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Trotz des Ultimos hatte Kommerzienrat Nathansohn schon zu verhältnismäßig früher Stunde die Börse verlassen. Im Fortgehen gab er noch einige Aufträge, aber nur nebenbei, gewissermaßen aus Gefälligkeit. Die Stimmung war flau und interesselos, und Nathansohn hatte andres im Kopfe. Zum erstenmal in seinem Leben ließ ihn das Geschäftliche kühl; das Herz verlangte seinen Anteil.
Draußen suchte er nach seinem Wagen. Es war klares Frostwetter. Droschken und Equipagen standen in langer Reihe vor dem Börsenpalast. Hin und wieder traf noch ein verspäteter Besucher ein und eilte raschen Schrittes und mit vertraulichem Gruße an ihm vorüber. Endlich sah Nathansohn sein Coupé. Eine Hand, die einen abgezogenen wildledernen Handschuh trug, winkte ihm aus dem Fenster entgegen.
»'Tag, lieber Heller,« sagte der Kommerzienrat, »– vernünftig, daß Sie es sich bequem gemacht haben.«
»Ich bin eine Viertelstunde auf und ab gependelt, Kommerzienrat,« entgegnete der Techniker, weiter in die Wagenecke rückend, um der gewichtigen Persönlichkeit Nathansohns Platz zu machen, »und habe dabei mindestens ein halbes Hundert Bekannte getroffen. Und jeder wollte wissen, auf wen ich warte und wollte eine Bestellung entgegennehmen. Das wurde mir schließlich zu langweilig, und da flüchtete ich denn in Ihr Coupé.«
»Recht so … Nach Hause, Kutscher! Aber machen Sie einen Umweg – fahren Sie uns noch ein bißchen im Tiergarten spazieren … Recht so, lieber Freund. Ich wär' längst bei Ihnen, denn an irgend ein Geschäft ist heute nicht zu denken. Es ist wie im Hochsommer. Nur die Chilenen beginnen sich wieder zu regen. Ich habe Düren rasch noch eine Notiz zukommen lassen … Also, lieber Heller, nun sprechen Sie!« –
Er zog sein Taschentuch hervor, schob seinen Cylinder auf den Hinterkopf und trocknete sich die Stirn. Er transpirierte immer.
Doktor Heller saß gerade und in korrekter Haltung neben ihm, tadellos gekleidet wie gewöhnlich: ein vornehmer junger Mann, der auf sich hält.
»Es bedarf keiner Präliminarien,« entgegnete er; »Sie wissen Bescheid, lieber Kommerzienrat. Ich habe Hella aufrichtig lieb. Sie muß es längst gemerkt haben, wenn ich bisher auch eine Aussprache mit ihr vermieden habe. Absichtlich: denn zuerst wollte ich mich Ihrer vergewissern. Nicht nur, weil es so Sitte bei uns ist, sondern weil es sich auch nicht anders mit meinem Pflichtgefühl vertragen würde. Ich thue nichts hinter dem Rücken des Vaters …«
Nathansohn nickte zustimmend und klopfte Heller mit der Hand wohlmeinend auf die Schulter.
»Weiter, lieber Junge,« sagte er.
»Ich habe mit meiner Werbung noch warten wollen,« fuhr der Ingenieur ruhig fort; »zum ersten Januar ist mir die Stellung als zweiter Direktor sicher. Die Gehaltserhöhung spricht nicht mit. Sie kennen meine Verhältnisse und wissen, daß ich vermögend bin. Aber mein gesellschaftliches Prestige wächst durch die neue Stellung. Ich selber gebe nicht viel darauf, wenn ich mich auch selbstverständlich über mein rasches Avancement freue –«
»Selbstverständlich, mein Junge –«
»Ich glaube dagegen, Hella haftet in mancherlei Dingen noch stark am Aeußerlichen. Das ist entschuldbar bei ihrer Jugend und wird sich legen; denn es ist schließlich nur Schale, nicht Kern. Ich hätte also gewartet bis zu dem Augenblick, da ich aus dem Vertreter der Elektricitätswerke deren Direktor geworden wäre. Gewisse Beobachtungen, die ich gemacht habe, ganz apropos und ohne Heimlichkeit, haben indessen die Situation verschoben. Es muß auch Ihnen, lieber Kommerzienrat, längst aufgefallen sein, daß Graf Dittmar Dassel sich auffallend um Hella bemüht.«
»Nein, mein Bester,« entgegnete Nathansohn lebhaft, »das ist mir nicht aufgefallen. Und ich erkläre Ihnen, das ist Unsinn. Der Graf wie Hella haben gemeinsam schöngeistige Neigungen – das ist alles. Er macht der Hella nicht einmal die Kur. Einmal hat er ihr ein paar Blumen gebracht, als sie ihn malte – nu, mein Gott, warum nicht? Ich gestehe Ihnen, daß ich den jungen Dassel sehr gern habe. Er hat so etwas. Ich habe ihm auch Anerbietungen gemacht, wollte ihm auf die Beine helfen und vorwärts bringen – aber er lehnte ab. Die Musen halten ihn fest – und die ganze Welt schreit ja auch über sein Talent. Wo man hinkommt, findet man seinen Roman auf dem Tische. Haben Sie ihn gelesen, Heller?«
»Ja. Ein gutes Buch und auch ein tapferes. Der Mann wird seinen Weg machen. Aber gerade dieser Erfolg hat mich ängstlich werden lassen. Seien Sie mir nicht böse, Kommerzienrat: ich glaube, Sie kennen Ihre Tochter nicht so in allen Tiefen. Ich glaube, Sie beurteilen sie zu oberflächlich. Hella ist nicht das typische Judenmädchen aus Berlin W. und den Grunewaldvillen. Pardon, daß ich mich so ausdrücke; ich bin Jude wie Sie, und Sie werden verstehen, wie ich es meine. Es gibt Kreise bei uns, die ihr antipathisch sind – ich möchte sagen, aus ästhetischem Empfinden heraus. Ueber so etwas läßt sich nicht rechten; es ist Gefühlssache. Nun ist ihr, wohl zum erstenmal in ihrem jungen Leben, ein Mann aus der Aristokratie näher getreten: kein fader Schwätzer, sondern eine Persönlichkeit; noch dazu ein Poet, dessen Künstlernatur sie anzieht. Lieber Herr Nathansohn, sie müßte kein Mädchen sein, wenn alles das ohne Einfluß auf sie bleiben sollte. Freilich – ich weiß nicht, ob sich die beiden schon von Neigung gesprochen haben. Vermutlich nicht; denn auch Dassel würde als Ehrenmann wohl zuerst Ihre Ansichten observieren. Aber das Wort thut es nicht allein. Ceterum censeo – ich habe Sorge bekommen und möchte nicht länger warten …«
Der Kommerzienrat wischte sich wieder die Stirn, auf der sich Falten zeigten. Nun wurde er doch unruhig.
»Trotzdem, Heller,« rief er, »trotzdem! … Die Hella weiß, wie ich denke. Ich bin kein Streber und kein eitler Narr wie viele unsersgleichen. Und ich habe Beispiele vor Augen. Denken Sie an die Tochter des alten Reiherstein, die da den Grafen Ixypsilon heiratete und todunglücklich wurde: ein Exempel für viele. Nein, nein – man soll in der Rasse bleiben und auch in der Religion. Ja, auch in der. Ich gehöre nicht zu den Orthodoxen; aber ich habe meinen Platz in der Synagoge, und an den Gedenktagen laß ich ein Licht anzünden und halte unsre großen Feste ein, und am Jom Kippur faste ich. Ob Frömmigkeit, ob Pietät oder Tradition – ich thu' es. Und ich will auch, daß meine Tochter einen Juden heirate. Versteht sich, ausgewählt – aus einer unsrer besten Familien – so einen wie Sie, Heller. Sie passen mir, ich sag' es. ›Hella Heller‹, das gibt schon einen Gleichklang. Ich frag' Sie: war nicht schon alles abgemacht zwischen uns, eh' wir mit einem Worte der Sache erwähnt hatten?«
Doktor Heller nickte. Ja, es war so. Man hatte nie darüber gesprochen und beiderseits längst an diese Ehe gedacht. Zwei angesehene und reiche jüdische Familien sollten sich vereinigen, zwei große Vermögen zusammenfließen. Aber das war es nicht allein. Heller liebte das Mädchen. Er hätte niemals auf Befehl geheiratet und nie auf Wunsch; die altjüdische Institution des Schadchens, des berufsmäßigen Ehevermittlers, war ihm genau so verhaßt, wie ihm gewisse Eigentümlichkeiten in Sitte und Wesen des Judentums unangenehm waren. Wie er sich vorhin über Hella geäußert hatte – ähnlich so erging es ihm selbst.
»Und was dann,« sagte er, »wenn Hella mich abweist? Wenn sie dem Grafen Dassel tatsächlich Neigung entgegenbringt?«
»Oho!« – Und Nathansohn fuhr auf. »Bin ich nicht der Vater?!«
»Ein Vater vermag viel, aber nicht alles.«
»Heller, das ist wieder Unsinn. Wir wollen nicht streiten. Meine Tochter ist so erzogen, daß sie sich meinem Willen nimmermehr widersetzen wird. Hat ihr der Dassel den Kopf verdreht, so werde ich ihn ihr wieder zurechtsetzen. Vielleicht lockt sie die Grafenkrone. Mich nicht. Eisenberg und Fröhlich und der alte Esel, der Bieberstein, die würden sich blähen und protzen mit einer gräflichen Tochter. Ich nicht. Hätte man mir zugemutet, für meinen Kommerzienratstitel auch nur zehn Mark zu zahlen, ich hätte allerschönstens gedankt. So bin ich … Hella eine Frau Gräfin. Und dann? Anfänglich würde vielleicht alles ganz gut gehen, denn auch der alte Dassel ist ja ein traitabler Mann. Aber da gibt es noch andre Verwandtschaft, hüben und drüben: hochnäsiges Volk, und auch unsre Leut' würden mit Bissigkeiten nicht sparen – äh – nee, lieber Heller, ich danke. Ich will meiner Tochter der Vater bleiben. Ich will keine tiefe Kluft zwischen ihr und mir …«
Er hatte jetzt seinen Cylinderhut abgenommen und hielt ihn auf den Knieen fest. Das feiste Lebemannsgesicht war blaß geworden, und in den wulstigen Thränensäcken unter den Augen schimmerte es feucht. Er war erregt geworden.
Doktor Heller rollte zwischen den Fingern eine Cigarette hin und her. Er bemühte sich, seine wohlerzogene Kaltblütigkeit zu bewahren; doch auch ihm wurde es schwer. Ihm ahnte, daß die Nebenbuhlerschaft Dittmar Dassels nicht so leicht zu überwinden sein würde.
»Also kommen wir zum Schluß, Kommerzienrat. Sie sind fest gewillt, meine Werbung bei Hella durchzusetzen?«
»Fest gewillt. Ich spreche heute noch mit ihr. Besuchen Sie uns morgen nach der Börse. Dann können wir übermorgen die Verlobung veröffentlichen.«
»Gut. Noch ein Letztes: das Geschäftliche –«
»Ah ja. Ich habe Hella vorläufig eine halbe Million zugedacht, möchte das Kapital aber im Geschäft behalten. Ich verzinse es Ihnen mit fünf Prozent. Macht eine Rente von fünfundzwanzigtausend Mark.«
»Ganz einverstanden. Mein Gehalt beträgt zur Zeit achtzehntausend Mark. Es würde sich vom ersten Januar ab mit allen Tantiemen mehr als verdoppeln. Dazu kommen elftausend Mark Zinsen aus der mir zugefallenen Erbschaft der Tante Rachel Hirsch. Wir können also immerhin leben …« Er lächelte und fuhr in demselben geschäftsmäßigen Tone fort: »Ich bin der einzige Sohn, und mein Vater spekuliert nicht mehr.«
Jetzt lachte auch der Kommerzienrat. »Kommt aber noch mannigmal auf die Börse,« rief er, »der alte Herr, und dann stellt er sich kerzengerade an die Wand, nimmt sein Notizbuch zur Hand und hört zu. Die Makler führen einen Kriegstanz um ihn auf: er läßt sich nicht stören. Er bleibt wie versteinert stehen. Nur wenn australische Goldrente gehandelt wird, schießt sein Auge Blitze. Da hat er einmal einen gehörigen Posten verloren. Hören Sie, Heller, beim Verlobungsdiner – da muß er aber seinen Weinkeller aufthun. Ich habe mal einen Cos d'Estournel bei ihm getrunken, der liegt mir heute noch auf der Zunge. Seinen Kellergeiz müssen wir ihm abgewöhnen. Schließt er noch immer seine Marquis-Schokolade in seinen Geldschrank ein?« –
Er begann jetzt fröhlich zu plaudern. Seine Laune kehrte zurück. Die Geschichte mit dem Grafen Dassel hielt er für ganz verrückt und ganz unmöglich. Das kam von der Eifersucht Hellers. Er war überzeugt, daß seine Tochter mit keinem Wort widersprechen würde. Sie wußte so gut wie er selbst, daß Heller der ihr Zugedachte war.
Mitten im Tiergarten bat Heller, aussteigen zu dürfen. Er wurde beim Abschiede wärmer und drückte fest die Hand Nathansohns.
»Addio,« sagte er, »und Dank. Morgen um diese Zeit hoffe ich Sie Vater nennen zu dürfen. Ich werde sehr, sehr glücklich sein …«
Zehn Minuten später hielt das Coupé des Kommerzienrats unter dem Glasdache der Einfahrt seiner Villa.
»Fräulein Hella da?« fragte Nathansohn schon beim Aussteigen den herbeispringenden Diener.
»Sehr wohl, Herr Kommerzienrat,« antwortete dieser, »das gnädige Fräulein und der Herr Graf Dassel sind im japanischen Salon …«
Nathansohn fuhr zusammen. Das war ein ärgerliches Ungefähr. Donnerwetter, war das eine Art, diese Besuche zur Börsenzeit! Zu einer Stunde, da man ihn fern vom Hause wußte! – Er ließ sich den Paletot ausziehen und brummte dabei vor sich hin.
»Ich bin für niemand zu sprechen,« befahl er, »auch nicht am Telephon – ich müßte denn aus dem Geschäft angerufen werden. Kommt jemand zum Essen?«
»Nein, Herr Kommerzienrat; es ist niemand geladen.«
Nathansohn schneuzte sich in sein riesiges Taschentuch und trat durch die ihm von dem Diener geöffnete Thür. Man mußte sein Kommen gehört haben. Hella flog ihm aus einem Nebenzimmer entgegen und um seinen Hals. Sie zitterte und war totenblaß.
»Vater,« flüsterte sie, »Graf Dassel ist da –«
»Ich weiß es, mein Herz – der Diener sagte es schon … Hella – zum – Hella – was ist dir?!«
Sie blieb an seinem Halse hängen. Ihr Atem flog. »Lieber Vater,« stieß sie hervor, »Graf Dittmar will mit dir sprechen. Er – er hat um mich angehalten – –«
Die Ueberraschung war so groß, daß Nathansohn brutal wurde. Er schleuderte mit harter Bewegung Hella von sich, so daß sie niederstürzte. Aber schon im nächsten Augenblick bereute er seine Rauheit. Er hatte einen Blick seines Kindes aufgefangen, der ihn tief in das Herz schnitt. Er beugte sich über sie und hob sie auf.
»Verzeih mir, Hella,« sagte er weich; »das wollte ich nicht … Ich – ich bin so erstaunt – und entrüstet –«
Da erschien Dittmar in der Thür. Er hatte den Vorgang nicht gesehen und ein halb liebenswürdiges, halb verlegenes Lächeln auf den Lippen. Doch ehe er noch nähertreten konnte, hatte Hella sich von ihrem Vater getrennt und den Geliebten umschlungen. Es war, als suche sie Schutz an seiner Seite.
Dittmar war in der That verlegen. Er sah das streng gewordene Gesicht des Kommerzienrats und dessen verfinsterte Stirn. Seine Weltgewandtheit verließ ihn.
»Wir haben Sie gemeinsam erwartet, Herr Kommerzienrat,« begann er zögernd, »weil wir Sie gemeinsam bitten wollten, unserm Herzenswunsche zu gewähren. Wir lieben uns so –«
»Halt, mein Herr Graf!« fiel Nathansohn ein. Er fuhr mit der Hand durch die Luft. Er schnaufte und zog wieder sein Taschentuch hervor. »In mein Zimmer, wenn ich bitten darf. Hier haben die Wände Ohren …«
Er ging voran. Die beiden folgten. Sie wußten jetzt, wie sie zu kämpfen haben würden, und tauchten nur einen Blick ineinander. Aber sie hielten sich noch immer umschlungen.
»So,« sagte der Kommerzienrat und öffnete die Thür seines Arbeitszimmers. »Laß den Herrn Grafen los, Hella – wir sind noch nicht so weit. Nehmen Sie Platz, Herr Graf – nicht? – auch gut; so gestatten Sie, daß ich mich setze. Ich bin müde …«
Er warf sich in einen der großen Sessel. Dittmar war erbleicht. Er schaute abermals zu Hella hinüber. Sie zitterte nicht mehr. Auch ihre Lippen bewegten sich nicht. Doch ihr Auge sprach, und er verstand diese Sprache.
»Also, Herr Graf …« Nathansohn unterbrach sich häufig und stieß die Sätze rauh hervor … »Ich unterschätze die Ehre Ihres Antrags nicht. Es kommt dazu, daß ich Sie persönlich gern habe. Dennoch antworte ich Ihnen mit einem entschiedenen Nein … Hella, ich verbitte mir jedwede Unterbrechung … mit einem entschiedenen Nein. Ersparen Sie mir die Motivierung, aber lassen Sie sich sagen, daß ich über Hellas Hand bereits verfügt habe.«
»Vater!« schrie Hella. Es war ein Ruf der Empörung. In ihren schönen Augen schlug eine Flamme auf. Die zierliche Figur reckte sich, und der kleine, fein geschnittene Kopf zuckte zurück. »Verfügt über meine Hand? – Und mein Herz, Vater? Bin ich eine Ware?! Nicht ein lebendiges Menschenkind – mein Gott, nicht deine Tochter, die du lieb hast?!«
»Ja, Hella, ich habe dich einzig lieb. Das weißt du. Und deshalb hätte ich gewünscht, diese Scene wäre uns erspart geblieben. Sie wäre es, hätten Sie, Herr Graf, die Güte gehabt, mir vorher eine Andeutung über Ihre Absichten. zu machen –«
»Konnte ich das, Herr Kommerzienrat, ehe ich der Neigung Hellas sicher war?«
»Ich bin der Vater und Vormund Hellas.«
»Aber Hella hat das Recht der freien Wahl, und es spricht nichts gegen mich, was Sie berechtigen könnte, diese Wahl zu beanstanden.«
»Sie irren sich, Graf Dassel. Es spricht dennoch viel gegen Sie. Von meinem Standpunkte aus. Zuvörderst die Glaubensfrage.«
»Hella ist bereit, zum Christentum überzutreten.«
Der Kommerzienrat schnellte empor. Er stützte sich dabei so wuchtig auf die polstergefütterten Armlehnen des Sessels, daß eine von ihnen krachend brach.
»So?!« rief Nathansohn. »Uebertreten! Und das sagen Sie so, als wäre es eine Kleinigkeit, ein Garnichts, eine Lappalie! Uebertreten – schlankweg – eine Schnelltaufe, und die neue Christin ist da … Hella! – Hella, ich frage dich: als du diesen Entschluß faßtest, hast du da gar nicht an deinen Vater gedacht? und nicht an die fromme Mutter?«
»Doch, Papa,« entgegnete sie sanft; »und ich wußte auch, daß es dir Schmerz bereiten würde. Doch du selber hast nie in mich gedrungen, festen Glaubens zu sein. Ich habe seit Jahren den Tempel nicht mehr betreten – und ich bin dir dankbar dafür gewesen, daß du keinen geistigen Zwang auf mich ausgeübt hast. Denn – denn ich bin schwankend geworden. Nun hat die Liebe schneller vollendet, was früher oder später doch einmal zur That geworden wäre …«
Der Kommerzienrat neigte den Kopf. Es war eine schwere Stunde für ihn. Wahrhaftig, er hatte nichts gegen die Person dieses jungen Aristokraten, dessen Tüchtigkeit er schätzte. Aber er war nicht wie so viele seinesgleichen. Er fürchtete, es werde doch einmal eine Zeit kommen, da Hella die Grafenkrone teuer bezahlen müsse. Wer konnte wissen, wie sich alles fügen würde! Eine Scheidewand zwischen Vater und Tochter richtete diese Heirat unbedingt auf: die Macht der Vorurteile und die Verschiedenheit der Weltanschauung waren die Fundamente der Trennungsmauer. Und dann: Nathansohn hing zähe an der Ueberlieferung. Er war Jude aus Rassegefühl. Der beabsichtigte Uebertritt Hellas war für ihn nicht nur ein Glaubenswechsel: es war eine Herauslösung aus der Stammesgemeinschaft – ja, es war eine Flucht in das feindliche Lager. Was kam nicht noch alles dazu, ihm das Herz schwer zu machen! Eine Verbindung mit der Familie Heller war immer sein Wunsch gewesen. Da wurde der gemeinsame Reichtum zu einem gepanzerten Turm – und auch am Gelde hing Nathansohn: es gehörte mit zu der Ueberlieferung …
Hella wie Dittmar benützten den Augenblick des Schweigens zu einem neuen Sturm auf das Herz des Alten. Sie fanden hundert gute Worte. Hella hing sich an ihn und flehte ihn an, sie glücklich werden zu lassen. Ihre Augen begannen zu tropfen; sie küßte ihn und umschmeichelte ihn. Die Herbheit ihres Wesens löste sich in weiche Zärtlichkeit auf.
Auch Dittmar versuchte aus ehrlichem Herzen heraus einen Ausgleich der Dissonanzen. Er nahm Nathansohns Hand und versprach, ihm ein guter Sohn sein zu wollen. Er wurde warm und schilderte, was er erhoffte und erstrebte. Hella und er hätten die gleichen Neigungen; man würde unendlich glücklich werden in dieser aus inniger Liebe geschlossenen Künstlerehe …
Dies Wort fing Nathansohn auf. Er zuckte mit den Schultern. »Künstlerehe,« sagte er; »geht mir damit! Ich habe sie dutzendweise zusammenbrechen sehen – geradeso wie die gemischten Ehen. Und eine gemischte Ehe würde auch die eure sein – trotz allem Glaubenswechsel. Jüdin bleibt Jüdin, Graf Dassel – die Taufe verwischt nicht die Sonderheiten unsrer Rasse. Und es thut nie gut, Elemente, die sich von Grund aus fremd sind, aneinander zu ketten. Fremd, sage ich – jawohl – mit Absicht und mit Betonung. Denn unserm innersten Wesen nach werden wir euch immer fremd gegenüberstehen. Die uralte Feindschaft bleibt; dafür sorgt ihr und – ja – sorgen wir selber. Ich beschönige nichts … Graf Dassel, es geht nicht. Zu allem: Doktor Heller hat mein Wort.«
Das empörte Hella von neuem. Aber sie hatte ihre Erregtheit überwunden; sie blieb ruhig bei ihrer Antwort.
»Ich ahnte es,« entgegnete sie; »nur Doktor Heller konnte der mir Zugedachte sein. Er ist ein Ehrenmann. Wir wollen sehen, ob er bei seiner Werbung bleibt, wenn er erfährt, daß ich einen andern liebe.«
»Es fehlte nur noch,« sagte Nathansohn bitter, »daß Graf Dassel den unbequemen Nebenbuhler vor die Pistole forderte. Das wär' eine Lösung nach Kavaliersart – nicht wahr, Herr Graf?«
»Doch nicht, Herr Kommerzienrat. Ich wenigstens habe andre Pflichten erlernt. Warum so gereizt? Warum so namenlos bitter? Ich liebe Hella. Thu ich unrecht, wenn ich Sie um ihre Hand bitte? Bin ich irgend ein Gleichgültiger aus Nirgendher? Ich bitte nicht nur; ich biete auch. Pardon, Herr Kommerzienrat, wenn ich das betone. Pardon auch, wenn ich noch etwas hinzufüge. Sie sind reich. Ich unterschätze den Wert des Geldes nicht. Aber ich spekuliere nicht auf die Mitgift Hellas –«
»Das weiß der Papa,« fiel Hella ein. Und unter leichtem Erröten fügte Dittmar hinzu: »Verzeihung, Herr Kommerzienrat – aber ich bin zur Abwehr gedrängt worden …«
Nathansohn steckte die Hände in die Hosentaschen.
»Ich habe Ihnen erklärt, Graf Dassel, daß ich Sie aufrichtig achte. Ein Mitgiftjäger sind Sie gewiß nicht. Glaube auch, Sie würden die Hella nehmen, wenn ich ihr jeden Groschen Zuschuß verweigern wollte. Denn Sie sind eine zu vornehme Natur, sich einer versagten Mitgift wegen zurückzuziehen. Aber, mein verehrter Herr Graf: wenn Sie von vornherein gewußt hätten, daß Hella ein ganz, ganz armes Mädelchen, dann würden Sie den Mut gefunden haben, Ihre Liebe niederzukämpfen. Bitte – das ist keine Beleidigung – das kann ich ruhig aussprechen. Lassen wir die Geldfrage beiseite …« Er schritt einmal durch das Zimmer und blieb dann wieder stehen … »Sie sagen, Sie bieten auch. Graf Dassel, Sie bieten mir nichts oder doch nur Selbstverständliches: einen ehrlichen Namen. Nicht mehr. Gesellschaftlichen Ehrgeiz kenne ich nicht. Gewiß, Sie sind allem Anschein nach auf dem Wege zum Ruhm. Aber auch das würde mich nicht locken; denn der Ruhm ist schließlich nur die Verbrämung am Kleide des Lebens. Nein – Sie bieten mir wenig – und wollen dafür mein Alles haben. Die Heirat mit Ihnen entfremdet mir mein Kind. So steht's in meinem Herzen. Und alle lieben Worte und alle Versprechungen werden diese Ueberzeugung in mir nicht ändern. Deshalb bleibe ich bei meinem entschiedenen Nein …«
Es war wahnsinnig. Gegen diesen trotzigen Alten ließ sich nichts ausrichten. Dittmar war wie niedergeschmettert. Er fühlte auch: er verlor an Boden. Nathansohn war doch nicht der »typische« Jude. Dittmar spürte, wie sein Stolz zu zerbröckeln begann. Er sah in das blasse, verzweifelte Gesicht Hellas, und sein Herz schmerzte. Von neuem begann er zu bitten, aber er wählte die Worte nicht mehr; er erging sich in Phrasen; er wußte kaum noch, was er sprach. Auch Hella wurde nervöser; bei ihr wechselten Bitten mit Vorwürfen und Anklagen – und ganz plötzlich stieß sie einen Schrei aus und rief, wie im Uebermaße seelischer Qual: »Gut, Vater! Bleibe bei deinem Nein! Aber dann – – beim allmächtigen Gott – du spielst um mein Leben! …«
Es war jeder Blutstropfen aus ihrem Gesicht gewichen. Ihre Lippen waren weiß geworden, und in den dunkeln Augen stand ein furchtbarer Ernst.
Nathansohn stierte sie an. Es kroch wie ein Tausendfüßler über seine Glieder. Er schauerte zusammen und war aschfahl geworden gleich ihr. Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen. Auch Dittmar wagte nicht zu sprechen. Auf diese schreckliche Drohung hin wäre jedes weitere Wort zu viel gewesen.
Der Kommerzienrat faßte sich endlich. Er atmete gewaltig auf, schloß für einen Moment die Augen, und sagte dann in anscheinender Ruhe: »So sei es. Möge Gott dir verzeihen, Hella. Ich gebe meine Einwilligung unter der Bedingung, daß du Jüdin bleibst, solange du in meinem Hause weilst. Nach der Heirat habe ich kein Bestimmungsrecht mehr über dich. Ankündigung der Verlobung wünsche ich nicht. Herr Graf, mein Haus steht Ihnen Montag und Freitag von fünf Uhr ab offen, wenn Sie Hella sehen und sprechen wollen. Jetzt bitte ich – – ich bin sehr angegriffen – –«
Er machte Dittmar eine kurze Verbeugung. Sie war verständlich. Dennoch versuchte Dittmar noch einen letzten Schritt zur Versöhnung. Er streckte Nathansohn die Hand entgegen.
»Herr Kommerzienrat,« sagte er in bittendem Tone, »ich möchte nicht –«
Aber Nathansohn fiel ihm ins Wort. Sein Gesicht rötete sich plötzlich, und seine Fäuste ballten sich, als überfalle ihn rasende Wut.
»Herr Graf,« keuchte er, »ich – ich bitte Sie: gehen Sie! Lassen Sie mich allein – für heute – – ich kann Sie nicht mehr sehen – –«
Hella zog Dittmar aus dem Zimmer und hinaus auf den Korridor. Er folgte ihr widerstandslos.
In der halbdunkeln Entree schlang Hella ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn leidenschaftlich. »Ueb Nachsicht, Lieber und Einziger,« flüsterte sie, »und habe Geduld. Und bleibe fest – fest wie ich. Geliebter – Geliebter! …«
Nun stand er wieder draußen auf der Straße, im hellen Schein der Novembersonne, und schaute stumpf um sich her. Noch brannten auf seinen Lippen die Küsse der Liebe … Er war hinter dem Gitter stehen geblieben und ließ den Blick gedankenlos rechts und links hinabschweifen. Dann zündete er sich mechanisch eine Cigarette an und warf sie nach dem ersten Zuge wieder fort.
Auf dem Reitwege sah er einen Herrn vorübertraben, der ihn lächelnd grüßte und mit leichter Bewegung des Reitstocks auf die Villa Nathansohn wies. Es war Etienne Vließen. Dittmars Gesicht verfinsterte sich. Hätte Etienne ihn angerufen und eine Bemerkung über sein Verhältnis zu Hella gemacht, so würde es zu einem blutigen Austrag gekommen sein. Dittmar war in der Stimmung, einen Ableiter für seinen Grimm zu suchen. Denn der Grimm überwog. Aber nicht für lange. Ditt schritt über den Fahrdamm und bog in einen Fußpfad des Tiergartens ein. Hier klangen die Axthiebe; man rodete aus und schlug neue Lichtungen; es wimmelte zwischen den mit Sonnenflecken besprenkelten Stämmen von Arbeitern. Ditt horchte auf das metallische Klingen der Axt, das seltsam beruhigend auf ihn einwirkte. Es war zeitweilig wie ein Läuten ferner und näherer Glocken. Groll und Grimm schwanden, und Schmerz und Wehmut blieben zurück. Das blasse Gesicht Hellas stand vor ihm und begleitete ihn. Er sah immer nur dies blasse Gesicht, wohin er sich wandte, da schaute es ihn an. Das Herz that ihm weh …
Plötzlich stutzte er. Sein Vater fuhr in offener Droschke vorüber; er kam aus dem Reichstage. Dittmar wandte sich ab; aber der alte Herr hatte ihn bereits erkannt, ließ seinen Wagen halten und winkte ihm.
»Das ist famos, Ditt,« sagte er; »hast du etwas vor? Sonst iß mit mir. Ich habe da eine kleine Weinstube am Kurfürstendamm entdeckt, in der man eine vorzügliche Rinderbrust bekommt. Die einzig anständige in ganz Berlin. Und das Lokal ist immer leer. Wir haben lange nicht zusammen gekneipt, Junge …«
Dittmar fuhr mit. In jener kleinen Weinstube saß es sich in der That behaglich. Die beiden Herren hatten sich in einer Nische niedergelassen. Der alte Dassel bestellte eine Scharzhofberger und ließ eine Flasche Sekt in Eis legen. Er war guter Laune. Er hatte am gestrigen Tage mit der Firma Volcker ein Abkommen getroffen, das ihn im Monat zu einer gewissen Anzahl politischer Artikel für das »Morgenblatt« verpflichtete; dafür war ihm als Honorar ein anständiges Fixum bewilligt worden.
»Siehst du, das macht mir Freude, Ditt,« sagte er. »Und bringt mich auch auf die Beine. Schenk ein, mein Junge. Daß ich mich auf meine alten Tage noch der Journalistik zuwenden würde, hätt' ich mir allerdings nicht träumen lassen. Aber böse Beispiele verderben gute Sitten. Im übrigen: die Schriftstellerei hast du eigentlich von mir. Nicht von der Mama selig. Die war gegen die Kunst der Feder. Bringt mich wieder ein bißchen auf die Beine, sagte ich. Ja, Ditt, mit Uttenhagen ist nichts mehr los – ach du lieber Gott …«
Er begann zu seufzen und zu klagen. Es war ein Jammer. Er gestand zu: er war nun einmal kein Landwirt. Diese Dirne Politik hielt ihn fest und ließ ihn nicht mehr los. Und Uttenhagen bedurfte eines strengen Regiments; auf den Inspektor war gar kein Verlaß … Dann kam der Sekt, und die Stimmung schlug abermals um. Der Alte erzählte lachend, Graf Breesen habe ihn im Foyer des Reichstags aufgesucht. Breesen zöge wieder einmal mit seiner Reisetasche umher und sammle Gelder für die nächsten Wahlen. Ach, diese Wahlen! Sein Mandat sei ihm ja sicher; aber das ewige Herumgezanke mit den Gegnern verbittere und verstimme. Vierzig Jahre Politik sei wie ein Dantesches Fegefeuer. Schließlich sprach Dassel auch von Hans Volcker. Es sei Thorheit, daß der sich habe als Zählkandidat aufstellen lassen. Das nütze weder ihm noch dem Blatte. Und endgültig: ein Politiker sei der gute Hans nun einmal nicht …
Es mußte Dassel auffallen, daß Dittmar wenig sprach. »Junge, was ist dir?« fragte er. »Stoß an – prost! du bist mir nicht aufgekratzt. Ditt, was ist los? Ich sorge mich nicht mehr um dich; darüber bin ich hinaus. Du hast deine Lehrzeit hinter dir, auch die Zeit der Prüfung. Du marschierst vorwärts. Wie gesagt: um dein Fortkommen gräm' ich mich nicht. Aber heute gefällst du mir nicht. Liegt es an der verteufelten Beleuchtung oder hast du wirklich ein Blaßgesicht? Und den Mund machst du überhaupt nicht mehr auf. Qu'y a-t-il!? …«
Ein guter Gedanke schoß Dittmar durch den Kopf. Er wollte sich Rat von dem Alten holen, ohne ihn zu beunruhigen. Da sprach ein Dassel zu einem Dassel, ein Edelmann zum andern. Und es sprach einer, der die Welt kannte, der seinen Stolz hatte und doch auch menschlich dachte.
»Es ist eine eigene Sache, Papa,« begann Dittmar und füllte seinen Kelch; »du hast recht: ich bin nicht ganz bei Laune. Aber es hat nichts auf sich. Ein Freund hat mich verstimmt, der bei mir war, um mir seines Herzens Nöte zu klagen: der Baron – nein, ich will keinen Namen nennen. Ich konnte ihm nicht einmal raten, so nahe mir auch sein Schicksal geht.«
»Schulden?« fragte der alte Herr, »oder eine affaire d'amour?«
Jetzt erzählte Dittmar, erzählte die Geschichte seiner eigenen Liebe. Der Freund war er selbst, und Hella wurde zu einer biblischen Esther. Sein Darstellungsvermögen kam ihm zu Hilfe und seine Fabulierungskunst; er schilderte die Vorgänge so, daß der Vater in der That glaubte, Dittmar spreche von einem dritten.
Aber der Liebeshandel interessierte den Alten. Er hatte aufmerksam zugehört, und trank nun in kleinen Schlucken sein Glas leer.
»Hm, Ditt,« meinte er, »so was kommt vor. Früher war es unmöglich; da ragten die Ghettomauern noch himmelhoch in die Luft. Aber seit der Emanzipation – – na … Ist dein Freund etwa aktiver Offizier?«
»Nein. Er ist frei und kann schließlich machen, was er will und was ihm gut dünkt. Und ist dennoch nicht frei. Die Macht der gesellschaftlichen Anschauung ist ungeheuer stark. Ist auch eine Ghettomauer; aber eine hundertfache. Ueber neunundneunzig Mauern kann man hinwegsetzen, und vor der hundertsten erlahmt man.«
»So ist es. Ich verstehe die Situation. Ich sehe ganz klar. Die Liebe ist eine große Ueberwinderin; aber eine Allsiegerin ist sie nicht. Am letzten Hindernis, an der letzten Mauer, da wird dein Freund scheitern. Der Adel hat die sogenannte ›Reinheit des Bluts‹ längst aufgegeben, sogar gesetzlich. Das berühmte Edikt von 1739, das Ehen ›adliger Mannspersonen mit Weibsbildern aus dem Bauern- und geringen Bürgerstande‹ verbietet und für nichtig erklärt, läßt doch im letzten Absatze eine Hinterthür frei. Das ist ein köstliches Edikt, Ditt, und ging auch wahrhaftig in das preußische Landrecht über …« Der Graf wurde ausführlicher, wie immer, wenn ihn ein angeschlagenes Thema besonders interessierte. Er erzählte von jener »Hinterthür«, die den Fall betraf, daß ein verarmter Edelmann durch »dergleichen Heirat und den ausnehmenden Reichtum einer zwar geringen, doch unberüchtigten Person sich und seiner Familie wieder aufhelfen könne«. In solchen Fällen konnte ein Kabinettserlaß das Successionsrecht regeln. Von der Zeit dieser praktischen Handelserlaubnis ab gab es für den Adel kein Gesetz der Rassereinheit mehr. Der Bürger in den Hansestädten und in den alten Ordenslanden hielt sich abgeschlossener als der Edelmann. Das war schon der Kummer des alten Herrn von der Marwitz, und in den vierziger Jahren stritt noch Herr von Bülow-Kummerow mit seinem Fraktionsfreunde Stahl über die Frage der »freien Verehlichung« des Adels … Graf Dassel wurde weitschweifiger und erging sich in Erinnerungen an das sogenannte Junkerparlament, an Andrae-Roman und Blankenburg und an das erste Auftreten Bismarcks. Dittmar ließ ihn ruhig sprechen. Er kannte die Art des alten Herrn, der auf hundert Umwegen doch immer wieder zum Ausgangspunkte zurückkehrte. So auch diesmal … Also ja – mit der »Reinheit des Bluts« war es vorbei. Die Mischehen mehrten sich, und auch Heiraten zwischen Edelleuten und reichen Jüdinnen kamen häufiger vor. »Der Fall deines Freundes gehört also nicht zu den Seltenheiten, Ditt; oder vielleicht nur, weil, wie du sagst, hier nicht der Geldsack, sondern das warme Menschenherz die führende Rolle spielt. Schön – ich will es glauben und mich darüber freuen, denn die Liebe ist nun einmal der höchste Triumph der Menschlichkeit. Aber jetzt kommt der Haken. Soweit ich die Geschichte unsers Adels kenne, hat notorisch noch niemals ein Edelmann eine Jüdin zum Altare geführt. Versteh mich recht: der Rasse nach bleibt sie natürlich Jüdin; aber sie ist Christin geworden. Verlangt daher der Vater deiner armen Heldin, sie solle bis nach der Hochzeit ihrem Bekenntnisse treu bleiben, so wird dein Freund nicht nur in schwere Gewissensbedenken, wenn er nämlich religiös ist, sondern auch in einen argen Konflikt mit unserm Gesellschaftskodex kommen. Und dieser Kodex, Ditt, das letzte Ueberbleibsel aus den Tagen ständischer Zusammengehörigkeit, ist mit unserm Blute geschrieben. Hundert Paragraphen mögen verblaßt sein; die andern hundert sind noch immer eine furchtbare Macht … Lieber Ditt, dein Freund möge sich hüten. Vor allem eins: er soll Vernunft und Logik aus dem Spiel lassen. Ich kann nicht in sein Herz sehen; aber du, du rufe ihm zu: Landgraf werde hart! Es ist leichter, in der Theorie als in der Praxis mit jener Gesellschaft zu brechen, in deren Ansichten man aufgewachsen und mit der man durch tausend Bande verknüpft ist. Und dann noch eins. Du schilderst deinen Freund als einen einwandsfreien Gentleman und seine Esther als eine liebende Idealistin, die allen seinen Herzenswünschen gefügig ist. Es handelt sich also nur um die prinzipielle Gegnerschaft ihres Vaters in diesem einen Punkte. Prinzip gegen Prinzip. Dein Freund möge an dem seinen festhalten; ein Nachgeben könnte ihn zu allem andern in eine unliebsame Abhängigkeit bringen. Donnerwetter, verteidige er doch seinen Herrenstandpunkt! …«
Der Graf faltete seine Serviette zusammen, warf sie auf den Tisch und bot Dittmar eine Cigarre an. Während dieser das Licht seinem Vater reichte, sagte er langsam: »Bleibt noch ein Letztes, Papa: die absolute Unmöglichkeit einer Einigung. Und dann?«
»Du fragst mich zu viel. Das wird von dem Charakter und der Individualität deines Freundes abhängen, was dann. Ich kann mich von der Ansicht nicht frei machen, daß er als tadelloser Edelmann, der nur sein Herz sprechen läßt, durch seine Heirat dem Judentum eine hohe Ehre erweist. Mißverkennt man das auf der andern Seite –«
»Das thut man nicht,« fiel Dittmar unbesonnen ein. »Nathansohn selbst hat mir gesagt –«
Er brach ab. Nun war es heraus. Dittmar war wütend über seinen Mangel an Vorsicht; aber es half nichts. Sein Vater schaute erstaunt empor, sah sein errötendes Gesicht und seine wachsende Verlegenheit. Die Augen des alten Herrn wurden größer; auch er verfärbte sich.
»Nathansohn –?« wiederholte er fragend. »Also dessen Tochter – die Hella –? Und – du, Ditt, bist der Freund, von dem du sprachst? …«
Dittmar nickte schweigend.
Der Graf sprang auf. Auf dem Tische klirrte die Kaffeetasse; ein Cognacglas fiel um.
»Ist dir der eigene Vater nicht Freund genug, daß du offen zu ihm sein konntest?«
»Vergib, Papa. Ich habe mit Gerda gesprochen; ich wollte mich dir erst anvertrauen, wenn die endgültige Entscheidung da wäre.«
»Was hat Gerda gesagt?«
»Was ich erwartet habe. Ich solle nach meinem Herzen handeln. Freilich: die letzte Bedingung Nathansohns kannte sie noch nicht …«
Der Alte lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Pfeiler der kleinen Nische. Eine Pause entstand. Man hörte das Summen einer Fliege, die das Sahnetöpfchen auf dem Kaffeeservice umkreiste.
Dann setzte der alte Herr sich wieder. Er goß sich einen zweiten Cognac ein und leerte das Glas hastig.
»Du bist immer Antisemit gewesen, Ditt,« sagte er, »mehr als ich. Würdest auch nicht schachern um Namen und Krone. Ich glaube an die Stärke deiner Liebe und – und ich füge mich ihr. Aber ich setze der Bedingung Nathansohns eine andre entgegen. Ich verlange eine kirchliche Trauung mit deiner christlichen Braut. Ich verlange und fordere das: ich, dein Vater. Ich verlange das im Gedenken an deine Mutter und Namens unsres Geschlechts. Und – mein Ehrenwort, Ditt: von dieser Bedingung gehe ich nicht ab. Nun weißt du Bescheid. Wähle zwischen mir und –«
Er vollendete den Satz nicht, sondern schlug mit dem Messer so scharf gegen das Champagnerglas, daß der zierliche Kelch mit leisem Klirren zerbrach, und schrie: »Kellner! – Zeigt denn zum Zapperment sich niemand?! … Kellner – die Rechnung! Ich möchte zahlen …«