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Eine Zeit lang betrachtete Pascal die Aktenbündel, deren Menge riesig groß schien, wie sie so auf gut Glück auf den langen Tisch hingeworfen da lagen, in der Mitte des Arbeitssaales. In dem bunten Durcheinander hatten sich mehrere von den Umschlägen aus starkem blauem Papier geöffnet, und die Dokumente waren herausgefallen, Briefe, Zeitungsausschnitte, Schriftstücke auf Stempelpapier, handschriftliche Aufzeichnungen.
Schon suchte er, um die Pakete wieder zu ordnen, die mit großen Buchstaben auf die Umschläge geschriebenen Namen, als er mit einer heftigen Geberde die düstere, nachdenkliche Stimmung, in die er versunken war, von sich abschüttelte und, zu Clotilden gewendet, die in steifer Haltung stumm und bleich wartend da stand, sagte:
»Höre, ich habe Dir immer verboten, diese Papiere zu lesen, und ich weiß, daß Du mir gehorcht hast ... Ja, ich trug Bedenken, nicht etwa, weil Du wie die anderen ein unwissendes Mädchen bist, denn ich habe Dich alles vom Manne und vom Weibe lernen lassen, und das ist gewiß nur für schlechte Naturen gefährlich ... Allein zu welchem Zwecke Dich zu früh in diese schreckliche menschliche Wahrheit einweihen? Ich habe Dich daher mit der Geschichte unserer Familie, die die Geschichte aller, die Geschichte des ganzen Menschengeschlechtes ist, bisher verschont. Sie enthält viel Gutes und viel Schlechtes.«
Er hielt inne und schien sich in seinem Entschlusse zu bestärken, vollkommen beruhigt und von einer gebietenden Energie.
»Du bist fünfundzwanzig Jahre alt, Du sollst sie erfahren ... Und dann ist auch unser bisheriges Leben nicht mehr möglich. Du lebst und Du läßt mich leben in einem bösen, quälenden Traum, in dem Banne Deines Traumes. Ich will lieber, daß die Wirklichkeit, so abscheulich sie auch immer sein mag, sich vor uns entfaltet. Vielleicht wird der Schlag, den sie Dir versetzen wird, aus Dir die Frau machen, die Du sein sollst ... Wir wollen gemeinschaftlich jene Akten dort wieder ordnen und sie durchblättern und lesen, eine schreckliche Lektion des Lebens!«
Dann fügte er hinzu, da sie sich immer noch nicht rührte:
»Wir müssen aber ordentlich sehen können! Zünde noch die beiden anderen Lichter an, die dort stehen!«
Ein Verlangen nach großer Helligkeit hatte ihn ergriffen, er hätte am liebsten das blendende Sonnenlicht haben wollen; und er glaubte, daß auch diese drei Lichter noch nicht hell genug machten, und ging daher in sein Zimmer, um die zweiarmigen Leuchter zu holen, die dort standen. Die sieben Lichter brannten, und sie beide in ihrer mangelhaften Kleidung, er mit entblößter Brust, sie mit nacktem Halse und nackten Armen, die linke Schulter von Blut befleckt, sahen sich selbst nicht. Es hatte zwei Uhr geschlagen, aber weder der eine noch die andere war sich der Stunde bewußt, sie verbrachten die Nacht in diesem leidenschaftlichen Wissensdrange, ohne Verlangen nach Schlaf und vollständig entrückt ob Raum und Zeit. Das Gewitter, das am Horizonte gegenüber vor dem offenstehenden Fenster fortdauerte, wütete stärker.
Niemals hatte Clotilde bei Pascal solche fieberhaft brennende Augen gesehen. Er strengte sich seit einigen Wochen übermäßig an, seine moralischen Qualen und Aengste machten ihn zuweilen schroff trotz seiner so verträglichen Güte. Aber es schien, als ob eine unendliche Zärtlichkeit, gepaart mit brüderlichem Mitleid in seinem Innern lebendig würde in dem Augenblicke, wo er hinabtauchen wollte in die schmerzlichen Wahrheiten des Lebens; und es war etwas unendlich Nachsichtiges und Großes, daß er vor dem jungen Mädchen das entsetzliche Chaos der Thatsachen als etwas Unschuldiges hinstellen wollte. Er hatte den festen Willen dazu, er wollte alles sagen, da er alles sagen mußte, um alles zu heilen. War es denn nicht die verhängnisvolle Entwicklung, der beste Beweis, die Geschichte der Wesen, die sie so nahe berührten? Das Leben war nun einmal so, und man mußte es leben. Ohne Zweifel würde sie daraus gestählt, erfüllt von Duldsamkeit und Mut, hervorgehen.
»Man hetzt Dich gegen mich auf,« begann er von neuem, »man veranlaßt Dich, Schandthaten zu begehen, und es ist Dein Gewissen, das ich Dir wiedergeben will. Wenn Du wissen wirst, dann wirst Du urteilen und handeln. Komm näher heran und lies mit mir!«
Sie gehorchte. Dennoch erschreckten sie diese Akten, von denen ihre Großmutter mit so viel Zorn sprach, ein wenig, während zu gleicher Zeit die Neugier rege wurde und immer wuchs. Uebrigens beherrschte sie sich, nachdem sie durch die männliche Überlegenheit bezwungen worden war, die sie soeben umschlungen und fast zerdrückt hatte. Konnte sie es denn nicht hören, konnte sie nicht mit ihm lesen? Blieb ihr dann nicht immer noch das Recht, sich ablehnend zu verhalten oder sich zu ergeben? Sie wartete es ab.
»Also, willst Du?«
»Ja, Meister, ich will!«
Zuerst war es der Stammbaum der Rougon-Macquarts, den er ihr zeigte. Er schloß ihn für gewöhnlich nicht in den Schrank ein, sondern bewahrte ihn in dem Sekretär in seinem Zimmer auf, von wo er ihn mitgebracht, als er die Kandelaber geholt hatte. Seit mehr als zwanzig Jahren hielt er ihn im Laufenden, indem er die Geburten und Todesfälle aufzeichnete, und die Heiraten, die wichtigsten Familienereignisse und alle die einzelnen Fälle mit kurzen Bemerkungen versah nach seiner Vererbungstheorie. Es war ein großes Blatt von gelbem Papier, durch den Gebrauch zerknittert, auf welchem sich, mit kräftigen Strichen entworfen, ein symbolischer Baum erhob, dessen abstehende, verzweigte Aeste fünf Reihen von großen Blättern hatten; und jedes Blatt trug einen Namen und enthielt in seiner Schrift eine Biographie, einen Vererbungsfall.
Die Freude des Gelehrten erfüllte den Doktor beim Anblicke dieses Werkes von zwanzig Jahren, in dem sich so genau und so vollständig aufgezeichnet die von ihm aufgestellten Gesetze der Vererbung vorfanden.
»Sieh Dir es doch an, Töchterchen! Du weißt schon lange genug davon. Du hast genug von meinen Aufzeichnungen abgeschrieben, um es zu verstehen ... Ist es nicht schon ein solches Ganze, ein so sicheres und so vollständiges Dokument, in dem sich auch nicht eine einzige Lücke befindet? Man konnte es ein am Schreibtische des Gelehrten ausgeklügeltes Experiment nennen, ein auf einer Tafel gestelltes und gelöstes Problem ... Du siehst, hier unten ist der Stamm, der gemeinsame Ursprung, Tante Dide. Dann gehen davon drei Zweige aus, der legitime Pierre Rougon, und die beiden Bastarde, Ursule Macquart und Antoine Macquart. Dann wachsen die neuen Zweige heraus und verästeln sich auf der einen Seite in Maxime, Clotilde und Victor, die drei Kinder von Saccard, und in Angélique, die Tochter von Sidonie Rougon; auf der andern Seite in Pauline, die Tochter von Lisa Macquart, und in Claude, Jacques, Etienne und Anna, die Kinder von deren Schwester Gervaise. Da steht am Schlusse noch Jean, der Bruder der beiden. Und hier in der Mitte bemerkst Du das, was ich den Knoten nenne, wo sich der legitime und der illegitime Zweig vereinigen in Marthe Rougon und ihrem Vetter, Francis Mouret, um drei neue Zweige hervorsprießen zu lassen, Octave, Serge und Desirée Mouret; außerdem sind noch die Sprößlinge Ursules und des Hutmachers Mouret da, Silvère, dessen tragisches Ende Du kennst, dann Hélène und ihre Tochter Jeanne. Endlich ganz dort oben befinden sich die letzten Reiser, unser armer Charles, der Sohn Deines Bruders Maxime, und zwei andere kleine Verstorbene, Jacques-Louis, der Sohn von Claude Lantier, und Louiset, der Sohn von Anna Coupeau ... Im Ganzen fünf Generationen, ein menschlicher Baum, der schon in fünf Frühjahren, in fünf Lenzen der Menschheit Aeste hat hervorsprießen lassen durch die treibende Kraft des unvergänglichen Lebens!«
Er wurde immer lebhafter und begann mit dem Finger die einzelnen Fälle zu zeigen auf dem alten vergilbten Papier wie auf einer anatomischen Tafel.
»Und ich wiederhole Dir, was alles hier zu finden ist ... Sieh also, wie sich in der direkten Vererbung die Eigenschaften der Mutter übertragen bei Silvère, Lisa, Desirée, Jacques, Louiset und Du bei Dir selbst; die des Vaters bei Sidonie, François, Gervaise, Octave, Jacques-Louis. Dann sind da drei Falle von Vermischung: durch die Verschmelzung bei Ursule, Anna, Victor; durch die Verteilung bei Maxime, Serge, Etienne; durch den Zusammenfluß bei Antoine, Eugène, Claude. Außerdem habe ich noch einen vierten Fall annehmen müssen, die gleichmäßige Vermischung bei Pierre und Pauline. Und dann bieten sich auch Varietäten dar, zum Beispiel geht oft der Charakter der Mutter Hand in Hand mit der äußeren Aehnlichkeit des Vaters, oder es findet auch das Gegenteil statt, ebenso wie bei der Vermischung das physische und moralische Uebergewicht einem oder dem andern Faktor angehört je nach den Umständen ... Dann ist hier die indirekte Vererbung, die von den Seitenverwandten; ich habe davon nur ein einziges wohl begründetes Beispiel: die frappante physische Aehnlichkeit von Octave Mouret mit seinem Oheim Eugene Rougon. Ich habe auch nur ein Beispiel von der Vererbung durch Beeinflussung: Anna, die Tochter von Gervaise und Coupeau, glich auffallend, namentlich in ihrer Kindheit, dem ersten Geliebten ihrer Mutter, gleich als ob er diese für immer gezeichnet hätte ... Aber worin ich reich bin, das sind die Fälle der zurückgreifenden Vererbung; drei der schönsten und treffendsten Beispiele habe ich da: Marthe, Jeanne und Charles gleichen der Tante Dide, die Aehnlichkeit hat in diesen Fällen eine, zwei, drei Generationen übersprungen. Dieser merkwürdige Vorfall ist sicherlich ganz exzeptionell, denn ich glaube nicht an den Atavismus; es scheint mir, daß die neuen, durch die Ehegatten, die Zufälle und die unendliche Mannigfaltigkeit der Mischungen hinzugebrachten Elemente sehr rasch die Charaktere verwischen, in der Art, daß sie das Individuum wieder zu dem allgemeinen Typus zurückführen ... Es bleibt nun noch übrig das Angeborensein, Hélène, Jean und Angélique. Das ist die Kombination, die chemische Mischung, wo sich die physischen und moralischen Charaktere der Eltern vereinigen, ohne daß sich etwas von ihnen in dem neuen Wesen vorzufinden scheint.«
Es trat eine Pause ein. Clotilde hatte ihm mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zugehört, da sie ihn verstehen wollte. Und er war jetzt ganz von der Sache erfüllt, seine Augen waren fortwährend auf den Stammbaum gerichtet in dem lebhaften Verlangen, sein Werk gerecht zu beurteilen. Dann fuhr er langsam zu reden fort, gleich als ob er mit sich selber spräche:
»Ja, das ist so wissenschaftlich wie nur möglich ... Ich habe da nur die Mitglieder der Familie eingetragen, ich hätte eigentlich auch den Ehegatten, den Vätern und Müttern, die von außen hinzugekommen sind, deren Blut sich mit dem unserigen vermischt hat und die es seitdem geändert haben, den gleichen Platz einräumen sollen. Ich hatte einen mathematischen Stammbaum entworfen, bei dem der Vater und die Mutter sich zur Hälfte dem Kinde vererbten, von Generation zu Generation, in der Art, daß zum Beispiel bei Charles der Teil der Tante Dide nur ein Zwölftel wäre; das war aber Unsinn, da die Aehnlichkeit in diesem Falle eine vollständige ist. Ich habe es deshalb für genügend gehalten, die von anderswo hinzugekommenen Elemente anzugeben, indem ich den Heiraten Rechnung trug und dem neuen Faktor, den sie jedesmal einführten ... Ja, diese beginnenden Wissenschaften, diese Wissenschaften, wo die Hypothese stammelt und wo die Einbildungskraft Herrin ist, sie sind ebensosehr die Domäne der Dichter wie der Gelehrten! Die Dichter marschiren als Bahnbrecher in der Vorhut, und oft entdecken sie jungfräuliches Land und zeigen die kommenden Lösungen an. Es gibt da ein Grenzgebiet, das ihnen gehört, zwischen der schon errungenen definitiven Wahrheit und dem Unbekannten, von wo aus man die Wahrheit von morgen erreichen wird ... Welch ungeheures Freskogemälde könnte man von der Vererbung malen, welche gewaltige menschliche Komödie und Tragödie könnte man von der Vererbung schreiben, von der Vererbung, welche die eigentliche Entstehungsgeschichte der Familien, der Gesellschaften, der Welt selbst ist!«
Seine Augen waren leer geworden, er schien seinen Gedanken nachzugehen und sich in die Ferne zu verlieren. Aber mit einer plötzlichen Bewegung kehrte er zu den Akten zurück, warf den Stammbaum beiseite und sagte:
»Wir werden ihn sogleich wieder vornehmen; denn damit Du jetzt alles begreifst, ist es notwendig, daß sich die Ereignisse vor Dir abspielen, und daß Du sie bei der Handlung siehst, alle diese Schauspieler, die hier mit kurzen, alles Wissenswerte enthaltenden Noten beschrieben sind ... Ich werde Dir die Akten nennen, und Du wirst mir ein Bündel nach dem andern geben; ich werde Dir sie zeigen, ich werde Dir erzählen, was ein jedes von ihnen enthält, bevor wir es wieder dort hinauf in das Fach legen. Ich werde mich nicht an die alphabetische Reihenfolge halten, sondern dem Gange der Ereignisse folgen. Schon seit langem will ich diese Anordnung treffen ... Vorwärts, suche die Namen auf den Umschlägen! Zuerst Tante Dide!«
In diesem Augenblicke traf ein Streifen des Gewitters, das den Horizont in Flammen setzte, die Souleiade und entlud sich in einem vorsintflutlichen Regen. Aber sie schlossen selbst da nicht das Fenster. Sie hörten weder die Donnerschläge noch das Rauschen der Wasserflut, die sich auf das Dach ergoß. Sie hatte ihm das Aktenbündel übergeben, das den Namen der Tante Dide in großen Buchstaben trug. Er zog daraus Papiere von allen Sorten hervor, alte Aufzeichnungen, von ihm selbst geschrieben, und begann sie ihr vorzulesen.
»Gib mir Pierre Rougon! – Gib mir Ursule Macquart! – Gib mir Antoine Macquart!«
Stumm gehorchte sie immer, das Herz von Furcht beklommen bei allem, was sie vernahm. Und alle die Aktenbündel kamen der Reihe nach daran, entfalteten ihre Dokumente und wanderten dann in den großen Schrank zurück, wo sie aufgestapelt wurden.
Da waren zuerst die Alme, Adelaide Fouque, das große, verwirrte Mädchen, der erste Nervenschaden, welcher den legitimen Sprößling, Pierre Rougon, und die beiden Bastarde, Ursule und Antoine Macquart, geboren hatte. Man übersah jene ganze bürgerliche und blutige Tragödie, wie bei dem Staatsstreich im Dezember 1851 die Rougons, Pierre und Felicité in Plassans die Ordnung aufrecht erhielten und ihr beginnendes Glück mit dem Blute Silvères besudelten, während die alt gewordene Adelaide, die elende Tante Dide, in Les Tulettes eingeschlossen wird wie eine gespenstische Figur der Sühne und der Erwartung. Dann wird der ganze Schwarm der Begierden, das gebieterische Verlangen nach Macht losgelassen, bei Eugène Rougon, dem großen Mann, dem Adler der Familie, der in seinem Stolze höhnisch den gemeinen Interessen den Rücken wandte, der die Gewalt wegen der Gewalt liebte, mit den Abenteurern des kommenden Kaiserreichs Paris in alten Stiefeln eroberte, aus dem gesetzgebenden Körper in den Senat emporstieg, nach dem Präsidentenstuhle des Staatsrates einen Ministerposten inne hatte, eine Kreatur seiner Anhänger, einer ganz verlumpten Bande, die ihn hielt und an ihm zehrte; eine Zeit lang wurde er von einer Frau beherrscht, der schönen Clorinde, nach der er ein thörichtes Verlangen trug, aber trotz allem wirklich kraftvoll und so sehr von dem glühenden Wunsch beseelt, der Herr zu sein, daß er, dank einer Verleugnung seines ganzen Lebens, die Macht wieder gewann und der triumphirenden Herrlichkeit eines Vicekaisers entgegenschritt. Bei Aristide Saccard stürzte sich die Begierde auf niedere Genüsse, auf das Geld, die Weiber und den Luxus, ein Heißhunger packte ihn, der ihn hinaustrieb bei dem Regime der wilden Jagd, bei dem Sturm der gewagtesten Spekulationen, der durch die Stadt dahingebraust war, die an allen Ecken und Enden angebohrt und aufs neue aufgebaut würde, bei der Hochflut unverschämt großer Vermögen, die in sechs Monaten erworben, vergeudet und wieder erworben wurden. Sein Durst nach Gold, die sich immer steigernde Trunkenheit hatten ihn dahin gebracht, seinen Namen zu verkaufen, als kaum der Körper seiner Frau Angèle kalt geworden war, um die ersten unentbehrlichen hunderttausend Franken zu bekommen, indem er Renée heiratete; diese Trunkenheit bewog ihn dann später, im Augenblick einer Geldkrisis den Ehebruch zu dulden, seine Augen zu verschließen in Betreff der verbrecherischen Liebe zwischen seinem Sohn Maxime und seiner zweiten Frau in dem Festjubel von Paris. Und es war auch Saccard, der einige Jahre später die enorme Millionenpresse der Banque Universelle in Schwung brachte, der nie besiegte Saccard, der immer höher steigende Saccard, der sich aufgeschwungen zu einem geist- und mutvollen großen Finanzier, der die grausame und zivilisatorische Rolle des Geldes sehr gut begriff, der an der Börse Schlachten lieferte, gewann und verlor, wie Napoleon bei Austerlitz und Waterloo, der während des Unglücks eine ganze Welt bedauernswerter Menschen vernichtete, der seinen natürlichen Sohn Victor in das Unbekannte des Verbrechens trieb, als er verschwunden war, in dem Dunkel der Nächte dahinfliehend, während er selbst unter dem gefühllosen Schutze der ungerechten Natur von der anbetungswürdigen Frau Karoline geliebt wurde, ohne Zweifel zur Belohnung für all das Schlechte, was er gethan. Da gab es auch eine edle, unberührte Liebe auf diesem Düngerhaufen; Sidonie Rougon, die Kupplerin ihres Bruders Saccard, die Unterhändlerin bei Hunderten von unsauberen Geschichten, gebar von einem Unbekannten die reine, engelgleiche Angélique, die kleine Stickerin mit den Feenhänden, die in das Gold der Meßgewänder ihren Traum von dem reizenden Prinzen stickte, die so weltentrückt unter ihren Genossen, den Heiligen, lebte und so wenig für die rauhe Wirklichkeit geschaffen war, daß ihr die Gnade zu teil wurde, an der Liebe zu sterben an ihrem Hochzeitstag unter dem ersten Kusse von Felicien de Hautecoeur und dem Läuten der Glocken, die ihre königliche Hochzeit verkündeten. Dann fand die Verknüpfung der beiden Zweige, des legitimen und des illegitimen, statt; Marthe Rougon heiratete ihren Vetter François Mouret, es gab eine friedliche Ehe, die aber langsam auseinanderging und bei der es schließlich zu schlimmen Katastrophen kam; sie war eine sanfte, traurige Frau, mitgenommen, abgenutzt und aufgerieben durch die langwierigen Kämpfe um die Eroberung einer Stadt; ihre drei Kinder wurden ihr entrissen, sie läßt sogar ihr Herz unter der rohen Faust des Abbé Faujas, und die Rougons retteten zum zweitenmale Plassans, während sie im Sterben lag bei dem Scheine einer Feuersbrunst, in deren Flammen ihr Gatte, rasend vor lange verhaltener Wut und Rachedurst, umkam mit dem Abbé. Von ihren drei Kindern war Octave Mouret, der kühne Eroberer mit scharfem Verstande, entschlossen, durch die Frauen die Herrschaft von Paris zu erlangen, der mitten hinein in die verdorbene Bourgeoisie geriet, dort eine schreckliche, verderbliche Erziehung genoß und von der launenhaften Abweisung der einen zur sanften Hingebung der andern taumelte. Bis auf die Hefe die Unannehmlichkeiten des Ehebruches auskostend, blieb er aber dennoch glücklicherweise immer ein thätiger Arbeiter und Kämpfer, allmälich etwas abgenützt, trotz allem jedoch groß außerhalb der niedern Sphäre dieser verkommenen Welt, deren Krachen man vernahm. Und der siegreiche Octave Mouret schuf eine vollständige Umwälzung des Großhandels, vernichtete die kleinen Geschäfte des alten Gewerbes und errichtete mitten in dem fieberhaft erregten Paris den großen Palast der Versuchung, der in Lichterglanz erstrahlte, überreich ausgestattet mit Sammet, Seide und Spitzen; er gewann ein königliches Vermögen durch Ausbeutung der Frauen und lebte in der lächelnden Verachtung des Weibes bis zu dem Tage, an dem ihm eine Rächerin in der kleinen, sehr einfachen und sehr klugen Denise erstand, die ihn zähmte und ihn zu ihren Füßen in verliebter Sehnsucht schmachten ließ, so lange sie, die Arme, nicht die Gnade hatte, ihn, der inmitten der Apotheose seines Louvre unter dem Goldregen der Einnahmen stand, zu heiraten. Es blieben noch die beiden anderen Kinder übrig, Serge Mouret und Desirée Mouret, diese unschuldig und gesund wie ein junges, glückliches Tier, er, aufgeklärt und mystisch, durch den Zufall nervöser Veranlagung zum Priesterstande hingeleitet, wiederholte er die Geschichte Adams in dem sagenhaften Paradou und wurde gleichsam wieder geboren, um Albine zu lieben, sie zu besitzen und zu verderben am Busen der großen, mitschuldigen Natur; dann von der Kirche wieder angezogen, der ewige Krieg mit dem Leben, kämpfte er für den Tod seines Geschlechts und warf auf den Körper der toten Albine als Priester die Handvoll Erde zur nämlichen Stunde, da Desirée, die schwesterliche Freundin der Tiere, vor Freude jubelte über die reiche Fruchtbarkeit ihres Hühnerhofes. Dann weiter eröffnete sich ein Ausblick auf ein friedliches und tragisches Dasein: Hélène Mouret lebte friedlich mit ihrer kleinen Tochter Jeanne auf den Höhen von Passy, die Paris beherrschen, einen menschlichen Ozean ohne Grenze und ohne Grund. Im Angesichte desselben spielte sich jene Liebestragödie ab, das leidenschaftliche Entflammen Hélènens für einen vorübergehend anwesenden Arzt, den der Zufall bei Nacht an das Krankenbett ihrer Tochter führte; krankhafte Eifersucht ergriff Jeanne, eine instinktive Liebeseifersucht, die ihrer Mutter die Liebe streitig machte und schon so von diesem Leiden zerstört war, daß sie daran starb, der schreckliche Preis für eine Stunde des Verlangens in einem ganzen vernünftigen Leben! Die arme, liebe, kleine Verstorbene liegt allein dort oben unter den Cypressen des schweigsamen Friedhofs vor dem ewigen Paris. Mit Lisa Macquart begann der illegitime Zweig, in ihr frisch und kräftig, das Glück eines gesunden Körpers zeigend, wenn sie, in weißer Schürze, auf der Schwelle ihres Fleischerladens stehend, zu den Zentralmarkthallen hinüber lachte, wo ein hungerndes Volk murrte: der hundertjährige Kampf der Fetten und der Mageren; der magere Florent, ihr Schwager, wurde verwünscht und umzingelt von den dicken, Fischweibern und den anderen dicken Händlerinnen, und sie selbst, die dicke Fleischersfrau, von einer unbeugsamen Rechtlichkeit, aber mitleidslos, ließ ihn als bannbrüchigen Republikaner festnehmen, überzeugt, daß sie im Interesse aller ehrlichen Leute handelte. Von dieser Mutter wurde das gesündeste und natürlichste aller Mädchen geboren, Pauline Quenu, die maßvolle und kluge Jungfrau, die das Leben kannte und es annahm, so, wie es war. In ihrer Nächstenliebe ging sie sogar so weit, daß sie, trotz des energischen Widerstrebens ihrer fruchtbaren Reife, einer Freundin ihren Verlobten Lazare überließ, später das Kind der getrennten Ehe rettete und dessen wirkliche Mutter wurde. Sie hatte sich immer aufgeopfert zu ihrem eigenen Schaden und war doch glücklich und heiter in ihrer monotonen Abgeschiedenheit, im Angesicht des erhabenen Meeres, inmitten einer ganz kleinen Welt von Leidenden, die laut über ihre Schmerzen jammerten und nicht sterben wollten.
Dann kam Gervaise Macquart mit ihren vier Kindern daran, die hinkende Gervaise, die lustige Arbeiterin, die ihr Liebhaber Lantier einst hinaus auf die Straße jagte, wo sie die Bekanntschaft des Zinngießers Coupeau machte, eines guten Arbeiters, der kein Kneipbruder war und den sie heiratete. In der ersten Zeit war sie sehr glücklich; drei Arbeiterinnen beschäftigte sie in ihrem Waschgeschäfte. Dann aber geriet sie mit ihrem Manne zusammen auf eine schiefe Ebene, er, indem er sich nach und nach dem Schnapstrinken ergab, das ihn bis zum Delirium und zum Tode führte; sie selbst, indem sie sittlich verkam, faul und durch die Rückkehr Lantiers noch vollends zu Grunde gerichtet wurde, inmitten der stillen Schande einer Haushaltung zu dreien; sie wurde das beklagenswerte Opfer des an ihrem Falle mitschuldigen Elends, das sie endlich eines Abends tötete, da sie nichts zu essen hatte. Ihr ältester Sohn hatte das verhängnisvolle Genie eines großen, aus dem Gleichgewichte gekommenen Malers. Er verzehrte sich in ohnmächtiger Wut darüber, daß seine ungehorsamen Finger das Meisterwerk, welches er in sich fühlte, nicht ans Tageslicht fördern konnten. Ein gewaltiger Streiter, wurde er immer geschlagen, ein Märtyrer eines Werkes, der das Weib anbetete und seine Frau Christine, die ihn so liebte und die auch er eine kurze Zeit liebte, der ungeschaffenen Frau opferte, die er einer Göttin gleich vor sich sah und die sein Pinsel doch nicht in ihrer gebieterischen Nacktheit festhalten konnte, erfüllt von der verzehrenden Leidenschaft, diesem Phantasiegebilde Gestalt zu geben, von dem unersättlichen Verlangen, es zu schaffen. Und da er diesen Drang nicht befriedigen konnte, packte ihn eine so entsetzliche Schwermut, daß er sich schließlich erhängte. Jacques brachte den Hang zum Verbrechen als Erbfehler mit, der sich in einem unlöschlichen Durst nach Blut zu erkennen gab, nach frischem, jungem Blute aus der abgeschnittenen Kehle einer Frau, der ersten besten, die auf der Straße vorüberging. Er kämpfte gegen dieses fürchterliche Uebel, aber es ergriff ihn wieder im Verlaufe seines Liebesverhältnisses mit der weichen, sinnlichen Sévérine, die selbst in dem unaufhörlichen Schauer einer tragischen Mordgeschichte lebte. Und eines Abends erdolchte er sie, rasend gemacht von dem Anblicke ihres weißen Busens, und es war, als ob diese tierische Raserei zwischen den Eisenbahnzügen mit weiter eilte, die in großer Geschwindigkeit dahinsausten unter dem Gepolter der Maschinen. Und er stieg auf seine Lieblingsmaschine, die ihn eines Tages zermalmte, als sie führerlos und wie rasend dem unbekannten Verderben entgegenfuhr. Etienne seinerseits, gehetzt, verdorben, kam in einer eisigen Märznacht in das schwarze Land; er stieg hinab in die gefräßige Grube, liebte die trauernde Katharine, die ihm ein brutaler Mensch raubte, lebte mit den Grubenarbeitern ihr düsteres, erbärmliches Leben bis zu dem Tage, an welchem der Hunger einen Aufstand wachrief und die heulende Masse der Elenden, die nach Brot schrie, über das öde Gefilde dahinführte, einen durch Feuer und Verwüstung gekennzeichneten Weg, den drohenden Soldaten entgegen, deren Gewehre gleichsam von selber losgingen. Es war eine schreckliche Erschütterung, eine entsetzliche Umwälzung, die das Ende einer Welt anzeigte; das Blut der Maheu fordert Rache, die ihr später werden sollte; Alzire war vor Hunger gestorben, Maheu durch eine Kugel getötet worden und Zacharias durch schlagende Wetter, die Katharine im Schachte begruben; und nur allein Maheus Frau kam mit dem Leben davon. Sie beweinte ihre Toten und stieg wieder hinab in die Grube, um ihre dreißig Sous zu verdienen, während Etienne, der Anführer der geschlagenen Bande, heimgesucht von Ahnungen einer zukünftigen Wiedervergeltung, an einem lauen Aprilmorgen sich davonmachte, da er das stumme Drängen der neuen Welt vernahm, deren Emporkeimen bald die Erde spalten würde. Dann kam Nana; sie wurde die Rächerin, das in den Kot der Straße gestoßene Mädchen, die Goldfliege, die aufgeflogen war aus dem Schmutz der geduldeten und verheimlichten Gemeinheit, auf den Schwingen ihrer Flügel brachte sie mit sich den Keim der Vernichtung, indem sie sich aufschwang und die Aristokratie in Fäulnis brachte, die Menschen vergiftete durch nichts weiter, als daß sie sich auf sie setzte im Innern der Paläste, in die sie durch die Fenster eindrang, ein ganz unbewußtes Zerstörungs- und Vernichtungswerk ausführend. Ihr Werk ist der wahnwitzige Anfall von Vandeuvres, die Melancholie Foucarmonts bei seiner Fahrt durch die chinesischen Meere, das Unglück Steiners, der zu einem ehrbaren Leben gezwungen zurückkehrte, die befriedigte Narrheit von La Faloise und der tragische Untergang der Muffat. Und als ihr Opfer lag da der weiße Leichnam von Georges, bewacht von Philipp, der tags zuvor aus dem Gefängnis gekommen war; es lag eine solche Ansteckung in der verpesteten Luft dieser Zeit, daß sie selbst davon ergriffen wurde und an den Kinderpocken starb, die sie sich am Totenbette ihres Sohnes Louiset geholt hatte, während unter ihren Fenstern Paris, trunken und von der Tollheit des Krieges ergriffen, lärmte und tobte und dem allgemeinen Zusammenbruche zustürzte. Da war endlich Jean Macquart, der Arbeiter und der wieder Bauer gewordene Soldat im Kampfe mit der harten Erde, die sich jedes Getreidekorn mit einem Tropfen Schweiß bezahlen ließ, vor allem aber im Streite mit der Landbevölkerung, die eine rohe Gier, die lange und schwierige Bearbeitung des Bodens ohne Aufhören zu dem wütenden Verlangen nach Besitz anreizte; die alten Fouans traten ihre Felder ab, als gäben sie ihr eigenes Fleisch her; die verzweifelten Buteaus gingen bis zum Vatermorde, um die Erbschaft eines Kleefeldes zu beschleunigen; die eigensinnige Françoise kam durch einen heimtückischen Stoß ums Leben, ohne zu sprechen, da sie nicht wollte, daß auch nur ein Erdkloß der Familie entginge: jenes ganze Drama der Einfachen und der Naturmenschen, die sich kaum aus dem alten wilden Zustande herausgearbeitet hatten, der ganze menschliche Schmutzflecken auf der großen Erde, die allein die Unsterbliche bleibt, die Mutter, von der man ausgeht und zu der man zurückkehrt, sie, die man liebt bis zum Verbrechen, die fortwährend das Leben für ihren unbekannten Zweck erneuert, selbst unter dem Elend und der Schlechtigkeit der Wesen. Und es war wiederum Jean, der, nachdem er Witwer geworden und sich bei den ersten Kriegsgerüchten wieder hatte anwerben lassen, die unerschöpflichen Hilfsmittel, den Fonds ewiger Verjüngung, den die Erde aufbewahrt, mitbrachte – Jean, der niedrigste, der standhafteste Soldat des großen Zusammenbruchs, mit fortgerissen von der Grenze bis nach Sedan von dem schrecklichen und verhängnisvollen Sturm, der das Vaterland hinwegzufegen drohte, indem er das Kaiserreich ins Schwanken brachte; es war Jean, der, immer klug, besonnen und unerschütterlich in seiner Hoffnung, mit brüderlicher Zärtlichkeit seinen Kameraden Maurice liebte, den verdorbenen Sohn der Bourgeoisie, das zur Sühne bestimmte Opfer, der blutige Thränen weinte, als das unerbittliche Geschick ihn dazu auswählte, dieses untaugliche Glied zu vernichten; der dann, nachdem alles zu Ende war, nach den fortwährenden Niederlagen, nach dem abscheulichen Bürgerkriege, nachdem die Provinzen verloren und die Milliarden zu bezahlen waren, sich trotz alledem wieder anschickte, zur Scholle zurückzukehren, die seiner harrte, zu der großen und schweren Arbeit, ein ganzes Frankreich wieder herzustellen. –
Pascal schwieg still. Clotilde hatte ihm alle Aktenstücke, eins nach dem andern, gereicht, und er hatte sie durchgeblättert, ihren Inhalt kurz angegeben, sie dann wieder eingeordnet und in das Fach oben in dem Schranke zurückgestellt; er war ganz außer Atem und erschöpft von dem gewaltigen Zuge, der durch diese lebende Menschheit hindurchging, während das junge Mädchen sprachlos und bewegungslos in dem betäubenden Tosen dieses die Ufer überschäumenden Lebensstromes immer zuhörte, unfähig einer Ueberlegung und eines Urteils. Das Unwetter fuhr fort, das finstere Land mit seinem endlos herabströmenden, vorsintflutlichen Regen zu peitschen. Ein Blitz- und Donnerschlag zerschmetterte soeben einen Baum in der Nachbarschaft mit einem fürchterlichen Krachen. Die Kerzen flackerten ängstlich auf in dem durch das offene Fenster hereinwehenden Windzuge.
»Ah!« begann er von neuem, indem er mit einer Handbewegung auf die Aktenbündel zeigte, »das ist eine Welt! Eine Gesellschaft und eine Zivilisation, und das ganze Leben ist darin enthalten mit allen seinen guten und schlechten Offenbarungen, wie in dem Feuer und der Arbeit einer Schmiede, die alles verarbeitet, das ganze Leben, das alles in sich schließt ... Ja, unsere Familie könnte heute der Wissenschaft als Beispiel genügen, deren Hoffnung es ist, eines Tages die Gesetze der nervösen und sanguinischen Vorfälle festzustellen, die in einem Geschlechte infolge einer ersten organischen Beschädigung sich zeigen und die die Empfindungen, die Wünsche, die Leidenschaften, alle menschlichen Aeußerungen, die natürlichen und instinktiven, bei jedem einzelnen der Individuen dieses Geschlechts bestimmen, deren Erzeugnisse die Namen von Tugenden und Lastern annehmen. Und sie ist auch ein geschichtliches Dokument, sie erzählt von dem zweiten Kaiserreich, von dem Staatsstreich an bis zur Katastrophe von Sedan, denn die Unsrigen sind aus dem Volke hervorgegangen, sie haben sich ausgebreitet durch die ganze zeitgenössische Gesellschaft, sie sind in alle Verhältnisse eingedrungen, in alle Lagen gekommen, hingerissen von ihren überschäumenden Begierden, von jenem wesentlich modernen Drange, jenem Peitschenschlage, der die niederen Klassen zum Genüsse treibt auf dem Wege durch die Gesellschaft ... Die Anfänge, von denen ich Dir erzählt habe, sind ausgegangen von Plassans; und wir sind hier noch in Plassans, auf dem Ausgangspunkte.«
Er schwieg von neuem, er versank in träumerisches Nachsinnen, das ihn verstummen ließ.
Welch entsetzliche Masse war da aufgewühlt, welche lustigen und welche schrecklichen Abenteuer, welche Freuden, welche Leiden dem Papiere anvertraut in dieser kolossalen Sammlung von Thatsachen ... Das war reine Geschichte, das auf Blut gegründete Kaisertum, welches zuerst mit Gewalt und List sich Ansehen verschaffte und die aufrührerischen Städte eroberte, dann aber einer langsamen Zerrüttung zuglitt und im Blute unterging, in einem solchen Meer von Blute, daß die ganze Nation davon überschwemmt werden mußte ... Da gab es soziale Studien, den Groß- und Kleinhandel, die Prostitution, das Verbrechen, die Erde, das Geld, die Bourgeoisie, das Volk, dasjenige, das sich in der Kloake der Vorstädte herumwälzte, und dasjenige, das in den großen industriellen Zentren revoltirte, jene gewaltige, wachsende Menge des souveränen Sozialismus, der Hauptteil der Kinder des neuen Jahrhunderts ... Da waren einfache menschliche Studien, intime Seiten, Liebesgeschichten, der Streit der Vernunft und der Herzen gegen die ungerechte Natur, die Vernichtung derjenigen, die unter ihrer zu schweren Arbeit aufschrieen, der Schrei der Gutherzigkeit, die sich aufopfert, siegend über den Schmerz. Es war da auch Phantasie, die Einbildung, die über die Wirklichkeit hinausflog, ungeheure Gärten, die zu jeder Jahreszeit in Blüte standen, Kathedralen, bis in die feinsten Spitzen kostbar ausgearbeitet, wunderbare Märchen, dem Paradiese entsprossen, ideale Liebe, die in einem Kusse wieder zum Himmel aufstieg ... Es war von allem da, von dem Ausgezeichneten und von dem Schlechtesten, von dem Gemeinen und von dem Erhabenen, es waren die Blumen da, der Schmutz, das Seufzen und das Lachen, selbst der ohne Ende dahinrauschende Strom des Lebens, die Menschlichkeit!
Und er nahm wieder den Stammbaum zur Hand, der allein auf dem Tische liegen geblieben war, breitete ihn aus und begann wieder, ihn mit dem Finger zu durchlaufen, indem er jetzt die Glieder der Familie aufzählte, die noch am Leben waren, Eugène Rougon, die gefallene Größe, blieb in der Kammer der Zeuge, der kaltblütige Verteidiger der alten Welt, die der Zusammenbruch mit sich gerissen hatte. Aristide Saccard kam, nachdem er einen neuen Menschen angezogen hatte, wieder auf seine republikanischen Sprünge als Direktor eines großen Journals und war im besten Zuge, neue Millionen zu gewinnen, während sein natürlicher Sohn Viktor nicht wieder zum Vorschein gekommen war; er lebte im Schatten des Verbrechens, da er nicht im Bagno war, von der Welt gehetzt, für die ihn erwartende Zukunft, den Schrecken des Schaffots, ebenso wie ein wildes, von erblichem Gifte schäumendes Tier, welches das Uebel mit jedem seiner Bisse vergrößern muß, Sidonie Rougon, die lange Zeit verschwunden war, stand jetzt, müde der schmutzigen Geschäfte, im Begriff, eine strenge, klösterliche Lebensweise zu führen und sich in eine Art Kloster zurückzuziehen als Schaffnerin des » Oeuvre du Sacrament«, um gefallenen Mädchen zu einer Heirat zu verhelfen. Octave Mouret, der Besitzer des großen Warenhauses » Au Bonheur des Dames«, dessen kolossales Vermögen sich immer noch vergrößerte, hatte gegen Ende des Winters ein zweites Kind von seiner Frau Denise Baudu, die er anbetete, geschenkt bekommen, obgleich er wieder anfing, ein wenig liederlich zu werden. Der Abbé Mouret, Pfarrer zu Saint-Europe, in einer abgelegenen, sumpfigen Gebirgsschlucht, hatte sich mit seiner Schwester Desirée ganz von der Welt zurückgezogen in große Dürftigkeit; er schlug jede ihm von seinem Bischofe zugedachte Beförderung aus, erwartete den Tod als frommer Mann, der alle Heilmittel zurückwies, obgleich er schon an der Schwindsucht litt. Hélène Mouret lebte sehr glücklich in tiefer Zurückgezogenheit mit ihrem zweiten Gatten, Herrn Rambaud, auf dem kleinen Landgute, das sie in der Nähe von Marseille am Strande des Meeres besaßen. Sie hatte aus ihrer zweiten Ehe keine Kinder. Pauline Quenu war immer in Bonneville, am andern Ende von Frankreich, im Angesichte des weiten Weltmeeres, für alle Zukunft allein mit dem kleinen Paul seit dem Tode des Onkels Chanteau, fest entschlossen, sich nicht zu verheiraten, sich ganz dem Sohne ihres Vetters Lazare zu widmen, der Witwer geworden und nach Amerika gegangen war, um sich ein Vermögen zu erwerben. Etienne Lantier hatte sich seit seiner Rückkehr nach Paris nach dem Streike in Montsou später bei dem Aufstande der Kommune, deren Ideen er mit Feuer verteidigte, kompromittirt. Man hatte ihn zum Tode verurteilt und dann begnadigt und deportirt, so daß er sich jetzt in Roumea befand; man erzählte sich sogar, daß er sich dort sogleich verheiratet und schon ein Kind hätte, ohne daß man genau dessen Geschlecht angeben konnte. Endlich war Jean Macquart, nach der blutigen Woche entlassen, zurückgekehrt, um sich in der Nähe von Plassans niederzulassen, in Valqueyras, wo er das Glück gehabt hatte, ein kräftiges Mädchen zur Frau zu bekommen, Melanie Vial, die einzige Tochter eines wohlhabenden Bauern, dem er das Land erträglich machte, und seine Frau, schwanger seit der Hochzeitsnacht, war im Mai mit einem Knaben niedergekommen und seit zwei Monaten schon wieder schwanger, einer jener Fälle von überreicher Fruchtbarkeit, die den Müttern nicht Zeit läßt, ihre Kleinen zu stillen.
»Gewiß, ja,« begann er von neuem mit leiser Stimme zu sprechen, »die Geschlechter entarten. Es ist eine Entkräftung, eine schnelle Verschlechterung eingetreten, als wenn die Unsrigen in ihrer wütenden Genußsucht, in der gierigen Befriedigung ihrer Begierden zu rasch aufgezehrt worden waren. Louiset starb in der Wiege, der halb blödsinnige Jacques-Louis wurde von einer Nervenkrankheit dahingerafft; Viktor ist in den wilden Zustand zurückgekehrt und hält sich, wer weiß wo, verborgen; und unser armer Charles ist so schön und so schwächlich: das sind die letzten Zweige des Baumes, die letzten schwachen Triebe, in die der kräftige Saft der dicken Aeste, wie es scheint, nicht hat emporsteigen können. Der Wurm war in dem Stamm, er sitzt jetzt in der Frucht und frißt sie auf ... Aber man muß niemals verzweifeln, die Familien sind das ewige Werden. Sie verlieren sich über den gemeinschaftlichen Ahnherrn hinaus in die unergründlichen Uranfänge der Geschlechter, die gelebt haben, bis hinab zu dem ersten Menschen; und sie werden ohne Ende sich fortpflanzen, sie werden sich ausbreiten, sie werden sich in das Unendliche verzweigen durch die kommenden Jahrhunderte hindurch ... Betrachte unsern Stammbaum! Er zählt nur fünf Generationen; er hat nicht einmal die Bedeutung eines Grashälmchens in dem kolossalen und dunklen menschlichen Walde, in welchem die Völker die großen, hundertjährigen Eichen sind. Denke nur an seine gewaltigen Wurzeln, die den ganzen Boden durchziehen, denke an das fortwährende Wachsen seiner großen Blätter, die sich mit anderen Blättern mischen, denke an das unaufhörlich unter dem urewigen, befruchtenden Wehen des Lebens auf- und abwogende Gipfelmeer ... Nun, die Hoffnung ist da, sie beruht auf der täglichen Wiederherstellung des Geschlechtes durch das neue Blut, das von außerhalb kommt. Jede Heirat bringt neue Urstoffe mit, gute und schlechte, die es trotz allem bewirken, daß die sicher eintretende und fortschreitende Entartung verhindert wird. Die Risse werden wieder ausgefüllt, die Flecken wieder ausgewischt; ein verhängnisvolles Gleichmaß stellt sich wieder her am Schlusse einiger Generationen, und das ist der Durchschnittsmensch, welcher schließlich immer herauskommt, die allgemeine menschliche Natur, hartnäckig bei ihrer mühereichen, geheimnisvollen Arbeit auf ihrem Wege nach ihrem unbekannten Ziele hin.«
Er hielt inne und seufzte tief auf.
»Ah! Unsere Familie! Was wird sie werden, auf welche Wesen wird sie wohl endlich hinauskommen?«
Und er fuhr fort und kam jetzt, indem er nicht mehr auf die Ueberlebenden, die er genannt hatte rechnete, nachdem er sie klassifizirt hatte und so genau wußte, wessen sie fähig waren, mit lebhaftem Interesse auf die Kinder zu sprechen, die noch im zartesten Alter standen. Er hatte an einen Kollegen in Roumea geschrieben, um genaue Auskunft über die Frau zu erhalten, die Etienne geheiratet, und über das Kind, das diese geboren haben sollte, aber er erhielt keine Antwort und fürchtete daher sehr, daß der Stammbaum nach dieser Seite hin unvollständig bleiben wurde. Mehr hatte er in Betreff der beiden Kinder von Octave Mouret, mit dem er in Briefwechsel stand, in seinen Aufzeichnungen niedergelegt: das kleine Madchen war schwächlich und ein Sorgenkind, während der kleine Junge, der seiner Mutter sehr ähnlich sah, ein schönes Gleichmaß und eine kräftige Gesundheit hatte. Seine größte Hoffnung setzte er übrigens in die Kinder von Jean, von denen das erstgeborene ein prächtiger Knabe war, bei dem man den ganzen jungen Lenz verspürte, all die frische Lebenskraft der Geschlechter, die sich durch die Erde stählen. Er begab sich zuweilen nach Valqueyras und kehrte jedesmal glücklich von diesem fruchtbaren Erdenwinkel zurück, von dem ruhigen und vernünftigen Vater, der immer bei seinem Pfluge war, und der heiteren und einfachen Mutter mit den breiten Hüften, fähig, eine Welt zu tragen. Wer wußte, wo hinaus noch dieser gesunde Zwerg treiben wurde? Vielleicht entsproßten da die erwarteten Weisen und Mächtigen. Das Schlimmste für die Schönheit seines Stammbaums war, daß diese Knaben und Mädchen noch so klein waren und daß er sie deswegen noch nicht in bestimmte Klassen einordnen konnte. Und seine Stimme wurde weich bei der Erwähnung dieser Hoffnung für die Zukunft, bei der Erwähnung dieser kleinen Blondköpfe in dem uneingestandenen Bedauern seiner eigenen Ehelosigkeit.
Er betrachtete immer den vor ihm ausgebreiteten Stammbaum und rief:
»Und dennoch ist er vollständig, ist er entscheidend! Sieh ihn Dir nur genau an! Ich wiederhole Dir, daß alle Vererbungsfälle darin anzutreffen sind. Ich habe meine Theorie nur, um sie zu bekräftigen, auf der Gesamtheit der Thatsachen aufzubauen gehabt ... Und was schließlich das Wunderbarste ist, ist das, was man da mit dem Finger zeigen kann, wie die Wesen, die dem gleichen Geschlecht entstammen, so von Grund aus verschieden erscheinen können, bloß dadurch, daß sie die logischen Modifikationen der gemeinschaftlichen Vorfahren sind. Der Stamm erklärt die Zweige, die wiederum die Blätter erklären. Bei Deinem Vater Saccard wie bei Deinem Onkel Eugène Rougon, so entgegengesetzt auch ihr Temperament und ihr Lebenswandel ist, ist es doch der gleiche Trieb, der die ausschweifenden Begierden des einen und den souveränen Ehrgeiz des andern geschaffen hat. Angélique, die reine Lilie, wird von der verdorbenen Sidonie geboren. Die drei Kinder der Mourets werden von dem nämlichen Zuge getrieben, der aus dem klugen Octave einen millionenreichen Modewarenhändler gemacht hat, aus dem gläubigen Serge einen armen Landpfarrer und aus der schwachsinnigen Desirée ein schönes, glückliches Mädchen. Aber das Beispiel ist noch viel treffender bei den Kindern der Gervaise: das Nervenleiden ist verschwunden, und Nana verkauft sich, Etienne revoltirt, Jacques mordet und Claude hat Talent, während Pauline, ihre leibliche Cousine, die sieghafte Ehrbarkeit selbst ist, die kämpft und sich opfert ... Das ist die Vererbung, das Leben selbst, welches Schwachsinnige, Narren, Verbrecher und bedeutende Menschen richtig verteilt, Zellen verkümmern, andere nehmen ihren Platz ein, und man hat einen Schurken oder einen tobsüchtigen Narren an Stelle eines talentvollen oder eines einfachen, ehrbaren Menschen. Und die Menschheit rollt weiter, alles mit sich führend.«
Dann fuhr er, von einem neuen Gedanken ergriffen, fort:
»Und die Tierwelt, das Tier, welches leidet und liebt, das wie ein schwacher Abklatsch des Menschen ist, jene ganze brüderliche Tierwelt, die von unserem Leben lebt! Ja, ich hätte gewünscht, ich hätte die Tierwelt in die Arche setzen können, ich hätte ihr ihren Platz unter unserer Familie anweisen können und hätte sie zeigen können in ununterbrochener Verbindung mit uns, unser Dasein vervollständigend. Ich habe Katzen gekannt, deren Anwesenheit den geheimnisvollen Zauber des Hauses bildete, Hunde, die man anbetete, deren Tod beweint wurde und im Herzen eine unstillbare Trauer zurückließ. Ich habe Ziegen, Kühe, Esel gekannt von einer außerordentlichen Wichtigkeit, die eine solche Rolle gespielt haben, daß man ihre Geschichte schreiben sollte ... Und denke nur daran, was uns unser Bonhomme ist, unser armes altes Pferd, das uns während eines Vierteljahrhunderts gedient hat! Glaubst Du nicht, daß sich seinem Blute von dem unseligen etwas mitgeteilt hat und daß er für die Zukunft zur Familie gehört? Wir haben ihn modifizirt, ebenso wie auch er ein wenig auf uns eingewirkt hat; wir sind ja schließlich nach demselben Bilde gemacht; und das ist so wahr, daß ich ihn, wenn ich ihn jetzt halb blind, mit blödem Auge, mit seinen vom Rheumatismus gekrümmten Beinen sehe, umarme und küsse wie einen armen alten Verwandten, der meiner Pflege anheimgefallen ist ... Ah! die Tierwelt, alles, was sich mühsam dahinschleppt und sich beklagt, unterhalb des Menschen, welche Stellung müßte man, durchdrungen von unendlichem Mitgefühl, ihm in der Geschichte des Lebens einräumen!«
Das war der letzte Ausruf, in dem Pascal den begeisterten Ausdruck seiner zärtlichen Liebe für das Sein kund gab. Er war nach und nach in heftige Erregung geraten und dabei zu seinem Glaubensbekenntnis gekommen, zu der stetigen und siegreichen Arbeit der lebenden Natur. Und Clotilde, die bis dahin gar nichts gesprochen hatte und totenbleich geworden war bei der erschreckenden Menge der auf sie einstürmenden Thatsachen, öffnete endlich die Lippen, um zu fragen: »Nun, Meister, was steht denn von mir da drinnen?«
Sie hatte einen ihrer schlanken Finger auf das Blatt des Stammbaums gelegt, in dem sie ihren Namen eingeschrieben sah. Er hatte dieses Blatt immer übergangen. Sie bestand jedoch darauf, es zu erfahren.
»Ja, ich, was bin ich denn? Warum hast Du mir die mich betreffenden Akten nicht vorgelesen?«
Einen Augenblick blieb er stumm, als wäre er überrascht von dieser Frage.
»Warum? Wegen gar nichts ... Es ist wahr, ich brauche Dir nichts zu verheimlichen ... Du siehst, was hier geschrieben steht: ›Cotilde, geboren im Jahre 1847. Wahl der Mutter. Zurückgreifende Vererbung mit dem moralischen und physischen Vorwiegen ihres Großvaters mütterlicherseits ... Nichts ist klarer. Deine Mutter hat ihn in Dich übertragen. Du hast ihren guten Appetit und Du hast viel von ihrer Koketterie, manchmal auch von ihrer Indolenz, von ihrem Gehorsam. Ja, Du bist wie sie in hohem Grade Weib, ohne daß Du selbst zu viel davon merkst; ich will Dir auch sagen, daß Du es sehr liebst, geliebt zu werden. Außerdem war Deine Mutter eine eifrige Romanleserin, eine Träumerin, die es liebte, ganze Tage lang im Bette liegen zu bleiben, um über ein Buch nachzugrübeln; sie war ganz vernarrt in Ammenmärchen, sie ließ sich die Karten legen und fragte Somnambulen um Rat; und ich habe immer gedacht, daß Deine Hinneigung zum Mystischen, Deine Besorgnis um das Unbekannte daher stammten ... Was aber noch hinzukam, um Dich fertig auszugestalten, indem es in Dir eine bestimmte Qualität schuf, das ist der Einfluß Deines Großvaters, des Kommandanten Sicardot. Ich habe ihn gekannt, er war kein Adler, er besaß aber wenigstens viel Redlichkeit und Energie. Ohne ihn, glaube ich, ganz offen gestanden, daß Du nicht besonders viel Wert wärest, denn die anderen Einflüsse sind durchaus keine guten. Er hat Dir das beste Deines Wesens gegeben, den Kampfesmut, den Stolz und die Freimütigkeit.«
Sie hatte ihm mit Aufmerksamkeit zugehört, sie machte ein kleines Zeichen mit dem Kopfe, um auszudrücken, daß dies so richtig wäre, und daß sie sich nicht beleidigt fühlte, trotz des fast unmerklichen schmerzlichen Zitterns, das ihre Lippen bewegt hatte bei diesen ihr neuen Einzelheiten über die Ihrigen, über ihre Mutter.
»Nun,« begann sie wieder, »und Du, Meister?«
Diesmal zögerte er keinen Augenblick, sondern rief sofort:
»O, ich! Was hätte es für einen Zweck, über mich zu reden? Ich bin nicht dabei, ich gehöre nicht zur Familie! Sieh her, was hier geschrieben steht: ›Pascal, geboren 1813. Angeborensein. Kombination, bei der sich die physischen und moralischen Charaktere der Eltern vermischen, ohne daß etwas von ihnen sich in dem neuen Wesen wiederzufinden scheint.‹ Meine Mutter hat es mir oft genug wiederholt, daß ich nicht zu der Familie gehöre, daß sie gar nicht wüßte, woher ich eigentlich wohl kommen könnte!«
Und das war bei ihm wie ein Ausruf der Erleichterung, eine Art unfreiwilliger Freude.
»Geh doch! Das Volk täuscht sich darin nicht. Hast Du mich jemals in der Stadt Pascal Rougon nennen hören? Nein! Die Welt hat immer ganz kurz gesagt: der Doktor Pascal. Und das geschieht, weil ich etwas Besonderes bin ... Und es ist vielleicht durchaus nicht hübsch, aber ich bin darüber entzückt, denn es gibt wahrhaftig allzu schwere Erbschaften zu tragen. Ich habe gut sie alle lieben, mein Herz schlägt deswegen nicht weniger laut und freudig, wenn ich mich anders, verschieden, außer jeder Gemeinschaft fühle, wenn ich nicht dazu gehöre. Nicht dazu zu gehören, mein Gott! Das ist ein frischer Luftzug, das ist es, was mir den Mut gibt, sie alle dort zu haben, sie in jenen Aktenstößen in ihrer ureigenen Beschaffenheit zu schildern, und noch den Mut zu haben, zu leben!«
Er schwieg endlich, und es trat eine tiefe Stille ein. Der Regen hatte aufgehört, und das Gewitter war fortgezogen, man hörte nur noch immer entfernter und entfernter das Rollen des Donners, während durch das offene Fenster ein köstlicher, von dem noch finstern, erfrischten Lande aufsteigender feuchter Erdgeruch hereindrang. In der Luft, die sich wieder beruhigt hatte, brannten die Kerzen in einer hohen, ruhigen Flamme vollends zu Ende.
»Ah!« sagte Clotilde einfach in tief gedrücktem Tone. »Was soll nun werden?«
Sie hatte es selbst schon erklärt in jener Nacht auf dem großen freien Platze: Das Leben war entsetzlich, wie konnte man es friedlich und glücklich verleben? Es war eine schreckliche Klarheit, die die Wissenschaft über die Welt verbreitete; die Analyse tauchte in alle menschlichen Wunden, um daraus den Schrecken ans Tageslicht zu ziehen. Und jetzt hatte er noch viel schonungsloser gesprochen und den Ekel, den sie so schon vor den Menschen und den Dingen hatte, noch vergrößert, indem er seine Familie selbst ganz unverhüllt auf den Tisch des Sezirsaales legte; und das Schlimmste an seinen Enthüllungen war die ungeschminkte und schreckliche Wahrheit über die Ihrigen, die ihr teuren Wesen, die sie lieben sollte: ihr Vater, der groß geworden war in den Verbrechen des Geldes, ihr blutschänderischer Bruder, ihre gewissenlose Großmutter, befleckt mit dem Blute der Gerechten, und die anderen fast alle anrüchig, Säufer, Wüstlinge, Mörder, die ungeheuerliche Blüte des menschlichen Baumes. Der Schlag war so furchtbar, daß sie sich zuerst gar nicht wiederfinden konnte in der schmerzlichen Betroffenheit über das Leben, das sie mit einemmal auf diese Weise kennen gelernt hatte. Indessen wurde diese Lektion selbst trotz ihrer verletzenden Schärfe gleichsam gemildert durch etwas Großes und Gutes, durch einen Hauch unergründlicher Menschlichkeit, der sie von einem Ende zum andern getragen hatte. Nichts Schlechtes war ihr dabei nahe getreten; sie fühlte sich von einem scharfen Seewind umweht, einem Gewittersturme, aus dem man mit gesunder und geweiteter Brust hervorgeht. Er hatte alles gesagt, er hatte selbst von seiner Mutter ganz freimütig gesprochen, wenn er auch fortfuhr, ihr gegenüber die ergebene Haltung des Gelehrten zu bewahren, der über die Thatsachen nicht richtet. Alles sagen, um alles zu verstehen und alles zu heilen, war das nicht der Ausspruch, den er gethan hatte in jener schönen Sommernacht? Und selbst unter dem Uebermaß dessen, was er ihr soeben mitgeteilt hatte, war sie zunächst in Verwirrung geraten, geblendet von dem zu lebhaften Lichte; schließlich aber verstand sie ihn und gestand, daß er da ein ungeheures Werk versuchte. Trotz allem war es die Stimme der Gesundheit, der Hoffnung für die Zukunft. Er sprach als Wohlthäter, der von dem Augenblicke an, wo die Erblichkeit die Welt bildete, deren Gesetze feststellen wollte, um über sie zu verfügen und eine glückliche Welt wieder herzustellen.
Und dann, gab es denn in diesem seine Ufer überflutenden Flusse, dessen Schleusen er aufzog, nur Schlamm? Wie viel Gold floß mit vorüber, vermischt mit dem Gras und den Blumen des Ufers! Hunderte von Wesen eilten schon vor ihr vorüber, und doch traten ihr immer von neuem die reizenden, freundlichen Gestalten, die zarten, jungen Mädchengesichter, die reinen Frauenschönheiten vor die Augen. Die ganze Leidenschaft blutete da, das ganze Herz öffnete sich da in zärtlichem Ueberfließen. Sie waren zahlreich die Frauen wie Jeanne, wie Angélique, wie Pauline, wie Marthe, wie Gervaise und wie Hélène. Von ihnen und den anderen Frauen, selbst von den weniger guten, selbst von den schrecklichen Männern, den Schlimmsten der Gesellschaft, stieg eine brüderliche Menschlichkeit auf. Und das war gerade jener Hauch, den sie gefühlt hatte an sich vorüberwehen, jener breite Strom der Sympathie, während ihrer gründlichen Gelehrtenlektion. Und er schien durchaus nicht gerührt zu sein, er bewahrte vollkommen die unpersönliche Haltung des Lehrers; aber in seinem Innern, welche opferfreudige Güte lebte da, welch ein Uebermaß von Hingebung, welche Aufopferung seines Ichs für das Glück anderer! Sein ganzes, so mathematisch genau angelegtes Werk floß über von dieser schmerzensreichen Brüderlichkeit, selbst in seinen schärfsten Spöttereien. Hatte er nicht soeben von den Tieren gesprochen wie ein älterer Bruder aller elenden Lebewesen, die leiden? Das Leiden brachte ihn ganz außer sich, es war nur der Zorn über seinen zu hohen Traum, es war nur ein erkünstelter, er wurde nur brutal in seinem erkünstelten und vorübergehenden Grolle, wenn er träumte, nicht nur für die gebildete Gesellschaft eines Augenblicks, sondern für die gesamte Menschheit in allen schweren Stunden ihrer Geschichte zu arbeiten. Vielleicht war es sogar jene Auflehnung gegen die banale Gewohnheit, die ihn dazu gebracht hatte, sich den Theorien und der Gedankenarbeit zu widmen. Und das Werk blieb menschlich, überfließend von dem ungeheuren Schluchzen der Wesen und Sachen.
War das übrigens nicht das Leben? Es gibt nichts absolut Schlechtes. Niemals ist ein Mensch für die ganze Welt schlecht, er bildet immer das Glück für irgend jemand, so daß man, wenn man sich nicht auf einen einzigen Standpunkt stellt, sich schließlich Rechenschaft von der Brauchbarkeit eines jeden Wesens ablegen kann.
In diesem Augenblicke glaubte er, daß sie sich ihm weinend an den Hals werfen würde. Eine plötzliche Begeisterung schien sie zu ergreifen. Aber da wurden sie sich ihres halbnackten Zustandes bewußt. Sie, die es bis jetzt gar nicht inne geworden war, merkte mit einemmale, daß sie nur im Unterrocke war, daß ihre Arme nackt, daß ihre Schultern nackt und kaum von dem Lockengewirr ihrer offenen Haare bedeckt waren; und da, in der Nähe der linken Achselhöhle fand sie, als sie ihre Blicke senkte, auch die paar Blutstropfen wieder, die Quetschung, die er ihr zugefügt hatte bei dem Streite, um sie zu bezwingen durch eine brutale Umschlingung. Da überkam sie eine grenzenlose Verwirrung, die Gewißheit, daß sie auch jetzt überwunden werden würde, wie er durch jene Umschlingung ihrer Meister geworden war, in allem und für immer, Ihre Verwirrung wurde dadurch nur noch gesteigert; sie wurde gegen ihren Willen mit fortgerissen, ergriffen von dem unwiderstehlichen Drange, sich zu ergeben.
Plötzlich richtete sich Clotilde auf, sie wollte überlegen. Ihre nackten Arme hatte sie über ihrer nackten Brust verschlungen. Alles Blut schien aus ihren Adern in ihre Haut gedrungen zu sein und übergoß sie mit dunkler Schamröte. Sie schickte sich an, die Flucht zu ergreifen, es kam Leben in ihre göttergleiche, schlanke Gestalt.
»Meister, Meister, laß mich ... Ich werde sehen ...«
Mit jugendlicher Gewandtheit und in jungfräulicher Angst hatte sie sich, wie schon früher einmal, in ihr Zimmer geflüchtet. Er hörte sie lebhaft die Thüre schließen und den Schlüssel zweimal herumdrehen. Er blieb allein zurück, er fragte sich, plötzlich von einer unendlichen Mutlosigkeit und Traurigkeit ergriffen, ob er recht gehandelt hätte, daß er alles gesagt, ob die Wahrheit in diesem teuren, angebeteten Wesen aufkeimen und eines Tages zu einer segensreichen Ernte emporwachsen würde?