider von heulenden Tönen, und klagende und zornige Stimmen mischten sich in dies fortwährende Seufzen und Stöhnen. Zweimal stand er auf und ging an das Zimmer Clotildens, um zu horchen; aber er vernahm nichts. Dann stieg er hinunter, um eine Thüre zu schließen, die immer mit dumpfen Schlägen zuklappte, als ob das Unglück an die Mauern klopfte. Der Wind zog durch die dunklen Zimmer; frierend und zitternd, verfolgt von traurigen Erscheinungen legte er sich wieder nieder. Dann kam es ihm zum Bewußtsein, daß das laute Klagen, welches ihm den Schlaf vertrieb und unter dem er litt, nicht von dem entfesselten Mistral herrührte. Es war der Ruf Clotildens, das Gefühl, daß sie noch da war und daß er ihr entsagt hatte. Dann machte er eine Krisis verliebter Sehnsucht und schrecklicher Verzweiflung durch. Mein Gott! Sie niemals wieder besitzen zu sollen, wo er doch durch ein einziges Wort sie noch haben konnte, sie für immer haben könnte! Daß man ihm diesen jungen Körper nahm, war gerade so, als ob man ihm etwas von seinem eigenen Fleische wegrisse. Mit dreißig Jahren findet sich schon eine Frau wieder. Aber welche schwere Aufgabe war es für die Leidenschaft seiner zu Ende gehenden Manneskraft, diesem frischen, in voller Jugendblüte stehenden Körper zu entsagen, der sich ihm als königliches Geschenk zu eigen gegeben, der ihm gehörte als sein Gut, als sein Besitz! Zehnmal stand er im Begriff, aus dem Bette zu springen, zu ihr zu gehen, sie an sein Herz zu nehmen und sie für immer zu behalten. Diese furchtbare Krisis dauerte bis zum Tagesanbruch mitten in dem rasenden Ungestüm des Sturmes, der das alte Haus in seinen Grundfesten erschütterte.
Es war sechs Uhr, als Martine in dem Glauben, der Herr habe sie in sein Zimmer gerufen, mit laut tappenden Schritten hinaufstieg. Sie trat mit lebhafter und aufgeregter Miene, die sie nun schon seit zwei Tagen zeigte, in das Zimmer; aber sie blieb starr vor Schrecken und Ergriffenheit stehen, als sie den Doktor bemerkte, der halb entkleidet und verstört über das Bett hingeworfen dalag und in das Kopfkissen biß, um seine Seufzer zu ersticken. Er hatte aufstehen und sich anziehen wollen, aber ein neuer Anfall von Herzkrampf hatte ihn soeben niedergeworfen; eine Ohnmacht hielt ihn umfangen, und er erstickte fast von heftigem Herzklopfen.
Kaum war die Ohnmacht wieder etwas von ihm gewichen, als er anfing, seine Qualen stotternd zu erzählen.
»Nein, nein! Ich kann nicht, ich leide zu sehr! Ich will lieber sterben, jetzt sterben ...«
Dennoch erkannte er die alte Martine, er war jetzt mit seiner Kraft zu Ende; ganz gebrochen und vom Schmerze aufgelöst beichtete er vor ihr.
»Mein armes Mädchen! Ich leide zu sehr, mein Herz bricht! Sie ist es, die mein Herz fortträgt, die mein ganzes Sein mit sich nimmt! Und ich kann ohne sie nicht mehr leben ... Ich wäre diese Nacht beinahe gestorben. Ich wünschte, ich könnte noch vor ihrer Abreise sterben, damit ich nicht den Kummer zu erleben brauchte sie von mir scheiden zu sehen ... O, mein Gott, mein Gott! Sie geht fort, und ich werde sie nicht mehr haben! Ich bleibe allein, allein, ganz allein!« Die alte Haushälterin, die beim Heraufsteigen so froh gewesen war, wurde jetzt so bleich wie Wachs in ihrem harten, schmerzverzogenen Gesichte. Eine Zeit lang sah sie ihm zu, wie er mit seinen zusammengeballten Händen die Decken hin und her riß und in Verzweiflung dumpf stöhnte, den Mund in das Kissen gepreßt. Dann schien sie mit einer plötzlichen Kraftanstrengung sich zu fassen.
»Aber, Herr Doktor, das ist doch nicht vernünftig gehandelt, sich solchen Kummer zu machen. Das ist lächerlich! Da es nun einmal so ist und da Sie nicht ohne das Fräulein leben können, so werde ich ihr sofort erzählen, in welchen Zustand Sie sich befinden ...«
Bei diesen Worten fuhr er heftig in die Höhe und hielt sich, da er noch schwach war, an der Rückenlehne eines Stuhles an.
»Ich verbiete es Dir auf das strengste, Martine!«
»Wenn ich Ihnen folgen würde, so würde ich Sie binnen kurzem wieder halbtot vorfinden und heiße Thränen vergießend! Nein, nein! Ich werde jetzt sofort das Fräulein aufsuchen; ich werde ihr die Wahrheit sagen und sie zwingen, hier bei uns zu bleiben!«
Aber er hatte ihren Arm fest gepackt und ließ sie, von heftigem Zorn ergriffen, nicht los.
»Ich befehle Dir, Dich ganz ruhig zu verhalten, hörst Du? Oder Du wirst gleich mit ihr zusammen fortgehen ... Warum bist Du hereingekommen? Ich war krank infolge des Sturmes. Das geht niemand etwas an.«
Dann aber ergriff ihn ein weicheres Gefühl, und seine gewöhnliche Gutmütigkeit kam wieder zum Durchbruch, als er schließlich lächelnd sagte:
»Mein armes Mädchen! Warum ärgerst Du mich denn? Laß mich doch handeln, wie ich handeln muß zum besten von uns allen! Und jetzt kein einziges Wort mehr, sonst wirst Du mir großen Kummer bereiten!«
Die alte Martine hatte ihrerseits die Augen voller Thränen. Es war die höchste Zeit, daß sie einig geworden waren, denn Clotilde trat fast in demselben Augenblick ins Zimmer. Sie war frühzeitig aufgestanden und verlangte darnach, Pascal wiederzusehen, da sie ohne Zweifel noch immer bis zur letzten Minute hoffte, er würde sie bei sich behalten. Auch ihr waren du Augenlider schwer von der schlaflos verbrachten Nacht. Mit einem fragenden Ausdruck im Blicke sah sie ihm sofort starr ins Gesicht. Aber er war noch so schwach, daß sie sich ernstlich deswegen beunruhigte.
»Aber gewiß nicht! Ich versichere Dich, daß ich ohne den schrecklichen Mistral vortrefflich geschlafen haben würde ... Nicht wahr, Martine? Ich habe es Dir doch soeben auch gesagt.«
Die alte Dienerin gab ihm durch ein bestätigendes Kopfnicken recht. Und so sprach sich denn Clotilde auch nicht aus und erzählte nichts davon, wie sie diese schreckliche Nacht unter Kämpfen und Schmerzen zugebracht hatte, während er seinerseits fast ganz von Sinnen war. Die beiden Frauen verstanden ihn und thaten nichts anderes, als daß sie ihm gehorchten und ihm halfen bei seinem Bestreben, sich selbst zu vergessen.
»Warte,« sagte er, indem er seinen Sekretär öffnete, »ich habe da etwas für Dich ... Hier in diesem Couvert sind siebenhundert Franken ...«
Und obgleich sie lebhaften Einspruch erhob und sich dagegen heftig sträubte, legte er ihr doch Rechnung ab. Von den aus dem Verkauf der Schmuckgegenstände gelösten sechstausend Franken waren kaum zweihundert ausgegeben; er behielt hundert Franken für sich, um bis zum Ende des Monats davon leben zu können mit Hilfe der strengen Sparsamkeit und des finsteren Geizes, den er von nun an zeigte. Dann würde er ohne Zweifel die Souleiade verkaufen, er würde arbeiten, er würde es ganz gut verstehen, sich aus dieser Verlegenheit zu ziehen. Die fünftausend Franken aber, die noch übrig blieben, wollte er nicht anrühren, denn die wären seine Gabe für sie und sie würde sie in der Schublade finden.
»Meister, Meister! Du machst mir viel Kummer ...«
Er unterbrach sie.
»Ich will es, und Du bist es, die mir das Herz schwer machen konnte ... Es ist jetzt siebenundeinhalb Uhr; ich will daher hinuntergehen und die Koffer, da sie geschlossen sind, noch mit Stricken festbinden.«
Als Clotilde und Martine allein waren und sich Auge in Auge gegenüberstanden, sahen sie sich erst eine Zeit lang stillschweigend an. Seit den neuen Verhältnissen hatten sie deutlich ihre stumme Gegnerschaft empfunden, den leuchtenden Triumph der jungen Herrin und die düstere Eifersucht der alten Dienerin in der Nähe des von beiden angebeteten Herrn. Heute hatte es ganz den Anschein, als ob die letztere diejenige wäre, die die Siegerin bleiben sollte Aber in dieser letzten Minute brachte die gemeinsame Erregung sie wieder einander näher.
»Martine, man darf es nicht zulassen, daß er sich wie ein Armer nährt. Willst Du mir fest versprechen, daß er jeden Tag sein Fleisch und seinen Wein bekommt?«
»Sie brauchen keine Angst deswegen zu haben, Fräulein!«
»Und Du weißt, die fünftausend Franken, die dort drinnen ruhen, gehören ihm. Du wirst nicht von ihm fortgehen, wie ich hoffe, und wirst ihn nicht in seiner Verlassenheit vor Hunger sterben lassen. Ich will vielmehr, daß Du ihn recht verwöhnst.«
»Ich wiederhole Ihnen, Fräulein, daß ich meine Pflicht thun werde und daß es dem Herrn Doktor an nichts fehlen soll.«
Es trat von neuem Stillschweigen ein. Sie sahen sich fortwährend an.
»Passe ferner auch auf, daß er nicht zu viel arbeitet. Ich gehe sehr besorgt und unruhig fort, denn seine Gesundheit ist seit einiger Zeit weniger gut. Pflege ihn ordentlich, nicht wahr?«
»Seien Sie beruhigt, Fräulein, ich werde ihn schon ordentlich pflegen!«
»So vertraue ich Dir ihn denn an! Er will nur noch Dich bei sich haben, und es beruhigt mich wieder ein wenig, da Du ihn ja auch liebst. Liebe ihn mit all Deiner Kraft, liebe ihn für uns beide!«
»Ja, Fräulein, so sehr ich kann!«
Thränen traten ihnen in die Augen, und Clotilde sagte noch:
»Willst Du mich umarmen, Martine?«
»O, Fräulein, sehr gern!«
Sie lagen sich beide in den Armen, als Pascal wieder eintrat. Er that, als ob er es nicht sähe, ohne Zweifel, um nicht selbst gerührt zu werden. Mit überlauter Stimme sprach er von den letzten Vorbereitungen für die Abreise wie ein aufgeregter Mensch, der nicht will, daß man den Zug versäumt. Er hatte die Koffer noch mit Stricken umwunden, und der Vater Durieu sollte sie auf einem kleinen Wagen fortfahren, und man würde sie schon auf dem Bahnhofe vorfinden. Es war indessen erst acht Uhr, man hatte also noch zwei ganze Stunden vor sich. Das waren zwei lange schreckliche Stunden voller Herzensangst, voll schmerzlicher Ungeduld und bitterer, wohl hundertmal wiederholter Vorwürfe über den Bruch. Das Frühstück nahm kaum eine Viertelstunde Zeit in Anspruch. Dann mußte man sich erheben und wieder niedersetzen. Die Augen verließen die Uhr nicht. Die Minuten schienen ewig zu sein wie der Todesschlaf und endlos durch das finstere Haus der Trauer dahinzuziehen.
»Ah! Welch fürchterlicher Sturm!« sagte Clotilde bei einem neuen Anprall des Mistral, von dessen Ungestüm alle Thüren seufzten.
Pascal näherte sich dem Fenster und betrachtete das Zurückweichen der Bäume vor der Gewalt des Sturmes.
»Seit heute morgen ist er noch stärker geworden. Bald werde ich wegen des Daches besorgt sein müssen, denn die Ziegel fliegen bereits jetzt herum.«
Schon waren sie nicht mehr bei einander. Sie hörten nur noch den fürchterlichen Sturm, der, indem er alles hinwegfegte, auch ihr Leben mit davontrug.
Um achteinhalb Uhr fügte Pascal endlich einfach:
»Es ist Zeit, Clotilde!«
Sie erhob sich rasch von dem Stuhle, auf dem sie saß. Für einige Augenblicke hatte sie ganz und gar vergessen, daß sie fortgehen sollte. Jetzt trat ihr mit einem Schlage die schreckliche Gewißheit wieder vor die Seele. Zum letztenmale sah sie ihn an, ohne daß er die Arme öffnete, um sie zurückzuhalten. Es war alles aus. Und ihr Gesicht war wie im Tode erstarrt.
Zunächst wechselten sie noch einige alltägliche, gleichgiltige Redensarten.
»Du wirst mir schreiben, nicht wahr?«
»Gewiß, und gib mir auch so bald wie möglich Nachricht von Dir!«
»Vor allem rufe mich sofort zurück, wenn Du etwa krank werden solltest!«
»Ich verspreche es Dir! Aber es hat keine Gefahr, ich bin ja gesund und kräftig.«
Dann umfaßte Clotilde in dem Augenblicke, wo sie das ihr so liebe und traute Haus verließ, alles noch einmal mit einem letzten, überall umherschweifenden Blicke. Und sie warf sich an die Brust Pascals, sie hielt ihn fest mit ihren biegsamen Atmen umschlungen und stieß stotternd hervor:
»Ich will Dich hier umarmen, ich will Dir hier danken ... Meister, Du bist es, der mich zu dem gemacht hat, was ich bin. Wie Du oft wiederholt hast, hast Du alles, was ich durch Vererbung an mir habe, verbessert. Was wäre dort, wo Maxime aufgewachsen ist, aus mir geworden? Ja, wenn ich etwas wert bin, so verdanke ich es einzig Dir allein, nur Dir, der Du mich in dieses Haus der Wahrheit und Herzensgüte verpflanzt hast, wo Du mich hast aufwachsen lassen. Deiner Liebe würdig ... Heute nun, nachdem Du mich Dir zu eigen gemacht und mich mit Deinen Schätzen und Wohlthaten überhäuft hast, schickst Du mich wieder fort. Dein Wille soll geschehen, Du bist mein Herr, und ich gehorche Dir. Ich liebe Dich trotzdem, ich werde Dich immer lieben!«
Er drückte sie an sein Herz und antwortete:
»Ich will nur Dein Bestes, ich vollende mein Werk!«
Und bei dem letzten Kusse, den sie wechselten, bei diesem herzzerreißenden Kusse flüsterte sie seufzend mit ganz leiser Stimme:
»Ach, wenn doch das Kind gekommen wäre!«
Noch viel leiser, in einem tiefen schmerzlichen Seufzer, glaubte sie ihn folgende Worte undeutlich hervorstottern zu hören:
»Ja, ja, das andere erträumte Werk, das einzig Wahre und Schöne, das Werk, das ich nicht habe fertig bringen können ... Verzeihe mir und versuche glücklich zu sein!«
Die alte Frau Rougon war auf dem Bahnhofe, sehr heiter und lebhaft trotz ihrer vierundachtzig Jahre. Sie triumphirte, sie glaubte ihren Sohn jetzt endlich ganz in ihrer Hand zu halten, ihr vollständig auf Gnade und Ungnade ergeben. Als sie die beiden so niedergedrückt, so apathisch sah, übernahm sie die Besorgung von allem; sie löste das Billet, ließ das Gepäck einschreiben und brachte die Reisende in einem Damencoupé unter. Dann sprach sie des Langen und Breiten über Maxime, erteilte noch einige Aufträge und forderte dringend, immer auf dem Laufenden erhalten zu werden. Aber der Zug fuhr noch immer nicht ab, und es vergingen noch fünf fürchterliche Minuten, während welcher sie sich, ohne ein Wort zu sagen, Auge in Auge gegenüberstanden. Schließlich nahm auch das ein Ende, Umarmungen wurden ausgetauscht, ein Geräusch von rollenden Rädern entstand, und Taschentücher wehten.
Plötzlich bemerkte Pascal, daß er sich allein auf dem Perron befand, während der Zug dort unten verschwunden war an einer Biegung der Bahnlinie. Er hörte seine Mutter nicht, er eilte davon in dem wütenden Galopp eines jungen Menschen, stieg den Abhang hinauf, erklomm die Stufen der mörtellosen Mauern und befand sich in drei Minuten auf der Terrasse der Souleiade. Dort wütete der Mistral mit Riesengewalt und beugte die hundertjährigen Cypressen nieder wie Strohhalme. An dem farblosen Himmel schien die Sonne müde zu sein dieses langen Sturmes, der nun schon seit sechs Tagen ununterbrochen über ihr Gesicht dahingerast war. Und gleich den zerzausten Bäumen hielt Pascal wacker stand mit seinen Kleidern, die wie Fahnen im Winde klatschten, und seinem Bart und seinen verwirrten, vom Sturm gepeitschten Haaren. Ganz außer Atem, die beiden Hände auf sein Herz gepreßt, um das heftige Klopfen zu ersticken, sah er den Zug, der immer kleiner wurde und den der Mistral wie einen dürren Zweig mit vertrockneten Blättern hin und her fegte, in der Ferne dahineilen durch die kahle Ebene.