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Am Abend vorher war es zwischen Axel Pawel und seiner Schwester zu einer ernsten Aussprache gekommen.
Das alte Redaktionslokal des »Volksboten« in der Köpenickerstraße befand sich in jämmerlichem Zustande. Werner hatte schon zu den Zeiten, da sein Compagnon Pofahl noch lebte, nie daran gedacht, an den umfangreichen Baulichkeiten auf seinem Grundstück irgend welche Reparaturen vornehmen zu lassen. Das hätte sich gar nicht gelohnt. Früher oder später verkaufte er das Grundstück doch; man hatte ihm bisher nur nicht genug dafür geboten. Als er endlich mit dem Militärfiskus abgeschlossen hatte, ließ er den Hauskomplex erst recht verfallen. In dem südlichen Quergebäude, in dessen zweitem Stockwerk sich die Redaktion des »Volksboten« befand, fiel der Putz in großen Stücken von den Mauern. Wenn unten die Schnellpressen und Rotationsmaschinen arbeiteten, so erdröhnte das ganze Haus; man konnte jeden Augenblick gewärtig sein, daß die Wände zusammenbrechen oder auseinanderklaffen würden. »Mag die Bude zusammenbrechen,« sagte Werner, als Düren ihn auf die Lebensgefährlichkeit dieser Behausung aufmerksam machte; »was schiert's mich? Sie können doch nicht verlangen, daß ich in das alte Ding noch ein paar tausend Thaler hineinstecke, wo ich es am ersten Mai abgeben muß! Fehlte mir gerade! …«
Der würdige Mann war von stetig wachsendem Groll gegen Düren erfüllt. Dieser Düren war in seinen Augen ein ganz gemeiner Betrüger. Dieser Düren hatte sich erst in sein Vertrauen geschlichen, um ihn dann, bei günstiger Gelegenheit, mit einem Fußtritt beiseite zu stoßen. Ja, mit einem Fußtritt. Er hatte gesessen. Werner fühlte ihn noch. Die Detektivs hatten ihn umstellt wie die Jäger das Wild – und da war mancherlei Peinliches zu Tage gekommen. Und nun hatte Düren erklärt: entweder du nimmst deine Abfindung und scherst dich zu allen Teufeln – oder ich schlage an die große Glocke. Es war eine einfache Pression, ein Bubenstreich; es war unerhört. Und was das Schlimmste: Werner mußte sich fügen. Er sah in der Ferne den Staatsanwalt; der konnte hören, wenn man die große Glocke läutete. Er fügte sich zähneknirschend und verwünschte die modische Einrichtung der Detektivinstitute, die ihre Nasen überall hinsteckten und in der Menschen Vergangenheit herumwühlten. Es war ja richtig: Düren zahlte ihn bar aus – die Grundeinlage mit Zins und Zinseszinsen, eine hübsche Dividende und auch eine ganz stattliche Abfindungssumme. Aber Werner wollte noch mehr. Der »Volksbote« hatte Zukunft; es war viel zu gewinnen bei dieser »Kolportagelitteratur in Zeitungsformat« – und der Gewinn der eigentlichen Kolportageromane ging immer mehr zurück. Die »Nonne von Krakau«, von der er sich viel versprochen hatte, machte nicht einmal die Probehefte bezahlt; »Der Einsiedler am Teufelssee«, ein ganz ausgezeichneter Roman, in dem es von Geistererscheinungen wimmelte und der Heft für Heft ein andres Verbrechen enthielt, ging gar nicht; selbst »Das Blutbuch des Entsetzlichen und Schauderhaften«, eine Zusammenstellung von Kriminalgeschichten schrecklichster Art, brachte es nur auf ein paar hundert Abonnenten. Werner versuchte es mit einigen geschickten Schiebungen. Er ließ alte Romane neu broschieren und unter veränderten Titeln in die Welt gehen; er verfaßte diese Titel sogar selber und war stolz auf seine Erfindungsgabe; es waren Titel, die locken mußten. Aber sie lockten nicht. Woher kam das? – Werner war ganz verzweifelt; dann wurde er melancholisch. Das Volk wendete sich von ihm ab. Es war undankbar. So lange hatte er es mit geistiger Nahrung gespeist; nun wies es sie zurück. Und warum? – O, er fand schon die Antwort auf dieses Warum. Die »Kolportagelektüre in Zeitungsformat« – die war es, die ihn tot machte. Das interessierte die Leute mehr. Das flog ihnen tagtäglich ins Haus. Das brachte nicht nur ein Stück Roman, sondern auch sonst allerlei Buntes, Interessantes, Spannendes und Aufregendes. Dieser Düren hatte die richtige Mischung gefunden – und er, der unglückselige Werner, hatte noch sein gutes Geld zur Herstellung jenes Rezeptes gegeben, das ihn selber lahm legen sollte.
Eine wilde Wut gegen Düren packte ihn. In das Quergebäude ging er nicht mehr. Das war an den Feind vermietet, und Düren hatte einfach erklärt, von seinem Hausrecht Gebrauch zu machen, wenn es ihm nötig erscheinen würde. Aber von seinem Fenster aus sah er den »Volksboten« arbeiten. Und dann knirschte er wieder mit den Zähnen. Das ganze Haus dröhnte, wenn unten die Maschinen arbeiteten. Wenn es doch zusammenbräche! Werner trug sich mit der fixen Idee, die brechenden Trümmer würden den »Volksboten« begraben, für immer und ewig. Und wie ein Schwarm von Phönixen würden sich dann seine gelben Hefte von neuem siegreich emporschwingen. Aber da drüben dröhnte es nur; es brach nichts …
Am Abend sahen die Redaktionsräume ein wenig freundlicher aus als am Tage. Das halbe Licht und das Dunkel verdeckten einen Teil der Jämmerlichkeit, der klaffenden Dielen, kahlen Wände mit ihrem gesprungenen Putz und verschmutzten Decken. Anfänglich hatten Doktor Rolo Metzenthien, ein ehemaliger Lehrer, der als Chefredakteur fungierte, Axel Pawel und noch zwei jüngere Herren Namens Schnipphahn und Sardowski die Redaktion allein geführt. Später wurde das Personal erheblich vermehrt. Man pferchte sich in den engen Räumen zusammen, schimpfte unablässig und zählte die Tage, die noch bis zu dem gemeinsamen Triumphmarsch nach der Krausenstraße zu vergehen hatten.
Pawel, der das Feuilleton bearbeitete, hatte ein Zimmer gemeinsam mit dem Doktor Metzenthien und dem Lokalredakteur Sardowski. Letzterer war ein kleiner beweglicher Mensch mit frechen Zügen, ein ehemaliger Commis, der auf Gott weiß welche Art in die journalistische Carriere gekommen war, während Doktor Metzenthien mit seinem runzligen, bartlosen und bebrillten Gesicht noch gern die ruhige Würde des früheren Philologen zur Schau trug.
Neben dem Arbeitstische des Herrn Sardowski stand der Gerichtsreporter Schlottke, der soeben einen längeren Bericht über eine, wie er sagte, höchst sensationelle Ehescheidungsklage gebracht hatte. Sardowski überflog das Manuskript, aber es schien ihm nicht recht zu gefallen. Er schüttelte während der Lektüre wiederholt den pomadisierten Friseurkopf.
»Herr Schlottke,« meinte er, »Sie sind zu zahm geworden. Sie gehen um jede Pikanterie wie die Katze um den heißen Brei herum. Sie vermeiden geflissentlich alles, was Anstoß erregen könnte. Warum denn? Wir haben unsre Leser doch nicht in einer Kleinkinderbewahranstalt.«
»Gott, Herr Redakteur,« sagte Schlottke, »wie soll ich's denn machen. Hier so und da so. Hier recht pikant und beim ›Morgenblatt‹ höchst dezent und bei der ›Allgemeinen‹ die gute Mittelstraße. Ich weiß nicht mehr aus und ein.«
»Das ist eben schlimm, lieber Schlottke. Die Artikel für uns müssen von besonderem Wurf sein. Wir bezahlen ja auch anständig. Erfinden Sie doch interessante Geschichten; es kommt absolut nicht auf die Wahrheit an. Erfinden Sie sozusagen forensische Märchen, die Sie bloß uns geben. Kaufen Sie sich den Boccaccio und den Casanova, da finden Sie Stoffe in Hülle und Fülle, die Sie nur zu aktualisieren brauchen …« Auf das Wort ›aktualisieren‹ schien er besonders stolz zu sein, denn er wiederholte es mehreremal. Schlottke machte ein dummes Gesicht und schien zu überlegen. Inzwischen wandte Doktor Metzenthien sich um, schob seine Brille auf die Stirn und nickte. »Das ist richtig,« sagte er; »der Chef hat sich neulich wieder beklagt, der Ton im ›Volksboten‹ würde zu ledern. Kollege Pawel, ich glaube, das ging auch auf Sie.«
»Kollege Pawel haßt den Realismus,« warf Sardowski ein; »der attische Stil seiner Theaterrezensionen würde ganz gut sein, wenn nicht das attische Salz fehlte.«
Nun fuhr Pawel an seinem Pulte herum. »Herr Sardowski, ich verbitte mir Ihre Bosheiten,« entgegnete er eifrig; »ich schreibe, wie ich schreibe. Auf den Ton kalauernder Schnoddrigkeit, wie manche Kritiker und auch Sie ihn lieben, gehe ich nun einmal nicht ein.«
»Pardon,« sagte der Chefredakteur, »hier handelt es sich lediglich um das Publikum. Lessingsche Abgeklärtheit ist nichts für unsre Leser. Die wollen ein Witzchen, wollen einen gelegentlichen Kalauer, ein lustiges Bonmot. Auch der neue Roman geht viel zu sehr in die Breite. Handlung, aber keine Seelenstimmungen, Kollege Pawel. Unter uns: der Chef ist nicht sonderlich begeistert über Ihr Feuilleton …«
Ueber das blasse Gesicht Pawels huschte eine drohende Röte. Plötzlich warf er seine Feder hin, nahm Havelock und Hut von den Riegeln an der Wand und ging zur Thür. Hier wandte er sich nochmals um. »Also das hat er gesagt!« rief er mit bebender Stimme. »Es ist gut, meine Herren. Er soll es nicht zum zweitenmal sagen. Lieber hungern, als seiner Ueberzeugung untreu werden. Guten Abend!«
Er ging und warf die Thür wütend hinter sich zu. Die Kollegen schauten ihm sprachlos nach. »Pawel – Mensch!« rief endlich Doktor Metzenthien. Aber Pawel hörte ihn längst nicht mehr. Sardowski lachte. »Er kann sich mit seinen Idealen begraben lassen,« meinte er. »Er wird nie auf einen grünen Zweig kommen, niemals. Ich frage Sie, Kollege, müssen wir uns nicht alle fügen? Sind wir nicht Angestellte Dürens? Sind wir nicht auch – nu ja – in gewisser Weise Sklaven unsres Publikums? Wenn die Leute es so wollen – da ist's doch verrückt, es anders zu machen! ›Ueberzeugung‹ – ach du lieber Gott, mit seiner Ueberzeugung kommt man schon weit!« –
»Ueberzeugung ist eine schöne Sache,« entgegnete der ehemalige Philologe und schob die Brille wieder auf seine Nase. »Aber sie darf nicht zum Starrsinn werden. Namentlich nicht in der Presse. Die Presse ist wie die Diplomatie: man muß auch nachgeben können. Die Macht der Presse liegt in ihrer Fühlung mit dem Volke. Ergo: maßgebend für uns können immer nur die Regungen der Volksseele sein. Die müssen auch in unserm Blatte vibrieren. Nur so können wir über den Tag hinauskommen und – und für später als ein kulturhistorisches Dokument unsrer Zeit gelten. Ja …« Nach diesen großen Worten wandte sich Doktor Metzenthien wieder seiner Politik zu, um sie für die Leser der Zeitung in appetitreizende Bissen zu zerlegen …
Inzwischen hatte Pawel den langen, durch einzelne zitternde Gasflämmchen schlecht erhellten Korridor zurückgelegt. Er bebte vor innerer Erregung. Wo wohnte die Freiheit? Gab es denn auf dieser Welt überall nur Ketten? Von einer Sklaverei in die andre – Fron und immer wieder Fron! Bis jetzt hatte er ausgehalten – hoffend und hoffend; es mußte ja einmal anders werden; Düren konnte der Vernunft nicht ewig unzugänglich bleiben, konnte dem Pöbel zu Gefallen sein Blatt nicht noch tiefer herabdrücken. Doch – es sollte so sein, und auf seiner Redaktion saßen willige Leibeigene, Preßkulis, die die Wünsche des Herrn von seinen Lippen ablasen. Es war schmachvoll …
Pawel klopfte an eine Thür am Ende des Ganges und trat ein. In einem winzig kleinen, ganz schmalen, überheizten und schlecht gelüfteten Zimmer saß Olga bei ihrer Arbeit. Sie führte die Redaktion der Beilage »Frauenwelt« und las in langen, noch druckfeuchten Fahnenabzügen Korrektur. Ihr Kopf war tief über den Tisch gebeugt; in den blonden, zausigen Stirnlöckchen perlten ein paar Schweißtropfen. Sie schaute nicht auf, als Axel eintrat. Sie glaubte, der Metteur wolle sie mahnen, und rief, während sie mit der Feder ein Zeichen auf den Rand der Fahne malte: »Einen Augenblick, Teterow, ich bin gleich fertig …«
»Ich bin schon fertig,« versetzte Axel, »und zwar ganz und völlig und mit allem. Ich verlasse das Haus; ich breche meinen Kontrakt – schlankweg. Ich bleibe nicht eine Minute länger in dieser Strafanstalt. Ich habe es satt – bis zum Halse heran!« –
Er würgte die Worte hervor. Olga war erschreckt aufgesprungen und schaute den Bruder mit großen Augen verängstigt an.
»Herr du mein … Axel, was ist?! – Bist du beleidigt worden?«
»Beleidigt! …« Er warf seinen Havelock ab. »Was ist hier für eine wahnsinnige Temperatur, Olli?! Du machst dich ja krank!«
»Sorge dich nicht um mich. Das Fenster ist so verquollen, daß es sich gar nicht mehr öffnen läßt. Ich liebe die Wärme. Also – was ist los?«
Er fuhr wieder auf. »Ich hab' es satt. Hörst du – – mir wird übel, wenn ich noch länger in dieser geistigen Versumpftheit stecken bleiben soll. Ich komme um. Ich ersticke hier …«
Sie schob ihm schweigend einen Stuhl zu. Sie kannte ihn und hatte einen so wütenden Ausbruch des Zorns und Unwillens längst erwartet. Trotzdem erzitterte sie. Es war hier wahrlich noch immer ein besseres Brot als bei G. Werner & Co.
Axel ließ sich nieder.
»Ich will ruhig bleiben, Ollinka. Sei mir nicht böse. Es tobt alles in mir. Aber ich will ruhig bleiben … Als Düren uns vor drei Jahren das Angebot machte, seiner Redaktion beizutreten, atmete ich auf. Ich ahnte zwar, daß auch da manches anders sein würde, als ich erhoffte – aber – aber es war doch eine Erlösung aus der tiefsten Knechtschaft, aus der elenden Soldschreiberei für einen notorischen Halunken … Düren setzte mir seine Absichten auseinander; ich sollte auf seine Intentionen eingehen – es handelte sich zunächst darum, dem neuen Blatte eine gewisse Volkstümlichkeit zu geben. Das war verständlich; den Leserkreisen, die man erobern wollte, konnte man nicht mit Klassicität kommen. Also gut; heruntergeschraubt das geistige Niveau, tiefer und immer tiefer – ja, bis wohin?! Es mußte doch einmal eine Grenze sein; es mußte doch auch ein langsames Aufsteigen geben. Wenn erst ein fester Stammkreis von Abonnenten gewonnen ist, so sagte ich mir, dann kann man es wagen, das Niveau allgemach ein wenig zu heben, kann geschmackverbessernd, läuternd, erzieherisch wirken. Denn das ist doch die Pflicht der Presse, ihre große, hehre und schöne Aufgabe. Das Ringen und Streben, das ganze geistige Leben der Völker soll in der Presse sein Spiegelbild finden. Ach du lieber Gott, wenn noch nach hundert Jahren ein Band des ›Volksboten‹ erhalten worden ist – wie kläglich muß da die Nachwelt den Geist Deutschlands zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts beurteilen! Kotzebue, Herloßsohn und Bertuch waren Heroen gegen uns. Und das ist das Schauderhafte! das absichtliche Herunterdrücken, wo man doch höher hinaus könnte! Kein Erheben in reinere Atmosphäre – immer nur im Staube kriechen – und noch häßlicher: im Schmutze waten! Sensation ist die Losung – pikantes Gewäsch an Stelle ernsthafter Polemik, Seichtheit für gediegenes Wissen und öde Witzelei für herzensfrohen Humor. Andre Blätter sehen auf literarischen Schliff dessen, was sie bieten; bei uns ist der Schliff verpönt, denn ›unsre Leser sind nicht literarisch gesinnt‹, sagt Düren. Für hunderttausend denkfaule Büffel also arbeiten wir! Ich nicht mehr, Olli. Ich streike. Ich setze keinen Fuß mehr in die Redaktion des ›Volksboten‹ …«
Olga schüttelte sorgenvoll den Kopf.
»Du kannst Düren kündigen, Axel, darfst ihn aber nicht im Stiche lassen,« erklärte sie.
»Ach was – im Stiche lassen,« erwiderte er mürrisch. »Ich weiß recht gut, daß ihm meine Thätigkeit längst nicht mehr paßt. Ich bin nicht seinesgleichen. Ich arbeite nicht nach seinem Geschmack. Die Kollegen – ach, die Kollegen – haben mir das hundertmal durchblicken lassen … Hat er mich bis jetzt behalten, so geschah's nicht meinetwegen, sondern bloß, weil er dich gern hat und ich dein Bruder bin …«
Olga lächelte, aber sie wurde rot dabei.
»Ich weiß nichts davon, daß er mich ›gern hat‹. Ach herrjeh – auch noch! Aber freilich: ich bin fleißig, und die ›Frauenwelt‹ paßt ihm so, wie ich sie mache – das bunte Nichts und der Firlefanz und die Rätselecke und das ganze Drum und Dran … Ja, Axel, aber was denn nun? Willst du wieder an deine Stücke gehen und an deine Romane?«
»Ich danke. Wenigstens vorläufig. Die Ablehnungen haben mich mürbe gemacht. Und dann – die Journalistik macht mir mehr Freude. Ich möchte nur den Platz finden, wo ich hingehöre. An einem Blatte, das höher steht als dieser elende ›Volksbote‹ –«
»Ah – schimpf nicht so viel! Ich bin auch noch hier.«
»Wirst aber nicht bleiben wollen, wenn ich fort bin.«
»Ich bleibe. Nicht aus Zwang, sondern aus Dankbarkeit. Düren hat uns aus der Tiefe gezogen –«
»Und wieder hinabgestoßen. Werner oder Düren – es ist die gleiche Nummer.«
Olga zuckte die Achseln. »Was soll ich mit dir streiten!« sagte sie unmutig und griff wieder zur Feder.
Er erhob sich und küßte sie auf den Scheitel.
»Nein, nicht streiten, Kleine. Ich fühle mich wirklich recht elend. Ich kann nichts dafür. Ich will auf die Suche gehen. Vielleicht, daß beim ›Morgenblatt‹ –«
»Da nicht,« fiel sie hastig ein. »Da ist keine Stelle frei.«
»Doch,« sagte er hartnäckig. »Doktor Eschwege will fort, der Feuilletonredakteur. Die Kollegen erzählten es. Das wär' etwas, was ich mir wünschte …«
Sie schaute starr auf den Korrekturabzug. Sie liebte den Bruder so sehr. Wirklich: in die Redaktion des »Morgenblatts« gehörte er. Das war eine Zeitung, die seiner politischen Neigung entsprach, ein Blatt von vornehmer Gesinnung, anständig im Ton und in den nichtpolitischen Teilen von gutem litterarischen Geschmack. Da konnte Axel sich halten; da konnte er sich auch glücklich fühlen … Sie überlegte.
»Weißt du, Axel,« sagte sie plötzlich, »ich möchte für dich den Werber spielen. Ich möchte mal zu den Volckers gehen. Sie werden mich nicht fressen. Du bist kein Sprecher, aber ich versteh' mich aufs Reden. Soll ich? Was kann es schaden? …«
Er fand das anfänglich unmöglich und komisch. Das ginge doch nicht. Wie sehe das aus. Dann lenkte er ein. »Es dünkt mich zwar sehr verrückt,« sagte er, »aber vielleicht – vielleicht hast du recht. Ich werde leicht konfus, wenn ich eine Bitte hervorbringen soll; dann fange ich an zu stottern und spreche geschraubt und in unmöglichen Perioden, und schließlich vergess' ich die Hauptsache. Du dagegen – du bleibst in allen Lagen des Lebens die Logische. Und sprichst immer wie ein Buch. Redest du, so ist einem, als lese man eine sanfte Lektüre, etwas Goethisches. Wahrhaftig, du hast eine merkwürdig abgeklärte Sprechweise. Du bist meine große Ollinka, wenn du auch nur klein von Person bist. Olli, deine Idee ist gut. Geh zu den Volckers. Eine solche niedliche Mädchenerscheinung guckt man auch gleich mit andern Augen an. Und fressen werden sie dich nicht, das ist richtig. Es sind ja anständige Menschen. Sage ihnen nur, schreiben könnt' ich, aber nicht reden. Und deshalb kämst du. Das ist eine ganz famose Idee von dir …«
Sie lächelte beglückt. Er rückte näher an ihren Tisch heran und ergriff ihre rechte Hand. »Olli, ich glaube, da werde ich Wurzeln schlagen,« meinte er. »Ach Gott, wenn doch etwas aus der Geschichte würde! Das Gehalt, na, ich nehme jedes. Ich sehe mehr auf die Anständigkeit als auf den Lohn. Ueber den Jammer des Daseins sind wir ja hinaus –«
»Dank Düren,« fiel sie ein.
»Also ja. Ich will ihm nicht zu nahe treten. Ich – aber lassen wir das doch! Ich habe eben andre Ansichten vom journalistischen Beruf als er. Ein Journalist ist immer ein geborener Advokat der Menschheit, sagt Weckherlin. Für Düren ist er ein Handelsmann, der die zum Kauf fertig gemachte Allerweltslitteratur geschickt in die Auslage zu bringen hat … Olli, es ist hier zum Verzweifeln heiß. Ich gehe. Wann kommst du nach Hause?«
»Nicht vor Zehn. Ich habe noch viel zu thun.«
»Armer Kerl. Ich besorge Abendbrot: Wurst, Schinken und so weiter. Ich weiß schon. Ich kaufe ein und erwarte dich. Und schreibe auch gleich an Düren. Sehr höflich – das versteht sich. Auf Wiedersehen, Olli …«
Sie vertiefte sich wieder in ihre Korrektur. Das dauerte noch eine halbe Stunde. Dann trug sie die Fahnen selbst in die Druckerei; sie wunderte sich, daß der Metteur sie noch nicht geholt hatte. Im Saale der Druckerei, einem großen Raum mit geschwärzten Wänden, an die hie und da ein Flugblatt, ein Plakat, ein buntes Bild geklebt worden war, herrschte ein Höllenlärm. Die Maschinen waren in Arbeit: die Zeitung wurde fertig gestellt. Der Metteur verschraubte gerade die Letternkolumnen einer Seite in ihren eisernen Rahmen und brachte diesen zu dem Stereotypeur, der hinter einem Verschlag in einer Ecke des Saals arbeitete. Er formte die Matrize, indem er eine Art feuchter Pappe auf die Lettern legte und sie mittelst eiserner Bürsten so lange schlug, bis das Negativ sich scharf in die Pappe ausprägte. Die Papierform wurde hierauf gebogen in einen eisernen Halbcylinder gesetzt und mit flüssigem Blei übergossen. In wenigen Augenblicken war die Druckform fertig, wurde an den Rändern in der Fräsmaschine geglättet und nun mit einem zweiten halben Cylindermantel zusammen an den Druckcylinder geschraubt. Jetzt konnte die Form ihren Platz in der Rotationsmaschine einnehmen, einem gewaltigen System von tuchüberzogenen Druck- und Farbwalzen, durch die das endlose Papier sich hindurchwand … Der Anblick dieser Riesenmaschine interessierte Olga immer wieder von neuem. Wie das Papier sich von gewaltigen Rollen abhaspelte, wie es automatisch befeuchtet, von den Walzen erfaßt und in rhythmischer Schlangenbewegung zwischen den Druckcylindern hindurchgeleitet wurde – wie die Farbwalzen sich gegeneinander rieben, um die Farbe in exakter Verteilung an die Drucksäule abzugeben, wie ein höchst sinnreiches System von Bändern das Papier weiterführte, zerteilte und in den Falzapparat einlaufen ließ – wie schließlich der Zählapparat zu funktionieren begann und die Zeitungsbogen endgültig gefalzt, ausgeschnitten und sauber zusammengelegt durch eine Trommel flogen, um nun verpackt werden zu können: das alles erschien Olga jedesmal gleich märchenhaft. Sie war auch heute, nachdem sie ihre Korrekturbogen abgeliefert hatte, wieder sinnend vor jener Maschine stehen geblieben und schaute in das Walzenwerk hinein. Die Arbeiter und Arbeiterinnen kannten sie und hatten das freundliche blonde Fräulein gern. Sie gingen um sie herum und beachteten sie kaum. Aber unvermutet fühlte Olga die Berührung einer Hand auf ihrer Schulter. Düren stand lachend, in regenfeuchtem Paletot, den Hut auf dem Kopfe, hinter ihr.
» Bon soir, mademoiselle,« sagte er. »Wie geht's? Ja, das ist ein hübsches Ding, diese Maschine – eine Kulturleistung ersten Ranges. Aber Sie sollten erst den Maschinenpark in unserm neuen Hause sehen. Das da ist auch schon wieder veraltet … Ist Ihr Bruder noch oben?«
Sie wurde verlegen. Axel sei soeben gegangen. Und dann faßte sie sich ein Herz und bat Düren um eine kurze Unterredung. Er war etwas erstaunt, willigte aber ohne weiteres ein. Oben, im Zimmerchen Olgas, begann auch er sofort über die Hitze zu schimpfen. »Eine elende Bude – aber warten Sie nur, Fräulein Olga, Sie sollen für Ihren Opfermut entschädigt werden, wenn wir erst ›drüben‹ sind. Das schönste Zimmer der Redaktion kriegen Sie. Groß, hoch, Wasserheizung, Parkett, Teppiche und eine Tapete, die ich eigenhändig ausgesucht habe, weil sie mit Ihrem blonden Haar harmonieren sollte. In die Druckerei brauchen Sie auch nicht mehr selbst zu gehen. Neben Ihrem Schreibtisch liegt ein Hörrohr, da machen Sie nur knipps, und dann können Sie mit dem Faktor oder Metteur sprechen, oder mit wem Sie wollen. Auch mit mir. Ihr Redaktionszimmer ist das einzige, das mit meinem Bureau in telephonischer Verbindung steht. Sie können daraus ersehen, welchen hohen Wert ich auf Ihre ›Frauenwelt‹ lege …«
Er machte ihr noch immer, wie vom ersten Tage ihres Bekanntwerdens ab, gern ein wenig den Hof. Aber er hatte noch nie gewagt, ihr in verletzender Weise näher zu treten. Er schätzte sie sehr. Sie war ein forsches und fleißiges kleines Frauenzimmer, vor dem er die höchste Achtung hatte. Auch liebte er ihren Typus: das Blonde, Niedliche und Zierliche, ihre anmutige Art und ihr Lächeln.
Es wurde ihr schwer, sofort mit der brutalen Wahrheit herauszurücken. Aber es mußte sein. Er verfärbte sich ein wenig, als sie von den Absichten Axels sprach, und fragte ohne weiteres: »Nun, und Sie?«
»Was ich?«
»Wollen Sie auch fort?«
»Nein, Herr Düren – wenn Sie mich nämlich noch behalten wollen …«
Nun lachte er wieder fröhlich.
»Behalten wollen! Frage! Ich möchte Sie mit goldenen Ketten festbinden … Unter uns: das mit Axel sah ich kommen. Er paßt wirklich nicht hierher. Ich nehm' es ihm gar nicht übel, daß er davonläuft. Eins schickt sich nicht für alle. Ich will verdienen – das sag' ich ganz offen. Und da fang' ich es so an, daß ein Verdienst möglich wird. Und hab' es ganz recht angefangen. Der Erfolg spricht für mich. Habe ehrlich gearbeitet – aber es gibt auch eine ehrliche Arbeit, die sich nicht für jeden eignet. Mag Axel auf dem ›Morgenblatt‹ glücklich werden. Vielleicht wird er noch Kommissionsrat oder kriegt den Kronenorden. Denn die vom ›Morgenblatt‹ fangen an, offiziös zu werden. Na – was die Hauptsache ist: Sie bleiben. Sie bleiben mir treu. Geben Sie mir Ihre Patschhand – ich danke Ihnen …«
Er schien wirklich ein wenig gerührt zu sein. Seine Stimme, die in der Modulation noch immer den Rheinländer erkennen ließ, klang außergewöhnlich weich, und während er nun Olgas Hand festhielt, schaute er ihr so treuherzig und zugleich so fragend in die Augen, daß sie ein heimliches Zucken im Herzen zu spüren vermeinte. Unwillkürlich senkten sich ihre Lider.
Das war ein gefährlicher Augenblick für Düren. Er wußte wohl: hätte er sie in seine Arme gezogen – sie würde sich nicht lange gewehrt haben. Es ging ein Strom gegenseitiger Sympathie herüber und hinüber, und sie fühlten beide seinen Einfluß. Und wie er das warme kleine Händchen mit seinen Fingern umklammerte und ihr niedliches Gesichtchen mit dem goldigen Lockenstrudel über der Stirn so dicht vor sich sah, da hätte er beinahe seine Besonnenheit verloren. Es war gut, daß es an die Thür klopfte, und der Faktor der Druckerei mit einer Anzahl Fahnenabzüge erschien, überschüssigem Satz, den er nicht mehr unterbringen konnte, der aber geprüft werden mußte, ob er noch Wichtiges enthalte, das an Stelle von Ueberflüssigerem eingeschaltet werden solle.
Olga atmete auf, als sei ihr ein Alp vom Herzen genommen. Sie entfaltete jetzt wieder ihre ruhige Geschäftlichkeit, nahm die Abzüge und überflog sie. Düren warf dem unbequemen Faktor keinen allzu freundlichen Blick zu.
»Ich will gehen, Fräulein Pawel,« sagte er. »Also – wegen Ihres Bruders machen Sie sich keine Sorgen. Ich nehme die Sache nicht tragisch. Vielleicht ist es sogar besser für ihn. Grüß Gott!«
Sie erhob sich ein wenig vom Stuhl und entgegnete förmlich: »Guten Abend, Herr Düren …« Dann neigte sie sich wieder über ihre Arbeit. Ihr Herz klopfte noch immer stark. –
Am folgenden Tage machte sich Olga auf den Weg nach der Redaktion des »Morgenblatts«. Es war ein schwerer Gang für sie. Sie benutzte nicht die Trambahn, sondern ging zu Fuß. Ging langsam und blieb wohl zwanzigmal stehen, als zögere und überlege sie. Aber immer wieder trieb es sie weiter. Es galt ja dem Bruder. Für ihn that sie alles.
Daß sie Hans Volcker gemeinsam mit jenem Grafen Vließen, auf den Düren sie bei Gelegenheit des ersten Renntags aufmerksam gemacht hatte, im Portal des großen Geschäftshauses treffen mußte, war unsäglich peinlich für sie. Sie fühlte, wie sie errötete. Es schlug heiß über ihr Gesicht. Am liebsten hätte sie jetzt noch Kehrt gemacht. Die freundliche Art Volckers beruhigte sie nicht; benommen und ängstlich stieg sie die Treppe hinauf und ließ sich von einem der Zeitungsboys in das Sprechzimmer weisen.
Sie hatte nicht lange zu warten. Hans eilte ihr sofort nach, schob ihr einen Stuhl zu und bat sie, Platz zu nehmen. Und als er sah, daß sie abermals die Farbe wechselte und zu zittern begann und nicht zu sprechen wagte, nahm er ihre Hand und sagte warmherzig: »Mut, Fräulein Olga! Ich kann es mir denken, daß es Ihnen nicht leicht gefallen sein mag, zu mir zu kommen. Ich kann es mir denken, denn ich kenne Sie. Es muß also etwas Besonderes vorliegen. Sie sprachen von einer Bitte. Ich würde sehr froh sein, wenn ich sie Ihnen erfüllen könnte. Ja … Man vergißt auch ein kurzes Glück nicht so leicht … Also sprechen Sie. Wie zu einem Freunde. Ich möchte gern Ihr Freund sein …«
Es war merkwürdig, daß sie ihn nicht ansehen konnte. Sie suchte mit den Augen den Boden, und dann stieß sie hastig hervor: »Ich komme nicht meinetwegen, Herr Volcker. Ich möchte für meinen Bruder ein gutes Wort einlegen. Er ist Redakteur beim ›Volksboten‹, und es gefällt ihm da nicht und …« Sie erzählte, sprach rasch und begann allmählich wärmer zu werden, je mehr sie auf das Wesentliche ihrer Bitte kam. Sie rühmte ihren Bruder und wußte nicht genug von seinem Fleiße und seiner Arbeitskraft zu erzählen. Aber bei Düren sei nicht der Platz zur freien Entfaltung seiner Fähigkeiten. Und dann fiel ihr ein, daß diese Bemerkung möglicherweise ein schlechtes Licht auf Düren werfen könne, und sie begann auch ihren Brotherrn zu loben. Aber als sie sah, daß Volckers Gesicht ernst wurde und einen fast finstern Ausdruck annahm, stockte sie und wurde verlegen. Plötzlich schossen ihr die Thränen in die Augen, und sie schwieg.
Hans hatte sie aufmerksam beobachtet. Er hörte kaum auf das, was sie sagte. Hundert Erinnerungen regten sich in ihm, da er ihr niedliches Gesichtchen wiedersah und ihre sanfte, schmeichelnd klingende Stimme hörte. Er hatte für dies kleine blonde Kätzchen stets ein großes Zärtlichkeitsgefühl empfunden, und die Trennung war ihm recht schwer geworden – damals, als es zur Trennung kommen mußte. Er dachte daran und an manches andre, an die Wandlungen des Glücks und seines Herzens Thorheit, und unwillkürlich furchte sich seine Stirn. Ihm war, als spüre er einen häßlichen und bitteren Geschmack im Munde.
»Thränen, Fräulein Olga,« sagte er und versuchte zu lächeln. »Immer noch so leicht Thränen?«
»Ich kann nichts dafür, Herr Volcker – es ist so dumm. Ich weiß nicht, warum ich weine. Ich bitte ja nicht einmal für mich –«
»Das haben Sie nie gethan – vielleicht weil Sie wußten, daß ich gerade Ihnen nie eine Bitte abschlagen würde. Nun gilt es Ihrem Bruder. Haben Sie ihn so lieb, daß Sie sogar den Weg zu mir nicht scheuten?«
»Ja, ich habe ihn sehr lieb. Wir waren früh verwaist und – – aber das wissen Sie ja alles. Wir haben oft davon gesprochen.«
Er nickte. »Freilich, oft. Wissen Sie noch, den Nachmittag draußen in Onkel Toms Hütte? Die Partie durch den Grunewald, am Jagdschlosse vorbei, wo Sie die Vergißmeinnicht fanden? Und das Gewitter auf freiem Felde?« –
Jetzt lächelte er wirklich; er lächelte heiter und ungezwungen in der Erinnerung an die frohen Tage, da er mit dem kleinen blonden Liebchen die Umgebung Berlins durchstreift hatte, ganz so wie der Commis von Herzog und Gerson, der seine Nähterin am Sonntag nachmittag spazieren führt.
Olga aber wurde abermals rot. Für sie war das alles ein begrabenes Glück und ein verflogener Sonnenschein. Sie wollte nicht mehr an jene Tage zurückdenken. Es bohrte sich wie eine feine Nadel in ihr Herz, als sie Hans davon sprechen hörte. Unwillkürlich sah sie Düren vor sich. Es war eine Gedankenverbindung, die sie selbst überraschte und auch erschreckte. Sie erhob sich mit schneller Bewegung.
»Herr Volcker,« sagte sie, »ich kam wegen meines Bruders –«
Sie stand dicht vor ihm und schaute ihn bittend an.
Er begriff ihre Abwehr und wurde mißmutig. »Gut, Fräulein Olga – ich weiß schon – ich werde mir überlegen –«
»O, Herr Volcker« – und in plötzlicher Angst faltete sie die Hände und hob sie zu ihm empor – »warum noch überlegen? Dann bekomme ich abschlägigen Bescheid – und – bitte ich auch nicht für mich, so ist es doch gerade so gut. Was Sie für meinen Bruder thun, thun Sie für mich. Herr Volcker, versuchen Sie es probeweise mit Axel! Sie werden zufrieden mit ihm sein. Herr Volcker, bitte – bitte –«
Sie berührte seine Arme mit ihren Händen. Da hielt er sie fest, nahm ihre Hände und drückte sie stark. Ein Verlangen überkam ihn, sie auf den Mund zu küssen, der rot und frisch war wie in den Tagen heimlichen Glücks. Aber er widerstand. Sein Anstandsgefühl sträubte sich dagegen, der Regung des Augenblicks nachzugeben.
»Hören Sie zu, Olga … Es geht das nicht so im Handumdrehen. Es ist auch eine Gefahr dabei. Es ist ein mißliches Ding für uns, einen Redakteur des ›Volksboten‹ zu übernehmen. Das wird Aufsehen erregen und Klatsch geben. Trotzdem … Eschwege scheidet am Ersten aus, und wir haben thatsächlich noch keinen Ersatz für ihn – freilich, zwanzig Leute in Aussicht … Ich werde mit meinem Bruder sprechen und durchzusetzen versuchen, daß er sich mit Axel einverstanden erklärt. Schicken Sie ihn einmal zu mir –«
»Er ist so schwerfällig, Herr Volcker –«
»Mein Gott, er soll mir ja nichts vordichten oder vorredigieren. Aber ich muß doch mit ihm sprechen. Wird er bei uns engagiert, so muß er einen dicken Strich unter die Vergangenheit machen. Eine neue Lebensphase würde für ihn anfangen. Es darf auch niemand ahnen, daß er unter den unmöglichsten Pseudonymen die unmöglichsten Kolportageromane in die Welt geschickt hat –«
»O Gott, Herr Volcker,« fiel Olga mit zitternder Stimme ein, »weshalb that er denn das?! Weil wir leben mußten – und weil das Gute, das er schaffte, keinen Abnehmer fand! Ich bin ja doch nur zu Ihnen gekommen, um ihn aus einem schweren Martyrium zu erlösen. Man hat ihn zum Kuli erniedrigt – damals, als er für Werner arbeitete. Das war das Schlimmste. Und beim ›Volksboten‹ ist es ganz ähnlich. Er kann sich nicht in Verhältnisse schicken, die wie ein Alp auf ihm lasten. Aber es ist nicht Dickköpfigkeit von ihm. Es ist ein Zug von Größe … Ich glaube wenigstens. Vielleicht ist er auch nur ein armer idealistischer Narr …«
Sie sagte das Letzte in leise klagendem Ton, und dann fügte sie nochmals ihr süßes »Bitte – bitte – bitte, Herr Volcker« an.
»Fräulein Olga, ich thu', was ich kann. Mein Wort darauf. Und ich glaube Ihnen heute schon versichern zu können, daß gegen das Engagement Ihres Bruders kaum ein Einspruch erhoben werden wird. Daß er sich bei Düren nicht wohl fühlt, könnte allein schon maßgebend für mich sein. Es ist mir nur unbegreiflich, daß Sie – Sie, liebes Kind, Sie, liebe Olga, es bei dem Manne auszuhalten vermögen. Ich lese gerade Ihre ›Frauenwelt‹ immer mit besonderem Interesse – begreiflich – und freue mich über die geschickte Redaktion. Sans phrase, die Beilage ist gut gemacht – – aber sie ist ein Appendix des ›Volksboten‹, und der genießt nun einmal in der Zeitungswelt einen spottschlechten Ruf … Vielleicht – hören Sie mal, Fräulein Olga, vielleicht findet sich in unsern Betrieben auch für Sie ein geeigneter Posten. Würden Sie tauschen wollen –?«
Sie schüttelte ohne weiteres den Kopf.
»Das könnte ich nicht, Herr Volcker,« erwiderte sie, »auch wenn ich es wollte. Aber ich will nicht einmal. Ich habe mich über Herrn Düren nicht zu beklagen. Er behandelt mich mit Respekt und Entgegenkommen –«
»Und führt Sie zuweilen sogar auf die Rennplätze,« fiel Hans ein. Das klang mehr höhnisch als bitter; es war unwillkürlich und nicht beabsichtigt, »Pardon,« fuhr er einlenkend fort, »das sollte keine Spitze sein. Sie sind frei in Ihren Entschlüssen und Handlungen und können machen, was Sie wollen. Es war eine Bemerkung, die mir gegen meinen Willen entschlüpfte. Aber damals – als ich Sie an der Seite Dürens sah, stieg ein ganz eigenes Gefühl in mir auf. Ich kann es nicht definieren. Es mag so eine Mischung zwischen Mißstimmung und Mitleid gewesen sein.«
»Und beides war unberechtigt, Herr Volcker,« sagte sie fest. »Im übrigen: denken Sie über die geschäftliche Thätigkeit des Herrn Düren, was Sie wollen – die Thatsache, daß er mir Achtung entgegenbringt, läßt mich auch ihn achten. Er war mein Wohlthäter – und ist es noch.«
»Das heißt also: Sie fühlen sich behaglich da drüben und –«
»Jedenfalls bleibe ich.«
»Das ist ein Wort. Ich will Ihnen nicht zureden, eine angenehme Stellung mit einer vielleicht unbequemeren zu vertauschen. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied.«
»Das Gleiche sagten Sie mir damals, als –«
»Ich weiß. Liebe Olga, es ist ein wahres Wort.« Er warf sich in den Schreibtischstuhl und faltete nervös eine ihm zur Hand liegende Zeitung zusammen. »Seines eigenen Glückes Schmied,« wiederholte er. »Sind Sie glücklich, Kind?«
»Wie ich es sein kann, Herr Volcker. Ich bin auch einmal sehr unglücklich gewesen. Aber die Zeit gleicht aus. Auch Wunden, an denen man sterben zu müssen vermeint, heilen.«
»Nicht bei allen. Aber ich gebe zu, bei den meisten. Und das ist gut. Also verhältnismäßig glücklich. Auf dem ›verhältnismäßig‹ liegt der Ton. Auch bei mir, Olga. Und könnte doch ganz, ganz glücklich sein, ohne Einschränkung. Ich bin es nicht, und weiß nicht, warum. Weiß nicht, was mir fehlt. Sie haben sich früher zuweilen über meine Rastlosigkeit lustig gemacht. Das mag es sein. Wir Ruhelosen halten ein Glück nicht fest.«
»Herr Volcker, ich weiß nicht, was Sie unter einem ›ganzen‹ Glück verstehen. Vielleicht sind Sie nur unbescheiden. Ich höre, daß Sie eine schöne, liebenswürdige und auch gute Gattin besitzen, und dazu ein reizendes Kind. Ist das kein ›ganzes‹ Glück? Sie wollen es größer haben und noch vollkommener – es ist wie bei dem Königssohn, der auf die Berge kletterte, um in die Sterne greifen zu können. Du lieber Gott, wie groß ist ein Glück?! Es gab Zeiten für mich, da ein Gedanke mir Seligkeit gab. Jetzt ist schon die Zufriedenheit mein Glück …«
Hans sah sie an. Traf sie in ihrer Einfachheit nicht das Rechte? Das Glück ist ein Bannkreis; darüber hinaus wage sich keiner … Er schleuderte die Zeitung fort und stützte den Kopf in die Hand. Er sah auf einmal sehr müde aus.
Olga trat näher an ihn heran. Ihre Stimme klang weich und zart; auch sprach sie so leise, daß es fast einem Flüstern glich.
»Ich habe für Ihr Glück gebetet,« sagte sie; »ich will wieder für Sie beten, Herr Volcker. Auch eine arme Sünderin findet bei Gott Gehör. Ich wollte –«
Ein schluchzender Laut erstickte alles Weitere. Sie senkte den Kopf und weinte.
Da erhob er sich. Er kämpfte gegen eine seltsame Weihestimmung an, die ihn überschlich und die ihm närrisch erschien. Aber sie war stärker als die zergliedernde Skepsis. Er nahm Olgas Kopf zwischen seine Hände und küßte sie. Dabei war nichts von einer sinnlichen Regung in ihm wie vordem. Er meinte sein Glück zu küssen oder doch die, die es ihm wiederbrachte. Und ruhig ließ sie sich küssen.
»Nun gehen Sie, Olga,« sagte er. »Ich werde dafür sorgen, daß Ihr Bruder die Stellung Eschweges erhält. Und Sie – Sie seien tausendmal bedankt, daß Sie zu mir kamen. Sie sind mir immer wie ein Quell erschienen, den Frühlingswasser speisen: so klar und so wahr und so erquicklich. Und wie ein Sonnenstrahl, Olga: so leuchtend. Das hat mir auch heute wohlgethan. Gehen Sie – und sollten wir uns nicht wiedersehen – so ganz vergessen, denke ich, werden wir uns nie …«
Sie schüttelte nur heftig den Kopf und ging schweigend.
Hans blieb stehen, da wo er stand, starrte zu Boden, und langsam hob sich seine Brust zu einem tiefen, tiefen Atemzuge. Diese sonnige Kleine, die einmal sein Liebchen gewesen war, hatte sie ihm die Wahrheit gebracht? Verlangte das Glück, sich zu bescheiden? –