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Graf Etienne Vließen hatte zu Hause gefrühstückt. Das kam nicht oft vor. Er scheute diese prunkvolle Häuslichkeit, deren gleißender Schimmer ihn um so mehr anwiderte, je öder und zerfallener es in seinem Innern wurde. Wochenlang war er auf Reisen; er dehnte seine Jagdausflüge nach Möglichkeit aus, besuchte Freunde in Kurland, fuhr wohl auch einmal auf vierzehn Tage nach Monte Carlo oder Paris, verlebte seine Tage im Klub und auf den Rennplätzen – ohne sichtliches Interesse – nur, um seiner entsetzlichen Häuslichkeit zu entgehen.
Denn diesem Heim fehlte die wärmende Seele. Etienne hatte geglaubt, auch er habe keine Seele. In seinem cynischen Egoismus hatte er, als er um Minna Düren gefreit, sich selber für schlechter gehalten, als er thatsächlich war. Das strafte sich. Er war nur verkommen – und er fühlte, daß er an der Seite seiner Frau mehr und mehr verkam …
Es war seltsam. Die Frau störte ihn kaum. Sie ließ ihn leben, wie er wollte. Sie hatte niemals ein böses Wort für ihn. Sie that, was er wünschte; begleitete ihn in die Gesellschaften, wenn er es verlangte, und blieb ebenso willig daheim, wenn er irgend einen beliebigen Grund dafür fand. Sie lag mit ihrer ewigen Migräne viel im verdunkelten Zimmer, verträumte die Tage und zeigte sich nur, wenn er mit ihr zu Hause dinierte. Dann saß sie ihm stumm gegenüber, mit dem häßlichen rotfleckigen Gesicht, das sie selbst zu genieren schien, denn sie hielt gewöhnlich die Augen niedergeschlagen. Sie sprach immer nur, wenn Etienne sie anredete. Sie hatte keinerlei Interessen, und wenn sie antwortete, machte es den Eindruck, als falle ihr auch das Sprechen schwer.
Für den beweglichen Geist Etiennes war das eine wahrhafte Tortur. Er war immer noch der äußerlich tadellos ritterliche Gatte, von korrektem Benehmen und liebenswürdiger Galanterie. Aber das leise Mitleid, das er anfänglich für diese arme, häßliche Frau empfunden, verschwand allgemach. Er begann sein Weib zu hassen. Zuweilen haftete sein Blick mit einem Ausdruck von grenzenloser Bitterkeit auf Nina – »Nina« nannte er sie noch immer. Es lag ein harter Vorwurf in diesem Blick, der zu sagen schien: du bist genau so verworfen wie ich; du wußtest, daß ich nur deines verfluchten Geldes halber um dich anhielt; weshalb nahmst du mich?
Weshalb? fragte auch jetzt sein Blick, da der Diener das Dessert abräumte und Gatte und Gattin sich wieder einmal stumm gegenübersaßen. Die Gräfin hatte die Augen gesenkt. Das rechte Lid fiel tiefer herab als das linke. Es war die Seite, auf der sie die Schmerzen der Migräne heimzusuchen pflegten; die halbe Stirn war von einer fliegenden Röte bedeckt. Aber sie klagte nicht. Ihre Finger waren mit Brillantringen geschmückt; sie zitterten nervös, so daß die Ringe zuweilen mit leise klopfendem Geräusch aneinanderschlugen.
»Also –« sagte Etienne und erhob sich. »Trinkst du den Kaffee in meinem Zimmer, Nina?«
»Sehr gern,« erwiderte sie und stand gleichfalls auf. Der Diener öffnete die Thür zum Herrenzimmer, aus dem Möbelhändler und Dekorateure ein wahres Wunder an traulicher Vornehmheit geschaffen hatten.
»Gestattest du?« sagte Vließen und griff nach dem Cigarettenkasten. Aber er besann sich. Sein Auge glitt prüfend über ihr Gesicht.
»Du hast wieder Kopfschmerzen, Nina?«
»Ein wenig, Etienne. Aber das thut nichts. Der Rauch stört mich nicht …«
Er stellte die Cigaretten wieder fort. »… Es ist unrecht, daß du dich nicht einmal ernsthaft in ärztliche Behandlung begibst, Nina,« meinte er.
»Ich bitte dich – es nützt ja doch nichts.«
»Das sagst du immer. Du solltest nicht so trotzköpfig sein.«
»Ich trotzköpfig? … Gut – ich will mit dem Arzte sprechen. Er wird mir wieder Höhenklima verordnen. Und du –«
»Ich liebe die Berge im allgemeinen nicht. Sie erdrücken mich. Ich ziehe die See vor – das ist wahr. Aber was schadet das! … Ich – weißt du, daß ich mich ernstlich mit dem Gedanken trage, mich der nächsten Expedition des Doktor Huhnholtz anzuschließen? …«
Sie hatte sich müde in einem großen, mit grünem Leder überzogenen Sessel niedergelassen und nahm den Kaffee, den ihr der Diener präsentierte. Dabei zitterten wieder ihre Hände.
»So –?« sagte sie scheinbar gleichmütig. »Nach Afrika?«
»Ja, Kind. Ich halte das unthätige Leben auf die Dauer nicht länger aus. Du weißt ja, daß ich mir überall Beschäftigung gesucht habe: im Sportleben, in der Politik, sogar im Zeitungswesen … Ach, dieses unglückselige ›Morgenblatt‹! … Na, also – das alles befriedigt mich nicht …« Er zerbrach zwischen seinen Fingern die Cigarette, die er aus der Kassette genommen hatte, und warf die Reste in die Aschenschale. »… Da hat mir nun der Huhnholtz den Vorschlag gemacht, ihn zu begleiten. Ich möchte zusagen, wenn – wenn du nichts dawider hast …«
Sie richtete sich ein wenig empor und saß nun kerzengerade im Sessel. In der weiten Matinée, die sie trug, fiel ihre brennende Magerkeit weniger auf. Sie sah Etienne nicht an, sondern zuckte nur mit den Schultern, als sie entgegnete: »Was sollte ich wohl dawider haben …« Aber plötzlich wandte sie sich nach ihm um. Es ging wie ein starkes Beben durch ihren Körper. Sie stand langsam auf. »Nein, Etienne,« fuhr sie fort, »ich habe nichts gegen diese neue Reise. Sie wird dich vielleicht ein Jahr fern von Europa halten, vielleicht auch länger – aber das thut nichts … Ich kann dann ja einmal im Hochgebirge leben, wie mir der Arzt verordnet hat … Und ich glaube, daß auch dir die Expedition nach Afrika sehr gut thun wird. Du brauchst – energische Abwechslungen. Ja, Etienne – ich – ich bin sehr dafür …«
Das Wasser schoß ihr plötzlich in die Augen, und ein paar große Thränen rannen über ihre Wangen. »Entschuldige,« sagte sie mit sanftem Lächeln, »die Migräne wird stärker – es ist doch schon besser, ich ziehe mich zurück …«
Sie ging. Nun zündete Etienne sich die Papyros an, nach der er sich sehnte. Aber das ging langsam. Er hielt das Streichholz so lange in der Hand, bis die Flamme ihm fast die Finger sengte. Er war nachdenklich geworden. Ihm schien, als wäre seine Frau ganz froh, ihn einmal für längere Zeit los zu sein. Das beruhte auf Gegenseitigkeit … Ein grimmiges Lächeln zuckte um seinen Mund.
Draußen fuhr ein Wagen vor. Vließen sah vom Fenster aus, wie unten vor der Hausthür das Coupé Nathansohns hielt und wie sich der dicke Bankier schwerfällig durch die Wagenthür zwängte.
›Will der zu mir?‹ fragte sich Etienne … Ja, es war so. Der Herr Kommerzienrat ließ um eine kurze Unterredung bitten. Er war, wie immer, im offenstehenden schwarzen Ueberrock und praller weißer Weste und, wie immer, in großer Eile. Auch schnaufte er gewaltig.
»Nur so en passant, lieber Graf,« sagte er beim Eintreten. »Ich störe doch nicht?«
»Nie, mein bester Kommerzienrat. Ich bin nicht so beschäftigt wie Sie …«
Nathansohn lachte dröhnend und ließ sich in einen Fauteuil fallen, so daß das massive Eichenholz krachte.
»Glaub's! Chacun à son goût. Wenn ich nicht ewig in Rage bin, fühl' ich mich krank. Hetzjagd, das ist mein Element. Andre Leute klappen dabei zusammen – mich hält der Wirbel der Geschehnisse elastisch.«
»Bin auch nicht für die ewig ruhenden Pole, Kommerzienrat. Ich möchte wieder auf Reisen gehen.«
»Recht so. Huhnholtz rüstet wieder, hör' ich. Ich kann ihn nicht leiden – rein persönlich. Ich liebe die Art nicht. Aber die Sache unterstütze ich immer. Ich bin Kolonialmensch aus Neigung für das Spekulative. Alles Kecke und Verwegene lockt mich, wenn es großzügig ist. Auch in der Politik. Ja, auch in der Politik. Ihre großen Schläge sind immer nur gelungene Effekte waghalsiger Spekulation gewesen. Fanfaren und Chamaden. Hazard ist alles. Notabene, das einzige Hazard, das ich gründlich verachte, ist das mit Karten und Würfeln. Das ist gar zu kleinlich. Aber im Leben –«
Er hielt inne, schnaufte und suchte sein ungeheuer großes rotseidenes Taschentuch hervor.
Etienne war neugierig geworden. Was wollte der dicke Mann? Er kannte seine Art und Weise. Nathansohn liebte lange Einleitungen.
»Eine Cigarre, lieber Kommerzienrat?«
»Nein, ich danke. Nicht vor dem zweiten Frühstück … Graf Vließen, hören Sie: ich will mich vom ›Morgenblatt‹ zurückziehen. Es paßt mir nicht mehr. Es ist nichts. Große Ideen, aber unsäglich klein in der Ausführung. Ich werde meinen Kündigungstermin wahrnehmen …«
Also das war es. Etienne griff nach einer neuen Cigarette, lehnte sich bequemer in seinen Sessel zurück, schlug die Beine übereinander und lächelte.
»Sixt,« sagte er, »also doch … Kommerzienrat, ich habe das erwartet. Früher oder später mußte es so kommen. Die Tendenzen des Blattes sagen Ihnen nicht zu – was?«
»Tendenzen?! Lieber Graf – ah bah! … Was heißt Tendenzen? – Ich bin mehr konservativ als liberal. Das Judentum – en gros – ist nur durch die Zeitströmungen in das demokratische Fahrwasser gedrängt worden. Seiner ganzen Tradition nach ist es ultrakonservativ. Gott bewahre, gegen die politische Tendenz des ›Morgenblatts‹ habe ich gar nichts. Aber viel gegen seine Langweiligkeit – und noch mehr gegen seine Berichterstattung auf dem Gebiete des Handels. Kostet mich mein gutes Geld, dieses Blatt, und prügelt mich dafür. Indirekt. Eine Beschränkung der Börsenfreiheit ist heller Blödsinn. Schauen Sie nach England hinüber. Schimpfen Sie auf das Krämervolk, so viel Sie wollen, aber gestehen Sie zu, daß seine industrielle Machtentwicklung aller Achtung wert ist. Knebel und Handschellen kennt man da nicht …« Er sprach weiter, während er sein großes rotes Schnupftuch in der Hand behielt und zuweilen einen pfeifenden Luftstrom durch die Nase stieß. Er erzählte von der konservativen Tagespresse Londons, jenen Riesenorganen, die Millionen abwerfen und ihre Aktionäre zu reichen Leuten gemacht haben. Die Millionen fließen nicht aus den Abonnements, sondern aus dem Börsenteil und den Inseraten. Und von den Inseraten sind wieder diejenigen die ertragreichsten, die durch das Medium der Börse wandern. Die Annoncenaufträge der Banken bringen Ströme von Gold ins Rollen. Und da ist man nicht kindisch und kleinlich. Das subjektive Empfinden der Redakteure spricht nicht mit … »Im übrigen, Graf Vließen – das ist es nicht allein. Ich bin ein guter Geschäftsmann – auch insofern, als ich an meinen Geschäften Freude haben will. Freude heißt nicht in jedem Falle Verdienen. Auch ein Verlust kann mir unter Umständen einmal Spaß machen. Aber ich muß etwas davon haben: ein Gefühl innerer Befriedigung. Ich bin kein Poet, kann mir indessen sehr wohl denken, daß einem Dichtersmann gerade dasjenige Werk seiner Muse am meisten am Herzen liegt, das der großen Menge durchaus nicht gefallen will. Er hat aus voller Seele an der Sache gearbeitet und empfunden: sie ist gut; ein Genuß war ihm diese Arbeit. So will ich's auch haben. Na – und – beim ›Morgenblatt‹ mitzumachen, ist mir schon längst kein Genuß mehr. Also schnappe ich …«
Etienne zerstreute mit der Hand die Rauchwölkchen seiner Cigarette. Das war sicher noch nicht alles, was Nathansohn ihm zu sagen beabsichtigte. Er war nicht hergekommen, zu erzählen, daß er seinen Anteil am »Morgenblatt« kündigen oder verkaufen wolle. Es mußte noch weiteres folgen. Eine unbehagliche Ahnung überschlich Vließen. Er fixierte Nathansohn scharf und fragte, während er sich langsam erhob: »Wollen Sie sich bei – bei irgend einem andern Blatt engagieren, Herr Kommerzienrat? …«
Auch Nathansohn stand auf und knöpfte den Rock über der weißen Weste zu.
»I ja – das möchte ich schon,« entgegnete er; »irgend eine Zeitung muß ich zur Verfügung haben, irgend ein Stückchen Papier, das für mich weiß gehalten wird … Da hat sich der Düren an mich gewandt –«
Vließen unterbrach den Sprechenden. Er lachte gezwungen auf.
»Dacht' ich mir! … Lieber Kommerzienrat, hier scheiden sich unsre Wege. Schon der Name ›Volksbote‹ erweckt ein Gefühl des Widerwillens in mir. Brr – und diesem jämmerlichen journalistischen Mäuschen wollen Sie beispringen?! Liebster, verträgt sich das mit Ihrer geschäftlichen Position und gesellschaftlichen Stellung?«
»Ja aber – mein Gott – warum denn nicht?! Warum denn nicht, frage ich Sie? – Ob der ›Volksbote‹, vom journalistischen Standpunkte aus betrachtet, etwas ganz Vorzügliches oder höchst Miserables ist, das ist mir absolut gleichgültig. Unter allen Umständen kommt das Blatt den Zeitbedürfnissen und dem großen Publikum entgegen. Unter allen Umständen macht es schon heute glänzende Geschäfte und hat eine noch glänzendere Zukunft vor sich. Jawohl, mein lieber Herr Graf, so ist es – und das ist in gewissem Sinne für mich maßgebend. Außerdem aber – ich sagte Ihnen vorhin schon: das Verdienen muß mir auch Freude machen. Dieser kleine, unbedeutend erscheinende Düren interessiert mich lebhaft. Es ist ein ganzer Kerl. Ist er. Kam mit nichts hierher und sitzt nun fest im Sattel und reitet stramm drauf los. Er hat eine feine Nase für das, was der Menge zusagt –«
»Dem Pöbel –«
»Ein andres Wort, nichts weiter. Graf Vließen, mit dem sogenannten Pöbel kajolieren ist Mode geworden. Um das Pfeifchen des kleinen Mannes hat sich lange, lange die ganze innere Politik gedreht. Wir wollen nicht streiten. Ich will Leben und Bewegung haben; ich liebe die starken Aktionen. Beim ›Morgenblatt‹ duselt man ein; anders beim ›Volksboten‹. Ich leugne nicht: ich persönlich ziehe gewähltere geistige Kost vor. Aber ich repräsentiere nicht das Volk. Es belustigt mich, wie der Düren Köder auf Köder auswirft, und sie bleiben alle hängen; er ist ein spekulatives Genie. Thut er Schlechtes? Nein. Seine Art gefällt Euch nicht. Nun – mir gefällt die der Volckers nicht. Geschmackssache.«
»Geschmackssache,« wiederholte Etienne achselzuckend. »Also, Kommerzienrat, da werden wir wohl Abschied nehmen müssen –?«
Nathansohn blieb breitbeinig vor Vließen stehen und tippte ihm mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand auf die Brust.
»Ich hoffe,« meinte er, »Sie werden mit mir gehen … Still, lieber Graf – fahren Sie nicht auf – sei'n Sie gescheit. Ich weiß schon, was Sie mir antworten woll'n. Aber zuerst haben Sie einmal die Güte, mich anzuhören …« Er setzte sich wieder … »Düren denkt an eine umfangreiche Erweiterung des ›Volksboten‹. Ich verstehe das; er ist der Mann dazu, abenteuerlich erscheinende Ideen in Thaten umzusetzen. Der eine seiner Compagnons, ein gewisser Pofahl, ist kürzlich verstorben. Nun hat er aber noch einen zweiten auf dem Halse, der ihm unbequem ist, weil er überall mitreden will: Werner heißt das Subjekt. Er verlangt eine stattliche Abfindung, wenn er austreten soll. Die wird er bekommen. Düren will sein Unternehmen in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftpflicht verwandeln, und da soll ich ihm bei der finanziellen Fundierung behilflich sein. Ich thu' es gern – und ich verpflichte mich, ihm binnen sechs Wochen ein Kapital in Höhe von drei Millionen zu verschaffen. So viel braucht er nicht – aber mir ist er sicher für mehr. Will Ihnen auch sagen, warum. Der Mann hat eine glückliche Hand. So etwas spürt unsereiner; das ist wie mit der Nase der Jagdhunde; wir wittern sozusagen, wer kreditfähig ist … Der Düren wird also gegründet. Ich rate Ihnen: machen Sie mit, Graf, wenn Sie ein paarmal Hunderttausend verdienen wollen. Ich weiß zwar, daß Sie ein reicher Mann sind –«
»Bitte,« fiel Etienne ein, mit hartem Gesicht, ohne zu lächeln, »ich habe nur eine reiche Frau –«
»Also,« sagte Nathansohn, gleichfalls sehr ernst, »um so angenehmer dürfte es für Sie sein, sich – für alle Fälle eine finanzielle Selbständigkeit zu schaffen …«
Eine leichte Röte lief über das Gesicht Etiennes. Seine Rechte liebkoste den schönen Vollbart mit gleichmäßiger Bewegung. Er überlegte: sollte er grob werden oder weiter hören … Weiter hören: das war jedenfalls das Zweckmäßigere. Er hatte bereits gelernt, sich über gewisse Gentlemansempfindungen hinwegzusetzen – wenn es ihm passend erschien.
»Sie vergessen bei Ihrem Vorschlage eins, lieber Kommerzienrat,« erwiderte er; »vergessen, daß dieser Düren ein Verwandter meiner Frau ist – leider – dem ich schon einmal ein paar tausend Thaler geboten habe, wenn er sich dafür verpflichten wolle, den Zeitungshandel zu lassen und Berlin den Rücken zu kehren.«
»Und er hat nein gesagt. Hätte ich auch gethan. Was sind ein paar tausend Thaler gegen ebensoviele Millionen! … Graf, wenn Sie sich mit Düren associieren – ich will es so nennen – dann haben Sie ihn am besten in der Hand. Der Mann ist sehr klug. Er hat mit einem Skandalblatt angefangen, um zunächst Aufmerksamkeit zu erregen. Aber aus der Sumpfpflanze soll sich Besseres entwickeln. Kennen Sie die Londoner ›Tit-bits‹? Das Blatt fing ähnlich an. Heute ist es eine Goldquelle. Ein Klatschblatt – meinetwegen. Aber auch geklatscht will sein; auch der Klatsch ist eine Macht. Man kann nicht alleweil die Ideale hochhalten. Man kann nicht …« Er hatte seine Uhr gezogen. »Sehen Sie, da hab' ich mich richtig verplaudert,« unterbrach er sich und stand auf. »Und daheim wartet Hella mit dem Frühstück. Wird mir wieder eine längere Standrede halten … Addio, Graf Vließen. Ueberlegen Sie und geben Sie mir Bescheid. Ich will Ihnen nicht zureden, aber … Addio, lieber Graf! …« Er schüttelte Etienne die Hand. An der Thür wandte er sich nochmals um. »Haben Sie keinen Einfluß auf Ihren Vetter Dittmar Dassel?« fragte er.
»Gar keinen, Herr Kommerzienrat. Warum?«
»Weil … eh, das ist ein seltsames Gemüt, Ihr kleiner Vetter. Ich habe ihm eine glänzende Stellung in einem meiner Betriebe angeboten, aber er hat sie ausgeschlagen. Er hat den verfehlten Beruf liebgewonnen.«
»Es muß auch solche Käuze geben. Im übrigen habe ich allen Respekt vor ihm.«
»Wer sagt das Gegenteil? Weil ich ihn sehr schätze – eben darum wollt' ich ihm helfen. Auf Wiederschau'n, bester Graf …«
Die Thür fiel hinter ihm zu. Etienne hörte, wie der Diener draußen in der Entree dem Kommerzienrat in den Pelz half und Nathansohn sich schnaufend entfernte.
Vließen warf sich auf die Chaiselongue und nahm die Broschüre in die Hand, die auf dem Rauchtischchen lag. Graf Dassels Vater hatte sie ihm geschickt. Es war die neueste Arbeit des alten Herrn: »Mittelstandspolitik und Landwirtschaft …« Er kämpfte nach wie vor tapfer und mit glühender Begeisterung für seine Theorieen – und derweilen verfiel seine Scholle mehr und mehr …
Etienne war nicht bei der Sache. Die Broschüre glitt ihm aus der Hand und auf die Erde. Er ließ sie liegen. Der Besuch Nathansohns beschäftigte ihn noch immer. Hinter dem großen Eifer, ihn auf die Seite des ›Volksboten‹ hinüber zu ziehen, mußte etwas Besonderes stecken. Gleichgültig, was. Jedenfalls war eine »gewisse finanzielle Selbständigkeit« nicht zu verachten. Weder die Börse noch der Turf hatten ihm bisher Glück gebracht. Er wirtschaftete lässig mit dem Gelde seiner Frau. Dies verfluchte Gold wurde zu Eisen und das Eisen zur Kette.
Zähneknirschend sprang Etienne auf und klingelte dem Diener.
»Gehpelz und Cylinder,« befahl er. Er wollte einen Spaziergang machen. Die Untätigkeit regte seine Nerven auf. Er beneidete Dittmar, der in seiner Arbeit Erholung fand, beneidete auch Nathansohn. Er beneidete alle Welt. Er fühlte sich kreuzunglücklich.
Er ging durch die Königgrätzerstraße und schlug den Promenadenweg der Tiergartenstraße ein. Hier lag das Berliner Ghetto. Hier hatte die jüdische Finanz sich ihre Paläste errichtet. Es war früh Winter geworden. In den Vorgärten der stattlichen Villenbauten standen Büsche und Bäume unter schützenden Strohhüllen. Ein leichter Reif lag über dem hart gefrorenen braunen Rasen. An allen Zweigen funkelte es krystallen. Dabei schien die Sonne hell und freundlich, und der Himmel strahlte in seiner durchsichtigen Bläue.
Vließen schritt rasch fürbaß. Er sah sehr vornehm aus in seinem kurzen Gehpelz mit der polnischen Verschnürung über der Brust; sein Schneider duldete nicht, daß er hinter der Mode zurückblieb. Das blasse, müde und gelangweilte Gesicht belebte sich in der frischen Luft. Sympathisch war es wohl nie gewesen, aber eigenartig und schön und von rassiger Reinheit. Nun hatte das Leben Falten und Krähenfüße hineingezeichnet; was schadete es! Sie standen dem alternden Löwen ganz gut. Denn daß er alt zu werden begann, fühlte Vließen. Innerlich alt und stumpf – viel zu früh. Er tobte sich immer noch zuweilen aus; er fand Freunde, mit denen er dann und wann tolle Orgien feierte – wie in seiner wüstesten Zeit. Er nannte das »seine kleinen Aufkratzer«. Aber es waren keine; er hatte die Genußfähigkeit verloren …
»Grüß Gott, Etienne!«
Das war Dittmars Stimme. Er saß in einer offenen Droschke und ließ halten, als er zu bemerken glaubte, daß Vließen eine Bewegung machte, als wolle er ihn sprechen.
Etienne trat an den Wagen heran.
»Tag, Schriftgelehrter,« sagte er. »Die plötzliche Berühmtheit hat dich wohl stolz gemacht? Was?«
»Stolz – und Berühmtheit? Große Götter! So du einen Lorbeer schaust, sag, ich laß ihn grüßen …«
Er lachte lustig dabei. Er war gleichwie in ein Verjüngungsbad gestiegen, seit der erste Erfolg ihn aufgemuntert hatte. Seine Augen glänzten; über seiner ganzen Persönlichkeit lag es wie Frühsonnenschein und tauige Frische.
»Rede mir nicht,« entgegnete Vließen. »Du, das Strafkind der Familie, bist ihr Stolz geworden – oder wächst dich dazu heraus. Ueber deine ›Spaziergänge in Japan‹ habe ich Kritiken gelesen, daß ich den Hut abgenommen haben würde, wenn ich ihn gerade aufgehabt hätte. Also rede nicht. Und nun wird noch dazu ein Roman von dir angekündigt. Heißt er wirklich ›Die Liebeslügner‹?«
»Ja, so heißt er, und ich bange mich vor seinem Erscheinen. Bertram Volcker hat ihn gelesen, weil er ihn in Verlag nehmen wollte. Aber er sagte: der Roman könne das Renommee der Firma schädigen. Er sei – zu wahr. Nun erscheint er in Stuttgart.«
»›Zu wahr‹ ist gut. Id est, du sprichst mancherlei aus, was zahme Gemüter sonst kaum zu denken wagen?«
»So ist es. Im übrigen: ich möchte dich vor einer Täuschung bewahren. Der Roman ist ehrlich, aber nicht frivol. Auch eine Frau kann ihn lesen. Nur Backfischfutter ist er nicht. Wo willst du hin?«
»Hierhin und dorthin. In die Sonne. Und du? Ich sehe, du hast Schlittschuhe bei dir.«
»Ich will Hella Nathansohn abholen …«
Vließen pfiff durch die Zähne.
»Erlaubt das der Alte?«
»Warum soll er es verbieten? Ein Kavalier bietet Schutz, aber keine Gefahr. Und ich habe das Mädel gern … Ah nein, Etienne, keine spöttische Miene! Und bitte, kein Spottwort! Du irrst dich … Grüß deine Frau! …«
Er schien es plötzlich eilig zu haben, drückte hastig Vließens Hand und befahl dem Kutscher weiterzufahren. Etienne schaute dem Wagen lange nach. Er sah, daß er vor der Villa Nathansohns hielt, die sich ziemlich anspruchslos zwischen den Palästen der Nachbarschaft ausnahm – sah auch noch Dittmar hinter der Gitterthür des kleinen Gartens verschwinden.
›Der kommt in die Höhe,‹ sagte er sich im Weiterschlendern. ›Seltsam, wie so ein tüchtiger Sturz manchmal verschieden wirkt. Viele erholen sich nie; bleiben liegen oder versinken ganz. Der da nicht. Der hat sich aufgerappelt, und nun er wieder Grund unter den Füßen fühlt, wirft er seine Netze aus. Schlau gemacht. Die kleine Hella wird hängen bleiben und Vater Nathansohn seinen Segen geben müssen. Wasser thut's freilich nicht immer – und Nathansohn ist ein grimmiger Name. Alle Erzväter passieren dabei in der Erinnerung Revue. Aber schließlich – dieser ungeheuerliche Mammon – und das einzige Kind. Und ist recht hübsch …‹ Etienne blieb plötzlich stehen … ›Vielleicht liebt Dittmar Hella,‹ dachte er weiter.
Sein Stock beschrieb einen leichten Lufthieb. »Nee,« sagte er halblaut, »das glaub' ich denn doch nicht …«
Er war in eine Querstraße eingebogen und sah sich jetzt am Kanalufer. Drüben wohnten Hans Volcker und Gerda. Vließen überlegte, daß er lange nicht bei ihnen gewesen war. Gerda war Mutter geworden, und zur Zeit, da man zur Taufe des Jungen geladen, hatte Etienne der grüne Tisch von Monte Carlo festgehalten. Er schwankte einen Augenblick und zog dann die Klingel an dem Volckerschen Hause.
Die gnädige Frau empfing. Aber Etienne mußte ein Viertelstündchen im Salon warten. Auch die Thüren zu den Nebenzimmern waren geöffnet, zu einem kleinern Salon und der Herrenstube. Etienne wanderte durch die offenen Thüren auf und ab. Dabei schweifte sein Blick neugierig umher. Das war Gerdas Zimmer, mit den Blumen am Fenster und dem zierlichen Schreibtisch, auf dem sich das Tintenfaß aus Lapislazuli grausam zu langweilen schien. Es wurde überhaupt nicht benutzt. Daneben stand noch ein winzig kleines Reisetintenfaß, an dem eine Feder lehnte. Die Briefmappe lag aufgeschlagen da und auf dem Löschpapier ein graublauer Bogen, mit wenigen flüchtigen Zeilen bedeckt. Die Briefschreiberin mußte gestört worden sein, denn auf der Hälfte des Bogens brach der begonnene Brief mitten in der Zeile ab.
Etienne lockten die Rosenknospen, die in einem schlanken Krystall auf dem Aufsatz des Schreibtisches zwischen allerhand zierlichen Figürchen aus Meißner Porzellan standen: ein paar wundervolle, halb erblühte Knospen in Gelb, Burgunderrot und Rosa. ›Ein galanter Gatte,‹ sagte er sich, und frivol lächelnd fügte er in Gedanken hinzu: ›oder stammen die Rosen von andrer Hand als der des Gatten? …‹ Erst jetzt fiel sein Blick auf den begonnenen Brief und verweilte dort. Das war eine Indiskretion und eine Taktlosigkeit. Aber Vließen hätte kein »Löwe« sein müssen, um vor einer gelegentlichen Indiskretion zurückzuscheuen. Das angefangene Briefchen interessierte ihn. Er wußte kaum, warum. Vielleicht war es nur die Handschrift, die ihn festhielt; er kannte sie so gut – es hatte Zeiten gegeben, da er diese festen, flotten, ausgeschriebenen Züge mit heißen Küssen bedeckt hatte – Zeilen holder Thorheit, an die er nur noch mit Wehmut zurückzudenken vermochte. Lange Jahre hatte er diese Handschrift nicht mehr gesehen; nun weckte sie auf einmal ein Stück Vergangenheit in ihm und ein Stück Jugend. Ihm wurde weich und eigen im Herzen. Er war dicht neben dem Schreibtische stehen geblieben, hoch aufgerichtet, so daß es schien, als schaue er zum Fenster hinaus. Aber er hielt den Blick gesenkt – und er hatte gute Augen. Er las:
»Mein geliebter Vater!
Warum zeigst Du Dich gar nicht mehr? Ich weiß, Du bist in Berlin, denn ich habe Deinen Namen in der Zeitung gelesen. Lebst Du denn nur noch für die Interessen Deiner Partei, und hast Du Deine große Tochter ganz vergessen? Jawohl – ich höre schon, was Du mir antwortest: Kind, hast Du nicht Deinen Mann und Dein Bübchen? – Ach, Vatting, meinen Mann! Hab' ich ihn denn? Ihr schrecklichen Männer gehört der großen Welt, aber nicht der stillen Häuslichkeit. Seit Hans sich zu allem übrigen auch noch in die hohe Flut der Politik gestürzt hat, bin ich nicht mehr seine Frau. Wirklich nicht. Vatting, komm öfters zu mir. Mache Dir Zeit. Ich bin so viel allein, fast immer, von früh bis spät. Aller Frohsinn ist mir verloren gegangen. Hätt' ich mein Bübele nicht –«
Hier brach der Brief ab … Etienne trat vom Schreibtisch zurück und in den großen Salon. Er lächelte; aber nicht heiter: es war ein böses und gefährliches Lächeln. Diese paar Zeilen hatten ihm einen tiefen Einblick in die Seele Gerdas gewährt. Da war nicht mehr alles Frührot und Sonnenschein. Da stiegen Schatten und Nebel auf. Es war die alte Geschichte von der jungen Frau, die der Mann vereinsamen läßt … Und wieder zuckte es um den Mund Vließens; so fing es gewöhnlich an, wenn ein Eheglück langsam zum Zerbröckeln kam …
Gerda trat ein.
»Sieh da, Etienne,« sagte sie herzlich; »das ist einmal eine Freude. Wieder seßhaft geworden? …«
Er küßte ihre Hand und umrahmte sie dabei mit seinen Blicken. Es war der freche Blick, den sich der ergrauende Lebemann angewöhnt hatte und der keinen Unterschied mehr zu kennen schien zwischen einer ehrbaren Frau und dem feilen Weibe.
Sie errötete unbewußt und griff mit der Rechten nach der Brosche am Halse, als fühle sie dort das Kleid offen stehen … Aber nein: die Brosche saß fest und schloß den Kragen. Gerda war noch in Morgentoilette. Sie war etwas schlanker geworden; das stand ihr gut. In dem blassen Gesicht erschien die Farbe der fast zu vollen Lippen noch röter. Die Augen waren umschattet.
Sie wies auf den nächsten Fauteuil.
»Seßhaft geworden,« wiederholte Vließen. »Doch nur sozusagen, Cousine. Auch die Ehe hat meiner Natur keine Bleiplomben verliehen. Ich bin der alte Flattergeist geblieben. Und Nina fügt sich gern.«
»Gern? Weißt du das so gewiß?«
»Sich fügen und nachgeben gehört mit zu der Mischung, die den sogenannten Kitt der Ehe bildet. Ich denke, das wirst auch du bereits erprobt haben. Freilich – ihr Frauen seid schon durch Begnadung des Schöpfers das fügsamere Geschlecht. Es wird euch leichter als uns.«
»Ob leichter, ist fraglich. Nachgiebigkeit kann ebenso gut eine Klugheit als Schwäche sein. Ein Zwang ist sie gewöhnlich. Wie geht es deiner Gattin?«
» Merci. Eher schlecht als erfreulich. Und dir?«
»Recht gut …« Sie sagte dies mit Betonung. Sie hatte das Empfinden, gerade dem da nicht zugestehen zu dürfen, daß sie unter dem Alleinsein litt.
Etienne nickte. Er wußte es besser. Sie war auf dem Wege, auf dem er manche Frau gesehen hatte. Die Zeit war nicht mehr fern, da sie sich nach einem anteilnehmenden Herzen sehnen würde … Er plauderte von mancherlei, leicht und oberflächlich, wie es seine Art war. Und dabei beobachtete er sie fortwährend, mit heimlichen Blicken, die rasch und prüfend unter den halb gesenkten Lidern hervorschossen. Auch von Hans sprach er. Der arme Junge hatte rasend zu thun. Klub und Rennplatz waren ihm wahrhaftig zu gönnen; das waren seine Erholungsstätten … Plötzlich fragte er, ob er den Buben nicht einmal sehen dürfe? »Wie heißt er gleich, Gerda? Auch Hans, nicht wahr?«
»Ja – Hänschen nennen wir ihn. Ein Unterschied muß sein. Hans ist der große, Hänschen der kleine. Er schläft, aber du kannst ihn sehen. Komm mit …«
Sie war froh, daß der Besuch zu Ende ging. Sein forschendes Auge hatte etwas Beleidigendes. Sie fühlte sich unbehaglich in seiner Gegenwart.
Er folgte der Voranschreitenden in das Kinderzimmer. Die Kinderfrau zog den Fenstervorhang ein wenig zurück, so daß der tiefe Dämmer in der Stube sich aufhellte. Hänschen lag in seinem Wagen, die Fäustchen gegen die roten Wangen gepreßt, und schlummerte. Auf dem süßen kleinen Gesicht ruhte der friedliche Ausdruck einer köstlichen Bewußtlosigkeit.
Etienne stand dicht neben dem Wagen. Der spöttische Zug um seinen Mund war verschwunden. Er fühlte in diesem Augenblick etwas wie Weihe. Das war ihr Kind – und sie hatte er geliebt. Sie liebte er immer noch …
Unsinn! – Sein Herz hämmerte stärker. Er strich glättend über seinen Bart und lächelte wieder und sagte halblaut: »Sehr süß. Sehr niedlich. Die ganze Mutter …«
Irgend etwas mußte er sagen … Er war eigentümlich benommen und atmete auf, als er wieder in Pelz und Cylinderhut draußen auf der Straße stand. Die Luft war kalt, aber noch immer schien die Sonne.
Etienne schlenderte das Kanalufer hinab. Er wußte nicht recht, wohin. Nur nicht nach Hause. Im Klub war um diese Zeit kein Mensch. Er kam sich wie ein heimatlos Gewordener vor.