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Im Februar trat das erste Tauwetter ein, und nun konnte auch an dem Neubau für den »Volksboten« weiter gearbeitet werden.
Es war richtig, was Nathansohn von Düren gesagt: dieser junge Mensch besaß eine überaus glückliche Hand. Die Gründung des »Volksboten« erwies sich als ein Schlager ersten Ranges. Das Blatt war Lesefutter für die große Masse. Aber diese große Masse war durchaus nicht nur der »Pöbel«, wie Vließen den Abonnentenkreis des »Volksboten« charakterisierte. Freilich bildete der »kleine Mann« den Stamm der Abonnenten. In den Hinterwohnungen, den Werkstätten und Kellern hatte das Blatt sich zuerst eingebürgert. Schneiderin und Wäscherin lasen mit fiebernden Wangen den Kriminalroman unter dem Feuilletonstrich. Wenn der Pferdebahnschaffner nach gethaner Arbeit des Abends todmüde nach Hause kam, fand er doch noch Zeit, nach dem »Volksboten« zu greifen. An den Droschkenhalteplätzen saßen die Kutscher auf ihren Bocksitzen und studierten die Gerichtschronik des Blattes. In allen Destillationen, Kellerbutiken und Stehbierhallen lag der »Volksbote« aus. Da brauchte man ihn, denn der Kundenkreis jener Lokale verlangte nach ihm. An kleinen und billigen Blättern war in Berlin auch vorher kein Mangel gewesen. Sie hielten sich, machten leidliche Geschäfte oder siechten langsam dahin. Es war nichts Rechtes. Sie alle fegte der »Volksbote« rücksichtslos vom Markte. Er traf zum erstenmal den Ton, den man haben wollte. Die Spekulation erwies sich als geglückt; diese »Kolportagelektüre in Zeitungsformat« – das war es, was das Volk verlangte. Die sozialdemokratischen Blätter waren die ersten, die sich in bitteren Ausfällen gegen die Gesinnungslosigkeit dieser Preßmache ergingen; und in der That, im »Volksboten« erwuchs ihnen eine Konkurrenz, die gefährlich werden konnte. Aber auch die leitenden Organe der Rechten wie des Freisinns und der bürgerlichen Demokratie erhoben warnend ihre Stimme gegen den »Unfug der Parteilosigkeit« und den niedrigen journalistischen Standpunkt, der sich im »Volksboten« dokumentierte. Selbst in litterarischen Kreisen wandte man sich gegen ihn. Ein paar junge Schriftsteller traten zusammen und übernahmen die Herausgabe einer Auswahl aus den Werken unsrer Klassiker, die für wenige Pfennig auf dem Wege des Kolportagehandels vertrieben wurde. Das Ergebnis war geradezu lächerlich. Auch Düren belächelte es. Er wußte Bescheid. Er hatte Aehnliches versucht und kläglich Schiffbruch erlitten. Was kümmerte ihn das Geschrei der andern! Gesinnung – pah! Kein Mensch hatte seinem idealen Streben Beifall und Unterstützung gezollt, als er in Köln sein großes Unternehmen begründete, das der schlechten und volksvergiftenden Lektüre der Werner und Genossen einen Bildungsdamm entgegensetzen sollte. Jetzt sollte auf umgekehrtem Wege das Verlorene wieder eingeholt werden. Und es ging; der Plan erwies sich als gut. »Kolportagelektüre in Zeitungsformat« – das war es. Sie blieb nicht nur in der Küche und im Dienstbotenzimmer liegen. Auch die gnädige Frau griff danach. Das Blatt ihres Mannes langweilte sie. Sie fand sich da nicht zurecht zwischen den doktrinären Leitartikeln und politischen Aufsätzen und dem Wust von Nachrichten aus den Parlamenten, Parteien und Fraktionen. Der »Volksbote« war viel übersichtlicher arrangiert – und er klatschte so amüsant. Der Klatsch eroberte dem »Volksboten« auch einen guten Teil der Damenwelt: die blasierten Mondänen aus dem Westen, die ihre Litteraturkenntnis nur aus den Theaterpremièren schöpfen, aber auch die brave kleine Hausfrau, die im Trubel der Alltäglichkeit gern eine ruhige halbe Stunde suchte, um im »Volksboten« nachzuschauen, was es Neues gebe in Berlin und der Welt. Die Frau ist im allgemeinen keine Zeitungsleserin. Damit hatte Düren gerechnet. Er servierte ihr auch die Politik in schmackhaft zubereiteten und gewürzten Bissen und sorgte durch besondere Beilagen für ihre Interessen.
Ein weiterer glücklicher Coup hatte dem »Volksboten« noch mehr Verbreitung in den besseren Kreisen verschafft. Es war Düren gelungen, eine sehr gewandte und tüchtige Kraft für die Berichterstattung über gesellschaftliche Geschehnisse zu gewinnen. Diese Plaudereien aus dem Leben der Gesellschaft bildeten eine besondere Anziehungskraft für die Damenwelt. Der Verfasser war immer gut informiert, wußte geschickt zu schildern und verstand sich auf Toiletten. Das machte der Frau von X ebensoviel Spaß wie der Kommerzienrätin Y, wie schließlich auch der Müllern und Schulzen in der Rosenthalerstraße. Denn auch in das weitere große Geheimnis des »Lesepöbels« war Düren eingedrungen: daß der Arme und Niedrige viel lieber Geschichten liest, die in der großen Welt spielen, in Hof- und Adelskreisen, und in denen mit Titeln wie mit Millionen gleich freigebig herumgeworfen wird, als Schilderungen aus dem Leben der kleinen Leute.
Ein Jahr nach seiner Begründung hatte der »Volksbote« dreißigtausend Abonnenten. Dann kam statt der erhofften Erhöhung, von der Düren noch Hans Volcker an jenem Renntage gesprochen hatte, da »Sonnabend« die Farben des Jockeys Milton durch die Pfosten trug, ein plötzlicher Niedergang. Ein rapider Sturz bis auf achtzehntausend Abonnenten. Düren war außer sich. Sprach ein Zufall mit oder eine rätselhafte Gegenströmung, die er nicht kannte? – Er verdoppelte seine Anstrengungen, pumpte seine Kreditfähigkeit bis auf den letzten Groschen aus, raffte an Mitteln zusammen, so viel er deren habhaft werden konnte, verschrieb sich vor allem seinem Compagnon Werner mit Kopf und Kragen und begann mit einer ganz neuen Organisation. In allen Stadtteilen wurden besondere Filialen errichtet; ein Heer von Agenten überschwemmte nicht nur Berlin, sondern auch die Provinz; Millionen von Propaganda-Exemplaren wurden umsonst verteilt. Auch der Inhalt des Blattes wurde ausgestaltet; es fanden sich plötzlich »Originaltelegramme« und »Originalkorrespondenzen« aus aller Herren Länder. Die Reklametrommel schlug ihre Wirbel. Ein Roman »Aus Berlin W« wurde angekündigt, dessen erste Kapitel bereits unter nur leichter Verhüllung auf einen tollen, mit einem Bankkrach verbundenen gesellschaftlichen Skandal hinwiesen, der die Gemüter ein halbes Jahr lang in Aufregung gehalten hatte. Noch andre geschickte Manöver kamen hinzu. Die vornehme Presse hätte sie verschmäht und sicher wären sie bei ihr auch wirkungslos verpufft. Nicht so bei dem »Volksboten«. Plötzlich sprach alle Welt von ihm. Man schimpfte auf ihn und kaufte sich die neueste Nummer an der nächsten Straßenecke. Der Straßenhandel warf Summen ab, wie sie bisher noch kein Blatt eingebracht hatte. Und nun stieg auch die Abonnentenzahl; vor allem aber nahm der Inseratenbestand so rapid zu, daß Düren zu fürchten begann, der verhältnismäßig niedrige Annoncenpreis werde baldigst nicht mehr die Ausgaben für Druck und Papier decken können.
In dieser Zeit steigender Tendenz versuchte es Düren abermals mit einem neuen Coup. Er erhöhte sowohl den Abonnements- wie den Inseratenpreis. Beides nicht allzuviel; dennoch mußten die Mehreinnahmen, wenn der alte Stamm treu blieb, enorm sein. Darauf rechnete Düren gar nicht. Er strich bei der Kalkulation von vornherein ein Drittel der Abonnenten und der bisherigen Annoncen. Aber er verrechnete sich. Wieder wollte das Glück ihm wohl. Die Schwankung war nur eine minimale – und trotz der erhöhten Preise stieg beim Quartalswechsel das Abonnement von neuem. Düren hatte an ein so glänzendes Gelingen seines letzten Schlags – es war in der That ein Hazard gewesen – nicht im entferntesten gedacht. Nun aber begann er seinem Stern zu vertrauen und an seine »glückliche Hand« zu glauben. Er ging mit Eifer an weitere Pläne.
Als die Abonnentenzahl die Höhe von siebzigtausend erreicht hatte, schlug er Werner vor, die alte Baracke in der Köpenickerstraße zu verlassen und dem »Volksboten« ein würdigeres Heim in besserer Gegend zu errichten. Darauf hatte Werner nur gewartet. Der Fiskus unterhandelte schon seit längerer Zeit im geheimen mit ihm wegen Ankaufs der Grundstücke, auf denen die Königliche Bekleidungskommission ein neues Depot errichten wollte. Werner war aber an Düren kontraktlich gebunden und viel zu geizig, ihm eine Abfindungssumme zu bieten. So ging er denn mit Freuden auf den Plan eines Neubaus ein, der in der Krausenstraße, ganz in der Nähe des Volckerschen Geschäftshauses zur Ausführung kommen sollte.
Der Compagnon begann Düren lästig zu werden. Pofahl war eines Tages mitten in der Arbeit – in dem Augenblick, da er mit einem neu engagierten Tintensklaven einen Kontrakt zur Abfassung eines höchst sensationellen Lieferungsromanes schließen wollte – einem Blutsturz erlegen. Aber unbequemer als Pofahl war Werner. Er war das Bleigewicht an den Füßen Dürens, das um jeden Preis abgeschüttelt werden mußte. Schon die Firmierung G. Werner & Co. konnte für die spätere Entwicklung des »Volksboten schädlich sein; denn Düren trug sich mit großen Ideen, die in keiner Weise in den litterarischen Rahmen jenes Verlagsgeschäftes paßten. Die elektrischen Anlagen im neuen Heim des »Volksboten« hatten ihn mit dem Ingenieur Doktor Heller bekannt werden lassen, der wiederum vielfach in geschäftlichen Beziehungen zu dem Bankier Nathansohn stand. Durch Heller und Nathansohn war Düren zuerst auf den Gedanken gebracht worden, sich gründen zu lassen. Jawohl, sich selbst. Es sollte eine Gesellschaft gebildet werden, die den Namen trug »Franz Düren, Gesellschaft mit beschränkter Haftpflicht«, und deren Wirkungssphäre vorläufig als »geschäftliche Ausbeutung litterarischer Unternehmungen« offiziell bezeichnet wurde.
Werner ließ sich indessen nicht so leicht aus dem Wege schaffen. Er war ein Schlaufuchs und ein grober Patron. Wollte man ihn, den ersten Geldgeber, nicht mehr haben, so sollte man wenigstens gehörig bluten. Er stellte unverschämte Forderungen. Aber er kam an die Unrechten. Es gab Geheimnisse in seinem Leben, deren Veröffentlichung er zu fürchten hatte. Ein Detektivbureau hatte sich für seine Vergangenheit interessiert und gab Düren jede gewünschte Auskunft. So kam es, daß der sehr ehrenwerte Chef von G. Werner & Co. allmählich ein größeres Entgegenkommen zeigte und schließlich selber den Wunsch äußerte, sich von Düren und dem »Volksboten« zu trennen.
Nun hatte Düren freie Hand. Jetzt konnten sein Organisationstalent und sein spekulatives Geschick Triumphe feiern. Vom ersten April ab sollte der »Volksbote« in abermals erweiterter Gestalt vor das Publikum treten. Die fingierten Korrespondenzen hörten auf. Dafür waren nach dem Muster der großen politischen Zeitungen in allen Hauptstädten eigene Vertreter angestellt worden. Es gab keinen Schwindel mehr; Düren war über den kleinlichen Humbug hinausgewachsen. Er dachte daran, allen Ernstes die Konkurrenz mit der großen Tagespresse aufzunehmen. Aus dem Felde schlagen konnte er sie nicht. Denn der »Volksbote« sollte nach wie vor »unpolitisch« bleiben und sich auch die eigenartige Volkstümlichkeit bewahren, die sich schon in seinem Titel aussprach und sich im Inhalt des Blattes, dem typographischen Arrangement wie in Stil und Darstellungsart widerspiegelte. Aber in Bezug auf die Schnelligkeit der Berichterstattung hoffte Düren bald an der Spitze der Berliner Presse marschieren zu können. Das wollte das Publikum, und das mußte dem »Volksboten« auch Leser aus den politischen Lagern zuführen. Ein Eroberungszug im großen sollte beginnen. Es kostete riesige Summen; das war vorauszusehen. Aber Düren war nicht mehr der mittellose junge Mann von einst. Seine »glückliche Hand« öffnete ihm die Thüren der Bankhäuser. Er verfügte über Mittel, die ihm die Realisierung seiner kühnsten Wünsche und Träume erlaubten.
An einem heitern Sonnentage Ende Februar schritt er in Begleitung von Nathansohn und Doktor Heller durch den Neubau in der Krausenstraße. Es wurde mit Fiebereifer gearbeitet. Hunderte von Menschen stiegen die Treppen auf und ab, klommen an gewaltigen Leitern empor, bewegten sich hoch oben auf der mit Schiefer gedeckten Plattform des Daches. Ein disharmonisches Chaos verschiedener Töne gellte durch den Bau: der dumpfe Aufschlag einer Rammmaschine, die in regelmäßigen Pausen sich wiederholenden Stampfer der den Hof pflasternden Arbeiter, das helle Klingklang des Hammerschlags bei der Anlage der Telephonleitungen, die zahllosen Geräusche beim Nieten der Eisenplatten, bei der Ausmauerung neuer Zwischenwände, der Kanalisierung, der Betonschüttungen und Dielungen. Am Hauptportal arbeiteten noch die Steinmetze. Es war eine riesige Einfahrt aus Sandstein, flankiert von zwei übermenschlich großen allegorischen Figuren, die Presse und die Wissenschaft darstellend. Ueber dem Portal war das Dürensche Signet eingemeißelt; die Eule mit dem Reiberballen in der rechten Kralle, die schon das Druckerzeichen seiner Vorfahren geschmückt hatte; darunter als modernes Symbol ein Stück Telegraphenleitung, durch deren Drähte man drei Sterne erblickte; auf dem Spruchband das Wort »Volksbote«.
Düren unternahm mit seiner Begleitung einen Rundgang durch das Haus. Eine der bekanntesten Berliner Architektenfirmen hatte die Ausführung übernommen. Düren wollte, daß das Hauptgewicht nicht auf die Eleganz der Ausstattung, sondern auf eine praktische und zweckmäßige Anlage der notwendigen Räumlichkeiten gelegt werde. Diesen vernünftigen Wunsch hatten die Architekten berücksichtigt. Der ganze Bau war weniger umfangreich als das Volckersche Geschäftshaus, das für seinen Kunstverlag, die Illustrations- und Kartenabteilung und die Lagerstätten bedeutend mehr Raum beanspruchte. Das Haus des »Volksboten« war ein moderner Zeitungspalast, in dem alle Errungenschaften der neuesten Technik zur Geltung gebracht worden waren.
Besonders stolz war Doktor Heller auf sein Werk. Die elektrischen Anlagen waren mustergültig. Heller rühmte sie nicht – er trat gern bescheiden auf – aber er kam bei dem Rundgange doch immer wieder auf sie zurück. Das ungeheure System der elektrischen Linien erleuchtete nicht nur das ganze Haus, sondern verband auch telephonisch alle Etagen. Elektromotore trieben die Fahrstühle und die Maschinen. Das war ein imponierender Anblick, diese Maschinenhalle. Noch ruhten die Kräfte. Aber Düren, der schweigend zwischen der behäbigen Gestalt Nathansohns und der eleganten Erscheinung Hellers stand, sah sie bereits in Bewegung, sah sie arbeiten und hörte ihr Dröhnen und Fauchen. Alles glänzte und leuchtete. Alles war neu, war erst vor kurzem aus Augsburger Fabriken hierher geschafft worden. Da standen in einer Reihe zwölf Rotationsmaschinen, darunter sechs Zwillingsmaschinen. Sie hatten im Jahr an hundertundfünfzig Millionen Papierbogen zu bedrucken. Das entsprach, die Seiten aneinander gereiht, ungefähr einer Länge von hundertundzweiundsechzig Millionen Meter, so daß man das Papier viermal um den Aequator hätte legen können. Diese kolossalen Papiermassen entstammten einer Fabrik in der Umgegend Berlins, die von der Dürenschen Gesellschaft angekauft worden war, um Uebervorteilungen und unpünktlichen Lieferungen zu entgehen, und wurden nach ihrem Eintreffen in großen Kellereien nach dem Innenhofe zu abgelagert.
Die drei Herren schritten plaudernd weiter. Im dritten Setzersaal interessierte sich Nathansohn lebhaft für einige neue Setzmaschinen, die Düren probeweise einführen wollte. Der Setzer arbeitet an diesen »Linotypen« wie der Maschinenschreiber an einer Art Klaviatur, und zu gleicher Zeit wird infolge einer sinnreichen Verbindung der Matrizenreihe mit einem Kessel voll flüssigen Bleis jede fertige Zeile automatisch gegossen. Düren erzählte, daß man nur gut geschulte und besonders intelligente Kräfte an diesen sehr subtil konstruierten Setzmaschinen verwenden könne, da jede Korrektur die Neuherstellung der ganzen Zeile verlange. Andrerseits aber leiste die Maschine auch die verdreifachte Arbeit eines einzelnen Setzers.
Es gab in diesen Souterrainräumen mit ihren großen Bogenfenstern, vor denen überdies mächtige Reflektoren die Lichtfülle sammelten und zurückstrahlten, viel zu sehen. Besonders das Interesse des dicken Nathansohn wuchs bei dem Rundgang; er vertrat hier gewissermaßen die Gesellschaft, und das, was man ihm zeigte, war auch sein Eigentum: sein Kapital steckte mit in diesen Mauern. Das war ja freilich auch drüben der Fall gewesen, im Hause der Volckers. Aber – er wußte selbst nicht so recht, woran es lang: hier gewährte ihm das alles eine ganz andre Freude als dort; er war beim »Volksboten« hundertmal mehr bei der Sache, als er es beim »Morgenblatte« gewesen – vielleicht nur, weil er hier die »glücklichere« Hand walten sah, vielleicht auch, weil er wußte, daß Freund Düren ihm immer eine freie Ecke im Börsenteil reservieren würde. Warum auch nicht. Die Firma Nathansohn stand fest und ihr Ruf war fleckenlos. Faule Schiebungen und häßliche Transaktionen gab es bei ihr nicht. Hatte man also einmal den Wunsch, irgend ein neues Papier oder eine neue Emission, ein neues industrielles Unternehmen in den Vordergrund der geschäftlichen Interessen gerückt zu wissen, so konnte das weder dem Blatte noch dem Leserkreise schaden. Ganz gewiß nicht. Düren konnte beruhigt das Winkelchen im Handelsteil freilassen …
Nathansohn nickte befriedigt, als er daran dachte. Er sprach wenig; er hörte zu. Düren gab den Erklärer ab. Hier die Setzersäle für Politik und Vermischtes, daneben das Faktorenzimmer – drüben der riesige Saal für die Annoncensetzer. Dies der Raum für die Stereotypie, für das Schlagen der Matern und den Guß der Platten – Vorgänge, die bei den Setzmaschinen automatisch bewerkstelligt werden. Durch das Zimmer der Korrektoren ging es einen langen Gang hinab in die Schriftgießerei, dann hinauf in die Säle für den Accidenzdruck, die auch für den Kunst- und Farbendruck eingerichtet waren: mit Schnellpressen, Zweifarbmaschinen und Tiegeldruckpressen für kleinere Aufträge. Weiter in die hellen, freundlichen Zimmer der Zeichner; denn die Spezialität des »Volksboten«: die aktuellen Bilderchen, sollte auch fernerhin beibehalten werden. Das interessierte die große Masse. Man wollte wissen, wie der neue Minister aussah, wie es bei der Grundsteinlegung dieses oder jenes Denkmals zugegangen war, welche Toilette Fräulein Groß bei der Premiere der »Charakterlosen« getragen hatte. Es war viel bequemer, sich das im Bilde vorführen zu lassen, als es in langer Beschreibung zu lesen. Recht so, hatte sich Düren gesagt, meine neue Zeitung soll auch ein Bilderbuch für euch sein …
Nun noch einmal hinab in das tiefste Souterrain. Der Fahrstuhl führte die Herren in wenigen Augenblicken in das unterirdische Reich der Transmissionen. Jetzt wurde auch Doktor Heller lebhaft. Seine Arme beschrieben einen weiten Kreis, als wolle er die hochgewölbten Räume mit ihren gigantischen, blitzblank schimmernden Maschinen umfassen und sagen: das alles sind wir … In den ungeheuren Räumen hallten die Schritte im Echo wider. Da war der Saal für die Haupttransmission mit der cyklopischen, vierhundertpferdigen Verbunddampfmaschine und dem artesischen Brunnen; da die Keller für die Dynamos und den Accumulatorenbetrieb, für die Zwillingsdampfmaschinen, die Dürrkessel, die Gasmotoren und Gasometer. Von diesem Oktogon aus wurde die Warmwasserheizung reguliert; daneben lag die einem gotischen Kirchenschiff ähnelnde Halle, von der aus teils durch Wasser, teils durch Elektricität betriebene Ventilatoren den Wechsel und die Reinigung der Luft im ganzen Hause besorgen sollten. Noch andre große Räume dehnten hier unten sich aus; Lagerstätten für die Kohlen und das Maschinenöl, für die Wasserfilter und Speisepumpen, Reparaturwerkstätten und eine vollständig eingerichtete Schlosserei. Es war eine Welt für sich. Und alles blitzend in seiner jungfräulichen Neuheit – und überall eine Totenstille.
»Vier Wochen später,« sagte Nathansohn, – »da beginnt hier das Leben …«
Ja – vier Wochen später. Düren reckte sich, und in seine hellen Augen trat ein fieberischer Glanz. Er hätte die Zeit beflügeln mögen. Wie schlich sie dahin! Wie endlos lange dauerte dieser Bau! Seit Monaten saß er den Architekten auf den Fersen und drängte und hetzte. Täglich kam er hierher. Alles ging ihm zu langsam. Am liebsten hätte er selbst Hand an das Werk gelegt und nach Kelle und Mörtel, Meißel und Beil gegriffen. Diese endlosen Konferenzen mit hundert Lieferanten! Mit Tapezier und Möbelhändler, Schlosser und Linoleumfabrikanten, mit Schulze und Müller und Meyer und Cohn! Er schlief nicht mehr; er sprach laut im Traum. Seine Nerven waren wie in ständiger Erzitterung. Und doch behielt er immer seinen kühlen Kopf, seine Thatkraft und seine Zähigkeit; auch das heitere Lächeln auf seinem hübschen Gesicht …
»Also gehen wir weiter,« sagte Doktor Heller.
Im Parterregeschoß lagen die Bureaux und Magazine der Zeitungsexpedition, die Inseratenannahme, der »Kundenraum« – eine Art Wartesaal – die Wohnung des Portiers sowie eine besondere »Auskunftei«. Der erste Stock war für die Redaktion reserviert, im zweiten und dritten befanden sich die Konferenzzimmer und die Bureaux des Verwaltungsausschusses und ferner die Wohnung Dürens. Er war persönlich anspruchslos und hatte sich bisher mit einem kleinen Mietsquartier in der Köpenickerstraße beholfen. Nun aber wollte er auch im Hause seiner Zeitung wohnen. Vorläufig wenigstens – wenigstens so lange, bis auch die neue Organisation ins Rollen gekommen war, bis der »Volksbote« in das zweite Hunderttausend seiner Abonnenten hineinmarschierte. Dann erst, wenn die Grundsäulen so sicher standen, daß keine Erschütterung mehr dem großen und stattlichen Bau schaden konnte – dann durfte man an eine bequemere Zukunft denken …
Nathansohn und Heller waren müde geworden. Aber Düren schleppte sie erbarmungslos weiter. Sie mußten auch noch die Bodenräume besichtigen und schließlich mit ihm auf das flache Dach steigen … »Brrr,« machte der Bankier und schlug seinen Pelzkragen hoch, – »etwas luftig hier oben …«
Düren spürte nicht den Tauwind, der über die Stadt wehte. Er war dicht an die das Dach umspannende Balustrade getreten und hier stehen geblieben. Tief unten rauschte und brandete das Leben der Weltstadt, und in dem sich ineinanderschiebenden Gewirr von Straßen, Plätzen und Gäßchen lebte und regte sich fiebernde Arbeitslust. Das ganze wimmelnde Menschenmeer war nur von dem Gedanken an die Arbeit des Tages erfüllt, der im leisen Tönen der Telegraphendrähte, im Surren des Telephonnetzes, im Rollen der Wagen, dem Geläut der Straßenbahnen, den hundert Geräuschen des großen Verkehrs zu lauten Accorden wurde. Und eine gewaltige Arbeitsfreude war es auch, die auf Dürens Antlitz den Ausdruck siegenden Triumphes widerspiegelte. Die Arbeit hatte ihn emporgeschnellt und in die Höhe getragen, so daß er nun auch den Kampf mit denen da drüben aufnehmen konnte, die den armen Petenten von ihrer Schwelle gewiesen hatten … Er hörte nicht, wie Nathansohn mit einem spöttischen Blick auf ihn Heller in das Ohr flüsterte: »Sehen Sie, Doktor – Polykrates! …« Er schaute sinnend hinüber nach dem Volckerschen Geschäftshause. Er haßte die Leute nicht; er haßte niemand. Aber in Konkurrenz mit ihnen treten zu können – gerade mit ihnen, die die Solidität des deutschen Verlagshandels verkörperten – das erfüllte sein Herz mit Freude. Er wußte, die »Soliden« schauten ihn ziemlich verächtlich über die Schultern an. Die Volckers würden sich geschämt haben, ihn »Kollege« zu nennen. Das konnte anders werden. Da drüben war nicht alles so, wie es sein sollte. Es bohrte ein Wurm im Gebälk. In den Fundamenten zeigten sich Risse. Es ging langsam bergab – er aber stieg bergan. Sein »Klatschblatt« trug ihn – und das Blatt der vornehmen Gesinnung zog die Volckers allgemach in die Tiefe. Was wiegt die Gesinnung auf dem Weltmarkt!? …
»Herr Düren,« sagte Nathansohn, »nichts für ungut, aber ich bin kein Alpenfex und an die Höhenluft nicht gewöhnt. Freilich, es ist hübsch hier oben. Man übersieht die ganze Friedrichstadt. Aber ich möchte mir die Fortsetzung des Anblicks doch lieber für einen Sommertag aufheben, wenn Sie erlauben, und jetzt wieder erdenwärts pilgern.«
»Außerdem ist Frühstückszeit,« fügte Doktor Heller hinzu, »und ich muß sagen, der Spaziergang durch Ihr Reich, Herr Düren, hat mir Appetit gemacht.«
Düren schlug vor, in die nahe gelegene Huppkasche Weinstube zu gehen. Noch unterwegs sprach er von allerhand neuen Plänen.
»Es ist nicht leicht,« sagte er, »die fest eingebürgerte alte und zum Teil auch ganz gute Parteipresse aus dem Sattel zu heben. Der Berliner Spießbürger, vom Weißbierwirt bis hinauf zum Geheimrat, schwört ebenso auf seine Tante Voß wie der Feudale auf seine Kreuzzeitung. Gewiß, man kann die Konkurrenz mit diesen Blättern aufnehmen – die beiden als Typen gedacht – aber man kann sie nicht vernichten. Das geht nicht. Sie haben ein viel zu festes Stammpublikum –«
»Pardon,« fiel Nathansohn ein; »das hatte seiner Zeit Merckels ›Freimütiger‹, hatte der ›Beobachter an der Spree‹, hatte die ›Spenersche‹ auch. Die alten braven Blätter hatten alle ihr sogenanntes Stammpublikum – und es ist ihnen endgültig doch nicht treu geblieben. Die neue Zeit hat neue Menschen geboren –«
»Und deren Geschmack wußten jene ›alten braven Blätter‹ nicht mehr zu treffen. Richtig, Herr Kommerzienrat. Das ist es. Das ist der einzige Punkt, an dem die Konkurrenz zu fassen wäre. Sie wandelt ihren alten Schlendrian weiter und pocht allzusehr auf die Langmut und auch auf den Gewohnheitsdusel ihrer Abonnenten. Nun kommen wir mit Neuem, mit ganz Neuem. Was schiert es mich, ob die großen Lessings auf ihren kurulischen Sesseln die neue Art als unjournalistisch, als Schand- und Klatschpresse verurteilen! Wie hat man ehedem über Kotzebue und Seyfried geschrieen. Der Erfolg ist der einzig maßgebende Faktor –«
»Ist er,« bestätigte Nathansohn kopfnickend.
»Und wir haben ihn für uns. Vielleicht ist noch manche Krise zu überwinden. Die eine habe ich hinter mir. Ich werde auch über weitere hinauskommen. Es ist beim Zeitungswesen wie bei der Kriegführung. ›Geld, Geld, Geld‹, hat Montecuculi gesagt. Nachpulvern, wenn einmal ein Riß, eine Stockung entsteht. Und immer Tamtam, immer die Trommeln gerührt, immer Fanfare geblasen. Das Publikum darf nicht ahnen, wenn ein Stillstand oder Rückgang kommt. Was ist denn das Publikum? Eine erzdumme Gesellschaft, die glücklich darüber ist, wenn man ihr Sand in die Augen streut. Was ist denn das Publikum? Ein großes Kind, das immer nach Neuem verlangt. Unsre Gegner sagen, wir verschlechterten den Geschmack der Menge. Unsinn. Wir accommodieren uns einfach ihrem Geschmack. Zum Beispiel: einen psychologisch fein ausgeführten sogenannten Milieuroman in sechzig Feuilletonfortsetzungen zu bringen, ist einfach Unsinn. Das ermüdet den Leser und dient auch dem Autor nicht. Ein Zeitungsroman verlangt äußerste Spannung. Die französischen Boulevardblätter haben das schon vor dreißig Jahren eingesehen; da war Ponson du Terrail ihr Mann.«
»Schrecklich!« warf Doktor Heller lachend dazwischen.
»Lieber Doktor, eine Zeitung ist ein andres Gewächs als ein Buch. Sie dient dem Tage, soll und will ihm allein nur dienen. Ein Buch kann unter Umständen einen Ewigkeitswert haben. Das Buch stellt man in die Bibliothek; die Zeitung liest man und wirft sie dann fort. Und wie liest man sie?! Nicht wie ein Buch, nicht mit konzentrierter Aufmerksamkeit und Zeile für Zeile. Man durchfliegt sie, und nur hier und da bleibt der Blick interessierter haften. Deshalb habe ich die vielseitige Gliederung des Stoffes eingeführt: hundert Abschnitte an Stelle von dreien – Überschriften und Schlagworte und Stichmarken – alles leicht zu überschauen und sicher für jeden etwas.«
»Amerikanische Art,« fiel Doktor Heller abermals ein.
»Man nimmt das Gute, wo man es findet. Ich weiß wohl, ich diene auch damit nicht jedermanns Geschmack. Aber doch dem Geschmack der Mehrzahl. Und die Majorität hat immer recht. Zu ihr gehören vor allem die Frauen. Ich habe es durchsetzen können, daß man den ›Volksboten‹ vielfach neben den sogenannten ernsten Blättern hält – sozusagen als Dessert nach der schwereren Kost. Das ist der Anfang. Aber ich gehe weiter. Ich werde mir auch die Herren der Schöpfung erobern – nicht den kleinen Mann – den habe ich schon auf meiner Seite – auch die oberen Zehntausend. Sie sollen sich wundern, wie ich meine Berichterstattung im Auslande organisiert habe. Bei jeder wichtigeren Nachricht lasse ich Extraausgaben drucken und gratis verteilen. Gratis – das ist die beste Propaganda. Ich engagiere mir einen Trupp Ausrufer mit festem Gehalt. Von früh bis spät soll der Ruf ›Volksbote‹ durch die Straßen gellen. Die Menschheit muß ihn hören; das Ohr soll sich an das Wort gewöhnen. Es soll dahin kommen, daß der Passant, der den Ruf ›Volksbote‹ hört, unwillkürlich zusammenzuckt – daß unwillkürlich die Frage in ihm auftaucht: was ist da wieder Neues passiert? – Verstehen Sie, meine Herren: ›Volksbote‹ und Neuigkeit, das sollen sozusagen synonyme Begriffe werden …«
»Ein Teufelskerl,« murmelte Nathansohn. Doktor Heller hatte nur zugehört; er sagte gar nichts. Er war ein außerordentlich tüchtiger Geschäftsmann und hatte es durchzusetzen gewußt, daß sich auch die Elektricitätswerke, die er vertrat, an der Gesellschaft Düren beteiligten. Denn er war von der Prosperität der Dürenschen Unternehmungen fest überzeugt. Aber er war ein viel zu fein gebildeter Mann, um den groben Mitteln, mit denen der »Volksbote« arbeitete, Geschmack abgewinnen zu können. Er gehörte nicht zur »Majorität«.
Die drei Herren traten in die Weinstube. Am Fenster sahen sie Hans Volcker sitzen, der hier häufig zu frühstücken pflegte, wenn es ihm an Zeit gebrach, nach Hause zu fahren. Die Begegnung war Nathansohn unlieb. Seit er seinen Anteil am »Morgenblatt« verkauft hatte, mied er die Volckers. Nichtsdestoweniger that er sehr erfreut, drückte Hans mit warmer Herzlichkeit die Hand und unterhandelte dabei gleichzeitig mit dem Kellner! »Ja, Rinderbrust, aber nur, wenn sie auf der Zunge zerfließt. Gut, das Befinden, verehrter Herr Volcker? Und der kleine Prinz? Zuerst ein Glas Sherry, Kellner …«
Auch Düren hatte Hans begrüßt, mit etwas zurückhaltender Höflichkeit, doch gleichfalls mit einem Handschlag. Dann nahmen die drei Herren am Nebentische Platz. Hans hatte sein Frühstück beendet und wollte nur noch seinen Wein austrinken. Die Unterhaltung von Tisch zu Tisch bewegte sich in ziemlich kurzen Sätzen.
»Wann werden Sie Ihren Einzug in das neue Haus halten, Herr Düren?«
»Anfang April, Herr Volcker.«
»Ah – schon? Da wird man sich beeilen müssen.«
»Wenn wir keinen Frost mehr bekommen, geht es im Galopp. Ich habe übrigens kein andres Obdach. Am ersten Mai übernimmt der Fiskus das alte Haus in der Köpenickerstraße.«
»So, so …« Hans hob sein Glas … »Also auf gute Nachbarschaft, Herr Düren!«
»Auf gute Nachbarschaft, Herr Volcker …«
Hans stand auf und empfahl sich. Nathansohn war ihm plötzlich überaus widerwärtig geworden. Dieser dicke Schacherjude lief immer nur dem Erfolge nach. Dem Erfolge – es war zum Lachen. Ein solches elendes Juxblatt – und an hunderttausend Auflage! –
»Holla!« sagte eine Stimme vor ihm. Es war Graf Vließen, in modefarbenem Ulster, einen aufgespannten Regenschirm über dem blanken Cylinder haltend. »Ich habe Glück. Wollte eben auf fünf Minuten zu Ihnen heraufspringen.«
»Bitte, lieber Graf. Es wird mir eine Freude sein.«
»Sie wollten ein Paar guter Traber kaufen, nicht wahr?«
»Wollte – ja – aber … Ich habe kein Glück in meinem Stall. Trotzdem: haben Sie ein Traberpaar zur Hand?«
Vließen erzählte, Prinz Inningen wolle seine prächtigen Goldfüchse verkaufen. Er fordere zwar ein Sündengeld, aber darüber würde sich ja reden lassen. Und ganz beiläufig fügte er an, seinen Arm unter den Volckers schiebend und vertraulich werdend: »Hören Sie mal, lieber Hans, Sie könnten mir einen großen Gefallen thun. Ich muß Gelder flüssig machen, weil – weil ich fort will. Wenigstens wahrscheinlich. Ich präliminiere noch mit Huhnholtz. Aber meine Kapitalien liegen fest. Wollen Sie mir nicht meine Anteile am ›Morgenblatt‹ abnehmen? Ich möchte sie nicht auf dem großen Markt losschlagen; das sieht – sieht wunder wie aus …«
Hans war unwillkürlich blaß geworden. Die siebzig- oder achtzigtausend Mark, die Vließen zurück haben wollte – das war das Wenigste. Die wurden von heute zu morgen geschafft. Aber es sprach etwas wie Mißtrauen aus dem ganzen Gehaben des Grafen. War es im Grunde genommen nicht berechtigt? Den Aktionären des ›Morgenblatts‹ war zwar eine hoffnungsvolle Dividende prophezeit worden, aber bis jetzt war es bei der Prophezeiung geblieben. Sie konnten zufrieden sein, wenn man ihre Einschüsse mit zwei Prozent verzinste. Und ging es so weiter, dann fiel auch diese Verzinsung fort. Man stand vor einer bösen Krise. Plötzlich schoß Hans ein unangenehmer Gedanke durch den Kopf. Seines Wissens war Nathansohn der Bankier Vließens. Wollte der unersättliche Mensch auch Etienne in das feindliche Lager hinüberziehen – zu dem Schandblatt da drüben? …
Er lächelte. »Lieber Vetter,« entgegnete er, »wir nehmen Ihnen jederzeit Ihre Anteilscheine wieder ab. Und zwar mit tausend Freuden, denn wir suchen möglichst viel Anteile in unsre Hände zu bringen. Lassen Sie morgen die Papiere an unsrer Hauptkasse präsentieren …« Und als Vließen ein Dankeswort sagte, fuhr er lebhaft fort: »Aber nein – Sie thun uns ja einen Gefallen, Etienne – nicht wir Ihnen … Kommen Sie noch einen Augenblick mit hinauf?«
Die beiden standen jetzt vor dem Volckerschen Hause. Vließen war es zu spät geworden; ihm fiel ein, daß er noch eine Verabredung hätte. Er reichte Hans zur Verabschiedung die Hand. Dabei wies er auf den Neubau des »Volksboten« hinüber.
»Was sagen Sie zu dem Konkurrenten?« meinte er.
»Nichts, lieber Graf. Uebrigens heute ebensowenig unser Konkurrent wie je. Kann ein Kolportageroman mit einer Novelle Paul Heyses oder ein Volksstück draußen im Ostendtheater mit einem Drama Wildenbruchs konkurrieren? … Aber allerdings: der neue Palazzo da drüben beweist wieder einmal, daß es noch immer einträglicher ist, der großen Menge Konzessionen zu machen, als sie zu einem geläuterten Geschmack heranzuziehen …«
Vließen trat in diesem Augenblick ein wenig zur Seite, um ein junges Mädchen in das Hausportal zu lassen. Die kleine Blondine stutzte, als sie Hans erblickte, und dann schoß ein glühendes Rot in ihre Wangen. Auch Hans wurde sichtlich verlegen, obwohl er sich zu fassen suchte. Er zog seinen Hut.
»Guten Tag, Fräulein Pawel. Wollten Sie – mich aufsuchen? …«
Die Kleine senkte die Augen und zupfte an Ihren Handschuhen. Sie war unsäglich verwirrt.
»Ja, Herr Volcker,« flüsterte sie, während Graf Vließen sich diskret etwas zurückzog. »Nur auf wenige Minuten … Ich hätte eine große Bitte an Sie …«
»Ich würde mich freuen, wenn ich Ihnen gefällig sein könnte,« sagte Hans mit wieder völlig ruhiger Stimme. »Bitte, gehen Sie voran und erwarten Sie mich im Sprechzimmer …« Dann wandte er sich an Vließen zurück. »Addio, bester Graf. Also morgen an der Hauptkasse. Zwischen Zwei und Drei, wenn ich bitten darf …«
Vließen nickte und schielte dem kleinen Fräulein nach. Die Hausthür war offen stehen geblieben. Man sah, wie das Mädchen mit gesenktem Kopfe die Treppe hinaufstieg. Vließen schmunzelte, glättete seinen Bart, spannte wieder seinen Regenschirm auf, denn es rieselte noch immer feucht durch die Luft, und ging weiter. Er hatte so seine eigenen Gedanken. Wenn man den Hans Volcker auch noch auf kleinen Eskapaden erwischen könnte – das würde den Sieg bei Gerda erleichtern helfen. Ja – den Sieg, sagte sich Vließen und machte in Gedanken ein Fragezeichen hinter den Satz. Er zweifelte daran, aber träumte davon. Diese Hoffnung auf eine Abscheulichkeit bildete einen Lichtpunkt in der grauen Leere seines Lebens.