Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel.

Erst nach dem Dejeuner, gegen ein Uhr, erhielt Clotilde die Depesche Pascals. Sie war an diesem Tage gerade von ihrem Bruder, der sie mit zunehmender Härte seine Launen und krankhaften Zornesausbrüche fühlen ließ, gekränkt worden und grollte ihm deshalb. Sie hatte, alles in allem genommen, wenig Glück bei ihm gehabt; er fand sie viel zu einfach, viel zu ernst, um ihn zu zerstreuen und aufzuheitern; und jetzt schloß er sich mit der jungen Rose ein, jener kleinen Blonden mit der unschuldigen Miene, die ihn amüsirte. Seitdem seine Krankheit ihn ganz gefesselt hielt, so daß er sich nicht mehr bewegen konnte, verlor er die egoistische Klugheit des Genußmenschen und sein langes Mißtrauen gegen die Frauen, die die Männer zu Grunde richten. Als seine Schwester ihm sagen wollte, daß der Onkel sie zurückrief und daß sie abreisen wollte, hatte sie Mühe, daß ihr überhaupt geöffnet wurde, denn Rose war gerade damit beschäftigt, ihn einzureiben. Er billigte sogleich ihr Vorhaben, und wenn er sie bat, so lange wie möglich fortzubleiben und nicht eher wieder zu kommen, als bis sie dort alle ihre Geschäfte beendet hätte, so bestand er nur aus dem einzigen Grunde nicht darauf, weil er sich liebenswürdig zeigen wollte.

Clotilde verbrachte den Nachmittag mit dem Packen ihrer Koffer. In ihrer fieberhaften Aufregung, in ihrer Bestürzung über die so plötzliche Entscheidung, dachte sie darüber gar nicht weiter nach, sondern überließ sich ganz und gar der großen Freude, heimkehren zu dürfen. Als sie aber nach dem rasch eingenommenen Diner, nach dem kurzen Abschied von ihrem Bruder und nach der endlosen Droschkenfahrt von der Avenue du Bois de Boulogne bis zum Lyoner Bahnhof sich endlich in einein Damencoupé des abends um acht Uhr abgehenden Inges befand und schon außerhalb von Paris durch die regnerische, kalte Novembernacht dahin rollte, da wurde sie wieder ruhiger, versank nach und nach in tiefes Nachdenken, bis sie sich schließlich von dumpfer Unruhe gequält fühlte. Warum denn diese so wenig sagende und so kurze Depesche? »Ich erwarte Dich, reise heute abend ab.« Das war ohne Zweifel die Antwort auf den Brief, in dem sie ihm ihre Schwangerschaft mitgeteilt hatte. Sie wußte ja doch, wie sehr er wünschte, daß sie in Paris bliebe, wo sie seiner Annahme nach glücklich sein mußte, und wunderte sich daher jetzt sehr über seine Eile, sie zurückzurufen. Eine Depesche hatte sie nicht erwartet, wohl aber einen Brief, daß sie ihre Vorbereitungen zur Abreise hätte allmälich treffen und dann nach einigen Wochen hätte abreisen können. Lag daher vielleicht ein anderer Grund vor, etwa ein Unwohlsein, der Wunsch, das heftige Verlangen, sie so bald als möglich wiederzusehen? Und von da an wurde die Angst in ihr nur immer großer, eine bange Ahnung stieg in ihr auf und hatte sie bald ganz und gar in Besitz genommen.

Die ganze Nacht hindurch hatte ein vorsintflutlicher Regen die Fenster des Zuges gepeitscht, als er durch die Ebenen der Bourgogne dahinraste. Diese Sindflut ließ erst bei Macon nach. Nach Lyon wurde es Tag. Clotilde hatte die Briefe Pascals bei sich und erwartete mit Ungeduld den Tagesanbruch, um wieder sehen und die Briefe durchstudiren zu können, deren Handschrift ihr verändert vorgekommen war. In der That wurde ihr Herz von einem kalten Schauer ergriffen, als sie jetzt die zitternde Schrift und die vielen Absätze und Lücken, die sich mitten in den Wörtern vorfanden, feststellte. Er war krank, sehr krank: das wurde bei ihr jetzt zur Gewißheit; wie durch eine plötzliche Eingebung drängte es sich ihr plötzlich auf, wobei weniger Ueberlegung als ein seines Ahnungsvermögen im Spiel war. Und der noch übrige Teil der Reise wurde ihr entsetzlich lang, denn sie fühlte ihre Angst wachsen, je mehr sie sich ihrem Ziele näherte.

Das Schlimmste aber war, daß, als sie mittags einviertel nach zwölf Uhr in Marseille ankam, nicht eher als drei Uhr zwanzig Minuten ein Zug abging, mit dem sie nach Plassans fahren konnte. Drei lange, bange Stunden mußte sie also warten! Sie frühstückte in der Bahnhofrestauration und aß mit einer solchen fieberhaften Hast, als ob sie Angst gehabt hätte, den Zug zu verpassen. Dann durchwandelte sie langsam den staubigen Garten und ging von einer Bank zur andern unter den immer noch warmen Strahlen der bleichen Sonne, inmitten der zahlreichen Omnibusse und Droschken. Endlich rollte sie von neuem weiter, alle Viertelstunden an den kleinen Stationen aufgehalten. Sie streckte den Kopf weit zum Fenster hinaus, es kam ihr vor, als ob sie seit zwanzig Jahren weg gewesen wäre und als ob sich alle die Ortschaften verändert hätten. Als der Zug Sainte-Marthe verließ, befand sie sich in großer Aufregung; sie reckte den Hals aus, um am Horizont in weiter Ferne die Souleiade zu erblicken mit den beiden hundertjährigen Cypressen der Terrasse, die man drei Meilen im Umkreise sehen konnte.

Es war fünf Uhr, und die Abenddämmerung senkte sich schon nieder. Das Geräusch der Drehscheiben ertönte, und Clotilde stieg aus. Aber ein heftiger Schmerz durchfuhr sie, und sie stieß einen tiefen Seufzer aus, als sie sah, daß Pascal nicht auf dem Perron stand, um sie zu erwarten. Schon seit Lyon sagte sie sich immer wieder: »Wenn ich ihn nicht sofort bei der Ankunft sehe, dann ist er krank!« Vielleicht war er indessen im Wartesaal geblieben oder sah sich vor dem Bahnhofe nach einem Wagen um. Sie stürzte aus der Halle hinaus, fand aber niemand als den alten Vater Durieu, den Kutscher, der den Doktor gewöhnlich fuhr. Lebhaft fragte sie ihn aus. Der alte Mann, ein schweigsamer Provençale, beeilte sich nicht mit seinen Antworten. Er hatte seinen zweirädrigen Karren da und fragte nach dem Gepäckschein, weil er zuerst die Koffer besorgen wollte. Mit zitternder Stimme wiederholte sie ihre Frage

»Befindet sich alles wohl, Vater Durieu?«

»Ja, Fräulein.«

Und sie mußte fast böse werden, ehe sie erfuhr, daß Martine ihm am vorhergehenden Abende gegen sechs Uhr den Auftrag gegeben hatte, sich zur Ankunft dieses Zuges mit seinem Wagen auf dem Bahnhofe einzufinden. Er hatte den Doktor nicht gesehen, überhaupt hatte ihn schon seit zwei Monaten niemand zu Gesicht bekommen. Vielleicht hatte er sich, da er nicht da wäre, zu Bette legen müssen, denn das Gerücht wäre in der Stadt verbreitet, daß er nicht mehr ganz taktfest sei.

»Warten Sie hier, Fräulein, bis ich das Gepäck geholt habe! Es ist noch ein Platz für Sie da auf der kleinen Bank.«

»Nein, Vater Durieu! Das würde nur zu lange dauern, ich gehe zu Fuße.«

Mit großen Schritten stieg sie die Anfahrt hinauf. Ihr Herz klopfte so ungestüm, das sie fast erstickte. Die Sonne war hinter den Hügeln von Sainte-Marthe verschwunden; ein feiner Staubregen fiel von dem grauen Himmel herab mit dem ersten frostigen Schauer des Novembers. Und als sie in die Straße von Fenouillères einbog, bot sich ihr ein neuer Anblick der Souleiade dar, der sie erstarren machte: die öde Fassade in dem sinkenden Dunkel, an der alle Fensterläden geschlossen waren, ein Bild trübseliger Verlassenheit und stummer Trauer.

Aber den schrecklichsten Schlag empfing Clotilde, als sie Ramond erkannte, der auf der Schwelle des Vestibüls stand und sie zu erwarten schien. Er hatte sie in der That abgepaßt und war heruntergekommen, um ihr das schreckliche Unglück schonend und langsam beizubringen. Atemlos kam sie an; sie hatte den Platz mit den fünf alten Platanen bei der Quelle überschritten, um so viel wie möglich vom Wege abzuschneiden, und als sie nun den jungen Mann an der Stelle, wo sie Pascal zu finden gehofft hatte, sah, hatte sie das Gefühl, als ob der Himmel über ihr zusammenstürzte, als ob sich ein Unglück ereignet hätte, das nicht wieder gut zu machen wäre. Ramond sah sehr blaß und verstört aus trotz seines Bemühens, mutig und gefaßt zu erscheinen. Er sagte kein Wort, sondern wartete, bis er gefragt wurde. Ihr war der Hals wie zugeschnürt, sie sagte nichts. Und so betraten sie das Haus; er führte sie in den Speisesaal, wo sie ebenfalls einige Augenblicke stumm blieben und sich in dieser bedrückten Stimmung Auge in Auge gegenüberstanden.

»Er ist krank, nicht wahr?« stotterte sie endlich zitternd hervor.

Er wiederholte einfach:

»Ja, er ist krank.«

»Ich habe es gleich gewußt, als ich Sie sah,« begann sie von neuem. »Da er auch hier nicht ist, so muß er krank sein.«

Sie ließ nicht nach.

»Er ist krank, sehr krank, nicht wahr?«

Er antwortete nicht mehr, sondern wurde nur noch bleicher, und sie blickte ihm starr in das Gesicht. In diesem Augenblicke sah sie es ihm an, daß Pascal tot war, sie sah es an seinen Händen, die noch zitterten und die den Sterbenden gepflegt hatten, sie sah es an seinem verzweifelten Gesichte, an seinen verstörten Augen, die noch den Widerschein des Todeskampfes bewahrten, sie sah es endlich an seinem ganzen in Unordnung gekommenen Aeußeren des Arztes, der seit zwölf Stunden da war und in seiner Ohnmacht einen nutzlosen Kampf gekämpft hatte.

Da stieß sie einen lauten Schrei aus.

»Er ist tot!«

Und sie wankte wie vom Blitze getroffen und warf sich in die Arme Ramonds, der unter Thränen sie brüderlich an sich drückte. Und sie weinten beide, einer am Halse des anderen.

Dann berichtete er, nachdem er sie auf den Stuhl niedergesetzt hatte und wieder sprechen konnte:

»Ich bin es gewesen, der gestern morgen gegen zehn und ein halb Uhr die Depesche, die Sie erhalten haben, auf dem Telegraphenbureau aufgegeben hat. Er war so glücklich, so voller Hoffnung! Er erging sich in Zukunftsträumen! Noch ein, zwei Jahre am Leben ...! Heute morgen um vier Uhr hatte er den ersten Anfall und ließ mich holen. Er hatte sofort erkannt, daß er verloren war. Aber er hoffte, daß er noch bis um sechs Uhr aushalten, daß er noch lange genug leben würde, um Sie wiederzusehen ... Das Uebel machte aber zu rasche Fortschritte. Er hat mir bis zum letzten Atemzuge von Minute zu Minute die Fortschritte genau angegeben, wie ein Professor, der vor seiner Zuhörerschaft eine Sektion vornimmt. Mit Ihrem Namen auf den Lippen ist er gestorben, ruhig und gefaßt, wie ein Held.«

Clotilde hatte aufspringen und hinauf in das Zimmer eilen wollen, aber sie blieb wie festgenagelt sitzen, ohne die Kraft zu besitzen, ihren Platz zu verlassen. Sie hatte ihm aufmerksam zugehört; ihre Augen waren in Thränen gebadet, die unaufhörlich über ihre Wangen herabflossen. Jeder seiner Sätze, die ganze Erzählung von diesem mit stoischem Gleichmut erwarteten Tode fand einen Widerhall in ihrem Herzen und prägte sich dort tief ein. In ihrem Geiste stellte sie sich den ganzen Verlauf dieses schrecklichen Tages zusammen. Immer wieder von neuem würde sie ihn durchleben.

Vor allem aber überstieg ihre Verzweiflung alle Schranken, als die alte Martine, die kurz vorher in das Zimmer getreten war, mit harter Stimme sagte:

»Ja, das Fräulein hat auch allen Grund zu weinen, denn wenn der Herr Doktor gestorben ist, so ist er es nur des Fräuleins wegen.«

Die alte Haushälterin stand abseits an der Thüre ihrer Küche, verstört und verzweifelt darüber, daß man ihr ihren Herrn genommen und getötet hatte. Und sie suchte nicht einmal nach einem Worte des Willkommens und des Trostes für das junge Mädchen, das sie aufgezogen hatte. Ohne die Tragweite ihrer Indiskretion zu bedenken, ohne zu überlegen, ob sie dadurch Schmerz oder Freude verursachte, erleichterte sie ihr Herz, indem sie alles sagte, was sie wußte.

»Ja, wenn der Herr Doktor gestorben ist, so ist er es nur deswegen, weil das Fräulein fortgegangen ist.«

In ihrer Verzweiflung erhob Clotilde lebhaften Einspruch dagegen.

»Aber er ist es ja gewesen, der deswegen böse geworden ist, der mich selbst fortgeschickt hat!«

»Gewiß! Aber das Fräulein muß dies nur als eine allzu große Liebenswürdigkeit von seiner Seite betrachten, damit Sie nicht klar sehen sollten ... In der Nacht vor der Abreise fand ich den Herrn Doktor halb erstickt, so schlimm war sein Leiden; und als ich das Fräulein davon benachrichtigen wollte, war er es, der mich daran hinderte ... Dann habe ich ihn genau beobachtet, seitdem das Fräulein weggegangen war. Alle Nächte ging diese Geschichte von frischem an; er wehrte sich mit Händen und Füßen, damit er nicht doch noch schriebe und das Fräulein zurückriefe ... Und nun ist er deswegen gestorben! Das ist die reine Wahrheit!«

Eine große Klarheit verbreitete sich plötzlich in dem Geiste Clotildens, die sie zu gleicher Zeit glücklich machte und quälte. Mein Gott! So war es denn doch richtig, was sie einen Augenblick vermutet hatte? Dann hatte sie schließlich glauben können bei der Heftigkeit und dem Eigensinn Pascals, daß er nicht gelogen hatte, daß er einfach zwischen ihr und der Arbeit die letztere wählte als Mann der Wissenschaft, bei dem die Liebe zu seiner Arbeit den Sieg über die Liebe zum Weibe davontrug. Und er log dennoch, er hatte die Hingebung, das Selbstvergessen so weit getrieben, daß er sich selbst für sie aufopferte, weil er glaubte, daß es ihr Glück wäre. Aber die traurigen Umstände wollten, daß er sich getäuscht, daß er auf diese Weise ihrer aller Unglück herbeigeführt hatte.

Von neuem protestirte Clotilde und geriet in Verzweiflung.

»Aber wie hätte ich das wissen können? ... Ich bin gehorsam gewesen, ich habe meine ganze Liebe und Zärtlichkeit in meinen Gehorsam gelegt.«

»Ah!« rief da die alte Martine wieder, »es scheint mir, als ob ich es geahnt hätte!«

Ramond mischte sich jetzt hinein und sprach sanft und versöhnlich. Er hatte die Hände seiner alten Freundin ergriffen und setzte ihr auseinander, daß der Kummer den verhängnißvollen Ausgang hätte beschleunigen können, daß aber der Meister unglücklicherweise schon seit einiger Zeit dazu verdammt gewesen wäre. Die Herzkrankheit, an der er gelitten, hätte schon aus weit entlegener Zeit stammen müssen; viel Überanstrengung sei mit Schuld daran, ein bestimmter Teil sei Vererbung, und dann überhaupt seine ganze letzte Leidenschaft: und so wäre denn das arme Herz schließlich gebrochen.

»Gehen wir hinauf!« sagte Clotilde. »Ich will ihn sehen!«

Oben in dem Zimmer hatte man die Läden geschlossen; nicht einmal die melancholische Dämmerung war eingedrungen. Zwei Kerzen brannten auf einem kleinen Tische am Fuße des Bettes in Leuchtern. Und sie beleuchteten mit ihrem bleichen gelblichen Scheine den ausgestreckt daliegenden Leichnam Pascals. Seine Beine waren eng geschlossen, und seine Hände lagen halb gefaltet auf der Brust. Pietätvoll hatte man ihm die Augenlider geschlossen. Das Gesicht schien zu schlafen mitten in der seinen Kopf umwogenden Flut der schneeweißen Haupt- und Barthaare; es sah noch bläulich aus, hatte aber doch schon einen friedlichen Ausdruck angenommen. Er war seit kaum ein und einer halben Stunde tot. Die unendliche himmlische Heiterkeit, die ewige Ruhe begann sich über sein Gesicht auszubreiten.

Ihn so wiedersehen zu müssen, sich sagen zu müssen, daß er sie nicht mehr hörte, daß er sie nicht mehr sah, daß sie von nun an allein war, daß sie ihn zum letztenmale küssen würde, da sie ja für immer Abschied von ihm nehmen müßte, das war es, was Clotilden so großen Schmerz verursachte. Sie hatte sich auf das Bett geworfen und konnte nur die zärtlichen Liebesworte stammeln:

»O Meister, Meister, Meister! ...«

Ihre Lippen hatte sie auf die Stirn des Toten gepreßt; und da sie sie kaum erkaltet, noch lebenswarm fand, konnte sie sich einen Augenblick der Illusion hingeben und glauben, daß er diese letzte, so lange erwartete Zärtlichkeit noch empfunden hätte. Hatte er nicht gelächelt in seiner starren Regungslosigkeit, ganz glücklich darüber, daß er nun endlich vollends sterben konnte, jetzt, wo er sie beide da wußte, sie und das Kind, das sie unter ihrem Herzen trug? Dann aber übermannte sie die schreckliche Wirklichkeit wieder, und sie fing von neuem an, herzzerbrechend zu weinen und zu seufzen.

Die alte Martine trat mit einer Lampe ein, die sie abseits auf eine Ecke des Kaminsimses stellte. Und sie hörte, wie Ramond, der Clotilden beobachtete und unruhig darüber war, sie in ihrem Zustande so tief erschüttert zu sehen, gerade sagte:

»Ich werde Sie von hier wegführen, wenn es Ihnen an Mut gebricht. Denken Sie daran, daß Sie nicht allein sind, daß das kleine teure Wesen noch da ist, von dem er zu mir mit so großer Freude und so viel zärtlicher Liebe gesprochen hat.«

Schon den ganzen Tag über hatte sich die alte Haushälterin über gewisse Redensarten gewundert, die sie zufällig gehört hatte. Jetzt verstand sie sie mit einemmale, und obgleich sie das Zimmer sofort wieder hatte verlassen wollen, blieb sie jetzt da, um noch mehr zu hören.

Ramond hatte seine Stimme gedämpft.

»Der Schlüssel zu dem großen Schranke liegt unter dem Kopfkissen. Er hat mir zu wiederholtenmalen aufgetragen, es Ihnen zu sagen ... Sie wissen ja wohl, was Sie zu thun haben?«

Clotilde versuchte sich zu besinnen und zu antworten.

»Was ich zu thun habe? Wegen der Papiere, nicht wahr? ... Ja, ja, ich erinnere mich: die Aktenstücke soll ich behalten und die anderen Manuskripte soll ich Ihnen geben ... Haben Sie keine Furcht! Ich habe noch meinen ganzen Verstand, ich werde sehr vernünftig sein. Aber ich will ihn nicht verlassen, ich werde die Nacht hier bei ihm bleiben und mich ganz ruhig verhalten, ich verspreche es Ihnen.«

Sie zeigte in ihrem tiefen Schmerze eine solche feste Entschlossenheit, bei dem Toten bleiben und wachen zu wollen, daß man sie nicht hätte davon abbringen können, und so ließ der Arzt sie gewähren.

»Nun gut! Ich verlasse Sie jetzt; man wird mich zu Hause erwarten. Dann gibt es auch noch alle möglichen Formalitäten zu erfüllen, wie die Todesanzeige bei der Behörde, die Bestellung des Begräbnisses. Ich will Ihnen diese Sorge und Mühe ersparen. Sie brauchen sich um gar nichts zu bekümmern. Morgen früh, wenn ich wieder hierherkomme, wird alles geordnet sein.«

Er umarmte sie noch einmal und ging weg. Und dann verschwand auch die alte Martine ihrerseits hinter ihm her, sie verschloß die Thüre unten mit dem Schlüssel und lief eiligst durch die Nacht fort, die inzwischen tief dunkel geworden war.

Jetzt war Clotilde in dem Zimmer allein; und um sich herum und unter sich spürte sie bei der tiefen Ruhe die Leere des Hauses. Clotilde war allein mit dem toten Pascal. Sie hatte einen Stuhl ganz nahe an das Kopfende des Bettes herangeschoben und sich darauf gesetzt, regungslos und allein. Bei ihrer Ankunft hatte sie nur ihren Hut abgenommen; als sie dann bemerkt hatte, daß sie noch die Handschuhe an den Händen trug, hatte sie auch diese ausgezogen. Sie blieb aber in dem Reisekleide, obgleich es von der langen zwanzigstündigen Eisenbahnfahrt sehr staubig und zerknittert war. Ohne Zweifel hatte der alte Vater Durieu schon lange ihre Koffer unten abgeliefert, und sie dachte weder daran, noch hatte sie die Kraft dazu, sich zu waschen und sich umzukleiden; ganz gebrochen saß sie auf dem Stuhle, auf dem sie niedergesunken war. Ein einziges großes Bedauern, ein einziger nagender Schmerz erfüllten sie. Warum hatte sie gehorcht? Warum hatte sie eingewilligt, fortzugehen? Wenn sie geblieben wäre, so wäre er, wie sie die feste Ueberzeugung hatte, nicht gestorben. Sie würde ihn so sehr geliebt, sie würde ihn mit so viel Zärtlichkeit umgeben und gepflegt haben, daß sie ihn wieder gesund gemacht hätte. Ja wohl, sie hätte ihn in ihre Arme genommen, um ihn einzuschläfern, und ihn mit ihrer ganzen Jugend erwärmt und ihm Leben mit ihren Küssen eingehaucht. Wenn man nicht wollte, daß der Tod einem ein teures Wesen raubte, so schlug man ihn dadurch in die Flucht, daß man ihm von seinem Blute gab. Es war ihre Schuld, wenn sie ihn verloren hatte, wenn sie ihn nicht mehr durch eine zärtliche Umarmung aus dem ewigen Schlummer erwecken konnte. Und sie schalt sich thöricht, daß sie das nicht eingesehen, und schlecht, daß sie sich ihm nicht ganz gewidmet hatte; sie fand sich schuldig und war nun für immer dafür bestraft, daß sie fortgegangen war, wo doch der einfache gesunde Menschenverstand, wenn es nicht das Herz that, sie hier hätte festhalten müssen in ihrem Amte als unterwürfige, in Liebe ergebene Sklavin, die über ihren König wacht.

Die Stille war eine so vollständige, so tiefe, daß Clotilde einen Augenblick die Augen von dem Gesichte Pascals abwandte und sich im Zimmer umsah. Sie erkannte aber nur unbestimmte Schatten: die Lampe beleuchtete von der Seite das Glas des großen Stehspiegels, so daß es einem Schilde von mattem Silber glich; und die beiden Kerzen bildeten unter dem hohen Plafond nur zwei gelbe Flecken. In diesem Augenblicke kam ihr der Gedanke an die Briefe wieder, die er ihr geschrieben hatte und die so kurz und frostig waren; und sie verstand jetzt die Qualen, die er ausgestanden hatte, um seine Liebe zu ersticken. Welche Kraft hatte er nötig gehabt zur Verwirklichung des so erhabenen und doch so unseligen Glücksplanes, den er für sie ersonnen hatte! Er hatte sich in den Kopf gesetzt, zu verschwinden, sie vor seinem Greisenalter und vor seiner Armut zu erretten; er hatte davon geträumt, sie reich und frei zu machen, damit sie ferne von ihm ihre sechsundzwanzig Jahre genießen konnte; es war von seiner Seite das vollständige Selbstvergessen, das gänzliche Aufgehen in der Liebe zu einem andern Wesen. Und sie vergalt es ihm durch eine tiefempfundene Dankbarkeit und Zärtlichkeit, die aber mit einer gewissen Bitterkeit und Gereiztheit gegen das schlimme Geschick verbunden war. Dann traten ihr mit einemmale all die vielen glücklichen Stunden vor das Gedächtnis, die sie bei ihm verlebt hatte, ihre so schöne und so fröhliche Kindheit und Mädchenzeit. Wie hatte er sie langsam durch seine Liebe erobert, wie hatte sie sich als die Seine gefühlt nach den Kämpfen, die sie einen Augenblick entzweit hatten, und in welchem Uebermaß der Freude hatte sie sich ihm hingegeben, um ihm immer noch mehr, um ihm ganz anzugehören, da er sich ja nach ihr sehnte; und in diesem Zimmer, in dem er zur Stunde kalt zu werden anfing, empfand sie noch die wollüstige Wärme und den süßen Schauer der zärtlichen Liebesnächte, die sie hier zusammen verbracht hatten.

Sieben schlug es an der Uhr, und Clotilde erschrak über die leisen Schläge in der tiefen Stille rings umher. Wer hatte denn gesprochen? Dann besann sie sich wieder und sah die Uhr an, deren Schläge so viele Stunden der Freude verkündet hatten. Diese alte Uhr hatte die meckernde Stimme einer sehr bejahrten Freundin, über die sie sich immer belustigt hatten, wenn sie in dunkler Nacht wach einander in den Armen lagen. Und jetzt stiegen für sie von allen Möbeln Erinnerungen auf. Ihre beiden Gestalten schienen sich von dem silberglänzenden, matten Glase des großen Stehspiegels abzuheben, undeutlich, fast in einander verschwommen, mit einem flüchtigen Lächeln auf den Lippen, wie in jenen seligen Tagen, wo er sie vor den großen Stehspiegel geführt hatte, um sie mit irgend einem Kleinode zu schmücken, einem Geschenk, das er in seiner Schenkwut seit dem Morgen vor ihr versteckt gehalten hatte. Da war auch der Tisch, auf dem die beiden Kerzen brannten, der kleine Tisch, an dem sie während der Zeit ihres Unglücks ihre Mahlzeit abgehalten hatten an dem Abend, wo sie nur trockenes Brod gegessen und wo sie ihm dann ein königliches Fest bereitet hatte. Und welche Zeichen ihrer Liebe würde sie erst in der Kommode aus weißem Marmor mit der ringsherumlaufenden Galerie gefunden haben! Und wie herzlich hatten sie gelacht auf dem großen Lehnstuhl mit den steifen Beinen, wenn sie ihre Strümpfe darauf legte und er sie neckte! Selbst von der Tapete, dem alten bedruckten, verblaßten roten Kattun, der orangenfarbig geworden war, schien ihr ein Geflüster auszugehen, welches ihr alles das zuraunte, was sie sich Liebes und Zärtliches gesagt hatten, all die endlosen Kindereien ihrer Leidenschaft; alles bis auf den Duft ihrer Haare, einen leisen Veilchengeruch, den er so sehr liebte, erinnerte sie an ihn.

Als dann das Vibriren der sieben Schläge der Uhr aufgehört hatte, das lange in ihrem Herzen nachhallte, wendete sie die Augen zurück auf das regungslose Gesicht Pascals und brach von neuem haltlos zusammen.

In dieser vollständigen Fassungslosigkeit vernahm sie einige Minuten später plötzlich ein leises Weinen und Wehklagen. Wie ein Windstoß war man eingetreten. Sie erkannte ihre Großmutter Felicité. Aber sie rührte sich nicht, sie sprach nicht, so sehr war sie schon von ihrem Schmerze abgestumpft. Martine war dem Auftrage, den man ihr sicherlich gegeben haben würde, zuvorgekommen und schnell zu der alten Frau Rougon gelaufen, um ihr den traurigen Fall mitzuteilen. Frau Felicité war zuerst ganz starr über dieses so rasche Ende, dann eilte sie verstört unter lautem Wehklagen herbei. Sie weinte an der Leiche ihres Sohnes, sie umarmte Clotilden, die ihr wie im Traume einen Kuß zurückgab. Von diesem Augenblicke an merkte Clotilde, ohne aus ihrer Niedergeschlagenheit, in der sie sich abgesondert hatte, herauszutreten, an dem fortwährenden Hin- und Herrücken von Möbeln und dem ewigen Ab- und Zugehen, dessen gedämpfter Klang bis zu ihr in das Zimmer drang, daß sie nicht mehr allein war. Es war Frau Felicité, die weinte, leise auf den Fußspitzen hereinkam und dann wieder hinausging, die etwas in Ordnung rückte, die flüsterte, die umherspürte oder sich in einen Stuhl niederfallen ließ, von dem sie aber alsbald wieder aufstand. Und gegen neun Uhr wollte sie durchaus ihre Enkelin bestimmen, etwas zu essen. Schon zweimal hatte sie ihr mit ganz leiser Stimme Predigten gehalten. Jetzt kam sie wieder und flüsterte ihr ins Ohr:

»Clotilde, mein liebes Kind, ich versichere Dich, Du thust unrecht! ... Du mußt Kräfte sammeln, sonst wirst Du es gewiß nicht, bis alles vorüber ist, aushalten.«

Aber die junge Frau weigerte sich durch Kopfschütteln eigensinnig, etwas zu genießen.

»Du hast jedenfalls in der Bahnhofrestauration in Marseille gefrühstückt, nicht wahr? Und seit dieser Zeit hast Du nichts wieder gegessen ... Ist das wohl vernünftig? Ich will nichts davon wissen, daß auch Du noch krank wirst ... Martine hat Bouillon vorrätig. Ich habe ihr den Auftrag gegeben, Dir eine leichte Suppe zu machen und ein Hühnchen hinein zu thun ... Komm jetzt mit hinunter und iß ein paar Bissen! Nur ein paar Bissen! Ich werde einstweilen hier bleiben.«

Mit dem gleichen leidensvollen Kopfschütteln weigerte sich Clotilde immer wieder. Schließlich sagte sie mit leiser, zitternder Stimme:

»Laß mich, Großmama, ich bitte Dich ... Ich würde nichts essen können, es würde mich ersticken!«

Und dann sagte sie nichts mehr. Gleichwohl aber schlief sie nicht: ihre großen Augen hatte sie weit geöffnet; mit starrem Blicke waren sie auf das Gesicht Pascals gerichtet. Während vieler Stunden machte sie nicht die leiseste Bewegung, steif und starr, wie geistesabwesend, saß sie bei dem Toten da. Um zehn Uhr vernahm sie ein Geräusch: es war die alte Martine, die die Lampe herauf brachte. Gegen elf Uhr wurde Frau Felicité, die in einem Lehnstuhle wachend gesessen hatte, von einer lebhaften Unruhe erfaßt. Sie verließ das Zimmer, kam aber bald wieder zurück. Von da an gab es ein fortwährendes Hin- und Hergehen, ein unruhiges Getriebe um die junge Frau herum, die hell wach war und mit weitgeöffneten Augen starr vor sich hinblickte. Es schlug Mitternacht. Nur ein einziger Gedanke arbeitete unablässig und hartnäckig in ihrem leeren Gehirn und hinderte sie wie ein Stachel am Einschlafen. Warum hatte sie gehorcht? Wenn sie geblieben wäre, dann hätte sie ihn mit ihrer ganzen Jugend erwärmt und gestärkt, und dann wäre er nicht gestorben. Und es war kurz vor ein Uhr, als sie fühlte, wie sich dieser Gedanke verwirrte und in einen quälenden Traum verlor. Sie versank in einen tiefen, dumpfen Schlaf, von Schmerz und Müdigkeit ganz erschöpft.

Als Martine zu der alten Frau Rougon gelaufen war, um ihr den unerwarteten Tod ihres Sohnes zu melden, hatte diese zunächst nur einen zornigen Schrei und Klagen in ihrer Bestürzung ausgestoßen. Der sterbende Pascal hatte sie nicht sehen wollen, ja, er hatte sogar die alte Haushälterin schwören lassen, daß sie ihr keine Mitteilung davon machte. Das traf sie bis auf das Blut, gleich als ob der Streit, der das ganze Leben zwischen ihr und ihm bestanden hatte, auch noch über das Grab hinaus dauern sollte. Als sie dann, nachdem sie sich in aller Eile angezogen hatte, hinaus auf die Souleiade geeilt war, hatte sie der Gedanke an die schrecklichen Akten, an alle die Manuskripte, mit denen der große Schrank angefüllt war, in leidenschaftliche Aufregung versetzt. Jetzt, wo der Onkel Macquart und die Tante Dide tot waren, fürchtete sie sich nicht mehr vor dem, was sie die Schande von Les Tulettes nannte; und ebenso hatte der arme kleine Charles durch seinen Hingang einen der schlimmsten Schandflecke der Familie ausgetilgt. Es blieben nur noch die Akten, die gräßlichen Akten übrig, welche die Triumphlegende der Rougons bedrohten, deren Zustandekommen sie ihr ganzes bisheriges Leben gewidmet hatte, die die einzige Beschäftigung ihres Alters war, das Werk, dessen endlichem Triumph die letzten Anstrengungen ihres rastlosen und ränkevollen Geistes galten. Seit langen Jahren schon hatte sie nimmermüde ihnen nachgestellt; immer wieder von neuem hatte sie den Kampf begonnen, wenn man sie für geschlagen hielt, und stets lag sie unverdrossen auf der Lauer. Ah, wenn sie sich jetzt endlich ihrer bemächtigen, wenn sie sie jetzt endlich vernichten könnte! Das würde die Vernichtung der abscheulichen Vergangenheit sein, das würde der so schwer erkämpfte Ruhm der Ihrigen sein, der von jeder drohenden Gefahr befreit wäre, der sich endlich ungehindert ausbreiten und sein ganzes erlogenes Sein in die Geschichte bringen konnte! Und sie sah sich schon im Geiste, wie sie die drei Quartiere von Plassans durchschritt in der stolzen Haltung einer Königin in edler, vornehmer Trauer um das gestürzte Kaiserreich und wie sie von allen Seiten ehrerbietig gegrüßt wurde. Und als ihr die alte Martine erzählt hatte, daß Clotilde auch da sei, beschleunigte sie ihren Gang, wie sie näher an die Souleiade herankam, getrieben von der Furcht, zu spät zu kommen.

Uebrigens beruhigte sich Felicité sofort als sie in dem Haus drinnen war. Nichts drängte, man hatte ja die ganze Nacht vor sich. Dennoch wollte sie, ohne noch länger zu warten, sofort die alte Martine auf ihre Seite bringen; und sie wußte ganz genau, was auf die alte, einfache Person, die in den beschränkten Anschauungen einer engen Religion befangen war, einwirken würde. Ihr erstes Bemühen war daher, unten, mitten in der Unordnung der Küche, wohin sie sich begeben hatte, um zu sehen, wie das Hühnchen gebraten würde, große Verzweiflung zu heucheln bei dem Gedanken, daß ihr Sohn gestorben wäre, ohne vorher seinen Frieden mit der Kirche gemacht zu haben. Sie fragte die alte Haushälterin aus und verlangte von ihr die näheren Einzelheiten zu wissen. Diese schüttelte aber in tiefer Verzweiflung den Kopf: Nein, kein Priester wäre da gewesen, ja, der Herr Doktor hätte nicht einmal das Zeichen des Kreuzes gemacht. Sie allein wäre niedergekniet, um die Sterbegebete zu sprechen, was aber sicherlich für das Heil einer Seele nicht genügend gewesen wäre. Aber mit welcher Glut hatte sie zu dem lieben Gotte gebetet, damit der Herr Doktor auf geradem Wege in das Paradies käme!

Die Augen starr auf das Hühnchen gerichtet, das über einem großen Feuer am Spieße gebraten wurde erwiderte Felicité mit leiser Stimme und sorgenvoller Miene:

»Ach, meine arme Alte! Das, was vor allem ihn hindert, in das Paradies einzugehen, das sind jene abscheulichen Papiere, die der Unglückliche oben in dem großen Schranke zurückgelassen hat. Ich kann nicht verstehen, warum noch kein Blitz vom Himmel diese Papiere getroffen hat. Wenn man sie von hier hinausläßt, so wird es ein Unglück, dann wird es eine ewige Schande, eine Hölle für, immer sein!«

Ganz blaß hatte Martine ihr zugehört.

»Sie glauben also, Frau Rougon, daß es ein gutes Werk sein würde, sie zu vernichten, ein Werk, das den Frieden und die Ruhe der Seele des Herrn Doktors sichern würde?«

»Großer Gott! Ob ich es glaube! Aber wenn wir sie hätten, diese gräßlichen Papierwische, dann würde ich sie mit eigener Hand dort in jenes Feuer werfen! Ah! Dann brauchtest Du kein Holz mehr dazu zu legen, die Manuskripte von da oben, die würden schon allein vollkommen genügend sein, drei Hühner wie das dort zu braten.«

Die alte Haushälterin hatte einen großen Löffel in die Hand genommen, um das Huhn zu übergießen. Auch sie schien jetzt nachzudenken.

»Wir haben sie aber ja noch gar nicht ... Ich selbst habe ein Gespräch über diesen Gegenstand mit angehört, das ich Ihnen wieder erzählen werde, Frau Rougon. Als Fräulein Clotilde in das Zimmer hinaufgegangen war, fragte sie Herr Doktor Ramond, ob sie sich noch der Anordnungen erinnerte, die sie ohne Zweifel vor ihrer Abreise erhalten hätte; und sie sagte, daß sie sich noch ganz genau daran erinnerte, daß sie die Akten behalten und alle die anderen Manuskripte ihm übergeben sollte.«

Felicité fing an zu zittern und konnte ihre Angst und Unruhe nicht verbergen. Schon sah sie die Papiere ihren Händen entschlüpfen; und es waren nicht allein die Akten, die sie haben wollte, sondern alle die beschriebenen Blätter, jenes ganze unbekannte, dunkle und verdächtige Werk, von dem nur ein Skandal ausgehen konnte nach ihrem strengen und leidenschaftlichen Sinn, als Tochter der alten, stolzen Bourgeoisie.

»Wir müssen handeln!« rief sie vor Aufregung zitternd, »und zwar noch in dieser Nacht! Morgen würde es vielleicht schon zu spät sein.«

»Ich weiß genau, wo der Schlüssel zu dem Schranke ist,« sagte die alte Martine mit leiser Stimme. »Herr Doktor Ramond hat es dem Fräulein gesagt.«

Felicité hatte sofort ihre Ohren gespitzt.

»Wo ist denn der Schlüssel?«

»Unter dem Kopfkissen, unter dem Kopfe des Herrn Doktor.«

Trotz des lebhaft flammenden Feuers des Rebholzes zog doch ein schwacher kalter Windhauch durch die Küche; die beiden Frauen schwiegen. Man vernahm nur noch das Knistern der Fleischbrühe, die von dem Huhn in die Bratpfanne hinuntertropfte.

Nachdem dann Frau Rougon allein und rasch gegessen hatte, ging sie mit der alten Martine hinauf. Von jetzt an war der Bund geschlossen, ohne daß sie noch weiter mit einander gesprochen hatten. Es war beschlossen, daß sie sich der Papiere noch vor Tagesanbruch bemächtigen wollten auf jede mögliche Art und Weise, wie es gerade gehen würde. Das einfachste war noch, den Schlüssel unter dem Kopfkissen des Toten wegzunehmen. Clotilde würde doch gewiß endlich einschlafen; sie schien vollständig erschöpft zu sein und würde schließlich doch von der Müdigkeit überwältigt werden. Es handelte sich also nur darum zu warten. Sie legten sich daher auf die Lauer und gingen ab und zu leise aus dem Arbeitssaal hinüber in das Zimmer, in dem der Tote lag, um nachzusehen, ob sich die großen, weit geöffneten und starrblickenden Augen der jungen Frau noch immer nicht geschlossen hätten. Immer war die eine von ihnen unterwegs, um nachzusehen, während die andere im Saale ungeduldig wartete, wo eine Lampe rauchend brannte. Das dauerte bis gegen Mitternacht, von Viertelstunde zu Viertelstunde. Die grundlosen Augen, die voll von Schatten und namenloser Verzweiflung waren, blieben weit geöffnet. Kurz vor Mitternacht setzte sich Felicité wieder in den Lehnstuhl, der am Fuße des Bettes stand, fest entschlossen, diesen Platz nicht eher zu verlassen, als bis ihre Enkelin eingeschlafen wäre. Ihre Blicke ruhten unausgesetzt auf der jugendlichen Gestalt, und sie bemerkte zu ihrem großen Aerger, daß sie kaum mit den Augenlidern zuckte in ihrer starren Untröstlichkeit, die den Schlaf gänzlich verscheuchte. Dann war sie es, die schließlich bei diesem Stillsitzen von der Schlafsucht befallen wurde. Aufgebracht darüber konnte sie nicht länger sitzen bleiben. Und sie suchte von neuem die alte Martine auf.

»Es ist umsonst! Sie wird nicht einschlafen!« sagte sie mit halb erstickter und vor Wut zitternder Stimme. »Wir müssen uns etwas anderes ausdenken.«

Ihr war der Gedanke schon gekommen, den Schrank aufzubrechen. Aber das alte Eichenholzgefüge schien unerschütterlich zu sein, und die alten Eisenbeschläge hielten fest. Mit was sollten sie das Schloß aufsprengen? Ganz ohne davon zu sprechen, welchen fürchterlichen Lärm das verursachen würde. Und diesen Spektakel würde man natürlich auch in den nebenanliegenden Zimmern hören.

Sie hatte sich inzwischen vor die dicken Thüren hingestellt, betastete sie mit ihren Fingern und suchte nach schwachen Stellen.

»Wenn ich nur irgend ein Werkzeug hätte ...!«

Die alte Martine, die weniger leidenschaftlich war, unterbrach sie, indem sie dagegen laut Einspruch erhob:

»Nein, nein, Frau Rougon!... Man würde uns überraschen! ... Warten Sie, vielleicht schläft das Fräulein doch!«

Auf den Fußspitzen schlich sie sich in das Zimmer und kam sofort wieder zurück.

»Ja, sie schläft! ... Ihre Augen sind geschlossen, sie rührt sich nicht mehr.«

Darauf gingen sie alle beide in das Sterbezimmer, um nachzusehen. Sie hielten ihren Atem an und versuchten mit der größten Vorsicht jedes Krachen des Fußbodens zu vermeiden. Clotilde war in der Tat soeben eingeschlafen. Ihre Entkräftung schien so groß zu sein, daß die beiden alten Frauen neuen Mut bekamen. Aber sie fürchteten dennoch sie aufzuwecken, wenn sie an sie stießen, denn sie hatte ihren Stuhl ganz nahe an das Bett herangerückt. Und es war auch eine ruchlose und schreckliche That, mit der Hand unter das Kopfkissen eines Toten zu fassen und ihn zu berauben, und die Furcht davor erfaßte sie beide. Würde man ihn dadurch nicht in seiner Ruhe stören? Würde er sich nicht unter der Berührung bewegen? Dieser Gedanke ließ sie erblassen.

Felicité war schon an das Bett herangetreten und hatte die Hand ausgestreckt. Aber sie zog sie wieder zurück.

»Ich bin zu klein,« stammelte sie. »Versuche Du es einmal, Martine!«

Die alte Haushälterin näherte sich jetzt dem Bette. Aber sie wurde von einem zu heftigen Zittern ergriffen, daß sie wieder zurücktreten mußte, um nicht hinzufallen. »Nein, nein! Ich kann nicht! Es ist mir, als ob der Herr Doktor die Augen öffnete!«

Und zitternd und bestürzt blieben sie noch einen Augenblick in dem Zimmer, in dem tiefe Grabesruhe und die Majestät des Todes herrschte, im Angesichte des für immer regungslosen Pascal und der ohnmächtigen Clotilde, die unter dem schweren Leid ihrer Witwenschaft zusammengebrochen war. Vielleicht erschien ihnen der Adel eines edlen, der Arbeit gewidmeten Lebens an jenem stillen Kopfe, der mit seinem ganzen Gewichte sein Werk behütete. Die Flammen der beiden Kerzen brannten sehr bleich. Ein heiliger Schrecken ging durch das Zimmer und trieb sie in die Flucht.

»Komm, Martine, komm! Wir werden etwas anderes ausfindig machen. Wir wollen nach irgend einem Handwerkszeuge suchen!«

In dem Arbeitssaale atmeten sie wieder erleichtert auf. Die alte Haushälterin erinnerte sich alsdann, daß der Schlüssel zum Sekretär auf dem Nachttischchen des Herrn Doktor liegen müßte, wo sie ihn am vorhergehenden Tage während eines Anfalles bemerkt hatte. Sie gingen hin, um nachzusehen. Die Mutter hegte gar keine Bedenken und öffnete den Sekretär. Aber sie fand nur die fünftausend Franken darin, die sie ruhig in der Schublade liegen ließ, denn das Geld hatte für sie gar keinen Wert. Vergebens suchte sie nach dem Stammbaum, der, wie sie wußte, gewöhnlich dort lag. Sie hätte gar zu gerne mit ihm ihr Zerstörungswerk begonnen! Er war auf dem Schreibtische im Arbeitssaale liegen geblieben, und sie sollte ihn dort nicht entdecken in der fieberhaften und leidenschaftlichen Erregtheit, die sie die verschlossenen Möbel durchstöbern ließ, ohne ihr die ruhige und klare Ueberlegung zu lassen, auf methodische Weise vorzugehen und vor allem in ihrer nächsten Umgebung zu suchen.

Ihr sehnsüchtiges Verlangen führte sie wieder zu dem Schranke zurück, vor den sie sich hinstellte; sie maß ihn und verschlang ihn ordentlich mit ihren eroberungssüchtigen Blicken. Trotz ihrer kleinen Gestalt, trotz der achtzig Lebensjahre, die sie schon hinter sich hatte, besaß sie infolge ihrer rastlosen Thätigkeit noch eine außerordentliche Kraft.

»Ach!« wiederholte sie, »wenn ich doch nur irgend ein Werkzeug hätte!«

Und sie suchte von neuem nach einer Spalte in dem Kolosse oder einem Risse, in dem sie die Finger hineinstecken konnte, um ihn zu erweitern. Sie erdachte Angriffspläne und träumte von Gewaltakten bis sie dann schließlich auf die List zurückkam, auf irgend einen verräterischen Zufall, der ihm die Thürflügeln öffnen sollte, nur dadurch, daß er darüber hinwehte.

Plötzlich erstrahlten ihre Augen; sie hatte gefunden, was sie brauchte.

»Sage einmal, Martine, es ist doch ein Haken da, der den ersten Flügel festhält?«

»Ja, Frau Rougon, er hält sich in einen Angelring ein unter der Holzplatte in der Mitte ... Sehen Sie, er befindet sich beinahe in der Höhe dieser Verzierung hier.«

Felicité stieß einen leisen Jubelruf über ihren nun gewissen Sieg aus.

»Du hast jedenfalls einen Bohrer, Martine, einen großen Bohrer? ... Hole mir ihn schnell!«

Rasch stieg Martine die Treppe hinunter in ihre Küche und brachte das geforderte Handwerkszeug mit herauf.

»Auf diese Weise, siehst Du, werden wir keinen Lärm machen,« sagte Frau Rougon und machte sich sofort an die Arbeit.

Mit auffallender Kraft, die man gar nicht mehr in diesen durch das Alter ausgetrockneten Händen vermutet hatte, setzte sie den Bohrer an und bohrte ein erstes Loch in der von der alten Haushälterin angegebenen Höhe. Aber das war zu tief, sie fühlte, daß sich die Spitze dann in die Platte eingrub. Ein zweites Loch führte sie jedoch gerade auf das Eisen des Hakens. Diesmal war es zu genau getroffen. Sie bohrte nun rechts und links noch eine Anzahl von Löchern, bis sie den Haken erreichen und nun den Ring herausstoßen konnte, wozu sie sich auch des Bohrers bediente. Der Riegel des Schlosses schob sich heraus, und die beiden Thürflügel sprangen auf.

»Endlich!« rief Felicité ganz außer sich vor Freude.

Dann aber blieb sie besorgt ganz still stehen und lauschte gespannt nach dem Zimmer hin, da sie fürchtete, Clotilden aufgeweckt zu haben. Aber das ganze Haus lag in tiefem Schlafe, und eine feierliche nächtliche Stille herrschte rings umher. Von dem Zimmer her wehte nur ununterbrochen ein Hauch der erhabenen Ruhe des Todes, und sie vernahm nichts als die helle Stimme der Uhr, die mit einem Schlage die erste Morgenstunde verkündete. Und der Schrank stand weit offen und zeigte in der gähnenden Oeffnung auf drei übervollen Fächern gewaltige Stöße von Papieren.

Da stürzte sie sich darauf los, und das Werk der Zerstörung begann inmitten des heiligen Dunkels und der unendlichen Ruhe der Nachtwache bei dem Toten.

»Endlich!« wiederholte sie mit ganz leiser Stimme. »Endlich habe ich erreicht, was ich seit dreißig Jahren erstrebe und erwarte! ... Wir müssen uns beeilen, Martine, wir müssen uns beeilen! Komm, hilf mir!«

Schon hatte sie den hohen Pultstuhl herbeigeholt und war mit einem Satze hinaufgesprungen, um zuerst die Papiere aus dem obersten Fache herabzuholen, denn sie erinnerte sich, daß sich dort die verhaßten Akten befanden. Aber sie war sehr erstaunt, dort die Umschläge aus starkem blauem Papier nicht anzutreffen, sondern es standen nur dicke Manuskripte da, die vollendeten und noch nicht veröffentlichten Werke des Doktors, unschätzbare Arbeiten, alle seine Untersuchungen, alle seine Entdeckungen, das Denkmal seines zukünftigen Ruhmes, welches er Ramond vermacht hatte, damit dieser die Sorge dafür übernehmen sollte. Ohne Zweifel hatte er einige Tage vor seinem Tode, in dem Glauben, daß allein nur die Akten bedroht seien und daß niemand in der Welt wagen würde, auch seine anderen Werke zu vernichten, eine Umstellung, eine neue Ordnung vorgenommen, um die Akten den ersten Nachforschungen zu entziehen.

»Ah, um so schlimmer!« murmelte Felicité. »Aber es muß sein! Wenn wir zu unserem Ziele gelangen wollen, so ist es ganz gleich, an welchem Punkte wir anfangen! ... Paß auf, Martine! Ich werde Dir alles zuwerfen.«

Und sie leerte das Fach und warf die Manuskripte, eines nach dem anderen, in die Arme der alten Haushälterin, die sie mit so wenig wie möglich Geräusch auf den Tisch hinstellte. Bald war der Haufen unten, und sie sprang von dem Stuhle herab.

»Ins Feuer! Ins Feuer damit! ... Schließlich werden uns auch die anderen Papiere in die Hände fallen, die ich vor allem suche ... Ins Feuer! Ins Feuer! Zunächst diese hier! Alles, bis auf das kleinste Stückchen Papier, bis auf die unleserlichste Notiz, alles ins Feuer, ins Feuer, wenn wir sicher sein wollen, diese ansteckende Seuche ganz zu vernichten!«

Sie riß selbst in ihrem wilden, fanatischen Hasse gegen die Wahrheit, in dem leidenschaftlichen Verlangen, das Zeugnis der Wissenschaft zu zerstören, die erste Seite aus einem Manuskript heraus, zündete sie an der Lampe an und warf diesen flammenden Feuerbrand in das große Kamin, in dem vielleicht seit zwanzig Jahren kein Feuer mehr gebrannt hatte, und sie nährte die Flamme, indem sie fortfuhr, stückweise den Rest des Manuskripts darauf zu werfen. Die alte Haushälterin, ebenso entschlossen wie sie, war ihr dabei zu Hilfe gekommen und hatte ein anderes großes Heft ergriffen, das sie gleichfalls in einzelne Stücke zerriß und in das Kamin warf. Von da an ging das Feuer nicht aus, das hohe Kamin füllte sich mit einer lodernden Flammenglut, einer lichten Feuergarbe, die auf Augenblicke weniger hell brannte, um dann mit verdoppelter Gewalt und Stärke emporzuschießen, wenn neuer Brennstoff ihr zugeführt wurde. Die Glut wurde nach und nach immer stärker, ein großer Haufen seiner Asche baute sich auf, und eine dichte Lage verkohlter schwarzer Blätter sammelte sich an, aus der Millionen von Funken heraussprühten. Aber es war eine langwierige Arbeit, eine Arbeit ohne Ende; denn wenn man zu viel Seiten auf einmal hineinwarf, dann brannten sie nicht, und man mußte sie aufschütteln und mit den Feuerzangen wieder herausziehen; und das beste war, sie zu zerknittern und zu warten, bis sie gut angebrannt waren, bevor man sie zu den anderen in das Kamin warf. Nach und nach nahm ihre Geschicklichkeit zu, und die Arbeit schritt rüstig vorwärts.

In der Hast, einen neuen Arm voll Papier zu ergreifen, stieß Felicité an einen Fauteuil.

»O, Frau Rougon! Nehmen Sie sich in acht!« sagte Martine, »wenn man käme!«

»Kommen, wer denn? Etwa Clotilde? Die schläft gut, das arme Mädchen! ... Und wenn sie dann kommt, wenn alles zu Ende ist, dann mache ich mir nichts mehr daraus! Ich werde mich gewiß nicht verstecken, ich werde den leeren Schrank ganz weit offen stehen lassen und aller Welt laut verkünden, daß ich das Haus gesäubert habe ... Wenn nicht eine einzige Zeile Geschriebenes mehr vorhanden ist, ah, mein Gott! dann ist mir alles andere vollständig gleichgiltig!«

Beinahe zwei Stunden lang brannte der Kamin. Sie waren zu dem Schrank zurückgekehrt und hatten auch die beiden anderen Fächer noch ausgeräumt, so daß nur noch das übrig war, was unten auf dem Boden des Schrankes lag: wie es schien, ein wirres Durcheinander von allerlei Papieren. Wie berauscht von der Hitze des Freudenfeuers, atemlos und in Schweiß gebadet überließen sie sich ganz ihrer wilden Zerstörungswut. Sie kauerten sich nieder und fragten nicht darnach, daß ihre Hände schwarz wurden, als sie die nur halbverkohlten Blätter zerstießen; und sie waren so heftig und leidenschaftlich in allen ihren Bewegungen, daß Strähne ihrer grauen Haare in wirrer Unordnung auf ihre Kleider herabhingen. Es war ein Tanz von Hexen, dieses Martyrium eines Heiligen, bei dem auf einem Höllen-Scheiterhaufen seine niedergeschriebenen Gedanken verbrannt, eine ganze Welt von Wahrheit und Hoffnung vernichtet wurde! Und die große Helligkeit, die auf Augenblicke die Lampe ganz matt erscheinen ließ, erfüllte das weite Gemach und ließ ihre Schatten in maßlosen Dimensionen an dem hohen Plafond tanzen.

Als aber Felicité den Boden unten im Schranke leeren wollte, nachdem sie schon ganze Hände voll Papiere von dem wirren Durcheinander, das dort aufgehäuft lag, verbrannt hatte, stieß sie einen halb erstickten Triumphschrei aus.

»Ah, da sind sie! ... Ins Feuer! Ins Feuer!«

Endlich war sie auf die Aktenbündel gestoßen. Ganz unten, hinter dieser Schutzmauer von Papieren, hatte der Doktor die Umschläge aus starkem blauem Packpapier versteckt. Und nun folgte eine Scene wahnsinniger Zerstörungswut, wie sie die Aktenbündel mit beiden Händen vom Boden zusammenrafften und in die Flammen warfen, so daß diese hoch emporschossen und das Kamin mit knisternder Glut erfüllten.

»Sie brennen! Sie brennen! ... Endlich brennen sie doch! ... Martine, hier noch das und dann noch das da! ... Ah, welches Feuer, welches große Feuer!«

Aber die alte Haushälterin wurde von Unruhe und Angst ergriffen.

»Nehmen Sie sich in acht, Frau Rougon! Sie können das Haus in Brand setzen! ... Hören Sie nicht das Sausen und Prasseln?«

»Ah, was würde das denn machen! Es kann alles ruhig verbrennen! ... Sie verbrennen! Sie verbrennen! Ah, wie schön ist das! ... Noch drei, noch zwei, und jetzt das letzte noch, das verbrennen muß!«

Sie lachte vergnügt und war sehr heiter und ausgelassen, als plötzlich große Stücke brennenden Rußes im Kamin herunterfielen. Das Prasseln und Knistern war fürchterlich, das Feuer in dem Kamin, den man niemals gekehrt hatte, brannte weiter. Das schien sie noch mehr aufzuregen, während die alte Haushälterin den Kopf verlor und anfing, laut schreiend im Zimmer umher zu rennen.

Clotilde schlief an der Seite des toten Pascal in der erhabenen Ruhe des Sterbezimmers, kein anderes Geräusch war zu vernehmen, als der feine, zitternde Schlag der Uhr, die die dritte Morgenstunde verkündigte. Die Kerzen brannten in großen, unbeweglichen Flammen, nicht der geringste Hauch bewegte die Luft. Und in ihrem schweren, traumlosen Schlafe hörte sie dennoch etwas wie einen Tumult, ein immer lauteres Jagen eines bösen Traumes. Und als sie dann ihre Augen wieder geöffnet hatte, war sie sich für den ersten Augenblick ihrer Lage nicht klar bewußt. Wo war sie? Warum zerdrückte ihr diese ungeheure Last das Herz? Ein heftiger Schrecken brachte sie endlich wieder in die Wirklichkeit zurück: sie sah den toten Pascal wieder, sie hörte die Schreie der alten Martine in dem Nebenzimmer; erschreckt sprang sie auf und stürzte nach der Thüre hin, um zu sehen, was passirt war.

Aber schon von der Schwelle aus erkannte Clotilde die ganze Scene mit grausamer Deutlichkeit, sie sah den großen Schrank weit offen stehen und vollständig geleert; sie erkannte die alte Martine, die aus Angst vor dem Feuer den Verstand ganz verloren hatte, sie sah ihre Großmutter Felicité, der der Triumph aus den Augen leuchtete und die mit dem Fuße die letzten Fragmente der Akten in das Feuer stieß. Dichter Rauch und fliegender Ruß erfüllte den Saal, in dem das Prasseln des Feuers wie das Röcheln eines zum Tode Verwundeten klang; das war das wilde Jagen gewesen, das sie soeben in ihrem Schlafe vernommen hatte.

Und der Schrei, der von ihren Lippen kam, war der gleiche, den Pascal in jener Sturmnacht ausgestoßen, als er sie überrascht hatte, wie sie im Begriffe stand, ihm die Papiere zu rauben.

»Räuberinnen! Mörderinnen!«

Sogleich war sie nach dem Kamine hingesprungen, und trotz des schrecklichen Prasselns, trotz der großen Stücke rotglühenden Rußes, die fortwährend herabfielen, trotz der großen Gefahr, daß ihre Haare Feuer fingen und sie sich die Hände verbrannte, ergriff sie eine Hand voll der noch nicht ganz verbrannten Blätter und löschte mutig die glimmenden Stellen, indem sie sie fest an sich drückte. Aber es war nur sehr wenig, was sie gerettet hatte, kaum einige Trümmer, nicht eine einzige vollständige Seite, nicht ein Stück der großen Arbeit, des fleißigen und gewaltigen Werkes eines ganzen Lebens, das das Feuer soeben hier in zwei Stunden zerstört hatte. Und ihr Zorn steigerte sich zu einem heftigen Ausbruch wilder Empörung.

»Ihr seid Räuberinnen! Ihr seid Mörderinnen! ... Das ist ein abscheulicher Mord, den Ihr soeben begangen habt! Ihr habt den Tod entheiligt! Ihr habt den Gedanken gemordet, ihr habt das Genie gemordet!«

Die alte Frau Rougon zog sich nicht verlegen zurück; sie trat im Gegenteile mit stolzerhobenem Kopfe und ohne alle Gewissensbisse vor und verteidigte den Urteilsspruch, der auf Zerstörung lautete und den sie gefällt und ausgeführt hatte.

»Sprichst Du so zu mir, zu mir, Deiner Großmutter? ... Ich habe gethan, was ich habe thun müssen und was Du einstens mit uns thun wolltest.«

»Damals hattet Ihr mich irre gemacht. Aber ich habe gelebt, ich habe geliebt, ich habe begriffen ... Dann war das eine heilige Erbschaft, die meinem Mute vermacht war, der letzte Gedanke eines Verstorbenen, das, was noch übrig war von einem großen Geiste und vor dem ich Allen Ehrfurcht einflößen sollte ... Ja, Du bist meine Großmutter, und es ist, als ob Du soeben Deinen Sohn verbrannt hättest!«

»Pascal verbrennen, weil ich seine Papiere verbrannt habe?« rief Felicité aufgeregt. »O, ich würde die ganze Stadt verbrannt haben, um den Ruhm unserer Familie zu retten!«

Sie schritt immer weiter vor als Kämpferin, als Siegerin, und Clotilde, welche die geschwärzten und von ihr geretteten Fragmente auf den Tisch gelegt hatte, verteidigte sie mit ihrem Körper in der Angst, Felicité würde sie wieder in das Feuer zurückschleudern.

Aber sie würdigte sie gar keines Blickes und beunruhigte sich auch weiter nicht wegen des Feuers im Kamine, das dann glücklicherweise von selber ausging, während die alte Martine mit der Kohlenschaufel die letzten Haufen brennenden Rußes und glimmender Asche verlöschte.

»Du weißt denn doch ganz genau,« fuhr die alte Frau, deren kleine Gestalt zu wachsen schien, fort, »daß ich nur einen Ehrgeiz, nur eine Leidenschaft habe, den Ruhm und die Größe der Unserigen. Ich habe gekämpft, ich habe gewacht mein ganzes Leben hindurch, und ich habe nur so lange gelebt, um diese schmählichen Geschichten aus der Welt räumen und eine ruhmreiche Legende von uns hinterlassen zu können ... Ja, ich habe niemals gezweifelt, ich habe niemals die Flinte ins Korn geworfen, sondern ich bin im Gegenteil jederzeit bereit gewesen, Nutzen aus den unbedeutendsten Ereignissen zu ziehen ... Und alles, was ich gewollt, das habe ich auch erreicht, weil ich es verstand, zu warten.«

Und mit einer stolzen Handbewegung zeigte sie auf den leeren Schrank und auf das Kamin, in dem gerade die letzten Funken erloschen.

»Jetzt ist es vollbracht; unser Ruhm ist gerettet, diese abscheulichen Papiere werden uns nicht mehr anklagen, und ich lasse nichts mehr zurück, das ihn bedrohen könnte ... Die Rougons triumphiren!«

Empört hob Clotilde den Arm, als wollte sie sie fortjagen. Aber sie ging von selbst und stieg in die Küche hinunter, um ihre schwarzen Hände zu waschen und ihre Haare wieder in Ordnung zu bringen. Die alte Haushälterin wollte ihr gerade folgen, als sie beim Umdrehen eine Handbewegung ihrer jungen Herrin sah. Sie kam daher wieder zurück.

»O, ich, Fräulein, ich werde übermorgen fortgehen, sobald der Herr Doktor draußen aus dem Friedhof liegt.«

Es entstand eine kurze Pause.

»Ich schicke Dich aber nicht fort, Martine, denn ich weiß wohl, daß Du nicht die Schuldigste bist ... Es sind jetzt dreißig Jahre, daß Du hier in diesem Hause wohnst. Bleibe auch ferner hier, bleibe bei mir!«

Das alte Mädchen schüttelte den grauen Kopf, während ihr abgelebtes Gesicht totenblaß geworden war.

»Nein! Ich habe dem Herrn Doktor gedient, ich werde nach dem Herrn Doktor niemanden mehr dienen!«

»Aber mir doch!«

Sie hob ihre Augen empor, sah dem jungen Weibe gerade in das Gesicht, dem kleinen Mädchen von einst, das sie so lieb gehabt und das sie hatte heranwachsen sehen, und sagte mit harter Stimme:

»Ihnen, nein!«

Clotilde wurde von dieser schroffen Ablehnung tief getroffen. Sie wollte von dem Kinde sprechen, das sie unter dem Herzen trug, von dem Kinde ihres Herrn; vielleicht würde sie sich bereit erklären, diesem zu dienen.

Aber Martine durchschaute sie; sie erinnerte sich des Gespräches, das sie so sehr überrascht hatte, sie sah sich diesen schwangeren Frauenleib an, an dem die Schwangerschaft noch nicht sichtbar war. Einen Augenblick schien sie noch zu überlegen, dann sagte sie kurz:

»Nicht wahr, wegen des Kindes? ... Nein!«

Und sie übergab Clotilden schließlich noch ihre Rechnung und brachte die Geldangelegenheit in Ordnung als praktisches Mädchen, das den Wert des Geldes genau kennt.

»Da ich etwas habe, so werde ich ruhig irgendwo meine Zinsen verzehren ... Sie, Fräulein, kann ich verlassen, denn Sie sind nicht arm. Herr Doktor Ramond wird Ihnen morgen auseinandersetzen, wie man noch viertausend Franken Rente bei dem Notar Grandguillot gerettet hat. Hier ist der Schlüssel zum Sekretär, wo Sie für einstweilen die fünftausend Franken noch vorfinden werden, die der Herr Doktor dort liegen gelassen hat ... O, ich weiß wohl, daß wir zusammen keine Schwierigkeiten haben werden. Der Herr Doktor bezahlte mich seit drei Monaten nicht mehr, ich habe Zettel von ihm, auf denen er mir das bescheinigt. Außerdem habe ich ihm, ohne daß er wußte, woher das Geld kam, in den letzten Zeiten aus meiner Tasche gegen zweihundert Franken vorgestreckt. Alles dies ist genau aufgeschrieben; ich bin deswegen ganz ruhig, das Fräulein wird mich gewiß um keinen Sou schädigen ... Uebermorgen, wenn der Herr Doktor nicht mehr da sein wird, werde ich weggehen.«

Dann ging sie in ihre Küche hinunter, und Clotilde war schrecklich traurig über den Weggang der alten Person, trotzdem ihre blinde Ergebenheit sie sogar so weit gebracht hatte, ihre Hände zu einem Verbrechen herzugeben. Dennoch aber hatte sie, als sie die Ueberreste der Aktenbündel zusammensuchte, bevor sie in das Zimmer zurückkehrte, eine große Freude; sie bemerkte plötzlich den Stammbaum, der ruhig auf dem Tische ausgebreitet lag und den die beiden Frauen dort nicht entdeckt hatten. Das war das einzige vollständige Ueberbleibsel, eine heilige Reliquie. Sie nahm ihn und eilte damit in das Zimmer, wo sie ihn zusammen mit den halb verbrannten Fragmenten in die Kommode einschloß.

Als sie aber wieder in diesem geweihten Raume sich befand, ergriff sie eine tiefe Bewegung. Welch eine erhabene Ruhe, welch unsterblicher Frieden herrschte hier im Gegensatz zu der wilden Zerstörungswut, die den danebenliegenden Saal mit Rauch und Asche angefüllt hatte! Eine heilige Zufriedenheit entströmte dem Dunkel, und die beiden Kerzen brannten in einer reinen, von keinem Hauche bewegten Flamme. Und sie sah dann, daß das Gesicht Pascals sehr bleich geworden war mitten in der wogenden Flut seines weißen Bartes und seiner weißen Haare. Von dem Kerzenlicht wie von einem himmlischen Glorienschein umstrahlt, lag er in erhabener Schönheit schlafend da. Sie beugte sich herab, sie küßte ihn wieder und fühlte an seinen Lippen und an den geschlossenen Augenlidern die Kälte dieses Marmorantlitzes, das seinen Ewigkeitstraum träumte. Ihr Schmerz darüber, daß sie sein Werk, dessen Obhut er ihr hinterlassen, nicht hatte retten können, war so groß, daß sie weinend und jammernd auf die Kniee sank. Der Geist war verletzt worden; es kam ihr vor, als ob die ganze Welt in dieser wilden Vernichtung einer ganzen Lebensarbeit mit zerstört worden wäre.


 << zurück weiter >>