Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Graf Vließen hatte sich auf der Fahrt nach dem Klub nicht getäuscht: er hatte Hella und Dittmar gesehen.
Für beide war eine Zeit schweren Martyriums angebrochen. Die Forderung seines Vaters war für Dittmar ein nicht zu umgehender Befehl. Sie entsprach zudem seinem eigenen Empfinden. Er war nur ein einziges Mal der Erlaubnis Nathansohns gefolgt und hatte an einem Freitag nachmittag in der Villa der Tiergartenstraße vorgesprochen. Doch da war das Haus voll Besucher, so daß ein Wort heimlicher Zwiesprache mit Hella unmöglich gewesen war.
Aber das verliebte Herz Hellas fand trotz der Aufsicht des Vaters den Weg zu Dittmar. Sie zog ihre Zofe in das Vertrauen. Das Mädchen vergötterte sie und wäre für sie durch Wasser und Feuer gegangen. Es kostete Hella Ueberwindung, sich Mittel zu bedienen, die ihrem Feinempfinden wenig entsprachen. Doch noch lauter sprach ihre Liebe. Diese heiße Liebe erfüllte ihr ganzes Sinnen. Jeder ihrer Gedanken gehörte Dittmar. Es war kein müßiges Spiel mit dem Tode, daß sie in bangen Stunden daran dachte, sterben zu müssen, wenn man ihr jede Hoffnung rauben wolle, die Seine werden zu können.
Die Zofe vermittelte das erste Rendezvous in jener kleinen, wenig besuchten Konditorei, vor der Vließen die beiden gesehen hatte. Hier trafen sie sich einige wenige Male. Ein fester Entschluß mußte gefaßt werden. Er war nicht leicht. An ein Nachgeben Nathansohns war nicht zu denken. Der evangelische Pfarrer, bei dem Hella heimlich Religionsunterricht genommen, hatte erklärt, die Taufe nur mit Einwilligung des Vaters vornehmen zu wollen. Er vertrat den Standpunkt, daß Hella zwar mündig sei, aber noch unter väterlicher Obhut stehe. Ein zweiter, Dittmar befreundeter Geistlicher, den dieser aufgesucht hatte, war gegenteiliger Ansicht. Es handle sich in keinem Falle um Gewissensbedenken, sondern um eine einfache Rechtsfrage. Die Thatsache, daß Hella das mündige Alter erreicht, sei maßgebend. Dennoch führte der Geistliche, ein warmherziger, menschenfreundlicher Mann, auch theologische Momente zu Gunsten der Wünsche Hellas an. Nötigenfalls hätte Dittmar selbst die heilige Handlung an seiner Braut vollziehen können.
An jenem Sturmtage, an dem Vließen Hella und Dittmar begegnet war, wurden die letzten Abmachungen zwischen den beiden Liebenden getroffen. Es war ein Mittwoch. Am Sonnabend sollte die Taufe in der Wohnung des Dittmar befreundeten Pfarrers stattfinden. In Hella war alles leuchtende Liebe. Die große göttliche Gnade durchströmte ihr Herz und verschönte sie wunderbar. In ihren Augen lag ein hehrer Glanz, der sprach beredter als Worte.
Noch ein herber Schmerz sollte kommen: die Aussprache mit ihrem Vater. Aber dann war Hella gewappnet. Es konnte kein Zurück mehr geben. Und die Hoffnung war mit ihr, daß der Segen der Liebe auch im Herzen des Vaters auf fruchtbaren Boden fallen würde.
Im Sturm und Regen wanderte sie an jenem Mittwoch nach Hause. Der schneidende Wind ließ sie frösteln. Sie achtete nicht darauf. Sie war Glückes voll. Noch drei Tage – und das feste Band, das sie mit Dittmar verknüpfte, hatte heilige Weihe empfangen. Dann der Schlußkampf – dann Frieden …
Dittmar wollte Gerda und Bertram als Paten zu dem Taufakt bitten. Aber als er am Donnerstag nachmittag in der Rauchstraße vorsprach, fand er Hans fiebernd im Bett vor und mußte von ihm hören, daß Gerda mit dem Kleinen auf kurze Zeit nach Uttenhagen gereist sei.
Hans war nicht so krank, daß er nicht ein Viertelstündchen mit Dittmar hätte plaudern können. Er sprach von einer leichten Influenza; der Arzt hatte ihm lediglich Ruhe und Schonung anbefohlen.
»Ich will nicht, daß Gerda davon erfährt,« sagte er, – hörst du, Ditt? Also schreibst du etwa an sie, so erwähne meine Bettfaulheit gar nicht. Bin ich wieder ganz auf dem Damm, so gönne ich mir vielleicht auch ein paar Tage Landluft. Mir ist Berlin plötzlich überaus ekelhaft geworden; ich muß die Lungen mit Ozon füllen und mir die Seele in frischerer Atmosphäre rein baden …«
Dittmar hatte sich kaum verabschiedet, als der Diener im Schlafzimmer Hansens erschien, um zu melden, ein Herr sei draußen, der sich nicht abweisen lassen wolle: ein Herr Düren. Er bitte darum, Herr Volcker möge ihn nur auf eine Minute empfangen – im Bett oder im Schlafrock, es sei gleichgültig.
Hans wurde unwillig. Aber er besann sich. Was suchte Düren bei ihm? Eine Ahnung dämmerte in ihm auf. Geschäftliches führte den Mann sicher nicht in des Gegners Haus. Also was war! … Und plötzlich fühlte Hans sein Herz rascher und lauter schlagen. Es war der Augenblick nahe, da es von einem Wort seiner Lippen abhing, zwei Menschen glücklich zu machen.
Er empfing Düren und bat um Entschuldigung, daß eine Erkältung ihn zwinge, das Bett zu hüten.
Düren hatte sich an der Thür verbeugt.
»Nicht Sie haben sich zu entschuldigen, Herr Volcker,« entgegnete er, »– ich muß um Verzeihung bitten, daß ich Sie zu so wenig gelegener Stunde belästige …« Er wehrte ab, als Hans auf einen Stuhl deutete … »Ich will nach Möglichkeit kurz sein, Herr Volcker,« fuhr er fort und trat einen Schritt näher an das Bett heran. »Ich stehe im Begriff, mich zu verloben. Sie kennen meine Braut – Olga Pawel –«
Hans nickte ruhig mit dem Kopfe. Er bemühte sich sichtlich, gelassen und gleichmütig zu bleiben. »Ja,« sagte er, »ich kenne sie – und ich gratuliere Ihnen von Herzen, Herr Düren. Es gibt kaum einen zweiten Menschen auf der Welt, dem ich so aus dem Tiefsten Glück und Sonne wünsche als diesem Mädchen. Ich kenne Olga – und nun weiß ich auch, was Sie zu mir führt … Hören Sie mich an – aber ich bitte Sie, nehmen Sie sich einen Stuhl …« Er stützte den Kopf in die Hand und schaute ernst zu seinem Feinde herüber, der da blaß und wartend saß, mit Hoffnung und Sehnsucht in seine Hände gegeben – ein Gebundener. Aber Hans sah ihn kaum; er sah ein liebes kleines Gesicht mit blondem Gelock über der Stirn und zwei ängstlich bittende Augen. Da wußte er, was er zu thun hatte … »Hören Sie mich an,« wiederholte er aufatmend. » Wo ich sie kennen lernte – ja wo? In einem Theater – richtig: im Schauspielhause, im ›Faust‹. Und ein paar Tage später führte der Zufall mich abermals mit ihr zusammen – bei der Entgleisung eines Eisenbahnwagens – bei einer ganz prosaischen Gelegenheit, die aber doch …« Er schwieg einen Augenblick, um dann rascher fortzufahren: »Herr Düren, die Zeit meiner Bekanntschaft mit Olga war eine wundervoll poetische Episode in meinem Leben, war ein holder Traum, an den ich gern zurückdenke. Wir waren beide frei – sie wie ich – und wir hatten uns lieb. Aber sehen Sie: es war keine Liebe, die zu sinnloser Leidenschaft stieg – es war eine Zärtlichkeit, in der etwas Rührendes lag … Vielleicht hat gerade dies geschwisterliche Empfinden meine Neigung zu ihr gesteigert; es war eine Liebe, die nicht begehrte, sondern sich mit herzlicher Freundschaft begnügte … Herr Düren, wir waren wie zwei Kinder – und daß es so war, das gibt der Erinnerung an jene Tage eine Verklärung, die mir vor Ihnen jede Verlegenheit nimmt. Ja – ich habe Olga lieb gehabt – was weiter!? Ist das ein Flecken auf ihrer Ehre? –«
Düren erhob sich. »Ich danke Ihnen, Herr Volcker,« sagte er; »ich wollte hören, was ich gehört habe. Man ist ein Thor. Ich danke Ihnen und bitte nochmals um Vergebung, daß ich Sie gestört habe …« Er verbeugte sich abermals tief und förmlich und ging.
Hans blieb mit unter dem Kopf verschränkten Händen im Bette liegen. Ein frohes Lächeln glitt über sein Gesicht, ein Reflex der Stimmung in seinem Innern. Er hatte einen Feind glücklich gemacht, statt ihn niederzustrecken. Das löschte manches aus …
Dittmar war inzwischen in seine Wohnung zurückgekehrt. Er fand eine beunruhigende Nachricht vor. Die Zofe Hellas hatte ein Billet für ihn abgegeben. Es war flüchtig mit Bleistift geschrieben und enthielt nur wenige Zeilen:
»Geliebter Ditt!
Ich habe mich bei dem gestrigen Sturm gründlich erkältet und darf nicht aus den Federn. Aber ich hoffe, morgen wird wieder alles in Ordnung sein. Und übermorgen – und dann! Gruß und Kuß, mein Lieb –
Deine Hella.«
Morgen und übermorgen und dann! … Das Morgen kam und das Uebermorgen und keine weitere Nachricht von Hella. Am Freitag abend wurde Dittmar von einer quälenden Unruhe gepackt. Er stürmte davon und durchquerte mit eilenden Schritten den Tiergarten. Der Wind brauste in den Baumwipfeln und brach und knickte das dürre Geäst; in den Regen mischten sich Schneetropfen. Es war fast menschenleer auf den Straßen. Hin und wieder ratterte eine geschlossene Droschke über das schlüpfrige Pflaster. Im Nebel schienen die Laternen trüber zu brennen. Es war ein Abend wie jener, da er sich zum letztenmal mit Hella in der kleinen Konditorei getroffen hatte …
Dittmars Unruhe wuchs. Gleichsam unvermutet sah er sich plötzlich der Villa Nathansohn gegenüber. Nur zwei Fenster waren im ersten Stockwerk erleuchtet. Das machte Dittmar von neuem stutzig. War heute nicht Freitag – nicht jour fixe im Hause Nathansohns? Sonst flammte Licht an Licht an der Front der Villa, und vor der Einfahrt leuchtete die elektrische Girandole … Dittmar lehnte sich am Reitwege an den Stamm einer Linde. Daß der vom Baum rinnende Regen in schweren Tropfen sein Gesicht netzte, spürte er nicht. Es lag gleich einer Riesenlast auf seiner Brust; sein Atmen war ein leises Röcheln geworden …
Da klang drüben die Gartenpforte, und es huschte etwas auf die Straße. Der Regen sprühte Dittmar in die Augen. Wer war das? Dittmar wischte mit der Hand über die Augen und sprang über den Makadam. Er hatte Emma erkannt, die Zofe Hellas, den treuen Liebesboten.
»Emma! …«
Die Kleine zuckte erschreckt zusammen und wandte sich um. Sie hatte ein Tuch über den Kopf geworfen, das auch Schultern und Büste umhüllte.
»Herr Graf,« keuchte sie, »– Sie …? Ich wollte zu Ihnen. O das entsetzliche Unglück! …«
Das Gesicht war fahl, das Auge verweint und brennend. Ein Unglück?! Dittmar zog sie mit sich. Schon in diesem Moment wußte er, was kommen würde. Er zitterte nicht; aber es hämmerten seine Pulse wie ein gewaltiges Schlagwerk, und das Blut schoß ihm zu Hirn, so daß es dunkel um ihn zu werden schien.
»Erzählen! …«
Er führte Emma an der Hand mit sich. Sie sprach hastig und leise, von Schluchzlauten unterbrochen und dabei wie von Krämpfen geschüttelt. Es war so furchtbar. Vor einer Stunde war Hella gestorben. Die Erkältung hatte sich in eine schwere Lungenentzündung gewandelt …
Wie Dittmar nach Hause gekommen, das wußte er nicht. Er fand sich mitten in seinem Zimmer, lang ausgestreckt auf dem Teppich wieder. Hella tot. Es war so unfaßbar und unbegreiflich, daß er an seinen Sinnen zu zweifeln begann. Seine Hella tot …
Die Nacht, die da folgte, war die schwerste im Leben des jungen Mannes. Sie zählte nicht nach Stunden; sie war eine unendliche Leidenszeit.
Dittmar hatte sich nicht niedergelegt. Ruhelos schritt er auf und ab, warf sich zuweilen im Uebermaße der Qual laut weinend auf das Sofa und sprang dann wieder empor wie aufgepeitscht. Er starrte vom Fenster aus in die Nacht hinein. Da ging Hella draußen vorüber und nickte ihm zu. Er warf den Kopf auf den Tisch und verbarg sein Gesicht. Da hörte er Hellas Stimme. Er raste wieder durch das Zimmer, mit tobendem Blut und hämmernden Pulsen. Da war Hella neben ihm …
Hella – Hella! Die erste reine und heilige Flamme, die in seinem Herzen gelodert – der Tod hatte sie gelöscht … Es dämmerte der Morgen in das Zimmer; in seinem alltäglichen Grau, kalt, winterlich und öde. Da lag Dittmar vor dem Sofa auf den Knieen und sprach mit seiner Toten. »Liebe, süße Hella – du, meine Hella, du hörst mich! Ich habe dich über alles geliebt und liebe dich über Tod und Grab. Ich liebe dich immer und ewig. Ich liebe dich, du meine Hella. Ich will dein Andenken heilig halten, und du sollst mein Schutzgeist sein – süße, süße Hella! …« Er sprach das laut und sprach lange mit ihr. Und jedes Liebeswort wurde zu einem Stachel neuer Qual …
Am Vormittage fuhr er nach der Villa Nathansohn. Er traf in allen Zimmern auf Verwandte und Bekannte des Hauses, schwarz gekleidete ernste Männer und Frauen, die ihn stumm und höflich grüßten. Eine Hand rührte von hinten an seiner Schulter. Nathansohn winkte ihm und zog ihn in sein Arbeitszimmer. Da war man allein. Der Bankier war in allen Tiefen erschüttert; in dem grauen Gesicht zuckten die Muskeln; die Augen waren verschwommen.
»Graf,« sagte er und preßte die Hände Dittmars, »hier auf diesem Fleck stand sie damals. Da sprach sie von ihrer Liebe. Meine Hella! –« Es war wie ein Aufheulen … Und wieder packte der Alte Dittmars Hand. »Kommen Sie – Sie haben sie geliebt – Sie sollen sie noch einmal sehen … Ganz allein. Ich lasse niemand zu ihr … Nur Sie und ich …«
Er führte Dittmar in das Schlafgemach Hellas. Das war das Totenzimmer. Die Spiegel waren verhängt und alle Fenster; die Lichter brannten. Sie lag im Bett; ein seidenes Tuch war über ihr Antlitz gebreitet. Dittmar erschauerte nicht. Er war mit seiner Toten allein. Er trat an das Bett und hob das Tuch und küßte die kalte Stirn … Der Sturm in seiner Seele tobte nicht mehr. Dittmar fühlte eine große Ruhe über sich gekommen und eine stille Weihe. Sein schweigender Mund sprach ein Gelöbnis. Die Tote war sein gewesen und blieb es. Das heilige Wasser hatte noch nicht ihre Stirn genetzt. Binnen kurzem würde draußen auf dem jüdischen Friedhofe ein prunkvoller Denkstein die Stelle bezeichnen, da sie ruhte. Doch wo immer man sie auch beisetzte: sein war sie gewesen und blieb es. Blieb es in starker und ewiger Liebe …
Als Dittmar das Totenzimmer verließ, sah er dicht an der Thür einen blassen Mann, der nahm hastig seine Hände und drückte sie stark. Sagte kein Wort dabei; aber Dittmar verstand den Druck der Hand. Es war der Doktor Heller. Nathansohn hatte ihn nicht in das Zimmer gelassen. Da sollte keiner hinein als er, der Vater, und der, den sein Kind geliebt. Doktor Heller sagte kein Wort; er drückte nur die Hand Dittmars, die die Tote berührt hatte. – – –
Drei Tage vor Weihnachten fuhren Dittmar und Hans Volcker nach Uttenhagen. Sie saßen allein im Coupé, jeder in einer Ecke, und plauderten miteinander.
»Du solltest auf einige Monate nach dem Süden gehen, Ditt,« sagte Hans; »es reißt dich heraus und bringt dich in andre Umgebung. Es wird dir auch gesundheitlich gut thun. Du siehst schauderhaft aus.«
»Ich kann nicht behaupten, daß du vor Gesundheit strotzest, Hans,« erwiderte Dittmar, »könnte dir den guten Rat also wohl zurückgeben. Aber er nützt dir so wenig wie mir. Du brauchst nicht die Sonne Italiens; du brauchst deine Gerda und wirst sie dir wiederholen. Und ich –? Lieber Junge, ich brauche die Arbeit. Denke ich an frühere Tage zurück, so muß ich fast lächeln bei diesem Wort. Was war mir dereinst die Arbeit! Im besten Falle eine angenehme Abwechslung. Aber sie ist mir eine gute Freundin geworden – eine Gefährtin, die treuer ist als das Glück. Ich rufe sie – doch nicht an den Schreibtisch. Vor der stillen Geistesarbeit fürchte ich mich. Kannst du das verstehen?«
»O ja, Ditt. Du scheust die Phantasie. Es ist Selbsterhaltungstrieb, daß du die Zeit für dich sprechen lassen willst. Aber es wird dich doch bald wieder an den Schreibtisch locken – und du wirst der Lockung nachgeben.«
»Warum nicht? Dann und wann – ja –« er seufzte tief auf »doch, Hans, sieh, wenn ich verdammt wäre, jetzt an eine größere Arbeit gehen zu müssen, ich würde verzweifeln. Ich würde immer nur wieder mein Leid niederschreiben können, und das will ich nicht. Das vermag ich nicht. Es wäre ein Vergehen und ein Auflösen im Schmerz. Gewiß: ich denke an die Zeit; du hast recht. Sie wird den Schmerz nicht aus meiner Seele fegen; aber den Stachel wird sie ihm nehmen … Der Papa schreibt hilfeflehend. Er weiß in Uttenhagen nicht mehr aus noch ein. So wie die Verhältnisse liegen, ist eine Weiterwirtschaft unter der Hand meines guten Alten ein Ding der Unmöglichkeit. Ihn hält die Politik. Da ist mir ein Gedanke gekommen, der sich durchführen läßt. Wir werden die Rollen tauschen. Papa ist nicht nur ein famoser Redner; er ist auch der geborene Journalist. Mag er bei der Politik bleiben und meinetwegen noch tiefer in ihre Strudel tauchen. Vielleicht wird das auch eurem ›Morgenblatt‹ dienlich sein –«
»Ausgezeichnet!« rief Hans einfallend. »Papa ist uns schon heute unentbehrlich geworden; es wäre prächtig, wenn wir ihn noch fester an unser Blatt fesseln könnten. Die Tadellosigkeit seiner Persönlichkeit gibt uns Folie; die Lauterkeit seiner Gesinnung erkennen auch die Gegner an. Und dann noch etwas. Der Papa ist der einzige Politiker der Partei, der seine volle Unabhängigkeit bewahrt hat. Will man ihn der Gruppe der ›Wilden‹ einreihen – was thut's? Er ist ein parlamentarisches Genie, und schon um seinetwillen wird der Parteivorstand das ›Morgenblatt‹ nicht einfach an die Wand drücken können. Die Idee ist vortrefflich. Was sagt der Alte dazu?«
»Er schwankt noch. Aber seine Bedenken sind nicht ernsthafter Art. Vor allem ist er glücklich, daß ich ihm Uttenhagen abnehmen will. Ich stehe auf einmal hoch in Ehren bei ihm. Uebrigens: ich bin langsam gestiegen; es kam nicht über Nacht; er hat Rückfälle gefürchtet. Sie sind ausgeschlossen: ich habe mich selbst kennen gelernt. Ich bin durch eine doppelte Schule gegangen, Hans: der Schmach und des Schmerzes …«
Hans nickte stumm. Er hörte eine verwandte Stimme in der eigenen Seele.
Der Zug raste durch die winterlich weiße Landschaft. Aber es schneite nicht mehr. Der Himmel hatte sich aufgeklärt, und die Sonne schien.
Dittmar wies aus dem Fenster. »Aufgepaßt, Hans,« sagte er; »gleich wird die Lokomotive pfeifen. Wir kommen auf Uttenhagener Gebiet. Da ist der Birkenwald – da der See – da tauchen die Dachsberge auf …«
Hans schaute aus dem Fenster. Der Zug glitt an der silbernen Pracht des Birkenhains vorüber. Die Bäume waren mit Eiskrystallen bepackt. Zwischen die hellen Stämme hindurch sah man den gefrorenen Spiegel des Sees leuchten. Auf jener Erhebung drüben hatte Hans einst Gerda seine Liebe gestanden. Da war der Humor der Gefährte ihrer Poesie gewesen …
Ein schriller Pfiff. Der Zug hielt vor der kleinen Station. Hinter dem Bahnhofsgebäude wartete auch schon der Schlitten; davor das ungezogene Ponypaar, und Fritz hielt die Zügel. Fritz war avanciert: kein Boy mehr, sondern zweiter Diener, und zuweilen durfte er auch den Kutscher vertreten.
Er grinste, als Dittmar ihm lachend zunickte. Aber er saß bewegungslos auf seiner Pritsche, die Peitsche auf den Schenkel gestemmt, und spielte den korrekten Kutscher vornehmer Herrschaft.
Es ging wie ein Schwalbenflug durch die Landschaft. Die Schneedecken der Ponies blähten sich auf wie Segel, und das Geläut der Schellen klang weithin. Hinab zum Seeufer, und dann in mächtigem Bogen dem Dorfe zu. Zuweilen berührten die farbigen Kopfstutze der Pferde die tief hängenden Birkenzweige, und dann rieselten die Eisatome herab; in den knirschenden Schnee zogen die Kufen tiefe Furchen.
In der Parkallee sprangen die Hunde den Ankömmlingen entgegen: alle fünf – Max, Montez, Schnauzerl, Pitty und Waldmann. Dittmar rief sie an, und sie gebärdeten sich wie wahnsinnig, überschlugen sich im Schnee und hüpften am Schlitten empor. Unter dem Portal aber stand der alte Leitholz und freute sich …
So sah man sich wieder. Ein paar Tage waren ins Land gezogen, nur ein paar Tage. Aber die herben Erfahrungen, die sie gezeitigt, hatten die Menschen gewandelt. Nun konnte aus neuer Saat neue Frucht keimen.
Fest aneinandergeschmiegt standen Hans und Gerda am Bett ihres Kleinen, der seelenruhig seinen Mittagsschlaf hielt.
»Ich wollte dir ein Versprechen geben, Gerda,« sagte Hans, »hier – angesichts unsers Buben. Aber nicht die Worte thun es. Ich werde handeln in deinem Geiste … Vielliebe Gerda, Einsicht ziemt dem verständig Gewordenen. Ich war ein dummer Kerl. Nicke ruhig – ich war es. Und daß ich es war: vielleicht lag es an meiner Erziehung, an einer allzu bequemen Jugend, an Einflüssen von da und dort, denen ich nur gar zu gern nachgab – vielleicht. Es ist gleichgültig. Meine Biographen können versuchen, diese schwierige Frage zu lösen. Aber sie dürfen das Wichtigste nicht vergessen: dieser Hans Volcker besaß eine Frau, die war die liebste und die klügste zugleich. Es war eine Frau, die es wie keine verstand, Herz und Vernunft ein Duo spielen zu lassen. Es war › die‹ Frau … Gerda, du hörst: meinen Humor habe ich wieder. Aber er spöttelt nicht; er lacht auch nicht nur; er hat ein thränendes Auge. Ich habe viel durchmachen müssen; man hat den Narren in mir mit der eigenen Peitsche geschlagen, und hat das thörichte Kind unsanft am Ohrläppchen genommen. Es – es hat mir gut gethan … Nun ja! – Weißt du, was du mir beim Abschiede sagtest? Sagtest: rufe mich, aber rufe mich erst, wenn du ein andrer geworden bist. Ich rief dich nicht; ich bin selber gekommen – doch als andrer, Gerda. Ich verspreche nichts. Gib mir die Hand – wir wollen ein neues Leben beginnen: sei's nicht für uns, so für den da!«
Er wies auf das schlafende Kind …
Inzwischen schritten die beiden Dassel, Vater und Sohn, durch Ställe und Scheunen; mit ihnen der Inspektor. Es war nur ein erster flüchtiger Rundgang, aber er klärte Dittmar über mancherlei auf. Viel war vernachlässigt worden; doch das Inventar war leidlich im stande, und die Baulichkeiten bedurften nur leichter Reparaturen. Es fehlte in der Hauptsache nichts als die Hand des Herrn.
»Ich gebe nach, Ditt,« sagte der alte Dassel nach beendetem Rundgang; »ich trete ab, und du sollst hier Herr sein. Möge es dir besser gelingen als mir, Uttenhagen auf seine alte Höhe zu bringen. Du hast die Jugend für dich. Ich bin alt geworden, und dann – – du weißt, eine Hexe oder eine Fee, nenne sie, wie du willst, hat mir die Hände gebunden. Ich bin hier überflüssig … Ditt, du bist ein Mann geworden, lauter und fest, ein ganzer Mann. Ich bin so stolz auf dich. Und ich hoffe, daß Gott der Allmächtige dich männlich ertragen lassen wird, was das Schicksal über dich verhängt hat. Nicht nur ertragen: du wirst auch wieder genesen und wirst vergessen lernen und wirst eines Tages wissen, für wen du auf der Scholle deiner Väter schaffst und sorgst …«
Da aber warf Dittmar sich an seines Vaters Brust.
»Vergessen, Vater,« rief er, »nie wieder – nie! Nach einer Liebe, wie ich sie empfunden, kann mein Herz nimmermehr lieben. Genesen ja, Gott gebe es – aber mein Heiligtum bleibt und bleibt unentweiht. Das ist mir Trost, daß sich die Erinnerung an meine Hella nicht verwischen kann, nicht in Jahren und nicht in Jahrzehnten – niemals, Vater … Laß mich für den Kleinen da oben schaffen und sorgen. Dasselsches Blut lebt ja auch in seinen Adern – und wenn auf Uttenhagen einstmals das Geschlecht der Volckers fröhlich aufblüht, so wird eine gewiß dem Herrgott dafür Dank wissen: unsre Gerda … Mich aber, Vater, laß bleiben, der ich bin …«
Im Mai tagte die internationale Vereinigung der Presse aller Länder in der deutschen Reichshauptstadt. Man war vor drei Jahren in Madrid zusammengekommen, dann in Paris, vorjährig in Rom, und nun war Berlin an der Reihe.
Bei solchen Gelegenheiten gab es immer eine Fülle glänzender Feste. Auch Berlin hatte sich nicht lumpen lassen, obwohl man hier der internationalen Presse bedeutend weniger enthusiastisch entgegenkam als in den südlichen Ländern. Trotzdem: die lokalen Presseverbände hatten im Verein mit der Stadtverwaltung, den Theatervorständen und einigen reichen Mäcenen alles gethan, die fremden Gäste nach Gebühr zu empfangen. Es gab feierliche Ansprachen, Matineen und Soireen, ein Fest im Zoologischen Garten, Mustervorstellungen in allen großen Theatern, Galaoper, Konzerte und schließlich ein Bankett im Rathaus, das der Magistrat zu Ehren der Presse veranstaltete.
Es waren an fünfhundert Einladungen ergangen. Natürlich waren die Helden der Feder in der Ueberzahl. Aus aller Herren Lande hatten sie sich zusammengefunden: schwarze kleine Italiener und gelbhäutige Spanier, ein paar elegante Franzosen, schon von weitem kenntlich an der roten Schleife der Ehrenlegion im Knopfloch – schnurrbärtige Magyaren und blonde Skandinavier, Rumänen, Griechen und Engländer, ein baumlanger, schattenhaft magerer Portugiese mit einem abenteuerlich großen Orden um den Hals, zwei Türken in braunrotem Fez, auch ein Japaner und ein zigeunerhaft aussehender Bulgare, der sich zur Feier des Tages Escarpins und Schnallenschuhe angezogen hatte und ein kleines Bouquet im Knopfloch trug. Und dann in Massen die Vertreter der deutsch-österreichischen Journalistik. Alle politischen Richtungen und Fraktionen, alle Parteischattierungen und sozialistischen Nuancen vereinten sich im Bankettsaal. Aber in der Beurteilung der politischen Farbe nach dem Aeußern der Einzelnen konnte man sich zuweilen täuschen. Da war zum Beispiel ein schlanker, bildhübscher Franzose in tadellos eleganter Toilette und mit keck aufgesetztem Schnurrbart, den man sehr wohl für den Sprößling einer alten Legitimistenfamilie hätte halten können. Und doch war er der Chefredakteur eines Pariser Arbeiterblatts, das in jeder Nummer Blut und Mord predigte und in der Aufreizung der Massen das Menschenmögliche leistete. Und wiederum ein kleiner alter Herr mit verwüstetem Gesicht, rot unterlaufenen Augen und borstigem weißen Haar, ein Männchen, wie es Lombroso als den pathologischen Typus des grauen Lasters schildern könnte – das war eine berühmte Stütze des politischen Feudalismus, ein großer Redner und eine vielgenannte Autorität auf dem Gebiete des Staatsrechts. Im allgemeinen machte die Versammlung einen glänzenden Eindruck. Es fehlte nicht an stattlichen Erscheinungen und ordengepanzerten Brustseiten. Ein berüchtigtes Reptil, das sich in der Konfliktszeit die Taschen gefüllt und dann als Anhängsel an seinen recht schlicht klingenden bürgerlichen Namen einen romantischen Adelstitel in San Marino gekauft hatte, trug fünf Halsdekorationen übereinander: eine immer schöner und strahlender als die andre und an farbigen Bändern, die die Iris des Regenbogens widerzuspiegeln schienen. Aber es gab auch gewichtigere Sterne. Neben dem zweiten Bürgermeister saß der Kultusminister: auch der Minister des Innern war anwesend, der Generalintendant der Hoftheater und ein Flügeladjutant des Kaisers. Es wimmelte von Ministerialräten; die Offiziösen aus der Wilhelmstraße und von dem Kontinental-Telegraphenbureau schüttelten sich die Hände; ein schriftstellernder Präsident, den man die »Zeitungs-Excellenz« zu nennen pflegte, unterhielt sich angeregt mit einem sozialdemokratischen Führer. Sozusagen zur Ausschmückung war auch eine große Garde von Berühmtheiten geladen worden, die der politischen Tagespresse ferner standen: Romanschriftsteller und Dramatiker von Ruf und ein paar Schauspieler von Namen, die zuweilen feuilletonistische Anwandlungen bekamen, wie der alte Lepus mit seinem feinen Diplomatengesicht. Man sah robuste Erscheinungen, die nicht so recht in ihren Frack passen wollten, neben geschniegelten Dandys und pastoralen Typen, rote Demokraten neben scharf umheräugenden Herren des Zentrums, und zahlreiche Reporter, die mit ihren Notizbüchern und dem gespitzten Bleistift in der Hand durch die Menge glitten, um Stoff zu sammeln.
Natürlich waren auch die großen Zeitungsverleger anwesend. Die Volckers fehlten ebensowenig wie Düren. Der »Volksbote« hatte sich rapide entwickelt; aber jetzt schien es, als stehe er auf einem Stillstandspunkt. Er war trotz aller Anstrengungen, einen literarischen Charakter anzunehmen, das Organ der untern Hunderttausend geblieben. Düren gab sich schließlich damit zufrieden; die Erträge, die die Zeitung abwarf, waren glänzend – da konnte man ihren geringfügigen politischen Einfluß schon verschmerzen. Um so mehr hatte das »Morgenblatt« an Bedeutung gewonnen. Seine selbständiger gewordene Tendenz schaffte ihm neue Freunde. Die Kalkulation Bertrams war richtig gewesen. Der Abonnentenkreis dehnte sich nicht viel über eine bestimmte Grenze aus; aber diese immerhin recht stattliche Gemeinde blieb treu, und auf sie konnte man zählen. Ein »Geschäft« wie der »Volksbote« war das Volckersche Unternehmen nicht und konnte es nie werden. Immerhin hatte die Solidität der Firma auch in geschäftlicher Beziehung Grundlagen geschaffen, die gute Früchte versprachen. Das »Morgenblatt« war nicht mehr das »fressende Kapital«, das Schreckgespenst des Hauses, das Steffens ehemals mit Vorliebe herauf zu beschwören für nötig hielt. Auch Steffens hatte sich ergeben müssen. Er brummte zwar noch zuweilen, begann aber doch einzusehen, daß die nunmehr fest begründete und auf eigenen Füßen stehende Zeitung das Ansehen und den Ruhm der alten Firma nur fördern und erhöhen konnte. Denn dies Blatt diente weder der Neuigkeitslust der Menge, noch den einseitigen Interessen einer bestimmten politischen Fraktion: es diente dem Vaterlande »im Geiste und in der Wahrheit«, unabhängig nach allen Seiten hin und mit jener maßvollen Freiheit der Kritik, von der Bismarck einst sagte, daß sie das regulierende Medium zwischen Absolutismus und Parlamentarismus sei …
Der große Saal füllte sich mehr und mehr. Doktor Sensenschmidt war wie immer der Apoll der Berliner Journalistik; in seinem prallen weißen Vorhemdchen blitzten zwei Brillanten; und wie saß sein Frack! – Auch Graf Breesen schlenkerte umher, zappelnd und brennende Neugier auf dem Gesicht. Als er den alten Dassel in einem kleinen Kreise journalistischer Parlamentarier stehen sah, warf er die Arme in die Luft, als ob er einen Fandango tanzen wollte. »Grüß Gott, lieber Graf!« – »Grüß Gott, lieber Graf!« – »Also auch Sie, lieber Graf?« – »Gehöre doch sozusagen mit zum verfehlten Beruf. Na, und Sie, lieber Graf?« – »Lieber Graf, ich muß schon dabei sein. Ich bin dem Komitee beigetreten. Ei, versteht sich …« Und dann zappelte Breesen weiter, um den Kultusminister zu begrüßen.
Es war ein Bankett mit Damen. Die hellen Balltoiletten brachten eine freundliche Farbenstimmung in das Ganze. Noch schwirrte alles umher. Man suchte nach seinen Plätzen. »Hier, Hans – hier, Gerda,« rief Bertram Volcker; »wir sitzen uns gegenüber …« Er hatte Dorothee am Arm, die ein hellseidenes Kleid trug, das in der Taille die unvermeidlichen Falten schlug. Aber sie war guter Laune. Hauptmann Wenzel, der die Militariarubrik des »Morgenblatts« redigierte, war ihr linker Tischnachbar, und der machte ihr schon aus Subordinationsgefühl den Hof.
Gerda strahlte vor Gesundheit, Glück und Interesse. Wie war das alles fabelhaft unterhaltend ringsum! Es hieß, am Morgen sei Rochefort aus Paris eingetroffen. Aber der Mann, der ihm ähnlich sah, war Redakteur eines bayrischen ultramontanen Blatts. »Zeig mir den Düren, Hans,« wisperte Gerda ganz aufgeregt; »man sieht alle diese Leute nicht so bald wieder bei einander …« »Da drüben steht er, der hübsche junge Mensch mit dem unbekümmert fröhlichen Gesicht …« »Ach – der?! Ich hab' ihn mir ganz anders gedacht. Und die kleine Blondine neben ihm? Ist das seine Frau?« – »Braut, glaube ich – aber vielleicht auch schon seine Frau. O Gerda, was fragst du alles! …« Der kleine Hase, Lokalredakteur des »Morgenblatts«, hatte Doktor Rempler gebeten, ihn der Gattin seines jüngern Chefs vorzustellen. Der Vorgang, den Doktor Rempler sehr zeremoniös und feierlich auffaßte, dämmte für einige Minuten die Wißbegier Gerdas ein; dann aber begann sie sich von neuem für Düren zu interessieren. »Er sieht so harmlos aus,« sagte sie … »Hat's aber hinter den Ohren,« antwortete Hans … »Ist es wahr, daß Etienne seine Berichte aus Afrika im ›Volksboten‹ veröffentlicht? …« »Leider – Schande genug,« brummte Hans … »Was mag denn die Nina Vließen machen?« … »Weiß nicht, Kind. Sitzt in Tarasp oder da irgendwo im Hochgebirge; aber es soll ihr schlecht gehen …« »Gott, die arme Frau. Hansel, sieh mal den kleinen Herrn mit dem großen Kopfe. Ist das nicht ein berühmter Dichter? …«
Erst in diesem Augenblick hatte Olga Hans Volcker bemerkt. Sie verfärbte sich leicht, und ihr Arm zuckte in dem Dürens. »Franz,« flüsterte sie, »da drüben steht Volcker …« Düren wurde ernst, als er in das Antlitz Olgas schaute. Aber es war nur wie ein vorüberhuschender Schatten. Dann lächelte er wieder sein unbekümmertes Lächeln und drückte Olgas Hand. »Laß ihn, mein Herz,« entgegnete er leise, »und grüßt er dich, so grüße wieder. Man weicht sich nicht aus, wenn man sich nicht zu scheuen hat …« Und wirklich: Volcker grüßte herüber, verbindlich und höflich – und Düren wie Olga grüßten ebenso zurück. Ganz frohen Herzens aber war die kleine Ollinka erst von diesem Augenblick ab. Zach, sanft und zärtlich strich ihre Hand über die Rechte Dürens; ihn glücklich zu machen, das sollte in Zukunft ihr eigenes Glück bedeuten …
An der riesenlangen, in Hufeisenform aufgestellten Tafel hatte man begonnen, Platz zu nehmen. Nur noch vereinzelte Gruppen standen umher, während die Diener bereits die Suppe servierten. Axel Pawel rannte beinahe einen Kellner um, weil er zu spät gekommen war und noch Düren und Olga begrüßen wollte. »'Tag, Franz – 'Tag, Olli! Kinder, wie geht's? …« »Gut, Axel – und dir? …« »Ganz famos. Herrschaften, ich bin selig: das Schauspielhaus hat mein Drama angenommen …« Er stürmte weiter, zu der Gruppe des »Morgenblatts« hinüber, wo ein Platz für ihn reserviert worden war. Ein Klingelzeichen ertönte. Geräuschvoll ließen auch die letzten noch stehen Gebliebenen sich nieder. Stühlerücken und Kleiderrauschen; das Klirren eines zerbrechenden Glases; dann wurde es stiller. Man sah, wie sich in der Mitte der Tafel der zweite Bürgermeister erhob. Ein paar Kellner blieben mit dampfenden Suppentellern hinter den Gastreihen stehen.
»Hochansehnliche Festversammlung! …«
Gerda neigte sich mit neugierigem Gesicht seitwärts zu Hans. »Wer ist das, Männe? …« »Der zweite Bürgermeister, Maus; der erste liegt krank …« »Ein pflichttreuer Beamter,« ergänzte Doktor Hase, »eine Säule der Kommune, aber kein Redner …« »Quasselstrippe,« flüsterte gegenüber am Tisch Doktor Sensenschmidt seinem Nachbar ins Ohr; »passen Sie mal auf, was der wieder …« »Pst,« machte eine Stimme in der Nähe. Der Bürgermeister warf einen raschen Blick über die Versammlung und fuhr ohne Unterbrechung in seiner Ansprache fort, indem er sich mit dem Oberkörper weit über den Tisch neigte und namentlich die fremden Redefloskeln betonte:
»… Man hat uns nicht verwöhnt. Lange ist Berlin das Stiefkind unter den internationalen Großstädten gewesen – un cendrillon, messieurs les Parisiens – – man hat hier nicht getagt, höchstens einmal genächtet – auf flüchtiger Durchfahrt, auf einer Reise nach Norden oder Osten. Freilich, selbst wenn man zur Beratung ernsthafter Fragen zusammenkommt – burning questions, gentlemen – man will sich dabei immer ein klein bißchen amüsieren. Auch in diesen Tagen – auch hier in Berlin …« Heiterkeit und Zustimmung, besonders von seiten der Inländer … »Meine Herren, daß die Internationale Vereinigung der Presse diesmal Berlin als Sitzungsort erwählt hat, erfüllt uns mit großer Freude und aufrichtigem Danke. Denn die Presse, dieser massive Körper,« – er wölbte die Handflächen – »der sich aus geistigen Subtilitäten zusammensetzt, drückt kraft ihrer Internationalität unsrer Arbeitsstadt zugleich den Stempel einer Fremdenstadt auf, in der – o ja wohl – in der man neben geistigen Genüssen auch ganz hübsche materielle Vergnügungen findet – einer città di piacere e piacevole …« Erneute zustimmende Heiterkeit bei den Südländern. Der Bürgermeister verstand zu reden. Er lächelte noch immer, um dann allgemach ernster zu werden … »Mögen Sie, meine Herren, sich bei uns nicht nur behaglich fühlen; möge Ihr Behagen –« jetzt suchte er nach einer spanischen Vokabel, fand sie indessen nicht – »in der Erinnerung an Berlin auch anhalten und sich mit der Entfernung quadratisch vermehren; denn in Ihren Händen liegt es, uns bei unsern Nachbarn – im weitesten Sinne gesprochen – beliebt zu machen oder zu verketzern …« Zahlreiche Ohos, Abwehrrufe – » ma no!« – » non!« und ein halblautes » Evviva Berlino!« – Einen Augenblick schwieg der Redner, um dann, sich seines Eindrucks bewußt, lauter fortzufahren: »Ja, die Presse, die Großmacht Presse! Nicht nur die Politik und Industrie, die Kunst und die Wissenschaften sind in gewisser Weise von ihr abhängig, sei's unterm Strich, sei es im Leitartikel, sei's selbst im Inseratenteil – ah, les affiches, messieurs! – auch unser intimes Leben begleitet sie, von der Geburtsanzeige an bis zum Nachruf. Sie ist der täglich neu erstehende Phönix der öffentlichen Meinung, sie ist die erleuchtende Camera obscura des zeitgenössischen Lebens – sie ist eine furchtbare und auch segensreiche Kriegerin mit ihrem gewaltigen Rüstzeuge an Druckerschwärze und Bleilettern, an Originalgedanken und dem tausendfachen Straßenwiderhall auf reinlich weißem Grunde. Sie dient der Welt; dient der Gesellschaft und den Musen, dient Hunderten von Parteien, dient zahllosen Millionen und jedem einzelnen. Immer aber nur soll sie der Wahrheit dienen, dem großen Menschheitsideal – der Freiheitskünderin Wahrheit … Hochansehnliche Versammlung, ich leere mein Glas auf das Wohl der Presse: es lebe die papierene Macht! …«
Ende.