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Graf Vließen war vor dem Volckerschen Hause wieder in sein Coupé gestiegen.
»Nach Hause!« rief er dem Kutscher zu.
Nach Hause – nein, weiter, weiter – meilenweit fort, über Meer und Land, in eine neue Welt, unter neue Menschen, in eine neue Umgebung! … Auf seiner Wange fühlte er noch den Schlag Gerdas. Ein Peitschenhieb hätte nicht brennender treffen können … Ein Schlag von der Hand Gerdas – und dann der Hilferuf, der den Herrn Grafen vor die Thür setzen sollte! – Vließen drückte sich tief in die Wagenecke, gleichsam als fürchte er, irgend ein Bekannter könne sein gezeichnetes Antlitz sehen. Er atmete schwer; es war wie ein Aechzen. Und dann lächelte er wieder – ein grimmiges Lächeln. Verfluchte Narrheit, die ihn an ein Weib glauben ließ! Was war das Weib in seinem Leben gewesen!? Immer nur eine Dirne. Und von den beiden Frauen von Ehre, die ihm näher getreten, von denen haßte er die eine, und die andre haßte ihn …
Der Wagen hielt. Etienne stieg aus. Seine Bewegungen hatten etwas Greisenhaftes bekommen. Wie er langsam die Treppe zu seiner Wohnung hinaufschritt, hätte man ihn für einen alten Mann oder einen Schwerkranken halten können. Er rief seinen Kammerdiener und fragte nach der gnädigen Frau. Die gnädige Frau lag noch immer zu Bett; auch die Zofe durfte nicht in das Schlafzimmer. Etienne befahl dem Diener, die Koffer zu packen. Das war nichts Verwunderliches; er hatte häufiger davon gesprochen, daß seine Abreise sehr plötzlich erfolgen könne; die Hauptlast der Bagage war längst unterwegs. Dann telephonierte er an das Schlafwagenbureau und ließ sich einen Platz nach Verona sichern.
Er hatte nur noch ein paar Briefe zu schreiben. Der erste war an Huhnholtz adressiert und lautete kurz: »Mein lieber Doktor; meine Nervenstimmung ist nicht die beste. Ich sehne mich nach dem Süden, fahre heute abend ab und erwarte Sie in Neapel, Grand Hotel. Allerschönstens Ihr ergebenster Vließen …« Ein zweiter Brief war an Nathansohn gerichtet und enthielt Geschäftliches. Dann kam noch einer – ein Abschiedswort an eine Tänzerin des Viktoriatheaters – und schließlich der letzte. Der wurde ihm schwer. Er überlegte lange. Schließlich glaubte er die rechte Form und Fassung gefunden zu haben und schrieb:
»Liebe und verehrte Cousine!
Ich bin seit einiger Zeit nicht so recht bei Wege. Bin geistig und körperlich nicht auf der Höhe und will machen, daß ich fortkomme. Habe ich Euch schon lebewohl gesagt? Ich weiß es wahrhaftig nicht. Mein Gedächtnis wird lückenhaft. Aber auf die Gefahr einer Doublette hin: brieflich adieu. Ich hätte Dir gern noch die Hand geküßt; indessen die Zeit drängt. Sei herzlich gegrüßt und grüß' mir auch Deinen lieben Hans, Vater und Bruder und alles sonstige Grüßbare. In alter Verehrung Dein gehorsamst ergebener Vetter
Etienne Vließen.«
Famos! – Der Brief konnte sich sehen lassen, konnte auf dem Schreibtische Gerdas offen liegen bleiben und männiglich konnte ihn lesen. Er brach jedwedem Klatsch die Spitze ab.
Das war erledigt. Vließen zündete sich eine Cigarre an und überwachte sodann das Packen seiner Koffer. Er pflegte sonst seinen Diener mit auf Reisen zu nehmen. Diesmal sollte der treue Bursche daheim bleiben. Es war alles vorbereitet und in bester Ordnung. Die beiden großen Koffer standen fertig da; die Handtasche mit dem Necessaire lag noch geöffnet auf dem Tische.
Jetzt kam der Abschied von Nina. Etienne schickte die Zofe in das Schlafzimmer. Er bat, die gnädige Frau in dringlicher Angelegenheit sprechen zu dürfen. Dann legte er die Cigarre fort und spritzte einige Tropfen Parfüm auf seinen Rock, um den Rauchgeruch zu vertreiben. Er war sehr rücksichtsvoll …
Im Schlafzimmer der Gräfin war es fast ganz dunkel. Die Fenster waren dicht verhängt.
Etienne war leise eingetreten.
»Liebe Nina,« sagte er halblaut, »vergib, wenn ich dich störe. Meine Abreise ist plötzlich beschleunigt worden. Ich wollte dir lebewohl sagen.«
Ein leichter Aufschrei antwortete ihm. Man hörte ein Rascheln und Knittern.
»Etienne – komm näher. Setz dich zu mir. Ich bitte dich. Auf wenige Minuten … Wann willst du reisen?«
»Mit dem Römerzug, Kind – heut' abend …«
Ein Augenblick Stille. Ein mühsam unterdrückter Schluchzlaut … Vließen spürte, wie Nina nach seiner Hand haschte. Er drückte die ihre.
»Es ist so plötzlich gekommen, Nina. Du mußt schon verzeihen –«
»Ich verzeihe, Etienne. Ich war vorbereitet. Ich … du bleibst diesmal lange – nicht wahr?«
»Ich werde häufig schreiben …« Er versuchte zu scherzen … »Ich werde dir lange Reisebeschreibungen schicken – weißt du: hebe sie auf – vielleicht mache ich ein Buch daraus, wenn ich wieder zurück bin …«
Die Gräfin seufzte schmerzlich auf. »Etienne – wenn du wieder zurück bist, wirst du mich nicht mehr finden. Gewiß nicht. Da wirst du erlöst sein. Ich fühle es – nein, ich weiß es …«
»Sei kein Kind, Nina. Du wirst endlich einmal auf den Arzt hören. Wirst den Sommer im Hochgebirge verleben, und die häßliche Migräne wird schwinden. Du wirst gesund sein, wenn ich wieder da bin. Wirst auch gesund werden wollen, Nina …«
»Ich will es nicht und werde es nicht, Etienne. Ich kann es ja gar nicht werden … Die schreckliche Migräne ist es nicht allein. Es ist irgend etwas zerstört in mir; das heilt kein Mensch …«
»Meine arme Nina …«
Sie richtete sich im Bette auf. Vließen hörte das Rascheln der Spitzen und sah ihre weiße Gestalt.
»Etienne, wie süß das klingt! ›Meine arme Nina‹ – das hast du zum erstenmal gesagt. Bin ich deine arme Nina? – Ach, sag es noch ein einziges – ein einziges Mal! … Arme Nina – – ja, Etienne, so arm bin ich, so arm bin ich, so arm … Laß mir deine Hand! Nein – steh nicht auf! Laß die Fenster geschlossen. Es ist gut, daß es dunkel ist. Da – da siehst du nicht mein häßliches, schmerzverzerrtes Gesicht …«
Er barg im tiefsten Herzen einen abscheulichen Haß gegen diese Frau, die das Gespenst der Leere war in der trostlosen Oede seines Lebens. Aber in diesem Augenblick schmolz der Haß und machte einem aufrichtigen Mitleid Platz. Zwischen Himmel und Hölle, in hundert Gegensätzen und Widersprüchen, hatte sich immer sein Empfindungsleben bewegt.
»Nina, du mußt brav und vernünftig sein,« sagte er weich. »Mußt nicht so thöricht sprechen. Mach dir den Abschied nicht schwer. Es ist ja nicht das erste Mal, daß wir uns trennen. Vielleicht komme ich auch schneller wieder als ich mir vorgenommen habe –«
»Nein, Etienne,« fiel sie ein, »du wirst lange bleiben – – ewig für mich. Ewig, ewig – ich werde dich nie wiedersehen … Das ist gut für dich. Für einen wie du, da paßte ich nicht. Ich konnte dir kein Glück geben. Ich bin häßlich, ungebildet, gewöhnlich – ich weiß das alles. Du konntest nie stolz auf mich sein – nur Mitleid empfinden … Großer Gott, nur Mitleid – wie ist das wenig für ein Herz voll Sehnsucht! Und doch klage ich nicht; auch für dein Mitleid danke ich dir … Etienne, ich habe dich sehr geliebt. Ich liebe dich bis zum Tode. Ich liebe dich – liebe dich! – Und du –? Hassest du mich? Wofür? – Oft kam ein Schauer über mich, wenn ich deinen Blick auffing. Da fröstelte mich … Heut seh' ich dich kaum – ich fühle dich nur. Deine warme Hand – und deine Lippen …«
Sie umschlang ihn plötzlich. Die Leidenschaft gab ihr Kraft. Sie riß ihn an ihre Brust und küßte ihn. Das Weib schrie in ihr auf, das getretene und verachtete. Ein Jauchzen ging durch ihre Seele – und in der Wonne ihrer Liebe vernahm sie ringsum einen tausendfältigen Chor süßer Engelsstimmen, die sangen ein hohes Lied. In ihren Küssen entschwanden Erdenleid und Gegenwart. Sie durfte ihn küssen – und küßte ihn …
Die kleine Rokokouhr auf dem Spiegelsims schlug an.
Vließen beugte sich über seine Frau. »Leb' wohl, Nina,« sagte er und berührte ihre Stirn mit seinen Lippen – flüchtig, wie widerstrebend.
Sie antwortete nicht. Er hörte sie leise und regelmäßig atmen, und als er sich tiefer über sie neigte, sah er, daß ihre Augen geschlossen waren und daß sie selig lächelte.
»Leb' wohl, Nina,« sagte er noch einmal und ging. An der Thür war ihm, als vernehme er noch einen Laut: einen leisen Ruf, vielleicht auch ein letztes Abschiedswort. Einen Augenblick blieb er stehen; dann schloß er sacht die Thür.
Er beeilte sich. Der Diener sollte mit dem Gepäck auf dem Bahnhof sein. Er selbst wollte im Klub soupieren; ihm lag daran, sich noch vor der Abreise diesem und jenem zu zeigen.
Er nahm sich eine Droschke. Das Wetter war schlecht geworden. Ein eisiger Wind wehte und peitschte eine Mischung von Schnee und Regen durch die Luft. Etienne hatte sich wieder eine Cigarre angesteckt und hüllte sich in ihre duftigen Rauchwolken. Er versuchte an gar nichts zu denken, versuchte zu träumen. Die Fenster des Wagens waren hochgezogen. Der Regen schlug gegen die Scheiben und rieselte in kleinen Bächen an dem Glas herab. Draußen raste der Sturm. Die Menschen auf den Straßen kämpften vornübergebeugt gegen den Wind an. Vließen amüsierte sich darüber, wie sich der Boreas in den Kleidern der Frauen verfing. Aus der Thür einer kleinen Konditorei trat ein junges Mädchen, das vom Sturm fast niedergerissen wurde. Ein hübsches Kind; Vließen wischte mit den zusammengerollten Handschuhen die Fensterscheibe ab, um besser sehen zu können. Schau – war das nicht Hella Nathansohn? – Und hinter ihr, der junge Herr, der sie stützte und hielt und vergeblich nach allen Seiten Umschau hielt, wohl nach einer rettenden Droschke – war das nicht Dittmar Dassel? –
Jawohl, es waren die beiden. So weit also schon. Man gab sich Stelldicheins in entlegenen Lokalen, wo man sich ungestört und ungeniert wähnte … Vließen überlegte, ob er halten lassen und der verliebten Kleinen seinen Wagen anbieten sollte. Aber nein – wozu das? Mochte das Pärchen seine verschwiegenen Wege wandeln; auch bei Sturm und Regen lachte über ihnen der Himmel der Liebe.
»Aeh,« stieß Vließen hervor, »– pfui Deibel! Liebe?! …« Er schüttelte sich.
Im Klub fand er nur wenige Tische besetzt. Im zweiten Zimmer saß Prinz Inningen mit Hasso Hunding beim Piquet.
»Quart,« sagte er. »Hasso, du bist unaufmerksam. Wer schreit denn nebenan so wahnsinnig?«
»Volcker. Er tempelt mit Oppeln, Wedel, Huhnholtz und Fabricius. Mir scheint, er kam schon etwas angesäuselt an.«
»Der ›Sonnabend‹ ist ihm eingegangen; da wird er sich selber Trost zugetrunken haben. Er sollte seinen Milton ins Loch stecken lassen. Ich traue dem Lümmel nicht. Hat dir dein Alter schon erzählt, daß das ›Morgenblatt‹ abschwenken will?«
»Nee. Wohin abschwenken?«
»Nach links natürlich. Wohin sonst? Aber wir werden den Volckers die Eisbeine knicken. Adjee, Hasso – es gibt keinen Stich mehr.«
Er warf seine Karten auf. Vließen trat ein.
»'n Abend, mon prince. 'n Abend, Hunding.«
»'n Abend, Vließen. Willst du für mich weiter spielen?«
»Muß dankend bedauern. Will zu Abend essen und dann abschwimmen.«
»Aha. ›Viktoria‹!«
» Ex est Viktoria. Napoli heißt die Parole. Erste Etappe auf dem Wege nach Afrika.«
Er lachte und horchte auf. »Die lärmen ja da nebenan, als ob sie in einer Volksversammlung wären,« sagte er.
»Jeuratzen, Vließen. Aber seit die Ballotage lässiger gehandhabt wird, ist es auch mit der Noblesse beim Spiel vorbei.«
»Und immer Synagoge,« fügte Inningen hinzu. »Warum nicht ein Rubber Whist oder eine Partie Piquet? Man müßte dem Präsidenten mal stecken, wie gegen Paragraph drei der Hausordnung gesündigt wird …«
Vließen war in das Nebenzimmer getreten. Er begrüßte die Anwesenden, die den Spieltisch umringten. Ein langer Gutsbesitzer mit braunem Gesicht und schneeweißem Schnurrbart hielt die Bank. Neben ihm saß Hans Volcker; zwischen beiden stand ein Sektkühler.
Vließen reichte Hans über die Schulterstücke eines kleinen Husaren hinweg die Hand.
»Grüß Sie Gott, Bester. Habe mir eben erlaubt, Ihrer Gattin ein Abschiedswort zu schreiben. Hab' auch an Sie geschrieben, lieber Doktor. Ich dampfe mit dem Elfuhrzug ab.«
»Glücklicher,« antwortete Huhnholtz. »Also Grand Hotel, nicht wahr? In acht Tagen komme ich nach. Das Schiff geht ja erst am siebenundzwanzigsten von Brindisi ab. Da kann man immer noch ein paar Atemzüge kampanische Luft mitnehmen. Einen Augenblick, Herr von Oppeln. Der Bube reizt mich.«
Er schob ein Goldstück auf die Karte. »Na –?« fragte der Bankhalter. »Herrschaften, das ist ja ein Läpperspiel. Keine Teilnahme, kein Interesse. Herr Volcker, Courage. Sie können Ihren Stallverlust wieder einbringen.«
»Versuchen wir's,« entgegnete Hans. Er hatte in seiner Erregung schon mehr getrunken, als gut war.
Inzwischen hatte sich Vließen von einem der Klubdiener die Speisekarte reichen lassen. Er wählte aus und befahl, den Tisch am Fenster zu decken. Währenddessen schaute er dem Spiel zu. Hin und wieder nahm er ein Goldstück aus der Westentasche und pointierte mit: lässig und gleichgültig; er wollte pünktlich auf dem Bahnhof sein und sich nicht von der Leidenschaft fortreißen lassen.
Die Unterhaltung während des Spiels war laut und ungeniert. Herr von Hunding hatte nicht so unrecht mit seiner Bemerkung von vorhin: der Ton in diesem Klub, dem vornehmsten Berlins, war lässiger geworden, seit unter dem neuen Präsidium die Aufnahmebedingungen minder streng gehandhabt wurden als früher.
Man sprach von Hunderterlei, meist von Pferden und Weibern, wohl auch einmal von der Politik, vom Cirkus und vom Theater. Von Zeit zu Zeit wechselte einer der Diener die leer gewordene Flasche im Eiskühler gegen eine gefüllte aus. Das Gold klirrte über den Tisch. Aber es war wirklich nur ein »Läpperspiel«. Man blieb in soliden Grenzen.
Hans Volcker war der einzige, der dann und wann einen Hundertmarkschein auf eine Karte legte. Als er ein paar hundert Mark gewonnen hatte, ließ er sie stehen und verlor. Er spielte ohne Interesse. Aber er trank viel und hastig. Er hatte seit dem Frühstück nichts gegessen, war auch nicht bei Appetit. Seine Stimme klang laut und schallend. In seinen Augen lag ein eigentümlich fiebriger Glanz.
Unerwartet wurde von dem »Volksboten« gesprochen. Hans schaute auf. Wer hatte davon angefangen? – Herr von Wedel von den zweiten Husaren, zur Turnschule kommandiert und noch nicht so recht eingeführt in Berlin, erzählte, er halte das Blatt: es sei immer amüsant und bringe auch gute Sportnachrichten.
Hans lachte hell auf. Ein Klatschblatt ersten Ranges, dieser »Volksbote«. Man könne darauf schwören: von allem, was er bringe, sei die Hälfte erlogen. Ein hundsgemeines Blatt.
Es fanden sich Stimmen, die den »Volksboten« verteidigten. Huhnholtz gefiel die schnelle Berichterstattung der Zeitung; Herr von Fabricius meinte, auch der Klatsch müsse seine Ventile haben. Hans wurde heftig und überlegte nicht mehr, was er sprach; er fegte mit dem Arm sein Glas zu Boden und schlug zuweilen mit der Hand auf den Tisch.
» Attention,« flüsterte Herr von Fabricius dem Doktor Huhnholtz zu; »Volcker ist betrunken. Wir müssen Obacht geben …«
»Ein hundsgemeines Blatt,« wiederholte Hans in diesem Augenblicke. »Herr von Oppeln, nehmen Sie noch einen Satz an? Einen Bläuling auf den König. Meine Herren, ich verstehe nicht, wie man mit solcher Preßmache sympathisieren kann. Es ist gar zu elend. Klatsch und immer wieder nur Klatsch … Sakristi, Herr von Wedel, Sie sagen, Sie halten den ›Volksboten‹? Oder sagten Sie, Ihr Bursche halte ihn? Ach ja, Sie sagten wohl, Ihr Bursche halte ihn? – Gewonnen, Herr von Oppeln! Bleibt stehen … Herr von Wedel, wissen Sie, wo der ›Volksbote‹ seine Mitarbeiter zusammenscharrt? …«
»Vorsicht, Volcker!« rief Vließen vom Tische am Fenster herüber. Er saß beim Souper und ließ sich vom Diener ein Glas Pommery einschenken. Das »Vorsicht, Volcker!« klang gemächlich und freundschaftlich. Vließen speiste weiter.
Aber Hans zuckte empor. Die Stimme Vließens erbitterte ihn. Er stierte nach dem Fenster hinüber und schrie: »Was ist los, lieber Vließen? Was ist los, Herr Graf? Mahnten Sie mich? Riefen Sie nicht Vorsicht?!«
»Das rief ich,« entgegnete Etienne ruhig. Ein paar Hände legten sich auf Arme und Schultern von Hans. »Aufpassen, Herr Volcker,« sagte der Bankhalter; »Sie haben wieder gewonnen. Noch mal stehen lassen –?«
Hans schnellte empor und stieß mit dem Ellenbogen die Hände, die ihn festhalten wollten, zurück. Er taumelte und griff nach der Stuhllehne.
»Vorsicht, Herr Graf!« schrie er von neuem los. »Rufen Sie sich das nur selber zu! Selber – jawohl! Wer Schmutz anfaßt, besudelt sich! …«
»Futsch, lieber Herr Volcker,« sagte der Bankhalter und zog seinen Gewinn vom König ab. Vließen legte seine Serviette auf den Tisch und erhob sich. Huhnholtz und der schwarze Husar hatten Hans unter dem Arm genommen. »Kommen Sie, Alterchen,« flüsterte Huhnholtz, »Sie sind ein ganz klein bissel beschwippst. Um Gottes willen keinen Skandal! …«
Aber die Warnung kam zu spät. Auch Vließen lag nichts an einem Skandal. Doch in Hans tobte der Wein. Er war nie ein starker Zecher gewesen. Heut war er sinnlos. Er riß sich los und packte Vließen am Rock.
»Herrgott, es wird Ernst!« rief Herr von Fabricius. In der Thür zum Nebenzimmer erschienen Inningen und Hunding.
Hans keuchte. »Graf Vließen!« schrie er. »Seht einmal – das ist der Graf Vließen! Treuester Freund eines Düren! Ein Graf und ein Wortbrüchiger! Ein Graf mitten unter Halunken! Ein –«
Mit aller Gewalt riß man ihn zurück. Und da schrie Hans gellend auf. Vließen hatte ihm ein Glas Wasser in das Gesicht gegossen. Es kam zu einer peinlichen Scene, wie diese Räume sie noch nicht gesehen hatten. Man rang mit Hans. Der Wütende hieb mit den Fäusten um sich und stieß mit den Füßen. Schließlich brach er zusammen. Man brachte ihn in das Billardzimmer. Hunding blieb bei ihm.
Im Spielsalon sammelte Vließen die übrigen Herren um sich.
»Ich bin der älteste unter Ihnen, meine Herren,« sagte er, »auch wohl das älteste Mitglied des Klubs. Ich möchte Sie zum Stillschweigen über das eben Geschehene verpflichten. Einverstanden?«
Man war es. Vließen hatte sich auf eine Tischecke gesetzt, rief die beiden Diener heran, schärfte ihnen gleichfalls Stillschweigen ein und schickte sie dann hinaus. Es war noch über die Beilegung der Zwistigkeit zu verhandeln.
»Mir ist die Sache über alle Maßen unangenehm,« fuhr Vließen fort. »Ich muß meine Abreise im letzten Augenblick aufschieben. Was Volcker veranlaßt haben kann, so unerhört ausfallend gegen mich zu werden, ist mir unklar –«
»Er war total betrunken,« warf Herr von Wedel ein, und Fabricius fügte hinzu: »Er traf schon merkwürdig aufgeregt hier ein –«
»Richtig,« sagte Prinz Inningen, »es fiel mir auch auf. Er kam betrunken an. Herrschaften, wenn man nicht viel verträgt, soll man gefälligst vorsichtig sein. Der Klub ist doch um aller Welt willen keine Destillation.«
»Sicher nicht,« erwiderte Huhnholtz. »Durchlaucht haben ganz recht. Aber Volcker schien mir eher verärgert und verstimmt als angekneipt zu sein. Das entwickelte sich erst hier. Ich taxiere, er wird geschäftliche Unannehmlichkeiten gehabt haben.«
»Wir sind nicht berechtigt, das zu untersuchen,« sagte Vließen. »Jedenfalls ist bei der Schwere und der Grundlosigkeit der mir zugefügten Beleidigung ein Austrag durch Waffen unvermeidlich. Lieber Doktor Huhnholtz, würden Sie die Güte haben, mir sekundieren zu wollen?«
Huhnholtz verbeugte sich. »Selbstverständlich, lieber Graf. Indessen – vielleicht ist doch noch eine Beilegung möglich –«
»Möcht' wissen wie,« fiel Herr von Oppeln ein. »Das Glas Wasser ist nicht zurückzunehmen –«
»Es war nur die Folge der ersten Beleidigung Volckers,« sagte Etienne finster, »– die Antwort auf einen brutaleren Angriff. Mir macht das in Aussicht stehende Duell verdammt wenig Spaß. Aber es ist unvermeidlich. Indessen, lieber Doktor Huhnholtz – beruhigen Sie sich: ich schieße so sicher, daß ich den guten Volcker bestimmt – nicht treffen werde. Schon aus Rücksicht auf seine Frau, die meine Cousine ist …« Er starrte einen Augenblick über die blanken Achselstücke des vor ihm stehenden kleinen Husaren. Er sah Hans Volcker tot in seinem Blute liegen. Das wäre die furchtbarste Rache an Gerda gewesen. Vließen fühlte ein Brennen auf seiner linken Wange. Da hatte ihn Gerdas Hand getroffen. Und ein dämonischer Haß blitzte in seinem Auge auf …
Man besprach die nötigen Vorbereitungen. Vließen wollte nicht mehr nach Hause zurück, sondern in einem Hotel übernachten: seine Frau sollte nicht beunruhigt werden. Huhnholtz erklärte, sich mit Baron Hunding ins Einvernehmen setzen zu wollen; man vermutete, Hunding werde Hans Volcker sekundieren. Das Duell sollte nach Möglichkeit beschleunigt werden. Während man noch die Einzelheiten näher erörterte, öffnete sich die Thür zum Billardzimmer und Hans trat ein; an seiner Seite Hasso Hunding.
Hans sah furchtbar aus: das Gesicht kalkweiß, die Augen verschleiert und wie gebrochen, einen unsäglich bitteren Zug um den Mund. Er schleppte sich mühsam vorwärts und stützte sich schwer auf den Arm Hundings. Aber er war völlig nüchtern.
»Meine Herren,« sagte Hunding, »Herr Volcker hat eingesehen, daß er in einem Augenblick der Sinnlosigkeit den Grafen Vließen schwer beleidigt hat und ist bereit, zu revocieren. Sind Sie damit einverstanden, Herr Graf?«
Aller Augen hefteten sich auf Vließen. Der hatte einen schweren kurzen Kampf zu bestehen. Die Schmach auf seiner Wange brannte weiter. Aber er sah die fragenden Gesichter ringsum. Ein Nein würde in diesem Falle sein gesellschaftlicher Tod gewesen sein.
Er verneigte sich flüchtig. »Selbstverständlich,« erwiderte er; »eine Entschuldigung genügt mir.«
Nun sprach Hans – tonlos, aber fest. Jedes Wort war verständlich.
»Herr Graf,« sagte er, »ich bedaure, daß ich beim hastigen Pokulieren die Selbstbeherrschung verloren habe. Ich weiß nicht mehr, wodurch und in welcher Form ich Sie beleidigt habe. Man sagt mir, die Beleidigungen seien schwere gewesen. Ich bitte Sie um Verzeihung und nehme vor diesen Zeugen jedes kränkende Wort ausdrücklich zurück. Wollen Sie mir die Hand reichen? –«
Vließen war wieder der vollkommene Kavalier. Er spürte wohl, daß die Hand Volckers schlaff wie die eines Toten in der seinen lag; um so herzlicher schüttelte er sie.
»Ich freue mich, verehrter Herr Volcker, daß der einzig verständige und richtige Ausgleich gefunden worden ist. Freue mich aufrichtig darüber. Meine Herren, die Scene von vorhin ist vergessen; sie ist nicht geschehen. Meinen Dank, Herr Volcker …«
Er schüttelte nochmals dessen Hand. Hans war unbeweglich stehen geblieben. Von Zeit zu Zeit erzitterte er leise, als überlaufe ihn ein Frösteln.
»Na, Gott sei Dank – also alles in Ordnung!« rief Huhnholtz.
» All right,« fügte der Bankhalter von vorhin hinzu; »nun können wir unser Jeu fortsetzen. Ich bin Ihnen für meinen letzten Gewinst noch Revanche schuldig, Herr Volcker.«
Hans starrte wie geistesabwesend um sich. Auf einmal durchfuhr es ihn wie ein elektrischer Schlag. Er zuckte heftig zusammen und schaute dann Herrn von Oppeln mit leerem lächeln an.
»Ich schenke Ihnen die Revanche, Herr von Oppeln,« sagte er. »Ich – ich erkläre meinen Austritt aus dem Klub und werde das morgen dem Herrn Präsidenten anzeigen …« Er verneigte sich und ging.
Niemand hielt ihn zurück.
»Besser so,« meinte Prinz Inningen. »Ueber die Revocierung läßt sich streiten. Das Glas Wasser bleibt hängen.«
»Ich sage,« lachte Herr von Oppeln, »der Suff ist ein Laster – aber ein schönes.«
»Wie kam Volcker zu dem Entschluß der Revocierung?« fragte Vließen. »Er benahm sich doch kurz vorher noch wie ein Wahnsinniger.«
»Auch noch im Billardzimmer,« berichtete Baron Hunding. »Aber ganz plötzlich wechselte die Stimmung. Der Rausch war auf einmal wie weggeblasen. Die psychische Erregung in Volcker war freilich noch immer eine gewaltige. Aber er sprach verständig und ruhig. Und als ich ihm vorschlug, allen weiteren Skandalen durch ein Entschuldigungswort vorzubeugen, war er auf der Stelle einverstanden … Lassen wir die Sache ruhen.«
Man nickte. Es war in der That so am besten; war auch gut, daß Hans Volcker aus dem Klub austreten wollte.
»Er gehörte doch nicht so recht hierher,« sagte Inningen halblaut zu dem schwarzen Husaren.
Der stimmte zu. »Man muß unter sich bleiben, Durchlaucht …«
Zur selben Zeit, da Graf Vließen vom Klub aus nach dem Bahnhofe fuhr, betrat Hans seine Wohnung. E
r fand auf seinem Schreibtische einen kurzen Brief von Gerda.
»Lieber Hans!
Da Du heute doch nicht mehr heimkehren willst, habe ich mich entschlossen, schon mit dem Abendzuge nach Uttenhagen zu fahren. Bitte gib dorthin Nachricht Deiner
Gerda.«
Hans sank in den Schreibtischsessel. Es brannte nur ein einziges Licht auf dem Tische; das flackerte hin und her. Hans saß so, daß er sein Gesicht dem Licht zuwandte. Er sah wie ein Sterbender aus: die Augen schwarz umschattet, die Wangen hohl. Seine Zähne schlugen aufeinander. Er fühlte sich grenzenlos elend. Er dachte an nichts Bestimmtes: seine Gedanken sprangen. Er sah Gerda vor sich und Vließen und Bertram und zwanzig andre. Einmal trat die Scene im Klub mit lebhaften Farben in sein Gedächtnis zurück – und ein schreckliches Uebelbefinden überschlich ihn. Er sprang auf, nahm das Licht und ging in sein Schlafzimmer. Auf seinem Nachttisch lag die letzte Nummer des »Morgenblatts«, die er zuweilen noch im Bett zu überfliegen pflegte. Er nahm das Blatt und las gedankenlos die Überschrift des Leitartikels. Dann drehte er das elektrische Licht auf. Nun wurde es plötzlich blendend hell. Da stand das Bett Gerdas: unberührt und sauber zugedeckt. Die blaue Seide der Couvertüre schimmerte; auf den Waschtischen blitzte das Krystall der Flaschen: die drehbare Psyche warf das Licht in vollen Wogen zurück.
Hans schaute in den Spiegel. Er sah einen einsamen, verzweifelten Mann mit herzzerreißendem Elend im Blick. Er trat dicht an das Glas heran und schnitt sich eine Fratze. Diese Fratze – das war sein Leben. Und wieder verzerrte er sein Gesicht. Aber er erschrak vor sich selbst. War er denn verrückt?
Er wandte sich und ging in das anstoßende Kinderzimmer. Eine Drehung – und auch hier strahlte das elektrische Licht auf. Und auch hier die gleiche frostige Ordnung wie nebenan: das Spielzeug sauber eingepackt, in zahlreichen Schachteln und Kistchen, die auf Simsbrettern standen; das kleine Bett unberührt; der Spielteppich zusammengerollt und daneben ein Netz mit Gummibällen … Auf der Erde, an der Ecke einer Kommode, sah Hans etwas Glitzerndes. Er bückte sich und hob eine farbige Glaskugel auf. Das Auge wurde ihm feucht. Der Kleine mochte noch zu guter Letzt mit der Kugel gespielt haben, und man hatte beim Aufräumen des Zimmers ihrer nicht geachtet.
Hans behielt die Kugel in der Hand. Eine unermeßliche Sehnsucht nach Weib und Kind packte ihn plötzlich. Er kehrte in das Schlafzimmer zurück und warf sich vor dem Bette Gerdas in die Kniee und drückte sein heißes Gesicht in die Kissen. Er schluchzte laut. Er war nicht mehr das große Kind mit dem eitlen Herzen und den thörichten Neigungen. Ein erster Schicksalssturm hatte genügt, ihn Mann werden zu lassen. Was nicht die Liebe vermocht, das hatte der Schmerz vollbracht.