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Milovka war die nächste Stadt auf der Karte des heiligen Rußlands, die mit Blut gefärbt werden sollte. Die Nachricht von dem beabsichtigten Judenmassaker in dieser kleinen polnischen Stadt war durch die Indiskretion eines Dorfpopen, der einen Tropfen Blut zu viel getrunken hatte, in dem Hauptquartiere der Samooborona (»Bund zur Selbstverteidigung«) im südlichen Rußland bekannt geworden. Es scheint, daß in Milovka, obwohl es ziemlich weit von den großen Zentren politischer Unruhen entfernt lag, dennoch ein großes Interesse für diese rege ward, ein Interesse, das so weit ging, daß man sogar eine Zeitung gegründet hatte. Es war daher wirklich notwendig, durch ein erstklassiges Massaker zu beweisen, daß die wahren Russen immer noch Gott und dem Zaren treu waren. Milovka lag abseits von der großen Pogromroute, und von selbst hätte niemand dort daran gedacht, daß ein Massaker stattfinden müsse. Das Gift des Judenhasses muß eingeimpft und sorgsam genährt werden. Freilich waren beinahe zwei Drittel der Einwohner Juden, und infolgedessen war es schon etwas schwerer, die Gier nach dem Blute der Israeliten zu erregen. Aber auf der anderen Seite würde ein Pogrom sich auch viel leichter ausführen lassen; das Judenviertel bildete eine ganz für sich abgeschlossene Stadt; man brauchte keine Dvorniks (Türhüter) zu fragen, und die Photographien der Juden vorzuzeigen, um sie zu finden, man brauchte nur in diesen niedrigen Holzhäusern umherzuwüten, in diesen so armseligen Wohnungen, von denen auch die bescheidenste zweifellos unerschöpfliche unterirdische Schätze barg.
David Amram wurde schnell nach Milovka gesandt, um dort ein lokales Selbstverteidigungskorps zu gründen. Er führte so viel Pistolen mit sich, als sich in seinem Geigenkasten verpacken ließen; dieser und eine große Rolle mit Noten, die Munition enthielt, waren die hauptsächlichsten Stücke seines Gepäcks. Es war zu Anfang des Winters, der jedoch ungewöhnlich milde auftrat. Die Sonne leuchtete über den weiten Ebenen, und als Davids Zug ihn nach Milovka führte, schwoll sein Herz in dem Gedanken an die der Makkabäer würdigen Taten, die durch die regenerierten jungen Söhne Israels ausgeführt werden sollten. Aber die Reise war lang. Gegen das Ende derselben geriet er in eine Unterhaltung mit einem alten russischen Bauern, der nicht nur in keiner Weise von der allgemeinen politischen Erregung erfaßt war, sondern sogar bitterlich darüber klagte, daß die gute alte Zeit des Leibeigentums vorüber sei. »Denn damals brauchte man sich keine Sorgen zu machen – man aß und trank. Jetzt ist alles Mühe und Arbeit geworden.«
»Aber,« erinnerte ihn David, »wenn es Euerm Herrn gefiel, wurdet Ihr ausgepeitscht.«
»Er war ein Edelmann,« antwortete der Bauer würdevoll.
David versank in tiefes Schweigen. Hatte denn nicht auch der Jude es gelernt, die Rute zu küssen, mit der er gezüchtigt worden? Und das war noch nicht einmal die Rute eines Edelmanns! Jeder Muschik, jeder russische Schurke konnte sie schwingen. Aber, Gott sei Dank, die Zeit dieser feigen Judenbrut war vorüber – sie wurde durch die Pogroms vernichtet – das war das einzige Gute davon.
Auf der Station mietete er eine wacklige Droschke und sagte dem jüdischen Kutscher, er möge ihn zu dem besten Wirtshause des Städtchens führen. Quer über der unbequemen Bank des altmodischen Gefährts sitzend und zärtlich wie ein richtiger Musiker seinen Geigenkasten umfassend, fing er, während der Wagen über die schlechten Wege stolperte, an, mit seinem Führer über die drohenden Judenmassakers zu sprechen.
»Bah!« meinte der Kutscher, die Achseln zuckend, »wir sind hier im Golut!« Exil durch Gottes Willen. Er sprach resigniert, aber ohne irgendeine Befürchtung auszusprechen; David merkte sofort, daß es nicht so leicht sein würde, die Juden Milovkas aus dem Gefühl der Sicherheit zu erwecken, in dem sie sich wiegten. So wie jeder Mensch den anderen Menschen für sterblich hält, so hielt auch Milovka die Massakers für eine schreckliche Wirklichkeit – die aber wohl nur andere Städte treffen würde. Man ließ sich nicht mehr dadurch in Aufregung bringen; nach Kischineff hatte man sich unglaublich gefürchtet, aber als bald hier, bald dort Judenmassakers stattfanden, hatte man sich so daran gewöhnt, daß man es für einen Teil der Naturordnung betrachtete.
*
Der Wirt des Gasthauses schüttelte den Kopf.
»All unsere Zimmer sind besetzt.«
David, der immer noch seinen Geigenkasten liebevoll umschlungen hielt, warf einen Blick über das schmutzige, mit Senf beschmierte Tischtuch auf dem langen Tische und auf die Brut des Wirtes, die auf dem Fußboden herumlag und spielte. Wenn dies das beste Wirtshaus war, wie um Gottes willen mochten dann die anderen aussehen?
»Für wie lange?« fragte er.
Der Wirt zuckte die Achseln, wie der Kutscher es getan. »Bin ich der Allmächtige?«
Er trug ein schwarzes Samtmützchen, das aber nicht so spitzig geformt war, wie der Gebrauch es dem orthodoxen Juden vorschreibt, um seine Frömmigkeit zu bekunden. Sein viereckiger Schnitt bewies der jüngeren Generation, daß er ein Weltmann sei, der mit der Zeit voranging; der alten mußte das Material und die Farbe genügende Garantie für seine Rechtgläubigkeit sein. Er war der richtige Wirt, der Freund aller derer, die etwas bei ihm verzehrten.
»Wieviel Zimmer haben Sie denn überhaupt?« fragte David.
»Wie viele sollte ich denn haben? Doch nur dies eine«, erwiderte der Wirt.
»Nur dies eine Zimmer?« David wandte sich an den Kutscher: »Sie sagten doch, daß dies das beste Wirtshaus sei? Wahrscheinlich ist es das Ihres Schwagers?«
»Was hätt' ich davon, wenn es dies wäre?« antwortete der Kutscher. »Sie sehen, daß er Sie nicht aufnehmen kann.«
»Weshalb haben Sie mich denn hierhin geführt?«
»Weil nirgendwo anders Platz ist.«
»Was?« David starrte ihn an.
»Bei den Gesetzen Moses,« erklärte der Wirt gutmütig, »Weshalb sind Sie auch gerade zur Zeit der Rekrutenaushebung gekommen? Die jungen Leute aus allen benachbarten Dörfern sind hierher gekommen, um ihre Nummern zu ziehen. Alle jüdischen Wirtshäuser sind von Bauern erfüllt, und sie essen da koscher,« fügte er lachend hinzu.
David runzelte die Stirn. Dann aber sagte er sich, daß, wenn dies der Fall sei, der Pogrom jedenfalls verschoben werden würde, bis die Rekruten zu ihren Regimentern gebracht und die glücklichen Burschen, die ein Freilos gezogen, zu ihren Dörfern zurückgekehrt sein würden. Er würde dadurch Zeit gewinnen, das jüdische Verteidigungskorps zu organisieren. Ja, er und Rußland warben gleichzeitig ihre Rekruten! Indessen, wo sollte er ein Unterkommen finden?
»Sie können die Lezhanka haben« (der Platz auf dem großen gemauerten Ofen), sagte der Wirt, seine Gedanken beantwortend.
David blickte wehmütig auf den hohen Ofen. Nun, man konnte schließlich im Winter noch einen schlechteren Schlafplatz finden, als der auf einem Ofen war. Vielleicht würde er sogar, wenn er sich mit seiner Geige dahin zurückzöge, am sichersten vor der Neugierde der Polizei sein. Gleichviel, er war sehr müde. Er konnte jedenfalls dort ausruhen; es war noch früh am Morgen, er hatte also später Zeit genug, ein anderes Logis zu suchen.
»Lassen Sie mein Gepäck hereinbringen,« sagte er resigniert.
»Tee?« fragte der Wirt, sich am Samovar zu schaffen machend.
»Haben Sie einen Tropfen Branntwein?«
Der Wirt hielt erschrocken die Hände in die Höhe: » Monopolka« (Monopol), rief er.
»Haben sie den Juden überhaupt keine Konzession erteilt, Alkohol zu verkaufen?«
»Nein, sie müßten denn Weihwasser unter den Branntwein mischen, wie der getaufte Benjamin dies tut,« sagte der Wirt mit grimmem Humor und fügte schnell hinzu: »Sein Wirtshaus ist noch voller als das meine; es stehen dort vier Betten im Zimmer.«
Da das Mittagsessen schon vorüber war, konnte David nur ein paar aufgewärmte Brocken bekommen. Der Hunger jedoch würzte das elende Mahl, und er benutzte die augenblickliche Abwesenheit der Kundschaft, um von dem Wirte einiges über die tonangebenden Bürger des Städtchens zu erfahren.
»Aber Sie werden bei keinem von ihnen als Musiklehrer reüssieren«, warnte der Wirt ihn, »Tinovitz, der Kornhändler, hat zwar ein paar Töchter, von denen man erzählt, daß sie christliche Erzählungsbücher lesen, aber halten Sie es darum für wahrscheinlich, daß ihr Vater es riskieren würde, daß sie sich in einen jungen Mann verlieben, dessen Haar und Kleider wie die eines Christen geschnitten sind? Nicht, als ob ich solche Vorurteile teilte! Ich habe die Welt gesehen und weiß, daß es möglich ist, am Sabbat ein Taschentuch zu tragen und doch ein guter Mensch zu sein.«
»Ich bin nicht hierher gekommen, um Musikstunden zu geben, sondern um schießen zu lehren«, sagte David keck.
»Schießen?« Der Wirt schaute ihn erstaunt an. »Sind Sie denn kein Jude, mein Herr? Ich bitte Sie um Entschuldigung.« Seine Stimme hatte plötzlich den demütigen Klang angenommen, dessen er sich bediente, wenn er mit den Poritz (polnische Edelleute) redete. Seine salbungsvolle Familiarität war verschwunden.
» Salachti« (Ich habe vergeben), sagte David auf hebräisch und über das verdutzte Gesicht des Mannes lachend. »Glauben Sie nicht, daß angesichts des bevorstehenden tragischen Ereignisses es die höchste Zeit ist, daß die Juden von Milovka schießen und sich verteidigen lernen?«
Der Wirt blickte unwillkürlich erschrocken um sich, ob kein Spion im Zimmer sei. »Hüten Sie Ihre Zunge«, sagte er tief erschrocken.
Aber David fuhr fort zu lachen: »Sie, mein Freund, sollen mein erster Schüler sein.«
»Gott bewahre mich davor! Ich muß Sie wirklich bitten, ein anderes Logis zu suchen.«
David lächelte grimmig über diesen ersten Erfolg seiner Mission. »Nun, ich denke, es wird sich wohl noch irgendwo anders ein Ofenplatz finden lassen«, sagte er lustig, worauf der Wirt, der noch nie im Leben so entschieden aufgetreten war, schon fürchtete, zu weit gegangen zu sein. »Sie sollten den Rat eines welterfahrenen Mannes annehmen«, sagte er in vermittelndem Tone, »und solche verrückten Absichten in den Fluß werfen, in welchem Sie zu Neujahr Ihre Sünden versenken. Ein so junger und hübsch aussehender Mann, wie Sie es sind! Sehen Sie, wenn Sie wollen, könnte ich Ihnen zu einem Schidduch verhelfen, der so gut ist, daß Sie für Ihr ganzes Leben in der Wolle sitzen.«
»Ha! ha! ha! Woher wissen Sie denn, daß ich nicht verheiratet bin?«
»Verheiratete Leute sprechen nicht so leichtfertig vom Schießen. Kommen Sie, lassen Sie mich die Angelegenheit in die Hand nehmen. Ich beanspruche nur ganz bescheidene Prozente der Mitgift – –«
»Ach so, Sie sind ein richtiger Schadchen?«
»Wovon sollte ich sonst leben? Denken Sie, daß man von diesem Wirtshause fett werden könne? Aber es steigen hier Leute aus allen umliegenden Städten ab. Ich bin daher in den weitesten Kreisen bekannt, kenne alle annehmbaren Partien. Ich habe viel mehr auf Lager als jeder andere Schadchen.«
»Aber ich sehe nicht fromm genug aus.«
»Nu! Lassen Sie nur die Ohrlocken wachsen, die Mitgift wird sich mit ihnen vergrößern.« – Der Wirt hatte die alte Vertraulichkeit wiedergefunden.
»Ich kann nicht warten, bis meine Ohrlocken wieder gewachsen sind,« sagte David mit einem plötzlichen Einfall, »aber wenn Sie mich bei Tinovitz einführen, so soll es Ihr Schade nicht sein, wenn die Sache gut ausfällt.«
Der Wirt rieb sich die Hände. »Jetzt sprechen Sie wie ein vernünftiger Mann.« –
Tinovitz las den in hebräischer Sprache geschriebenen Einführungsbrief und sah den Freier mit mißtrauischen Blicken an. Man kann nicht sagen, daß dieser Ausdruck seine grotesken Gesichtszüge verschönerte, und David zog einen Schluß daraus auf das Aussehen seiner vielen unverheirateten Töchter.
»Ich kann nicht sagen, daß Sie sehr nach meinem Geschmack sind«, sagte der Kornhändler. »Es ist mir außerdem unmöglich, Ihnen die Hand meiner jüngsten Tochter zuzusagen, ich habe andere Pläne mit ihr. Selbst meine Älteste – –«
Aber David winkte abwehrend mit der Hand. »Ich habe das dem Wirte gleich gesagt. Bin ich ein Talmud-Weiser, daß ich so hohe Ansprüche stellen könnte? Vergeben und vergessen Sie meine Chutzpah!« Dreistigkeit.
»Nun, nun, die Älteste – vielleicht – freilich mit einer kleineren Mitgift – –«
»Um aufrichtig zu sein, Herr Tinovitz, war es der Wirt, der falsche Hoffnungen in mir erregte. Ich bin nicht in der Absicht hierher gekommen, um eine Ehe zu schließen, sondern um Begräbnisse zu verhindern.«
Der Kornhändler starrte ihn erstaunt an.
»Begräbnisse zu verhindern?«
»Es wird ein Pogrom vorbereitet.«
»Lassen Sie solche Worte nicht über Ihre Lippen kommen«, sagte Tinovitz erbleichend.
»Ziehen Sie es vor, nicht davon zu hören und abgeschlachtet zu werden?« sagte David achselzuckend.
»Aber so etwas ist doch hier ganz unmöglich!«
»Unmöglich? Nachdem es in 638 anderen Städten stattgefunden hat?«
»In diesen Städten muß irgend etwas böses Blut gemacht haben, aber hier leben die Juden und Russen wirklich wie Brüder miteinander.«
»Auch Kain und Abel waren Brüder. Sie haben viele Jahre friedlich miteinander gelebt, während Kain den Acker bearbeitete und Abel seine Schafe hütete.«
Diese biblische Reminiszenz überzeugte Tinovitz mehr als jedes andere Argument.
»Was ist es denn, was Sie in dieser Sache vorzuschlagen haben?« kam es von seinen bleichen Lippen.
»Ein Zweigkomitee der Samooborona zu gründen. Sie müssen zunächst sämtliche Hausbesitzer zu einer Zusammenkunft einberufen.«
»Weshalb?«
»Um ein Komitee zu bilden – und um die Kosten aufzubringen.«
»Wie könnten wir eine Versammlung halten? Die Polizei –«
»Die Synagoge ist ganz sicher.«
»Ja, aber sie würde durch eine solche Versammlung profaniert werden.«
»Wie, sind die Juden nicht stets in die Synagogen geflohen, wenn sie in Gefahr waren?«
»Ja, aber nur um zu beten.«
»Wir werden mit der Pistole beten.«
»Hüten Sie Ihre Zunge –«
»Hüten Sie Ihre Töchter.«
»Der Allerhöchste wird sie beschirmen.«
»Der Allerhöchste schirmt sie durch mich, wie er sie durch Ihre Hand erhält. Zum letzten Male frage ich Sie, wollen Sie oder wollen Sie nicht mir dazu behilflich sein, eine Versammlung der Hausbesitzer zu veranstalten?«
»Sie rasen auf das Ziel los wie ein wild gewordenes Pferd. Ich danke Gott, daß Sie nicht mein Schwiegersohn werden.«
Die Unterredung endete damit, daß Tinovitz sich Zeit erbat, die Sache zu überdenken. David sollte am nächsten Tage wieder vorsprechen, um sich Bescheid zu holen.
Aber als er, nachdem er eine schlaflose Nacht auf dem Ofen verbracht hatte, wieder zu dem Hause des Kornhändlers ging, fand er es verriegelt und abgeschlossen. Die Nachbarn teilten ihm mit, daß Tinovitz plötzlich eine längere Geschäftsreise hätte unternehmen müssen, und daß er seine Frau und die Töchter mitgenommen habe, damit diese eine kleine Abwechslung hätten.
Indessen brachte Tinovitz' Flucht David doch einen Vorteil. Er avancierte von dem Ofen in das Schlafzimmer. Denn der bisherige Mieter desselben war ebenfalls ganz plötzlich abgereist, und da der Wirt durchblicken ließ, daß er diesen jungen Mann der zweiten Tochter Tinovitz' bestimmt habe, erriet David, daß Tinovitz sich diesen Schwiegersohn gesichert habe. Eine andere Ermutigung für ihn war, daß er in dem zweiten Bette des Gastzimmers einen robusten jungen Juden, namens Ezechiel Lewen, fand, der wegen der Aushebung aus einem der benachbarten Dörfer gekommen war, und der sich ganz als ein Mann nach seinem Herzen erwies. Die halbe Nacht lang beredeten die beiden jungen Helden die kühnen Taten, die sie zur Befreiung ihres Volkes vollbringen würden. Ezechiel Lewen war ein idealer Leutnant, denn er stammte aus einer der seltenen Bauernkolonien und verstand es schon sehr gut, mit Schußwaffen umzugehen. Er hatte dabei ziemlich viele Verwandte in Milovka, und durch ihre und des Rabbis Hilfe gelang es, eine Anzahl von Hausbesitzern in einer »wichtigen Angelegenheit« in das Schlafzimmer der beiden jungen Leute einzuladen. Ezechiel selbst mußte unglücklicherweise am anderen Tage zu der Ziehung, aber er versprach, zu der Versammlung zurück zu sein.
Die Eingeladenen kamen wie zufällig in die Wirtsstube, ließen sich ein Glas Tee geben und gingen dann möglichst unauffällig die Treppe herauf. Der Wirt, der sehr ängstlicher Natur war und allerlei Gefahr witterte, überließ die Wirtschaft seiner Frau und stahl sich ebenfalls in das verhängnisvolle Schlafzimmer. Nachdem er dort zuerst ängstlich dagegen protestiert hatte, daß man ihn durch diese einer Verschwörung ähnlich sehende Versammlung ins Verderben stürze, erklärte er, daß es ihm nichtsdestoweniger nicht an Interesse für den geplanten Bund mangele und daß er sich deshalb dazu erböte, freiwillig Wache zu stehen. Er wurde demgemäß an dem mit einem zerlumpten Vorhang umhüllten Fenster aufgestellt, von wo er jedesmal signalisierte, wenn sich ein Christ mit oder ohne Uniform sehen ließ.
Bei jedem solcher Signale verstummte Davids Rede plötzlich, und die mit Kaftanen bekleideten auf den beiden Betten und dem einzigen Stuhle herumsitzenden Gestalten zuckten nervös zusammen. Aber David war daran gewöhnt, unter großen Schwierigkeiten zu reden. Er lebte ungefähr auf demselben Fuße mit der Polizei wie die verzweifeltsten Verbrecher, und ein Fremder, der die geheimen Zusammenkünfte beobachtet und gesehen hätte, mit welcher Taktik geredet worden, wie Waffen verteilt, Vorposten ausgesandt und Nachtwachen ausgestellt wurden, würde unbedingt geglaubt haben, daß es sich um eine Rebellion handle, während man doch nur einen Versuch machte, die Macht des Gesetzes und der Ordnung zu stützen.
Er erklärte, daß er nach Milovka gekommen sei, um seine Glaubensgenossen davor zu warnen, daß ein Pogrom vorbereitet werde, und daß die Schwarzen Hundert bald in das jüdische Viertel eindringen würden. Aber die Juden sollten nicht mehr wie die Lämmer zur Schlachtbank gehen. Nur zu lange hätte man, wenn man auf die eine Wange geschlagen wurde, auch die andre hingehalten, um auch diese zerschlagen zu lassen. Jetzt endlich müßte man sich verteidigen. Er wäre hierher gekommen, um eine Zweigvereinigung der Samooborona zu gründen. Es müßten Browning-Gewehre angeschafft werden. Die Holzhauer müßten zu einer Abteilung von Axtträgern organisiert werden. Es wäre auch notwendig, ein Sanitätskorps zu schaffen, das die Verwundeten verbinden und ihnen die erste Hilfe zukommen ließe.
Der Schauder, der alle bei der Nachricht des bevorstehenden Pogroms durchrieselte, war nicht so heftig wie das Grauen, das sie bei den letzten Worten ergriff.
Man glaubte schon, das Blut fließen zu sehen. Der am Fenster stehende Wirt wischte den kalten Schweiß von seiner Stirn und schien erstaunt zu sein, daß seine Hand nicht rot davon gefärbt wurde.
»Brüder,« brach Koski, der Holzhändler, los, »glaubt mir, dies ist ein böser Versucher! Sich mit Schießwaffen zu versehen, ist der sicherste Weg, das Unheil zu provozieren – –«
»Ich sage aber doch nicht, daß Sie sich mit Schießwaffen versehen sollen«, unterbrach ihn David. »Es sind die jungen Leute, die die Stadt verteidigen müssen. Aber das Kahal (die Kongregation) ist es, das das nötige Geld dazu herbeischaffen muß – sagen wir einmal: 10 000 Rubel zum Anfange.«
»10 000 Rubel für ein paar Pistolen!« rief Mendel, der Pferdehändler. »Das ist Schwindel!«
David errötete. »Wir müssen wenigstens drei Pistolen auf jeden Verteidiger der Stadt rechnen. Aber ein Revolver kann 10 000 Rubel unseres Eigentums retten, nicht zu sprechen von euerm Leben.«
»Wenn wir auf einen solchen Vorschlag eingingen, würden wir unser Leben riskieren, anstatt es zu retten«, fing der Holzhändler wieder an. »Dies ist ein Komplott, das uns alle verderben würde.«
Die anderen stimmten ihm einmütig bei.
»Meines Freunde,« sagte David ruhig, »das Komplott, das euch alle zerstören soll, ist längst geschmiedet; die Frage ist nur die, ob ihr euch wie Ratten elend umbringen lassen oder ob ihr wie Männer für euer Leben kämpfen wollt!«
»Pah!« sagte der Pferdehändler, »Dies ist nicht das erstemal, daß man uns bedroht hat, wenn auch nicht mit dem Tode, so doch mit erhöhten Steuern; wir haben dann immer Schtadlonim (Gesandte) ausgeschickt. Wir wollen eine Kollekte machen, und der Präsident des Kahal soll dann gleich zu dem Gouverneur gehen und sie ihm anbieten (hier zwinkerte Mendel mit dem Auge), um ihm die Mittel zu geben, das bevorstehende Pogrom zu verhindern.«
»Der Gouverneur ist mit in dem Komplott«, sagte David.
»Der läßt sich bestechen«, sagte der Holzhändler.
»Pogroms bringen aber mehr ein als Geschenke«, sagte David trocken. »Es ist schon besser, Bomben vorzubereiten.« Ein neuer Schauder ging durch die Herzen aller Anwesenden.
»Bomben und Geschenke,« brach nun der alte Rabbi los, »dies alles sind gottlose Hilfsmittel. Wir stehen unter dem Schutze des Allerhöchsten. Gesegnet sei er! Der Schomer (Wächter) Israels schlummert und schläft nicht.«
»Ebensowenig wie der Schochet (der Schlächter) Israels«, sagte David wild.
»Still, du Epikuräer«, tönte es von allen Seiten bei den frevelnden Worten.
Der Wirt, der sah, woher der Wind blies, sagte »Frecher Marschallik« (Hanswurst).
»Ich werde einen Fast- und Bettag ansetzen«, erklärte der Rabbi feierlich.
Man beruhigte sich etwas bei diesen Worten, und Gütler, der Kolonialhändler, rief: »Und ich, Rabbi, werde der Synagoge Kerzen stiften von einer Länge, wie die Gräber eurer Vorfahren.«
»Möge deine Kraft wachsen, Gütel,« tönte es von allen Seiten, und der Wirt in seiner Fensternische seufzte erleichtert auf.
»Meine Herren,« sagte er dann, »wenn ich meine bescheidene Meinung aussprechen darf, so ist auch Reb Mendels Rat nicht zu verachten. Gott der Herr ist natürlich unser einziger Schutz, aber es kann darum doch nicht schaden, wenn wir rechtzeitig dafür sorgen, uns auch des Schutzes des Gouverneurs zu versichern.«
»Das ist wahr.« – Die Gemüter erheiterten sich sichtlich.
»In Gottes Namen,« brach David los, »so erwacht doch endlich aus eurer Verblendung! Eure einzige Rettung liegt in der Samooborona. Gebt uns das Geld und nicht dem Gouverneur! Wir können uns in dem Talmud-Thora-Saale versammeln und dort unsere Übungen abhalten.«
»In dem heiligen Studiersaale!« sagte der Rabbi. »Der sollte durch ungesetzmäßige Versammlungen entweiht werden?«
»Wenn ihr es nicht tut, werden euere Feinde sich dort versammeln«, sagte David grimmig. »Begreift ihr denn nicht, daß dort der allersicherste Platz für uns ist? Die Polizei glaubt, daß es nur der Versammlungsort gelehrter Schwächlinge sei.«
»Stille, du Haman!«, sagte der Holzhändler und stand auf, um zu gehen. David vermochte seine Leidenschaftlichkeit nicht mehr zu bekämpfen. Die Erinnerung begangener Greuel, deren Zeuge er gewesen, überwältigte ihn. Er gedachte des Greises, den man skalpiert, des unglückseligen Weibes, dem man mit einem glühenden Eisen die Augen, ausgestoßen hatte, des kleinen Kindes, dessen Schädel von den Füßen eines gesinnungstreuen Russen zertreten worden, und anderer Grausamkeiten. »Bürger,« donnerte er los, »ich will euch retten, selbst wenn ihr es nicht wollt!« Der Wirt bedeutete ihm, stille zu sein, aber David fuhr rücksichtslos fort: »Werdet ihr denn niemals Männlichkeit – –«
Sie warfen sich in panischem Schrecken über ihn, hielten seine Hände fest, überwältigten ihn und warfen ihn auf das Bett.
Plötzlich erschien eine neue Gestalt in dem Zimmer; einen Augenblick standen alle starr vor Schrecken und hielten sich für verloren. Man ließ David los. Dann erkannte man, daß der Neuangekommene Ezechiel Lewen sei.
»Gesegnet bist du, der da kommt«, rief David auf seine Füße springend. »Du und ich, Ezechiel, wir werden Milovka erretten.«
»Ach,« stöhnte Ezechiel, »ich habe eine niedrige Nummer gezogen, ich muß Soldat werden und für Rußland kämpfen.«
– Man brachte schnell 15 000 Rubel für den Gouverneur zusammen, aber noch ehe man sie ihm überreichte, hatte der Rabbi in tödlicher Angst vor dem von dem Feuerkopfe David angeregten Ideen die sorgfältigsten Erkundigungen angestellt, ob die Selbstverteidigung gesetzlich und ob es danach erlaubt sei, den Talmud-Thorasaal dazu zu benutzen, um sich im Schießen zu üben. In Antwort auf diese Fragen erschien eine obrigkeitliche Bekanntmachung, in der erklärt wurde, daß alle Juden, die mit Waffen oder in irgendeiner Versammlung, die nicht religiösen Zwecken diene, gefunden würden, ohne weiteres erschossen werden sollten. Als dann die Schtadtlonim (Gesandten) mit den 15 000 Rubeln erschienen, erklärte der Gouverneur ihnen sehr ernst, daß sie es sich selbst zuzuschreiben hätten, wenn ein Pogrom stattfände. Die Juden von Milovka fingen an, Pistolen zu tragen wie Revolutionäre; sie planten ungesetzliche Versammlungen in ihren Betsälen, wäre es da ein Wunder, wenn die Liga der treuen Russen mißtrauisch würde? Er indessen wolle sein bestes tun, diese wenigen Rubel dazu zu verwenden, besondere Vorsichtsmaßregeln zu treffen, aber er rate ihnen im guten, beizeiten die übeln Elemente aus ihrer Mitte auszumerzen, sonst möchte auch seine Autorität nicht hinreichen, um sie vor dem gerechten Zorne der gehorsamen Kinder des »Väterchens« zu schützen. Zitternd zogen sich die Abgesandten mit ihren leeren Geldbeuteln zurück.
Der arme David fand es nach diesen Vorgängen unmöglich, eine zweite Versammlung einzuberufen. Sein Wirt hatte ihm auf das entschiedenste erklärt, daß er in seinem Gasthause von solchen Dingen nichts mehr wissen wolle; man war allgemein der Ansicht, daß es am besten sei, wenn David die Stadt so schnell wie möglich verließe, und man schickte einen Abgesandten an den Wirt, um ihn zu veranlassen, dies David wissen zu lassen.
»Meint ihr denn, daß ich ihm nicht schon selbst gesagt hätte, er solle gehen?«
»Aber er ist doch immer noch hier?«
»Ach! Er droht, mich und jeden, der ihn verrät, erschießen zu wollen.«
Der Gesandte schauderte.
»Als ob ich einen Bruder in Israel verraten würde«, fügte der Wirt vorwurfsvoll hinzu.
»Nein, nein – das natürlich nicht«, sagte der Gesandte. »Man läßt solche Burschen am besten allein; sie tragen Bomben unter ihren Westen anstatt Zizzes Schaufäden am Gebetmantel.. Hoffen wir, daß ein plötzlicher Tod uns von ihm erlöst.«
»Amen«, sagte der Wirt inbrünstig.
Nicht, als ob David irgendeinen Grund hätte haben können, in einem so armseligen Wirtshause zu bleiben. Aber sein Blut war so erregt, und es machte ihm ein gewisses boshaftes Vergnügen, seinen ängstlichen Wirt nicht von seiner Gegenwart zu befreien.
Er sah ein, daß, wenn überhaupt noch auf einen Erfolg zu hoffen war, er sich einzeln an die Bürger wenden und sie für seine Aufgabe zu gewinnen suchen müsse. Ein Narr oder ein Feigling in einer Versammlung genügte, um die ganze Gesellschaft anzustecken.
Er machte sich also am anderen Morgen gleich nach dem Frühstück auf und suchte zunächst Erbstein, den Bankier, auf. Der aber hob abwehrend die Hände in die Höhe. »Was, ich habe kaum erst 1000 Rubel dazu gegeben, um uns vor einem Progrom zu bewahren –«
»Die waren für den Gouverneur. Geben Sie mir nur 100 für die Selbstverteidigung.«
Der Bankier sog ruhig an seiner großen Zigarre.
»Wir werden unsere Rechte mit der Zeit schon durchdrücken. Aber so etwas geht nur allmählich. Schon jetzt volle Gleichberechtigung zu fordern, ist Unsinn, ist einfach unmöglich. Es ist eine schlechte Taktik, etwas zu fordern, was sich nicht erlangen läßt. Wir können unsere Emanzipation nur dadurch befördern, daß wir Hand in Hand mit Rußland –«
David wurde ungeduldig. »Ich spreche jetzt nicht von unsern Rechten – ich spreche von unserm Leben.«
Aber da Erbstein eben ein Bankier war, so hörte er niemals zu, obgleich er auf alles antwortete. Seine Finanzerfolge hatten ihn glauben gemacht, daß er auch in Religion und Politik eine Autorität sei.
»Vertrauen Sie den Oktobristen,« sagte er fröhlich.
»Ich würde lieber unsern Revolvern vertrauen.«
Dem Bankier fiel die Zigarre aus dem Munde.
»Sie sind ein Anarchist! Wie mein Neffe Simon.«
David fing an zu begreifen, wie beschränkt der Horizont dieses Finanzgenies sei. Er sah ein, daß es noch schwerer ist, einem Bankier neue Ideen verständlich zu machen, als Geld aus seiner Tasche zu locken. Er verließ ihn in der Absicht, den vielversprechenden Neffen Simon aufzusuchen. Es gelang ihm, seine Spur zu finden, und er traf ihn in einem hübschen, nahe dem Stadttor gelegenen Hause. Simon studierte Jura, wie es schien; sein Zuname war Rubensky.
Als der junge Mann hörte, daß sein Onkel ihn für einen Anarchisten hielt, lachte er verächtlich. »Bourgeois!« sagte er. »Der erklärt jeden Gedanken, der sich nicht in Geld ummünzen läßt, für Anarchie; tatsächlich bin ich genau das Gegenteil eines Anarchisten: ich bin Sozialist. Ich gehöre zu den P. P. S. Wir sind nicht so revolutionär als die S. R.«
»Ich fürchte, daß ich sehr unwissend bin,« sagte David; »ich bekenne, nicht zu wissen, was diese Buchstaben bedeuten.«
Simon Rubensky lächelte mitleidig.
»Die S. R., das sind die törichten Sozialrevolutionäre, ich aber gehöre zu den P. P. S., das ist die Polnische Partei des Sozialismus.
»Ach so,« sagte David, der zu begreifen anfing, »und ich gehöre zu der Jüdischen Partei der Selbstverteidigung. Ich hoffe, daß auch Sie sich dieser anschließen werden.«
Der junge Rechtsgelehrte schüttelte den Kopf. »Eine getrennte jüdische Partei, nein, nein! Das hieße den Zeiger der Weltgeschichte zurücksetzen. Die Nichtisolierung der Juden ist eine unbedingte historische Notwendigkeit. Unsere Emanzipation muß Hand in Hand mit der Entwicklung Rußlands gehen.«
»O! Dann stimmen Sie also doch mit den Ansichten Ihres Onkels überein!«
»Mit jenem Spießbürger! Niemals! Aber wir sind Polen, die sich zu dem mosaischen Glauben bekennen – jüdische Polen – keine polnischen Juden.«
»Die Antisemiten morden die einen wie die anderen.«
»Und auch die sogenannten Intellektuellen.«
»Aber die Intellektuellen werden über die Reaktionäre triumphieren, und dann werden sie gemeinschaftlich gegen die Juden losgehen. Haben nicht die ungarischen Juden zu Kossuth gehalten? Und nachdem Ungarn frei geworden –.«
In diesem Augenblick kamen Simons Frau und Schwester in das Zimmer, und er stellte ihnen David lächelnd als Ghetto-Reaktionär vor. Die jungen Damen – ernst gekleidete Studentinnen einer Schweizer Universität – machten große erschrockene Augen.
»Und dabei noch so jung«, sagte Simons Frau erstaunt.
»Möchten Sie, daß ich ruhig dabei stände und zusähe, wie mein Volk ermordet wird?«
»Gewiß,« sagte sie, »lieber als dem Zeitgeiste entgegenstreben. Die unbedingte historische Notwendigkeit wird uns ganz von selbst zu einer besseren sozialen Stellung verhelfen.«
»Ach was,« rief Simons Schwester, »das sagst du deinem Marx und Hegel nach! Ich protestiere gegen deinen historischen Materialismus. Mit Fichte behaupte ich –«
»Sie ist S. R.,« unterbrach Simon sie in erklärendem Tone.
»Ach,« sagte David, »dann gehört sie also nicht der P. P. S. an, wie Sie und Ihre Frau?«
»Simon, hast du ihm gesagt, ich wäre eine P. P. S.?« fragte seine Frau entrüstet.
»Nein, nein, natürlich nicht. Ein Ghetto-Reaktionär versteht eben nichts von moderner Politik. Es tut mir leid zu sagen, daß meine Frau eine S. D. ist.«
»O, von den Sozialdemokraten habe ich schon reden hören«, sagte David triumphierend.
Simons Schwester lachte. »Natürlich, weil sie eine bürgerliche Partei bilden – die nichts riskiert und geduldig wartet, bis die Revolution in ihre Hände gleitet.«
»Was du da sagst, paßt besser auf jene Partei, die die landbesitzenden Bauern zu ihren Kräften zählt«, sagte Simons Frau ärgerlich.
»Darf ich mir erlauben, Sie darauf aufmerksam zu machen,« sagte David besänftigend, »daß alle diese Unterschiede völlig unwesentlich sein würden, wenn Sie der Samooborona beitreten wollten? Ich könnte die Hilfe der Damen in der Ambulanz so sehr gut verwenden.«
»Das ist ja beleidigend«, rief Simon gereizt. »Unser Platz ist Schulter an Schulter mit unseren Landsleuten, den Polen.«
Simons Schwester suchte einzulenken. Vielleicht hatte die Erwähnung der Ambulanzen Sympathie in ihrer sozialrevolutionären Seele erweckt. »Sie sollten sich in ihrer eigenen Partei umsehen«, sagte sie.
»Meine Partei –«
»Nun ja, die Ghetto-Reaktionäre – die Zionisten, Territorialisten, Itoisten, und wie sie alle heißen mögen.«
»Gibt es hier welche?« rief David eifrig.
»Man hört ja von nichts anderem«, sagte Simon bitter.
»Glücklicherweise machte die Polizei ihren Zusammenkünften ein Ende, sobald sie dahinter kam, daß sie in Wirklichkeit gar nicht daran dachten, nach Zion oder Uganda auswandern zu wollen.«
David notierte sich eifrig die betreffenden Namen. Simon empfahl ihm besonders zwei junge Leute, Grodsky und Lerkoff, die ganz ausgesprochene Sozialisten seien.
– Aber Grodsky hatte, wie David bald fand, seine eigenen Ideen.
»Nur die S. Z. können Israel erretten«, sagte er.
»Was bedeutet das: S. Z.?« fragte David.
»Es sind die Sozialistischen Zionisten.«
»Aber kann es nicht auch außerhalb Zions Sozialisten geben?«
»Natürlich kann es das. Wir haben uns vom Zionismus aus entwickelt. Die unbedingte historische Notwendigkeit ist, ein nur uns angehöriges Land zu erwerben, aber es ist kein besonderes Land dazu nötig. Unsere Mitglieder in Minsk nennen sich die S. T., Sozialistische Territorialisten.«
»Aber während ihr auf euer Land wartet, vergeßt nicht der Antisemiten!« erinnerte David ihn. »Simon Rubensky glaubte, daß gerade Sie der richtige Mann für das Selbstverteidigungskorps wären.«
»Ich sollte mit Rubensky Hand in Hand gehen? Mit einem P. P. S.? Niemals würde ich das tun.«
»Er will sich uns aber gar nicht anschließen.«
Der S. Z. zögerte. »Da muß ich doch mal eher andere meiner Partei fragen. Ich muß erst an das Hauptquartier schreiben.«
»Briefe reisen heutzutage weder schnell noch sicher.«
»Aber die Disziplin einer Partei ist alles«, meinte Grodsky.
David verließ ihn und suchte Lerkoff, der sich als ein Arzt erwies.
»Ich möchte hier eine Zweiggesellschaft der Samooborona gründen,« erklärte er; »Herr Grodsky hat halb und halb versprochen …«
»Dieser Bourgeois!« rief Lerkoff verächtlich. »Ich will nichts mit Verrätern seinesgleichen zu tun haben.«
»Warum ist er ein Verräter?« fragte David erstaunt.
»Weil alle Territorialisten Verräter sind. Wir Poali-Zionisten Poali-Zionisten = »arbeitende Zionisten«, eine in Rußland ebenfalls starke Gruppe. müssen die heilige Flamme des Sozialismus und der Nationalität eifersüchtig hüten, da nur in Palästina unser soziales Problem gelöst werden kann.«
»Warum nur in Palästina?« fragte David mild.
Der P. Z. sah ihn durchdringend an. »Weil Palästina eine unbedingte historische Notwendigkeit ist. Jeder Versuch, irgendwo anders einen jüdischen Staat zu gründen, kann nur ein negatives und ungünstiges Resultat haben. Sehen Sie nicht, wie der Instinkt unseres Volkes es naturgemäß nach Palästina zieht? Nicht weniger als 4000 Juden sind in diesem Jahre dahin ausgewandert.«
»Und 150 000 sind nach Amerika gegangen. Wie sieht es mit diesem Instinkt unseres Volkes aus?«
»O, das waren nur gewöhnliche Bürger. Ich sehe übrigens schon, daß Sie ein Amerikanischer Assimilator sind.«
»Ich bin ebenso wenig ein A. A. wie ein Z. Z. –« sagte David neckisch und mit leisem Lachen, »das heißt, ich weiß wirklich nicht, ob es so etwas wie ein Z. Z. gibt?«
»Wollte der Himmel, daß es das nicht täte«, sagte Lerkoff eifrig. »Es sind ja gerade diese miserabeln Zioni-Zionisten, mit ihrem Mangel an jedem politischen Verständnis, die –«
– Milovka, so mittelalterlich seine Einrichtungen auch waren, besaß doch einige ziemlich unvollkommene Fernsprecher, und es schellte plötzlich heftig in dem in Dr. Lerkoffs Studierzimmer befindlichen Apparat.
»Ach,« rief er, »wenn man vom Teufel spricht, dann ist er nahe! Da meldet sich ein Mann, der alle schlimmsten Eigenschaften der Z. Z. und der Misrachi Osten, bedeutet hier die orthodoxe Gruppe innerhalb der Zionisten. in sich vereinigt. Er bildete sich außerdem ein, eine Halsentzündung zu haben, weil er kleine Partikel der Pelze, womit er handelt, verschluckt hat.« – Nach diesen Worten wandte er sich in liebenswürdigster Weise an seinen Patienten und rief ihm zu, daß er sofort kommen würde.
»Ist er nicht wirklich krank?« fragte David.
»Absolut nicht, ihm fehlt nichts anderes, als daß er unmäßig eitel ist und zu viel Geld hat.«
»Heilen Sie ihn von dem ersten Leiden, dann will ich versuchen, ihn von dem zweiten zu kurieren«, sagte David lachend.
»O, ich will Sie bei ihm einführen, wenn Sie dafür auf meine Hilfe verzichten wollen.«
»Ich bitte Sie ja gar nicht um Geld. Aber die Stunde ist nahe, wo Ihre ärztliche Hilfe unschätzbar sein wird«, sagte David. »Milovka ist in großer Gefahr. –«
»Zum Teufel mit Milovka«, rief Lerkoff. »Unsere Zukunft liegt nicht in Rußland. –«
»Ich spreche von der Gegenwart. Gestatten Sie mir, Sie als Arzt der Samooborona vorzumerken?«
»Nächstes Jahr – in Jerusalem!« erwiderte der Arzt hochmütig.
*
Lerkoff bat David, so lange in einem anderen Raume zu warten, während er Herrn Cantberg ärztlich untersuchte. In dem Zimmer, in das er geführt wurde, befand sich eine Lade mit Gesetzesrollen, ein Zeugnis für die Frömmigkeit und den gefüllten Geldbeutel des Hausherrn. Als Lerkoff jetzt wieder erschien, schüttelte er sich vor Lachen.
»Er weiß alles von Ihnen, Sie infamer Schurke«, sagte er.
»Was haben Sie ihm erzählt?«
»Er hat mir erzählt! Er weiß doch wirklich immer Bescheid. Sie sind ein getaufter Polizeispion, der sich als Mitglied der P. P. S. aufspielt. Ich denke, er hat auch schon von Ihrem Besuche bei Herrn Rubensky gehört.«
»Aber ich werde ihm Aufklärung geben.«
»Nicht, wenn Sie Geld von ihm zu erlangen wünschen. Dieser seiner Eitelkeit versetzte Schlag würde Ihnen teuer zu stehen kommen. Gehen Sie zu ihm hinein. Ich habe ihm nicht gesagt, daß Sie der junge Mann sind, von dem er sprach. Aber nun muß ich rasch fort, vergessen Sie nicht, daß er der richtige bürgerliche Typ eines Zionisten ist; sein Ziel ist keine neue Zukunft für unser Volk, er möchte nur die tote Vergangenheit wiedererwecken.«
»Und mein Ziel ist, die Gegenwart lebend zu erhalten, wollen Sie mir nicht –« aber der Arzt war schon über alle Berge.
Der Misrachi Z. Z. war ein ungewöhnlich kleiner Mann, dessen Kopf den Ausdruck einer Eule hatte. Aber sein: »Nehmen Sie Platz, nehmen Sie Platz, mein Herr!« klang sehr von oben herab und hochmütig.
»Ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen,« sagte David gerade heraus, »Milovka ist in großer Gefahr.«
»Das ist es ganz gewiß«, sagte der Z. Z. »Wenn Leute wie Dr. Lerkoff Menschen finden, die ihnen zuhören, ist es sicher in großer Gefahr. Es hat mir leid getan, Sie in Gesellschaft dieses Mannes zu sehen. Er ist gewiß ein ausgezeichneter Arzt, aber Sie kennen das Wort des Talmud: Selbst die besten Ärzte sind reif für die Hölle. Und der Mann nennt sich einen Zionisten! Bah, er ist gefährlicher als der junge Renegat, der der Polizei unter dem Deckmantel eines P. P. S. Spionierdienste leistet.«
»Aber er scheint doch wirklich ein glühender Zionist zu sein«, sagte David unbehaglich.
Herr Cantberg schüttelte schmerzlich den Kopf. »Er würde allgemeinen Impfzwang und Seruminjektionen einführen anstatt unserer großen alten Gesetze. Als ob irgendeine menschliche Einrichtung mit der Weisheit des Sinai konkurrieren könnte! Er spottet tatsächlich über die Wiedereinführung der Opfer.«
»Aber möchten Sie diese wieder eingeführt sehen?« David war erstaunt.
Die Eulenäuglein des Mannes funkelten. »Wofür haben wir uns so viele Jahrhunderte hindurch geopfert, wenn nicht der Opfer wegen? Was hat die lange Nacht unseres Exils anders geheiligt und erhellt als die Vision des Hohenpriesters mit seiner juwelengeschmückten Brustplatte, wie er vor dem Altar unseres heiligen Tempels unsere Opfer darbringt? Nun, endlich beginnt diese Vision festere Umrisse anzunehmen, die Hoffnung Israels leuchtet hell. Wie eine rosige Wolke, wie der aufgehende Mond, wie der Stern in der Wüste, wie der Leuchtturm über dem einsamen Meere.« –
Das Läuten des Telephons unterbrach ihn in unhöflicher Weise. Er nahm in seiner Ekstase keine Notiz davon, wurde jedoch einigermaßen dadurch gestört. »Ach, unser Volk ist so kurzsichtig,« fuhr er fort, »falsche eitle Propheten, – möge ihr Name von der Erde vertilgt werden –, verwirren die törichte Menge. Aber der Weizen wird von der Spreu, das feine Mehl von der Kleie, die nützlichen Pflanzen von dem Unkraute gesichtet werden, und mein Volk wird bald einsehen, daß nur ich –.«
Es läutete hartnäckig am Telephon. Nachdem er es entschieden verweigert hatte, die angebotenen Pelzwaren zu dem geforderten Preise anzukaufen, fuhr er fort: »Die Territorialisten sind Verräter, die das Volk irreführen, aber in Betracht, daß ihre Abreise den Kindern Israel eine Erleichterung verschaffen würde, wünsche ich ihnen gute Reise.«
»Welche Erleichterung können sie bringen?« warf David ungeduldig ein. »Ohne Selbstverteidigung!«
»Das ist sehr wahr. Es werden da eben ein paar hundert Leute an fremden Küsten durch das Fieber oder durch Hunger zugrunde gehen. Immerhin mögen sie untergehen, es geschieht alles zum Ruhme des Zionismus.«
»Wieso?« fragte David erstaunt.
»Weil dadurch der Beweis geliefert wird, daß die gottlosen Ideale der Materialisten sich niemals verwirklichen können, da Israel nur in seinem ursprünglichen Heimatslande zu einer Nation erstarken kann. Dann wird der Zeitpunkt kommen, wo ich auftreten werde.«
»Die Engländer sind von Dänemark eingewandert, und ich denke doch, daß sie Anspruch darauf haben, eine Nation genannt zu werden?«
Die Eulenaugen funkelten zornig. »Wir sind das auserwählte Volk; damit lassen sich heute keine historischen Parallelen ziehen. Wie die Taube zur Arche, wie die Schwalbe im Frühling in ihr Land, wie die Flut regelmäßig wiederkehrt, wie die Sterne –«
»Ja, ja, ich weiß schon,« sagte David, »aber wo sollte in Palästina Raum sein für alle russischen Juden?«
»War nicht im Tempel des Herrn Raum für die Millionen, die zum Passahfeste kamen?« erwiderte Herr Cantberg scharf.
Wieder setzte das Telephon ein. Das Pelzwerk wurde jetzt zu einem billigen Preise angeboten.
»Ein gottloser Bundist«, erklärte die Eule zwischen den durch Vermittlung des Telephons geführten Verhandlungen.
»Ein Bundist?« David spitzte seine Ohren.
Wenn es ihm gelänge, einige dieser Leute, die er für die tapferste revolutionäre Partei Rußlands hielt, zu gewinnen! »Wo ist er?«
Die Eule versuchte es, sich ein würdevolles Ansehen zu geben, sie sah höchst verschmitzt dabei aus.
»O, ich kann ihn nicht verraten, er ist immer doch ein Bruder in Israel. Nicht, daß sein Betragen eines solchen würdig wäre, denn er opponiert gegen den von uns vorgeschlagenen Kandidaten der Duma.«
»313 Rubel«, rief er dann in entschiedenem Tone durch das Telephon. »Nein, keine Kopeke mehr. Eh? Was? – Er hat die Verbindung abgebrochen, der elende Blutsauger.« Nun war er es, der die Verhandlung mit dem Händler wieder aufnahm. David merkte sich die Telephonnummer.
»Was habt ihr Zionisten mit dem Parlament in Rußland zu tun?« fragte er die Eule.
Aber die Eule war in ihr Telephongespräch vertieft.
»315! Was? Sie wollen mir wohl auch das Fell über die Ohren ziehen wie den Zobeln?«
»Ich sehe, daß Sie beschäftigt sind«, sagte David, der sich ärgerte, so viel Zeit vergeudet zu haben. »Ich werde mir die Freiheit nehmen, ein andermal wieder vorzusprechen.«
Ein Blick in das Telephonbuch verriet ihm Namen und Wohnung des Bundisten, und David eilte sofort zu ihm, in der Hoffnung, ihn für seine Zwecke zu gewinnen. Der Ladenbesitzer jedoch war ein so dicker und dumm aussehender Mensch, daß David der Mut sank. Aber er ging dennoch gleich auf sein Ziel los. »Ich weiß, daß Sie ein Bundist sind –«
»Ein was?« sagte der Pelzhändler.
David lächelte. »O, Sie brauchen mir nichts vorzumachen. Ich bin selbst ein Kämpfer für die gute Sache.« Er zeigte den in seiner Rocktasche verborgenen Revolver.
»Hilfe, Hilfe, Gewalt!« rief der Pelzhändler.
Ein bartloser Jüngling kam aus dem Innern des Zimmers gelaufen. David lachte herzlich. »Herr Cantberg sagte mir, daß Sie ein Bundist wären,« erklärte er dem Ladeninhaber, »und ich kam zu Ihnen in der Hoffnung, eine verwandte Seele zu finden. Aber ich sehe wohl ein, daß Herr Cantberg sich stets irrt. Guten Morgen.«
»Halt!« rief der Jüngling. »Geht ins Wohnzimmer, Reb Jitzchock, und laßt mich mit diesem Feuerkopfe verhandeln.«
Als der korpulente Mann sich darauf mit ungewohnter Lebhaftigkeit entfernt hatte, fuhr er in ernstem Tone fort: »Diesmal war Herr Cantberg nicht mehr als hundert Werst von der Wahrheit entfernt.«
David lächelte. »Sie sind ein Bundist?«
»Still. Hier im Hause bin ich nur der Schwiegersohn. Ich studiere den Talmud und esse Kest (am Freitische). Was gibt es denn Neues in Warschau?«
»Ich bedarf Ihrer sowohl wie Ihres Schwiegervaters,« sagte David ausweichend, »Sein Geld und Ihre Muskeln.«
»Von dem ist kein Geld für unsere Sache herauszuschlagen, außer dem, was ich Cantberg durch List abnötige.«
Zum erstenmal glitt hier ein Lächeln über das Gesicht des Jünglings. »Wenn er mit jenem Bourgeois am Telephon verhandelt, reize ich ihn, immer mehr und mehr zu fordern, und dafür erhalte ich die Hälfte des dadurch errungenen Vorteils. Was mich selbst betrifft, so stelle ich natürlich mein Leben dem Hauptquartier zur Verfügung.«
David fühlte sich gerührt durch diese erfrischende Einfachheit. Er empfand eine gewisse Verlegenheit, dem jungen Mann erklären zu müssen, daß das Hauptquartier für ihn die Samooboroa und nicht den Bund bedeute.
Sofort war der Jüngling wie verwandelt.
»Selbstverteidigung der Juden!« rief er verächtlich. »Was haben wir mit der jüdischen Bourgeoisie zu schaffen?«
»Besteht denn der Bund nicht ausschließlich aus Juden?«
»Allerdings, aber doch nur, weil wir die anderen Mitglieder der revolutionären Partei so ungeschickt fanden, daß wir nicht mit ihnen arbeiten konnten; sie ließen sich immer fangen, und ihre Führer wußten sich nicht zu helfen. Deshalb haben wir uns von ihnen abgezweigt; es geschah einzig und allein, um unseren Genossen, den Arbeitern, um so mehr helfen zu können. Wir gehören einer Arbeiter- und keiner Judenpartei an. Die ganze russische Revolution ruht auf unseren Schultern. Wie können wir unser Leben für die Kapitalisten des Ghetto in Milovka wegwerfen? Außerdem stehen die Wahlen bevor – ich habe für die Linke zu arbeiten. Ah, da kommt ein Paar unserer Bourgeois. Wenden Sie sich an die, wenn sie wollen. Ich werde meinen Schwiegervater aus dem Laden zurückzuhalten wissen.«
Zwei in vertrauliche Unterhaltung vertiefte Männer kamen herein, ein dritter folgte ihnen auf dem Fuße. Mit den fünf Juden war gleich ein ordentlicher kleiner Kongreß versammelt.
Einer der Männer erwies sich als »parlamentarischer Pole«. Er hielt David irrtümlicherweise für einen Zionisten und warf ihm vor, es mit den Fremden zu halten.
»Wir von der Partei der P. P. P.«, sagte er, »wollen in friedlicher Weise gleiche Rechte mit den anderen Polen erringen, und das wird uns sicher gelingen. Ihr Zionisten seid weniger Bürger als Fremde, und wenn ihr logisch wäret, wurdet ihr alle – –«
»Wo bleibt eure eigene Logik?« unterbrach ihn der Dritte, »warum schließt ihr euch nicht gleich der polnischen Nationalpartei an?«
Der parlamentarische Pole runzelte die Stirn. »Die Nationalen! Sie sind Antisemiten. Ich würde mich noch eher mit der Liga der treuen Russen befreunden können.«
»Vertraust du den P. P. P.?« fragte sein Begleiter ihn. »Ich sage dir, Nathan, daß das Heil nur bei der polnischen Demokratischen Partei mit ihrem Glauben an die Gleichheit aller Nationalitäten zu finden ist.«
»Wenn Sie eine Partei suchen, in der es keine Antisemiten gibt,« unterbrach ihn David verzweifelt, »so müssen Sie sich den Samooborona –«
»Ich fürchte, Sie werden hier keine Rekruten finden«, unterbrach der Bundist ihn, jedoch nicht unfreundlich. Er meinte dann mit einem Hohnlächeln: »Diese Herren der P. P. P., der P. N. P. und die P. D. P. sind alle gute Polen.«
»Gute Polen,« wiederholte David mit Bitterkeit, »und doch sind es die Polen, die en bloc dagegen gestimmt haben, daß auch nur ein einziger Jude in die Duma aufgenommen wurde.«
»Dann müssen wir eben noch besser polnisch sein als die Polen selbst«, antwortete würdevoll das Mitglied der P. P. P. »Wenn es das Wohl unseres Landes fordert, gehen wir sogar mit der klerikalen Partei der Rechten. Jetzt, da die Partei der Nationalen Verbindung –«
»Wenden Sie sich an die Arbeiterparteien«, rief der P. D. P. »Unter ihnen finden Sie vielleicht stämmige Burschen, die die notwendige Ghettofarbe haben.« Es gäbe vier große Arbeiterparteien, erklärte er David, aber er glaube, daß die Partei der Sozialdemokraten – die P. S. D. – für Davids Vorschläge am empfänglichsten sein würde. Nicht die von Bolsiheviki, sondern die von Mensiheviki geführte Gruppe, vielleicht würde er auch beim Proletariat oder der Partei der P. P. S. williges Ohr finden.
»Nein, bei denen habe ich es schon versucht«, sagte David. »Aber, meine Herren, Sie alle werden doch unter allen Umständen einsehen, daß die Verteidigung unseres eigenen Lebens eine wichtige Sache ist, und Sie werden daher nicht abgeneigt sein, wenigstens eine Kleinigkeit zu unserem Kapital beizutragen?«
Ein wahrer Sturm von Protestäußerungen erhob sich. Es schien unglaublich, daß nur vier Männer am Sprechen seien. Alle erklärten mit beredter Zunge, daß sie genug täten, wenn sie die von der eigenen Partei geforderten Beiträge zahlten, es koste außerdem sehr viel, ihre Kandidaten für die Duma durchzubringen und eine Parteipresse zu gründen.
»Sehen Sie,« sagte der Bundist, »Ihre einzige Chance ist bei den Männern, die überhaupt keiner Partei angehören, die nur in ihrem eigenen bürgerlichem Behagen leben.«
»Gibt es solche Leute?« fragte David eifrig.
Ein allgemeines Gelächter war die Antwort auf diese Frage.
»Ach, nur zu viele«, sagten ihm alle. »In unserem Volke gibt es so viele Individualitäten.«
»Aber wo finde ich diese?« rief David ganz verzweifelt.
Statt der Antwort kam der dicke Ladenbesitzer, der durch das Lachen angezogen wurde, wieder herein.
»Sind Sie noch immer hier?« sagte er, David ziemlich mißtrauisch ansehend.
»Ja, wie Sie sehen, aber wenn Sie einen kleinen Beitrag für den Fond der Selbstverteidigung zeichnen wollen, so gehe ich sogleich.«
»Jüdische Emanzipation!« rief der Pelzhändler. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Das ist meine Partei, oder vielmehr, ich bekenne mich zu der nationalen Gruppe derselben, zu der antizionistischen Fraktion.« Er fuhr mit der Hand in seine Tasche.
Der Bundist lachte. »Nein, er will damit nicht sagen, daß er der J. E. angehört.«
Sein Schwiegervater zog die leere Hand rasch aus der Tasche zurück.
David warf dem Bundisten einen vorwurfsvollen Blick zu. »Warum drängen Sie sich dazwischen? Vielleicht wird es sich bald genug ausweisen, daß mein Weg zur jüdischen Emanzipation der kürzeste ist.«
Die Männer lächelten überlegen, und der Pelzhändler schüttelte den Kopf. »Ich gehöre auch der Partei zur Beförderung der Erziehung an – ich bin nur für friedliche Methoden.«
»Das merke ich«, sagte David trocken.
Um ihn los zu werden, gab der Bundist ihm die Adresse eines Mannes, der sich fern von der polnischen Politik hielt, eines seiner Vettern, Belschevski mit Namen, der vielleicht der Samooborona beitreten würde.
Aber Belschevski erklärte, daß er Territorialist sei. David war unklug genug, ihm zu sagen, daß er bei Grodsky gewesen, der derselben Partei angehöre und ihm halb und halb versprochen habe –
»Was, ich sollte mit diesem hirnlosen, aufgeblasenen Volksredner gemeinsame Sache machen? Der ist ja noch schlimmer als die hysterischen Zionisten! Wir bedürfen eines Landes, nicht des Sozialismus.«
»Darin stimme ich mit Ihnen überein. Aber wir bedürfen vor allen Dingen der Selbstverteidigung.«
»Die einzige Art der Selbstverteidigung, die es für uns gibt, ist, daß wir aus Rußland auswandern und in ein uns selbst angehöriges Land ziehen.«
»Fünfundeinviertel Millionen von uns? Wenn jede Woche regelmäßig zwei Schiffe, eins von Libau, dem Norden, eins von Odessa, dem Süden, mit 2 000 Passagieren abführe, so würde ein Vierteljahrhundert darüber vergehen, ehe alle Juden Rußland verlassen hätten. Und in dieser Zeit würde eine neue Generation erwachsen sein.«
Der Territorialist sah verlegen drein.
»Außerdem,« fuhr David fort, »welches neue Land würde 200 000 Juden im Jahre aufnehmen können?«
Der Territorialist lächelte verächtlich. »Warum haben Sie nicht gleich gesagt, daß Sie ein simpler Bourgeois sind? Die unbedingte historische Notwendigkeit, die die J. T. O. entstehen ließ, wird ihren rüstigen Fortgang nehmen. Gewiß ist, daß, sobald das Land, in dem wir uns selbst regieren werden, bereit ist, uns zu empfangen, ich fest entschlossen bin, mit dem ersten Schiffe, das dahin fahren wird, aus Rußland fortzureisen.«
»Haben Sie schon ein solches Land in Aussicht genommen?«
»Noch nicht. Wir haben bis jetzt nur Zeit dazu gefunden, uns mit unserer Verfassung zu beschäftigen. Es wird keine sozialistische Konstitution werden, wie dieser Idiot Grodsky sich einbildet. Aber eine demokratische Verfassung. Alle erblichen Vorrechte werden abgeschafft.«
»Aber wo liegt dieses Land?«
»Nun, es gibt doch noch jungfräuliche Länder.«
»Selbst jungfräuliche Länder sind versprochen«, sagte David. »Sollte es wirklich noch ein Land ohne Herrn und Meister geben, so wird es zweifellos ein sehr häßliches, ungesundes Land sein. Jedenfalls werden wir lange darum werben müssen. Lernen Sie in der Zwischenzeit von mir, wie man eine Pistole abfeuert.«
»Von Herzen gern – aber nur, um wilde Tiere totzuschießen.«
»Das ist ja auch alles, was ich von Ihnen verlange«, sagte David grimmig.
Durch diesen Halberfolg ein wenig ermutigt, wandte David sich kühn an einen Teehändler, der ihm ganz unbekannt war, und bat ihn, sich an einer Sammlung zum Ankauf von Waffen zur Selbstverteidigung zu beteiligen.
Der Teehändler, ein kleiner, untersetzter Mann, der ein schwarzes Mützchen von zweifelhaftem Schnitt trug, protestierte auf das lebhafteste gegen solche materialistischen Maßregeln. Man müsse dem Fortschritt der Kultur vertrauen! Hebräisch sprechen – darin allein lag Israels Rettung. Man sollte schon die kleinen Kinder lehren, in der Sprache des Jesaias und des Hosea zu lallen – das allein sei der wahre Zionismus.
David machte sich eilends davon. Sein nächster Besuch galt einem Nationalisten, der ihm erklärte, daß der Zionismus eine Karikatur des wahren Nationalismus und der Territorialismus ein billiges philantropisches Ersatzmittel dafür sei.
»Aber weshalb wollen Sie dann nicht dem Selbstverteidigungsbunde unserer Nation beitreten?« fragte David.
»Ich werde das tun – sobald wir ein eigenes Land haben werden; die Samooborona ist nur eine Karikatur des Militarismus.«
David fand ebensowenig Trost in seiner Unterredung mit einem Mitglied der »Liga zur Wahrung gleicher Rechte«, das behauptete, das Heil der Juden sei nur durch Anschluß an diesen Bund zu finden. Dies sei die einzige Partei, deren Erfolg gesichert sei, da sie auf einer unbedingten historischen Notwendigkeit begründet sei.
Indessen sollte der Tag doch nicht vorübergehen, ohne daß es David gelungen war, wenigstens einen Mann zu entdecken, der wirklich keiner Partei angehörte.
Seltsamerweise verdankte er diesen Fund den Kopfschmerzen, die diese unzähligen Parteien ihm verursacht hatten.
Denn als er sich in eine Drogerie begab, um sich ein Pulver geben zu lassen, wurde er von einem so freundlich aussehenden rotbärtigen Juden bedient, daß er den Mut fand, diesen zu fragen, ob er in Aussicht des angedrohten Pogroms die Samooborona mit einem Vorrate von Bandagen und antiseptischen Mitteln versehen würde?«
»Aber die Zeit der Pogrome ist doch vorüber«, rief der Drogenhändler. »Sie waren die letzten traurigen Ausläufer eines fanatischen, aber nun überwundenen Zeitalters. Die Herrschaft der Liebe beginnt, und die Zeit ist nahe, wo die Menschen aller Rassen und jeden Glaubens friedlich unter der neuen Religion der Wissenschaft miteinander leben werden.«
Trotz des Pulvers fühlte David, wie seine Kopfschmerzen sich wieder heftig meldeten. Selbst ein Parteigänger würde sich eher überzeugen lassen als dieser optimistische Träumer.
»Ich sage Ihnen, daß wirklich ein Pogrom für Milovka geplant wird.«
»Unmöglich! Ganz Europa würde sich dagegen auflehnen. Amerika würde es nicht gestatten. Man würde selbst in Australien dagegen opponieren. Sehen Sie doch nur in Ihren Kalender. Wir haben nach christlicher Rechnung das zwanzigste Jahrhundert erreicht.«
David kehrte hoffnungslos in sein Wirtshaus zurück. Ein starker Jude stand dort am Ofen und wärmte sich. Noch ehe er sein Mittagessen bestellte, machte er einen letzten verzweifelten Versuch, die Ehre des Tages zu retten.
»Ich sollte mich der Partei einer ›Jüdischen Selbstverteidigung‹ anschließen?« Der robuste Mann lachte laut und herzlich. »Nein, nein, ich bin ein Rechtgläubiger.«
»Ein Meschummad!« (Abtrünniger), rang es sich von Davids Lippen. Modern denkend, wie er war, überwältigte ihn doch der ererbte Abscheu vor den getauften Apostaten.
»Ja – ich bin sicher genug,« der Konvertit lachte; »ich habe die kalte Wasserkur gebraucht. Außerdem bin ich der Zensor von Milovka.«
»Was?« David sah aus wie ein in eine Falle geratenes Eier. Der Zensor fuhr fort zu lächeln. »Nun, starren Sie mich nicht so an wie die anderen frommen Hanswurste. Man hat mir gesagt, daß Sie ein aufgeklärter junger Mann, ein Geigenspieler seien. Sie werden doch wohl Ihr Judentum so wenig ernst nehmen wie ich die Taufe? Kommen Sie – wir wollen ein Glas Branntwein zusammen trinken.«
»Sie werden mich also nicht verraten?« sagte David.
»Nur in dem Falle, daß Sie aufrührerische jüdische Schriften verbreiten würden. Sorgen Sie, daß nichts von Ihren Pistolen in die Blätter kommt, wenn ich auch für meine persönliche Sicherheit Sorge getragen habe, so bin ich darum doch nicht von Stein, wie diese tatarischen Teufel. Wirt, bringen Sie Branntwein, wir wollen ein Glas zusammen trinken.«
»Ich – ich habe keinen«, stotterte der Wirt. »Ich habe keine Berechtigung, Branntwein zu verkaufen.«
»Es gibt überhaupt keine Berechtigungen«, sagte der Zensor gutmütig.
Der Wirt brachte rasch eine große Flasche herbei.
»Diese Idee, mich, gerade mich dazu aufzufordern, der Samooborona beizutreten«, lachte der getaufte Jude amüsiert. »Sie könnten mich mit demselben Rechte dazu auffordern, die Geige zu spielen.«
David fühlte, daß dieser Mann der erste sympathische Hörer sei, den er an dem Morgen gehabt.
*
Der Branntwein und ein gutes Mittagessen von drei Gängen (Plotki als Fisch, Lokschen als Suppe und Zrazy als Fleisch) gab David neuen Mut, und er machte sich unverdrossen auf den Weg, um Rekruten zu werben.
Diesmal suchte er zuerst den Markt auf; es war ein schlechtgepflasterter viereckiger Platz, um den kleine mit Stallgebäuden untermischte Häuser standen, und auf dem sich die grauen Kaftane der alten Juden mit den blauen Blusen der gottlosen jüngeren Generation mischten. Er hatte sich bisher nur an die höhern Klassen gewendet, nun wollte er die Stimme des Volkes hören.
Man plauderte auf allen Seiten von der Duma, plauderte in so harmloser und vergnügter Weise, als ob dieses Wort einen neuen religiösen Reiz bedeute oder ein Zauberwort wäre. Trotz des allgemeinen Handelns und Feilschens und des Lärms des Marktes führte man überall politische Gespräche. Er brauchte nur hinzuhören, um zu wissen, wie man ihm antworten würde.
Ein Schmied, der eben einen neuen Hammer erhandelt hatte, knüpfte gleich ein politisches Gespräch mit dem Verkäufer an.
»Wir müssen unser Vertrauen in die konstitutionellen Demokraten setzen«, sagte er.
»Warum in die Kadetten? Ich denke, die Demokraten sind sicherer.«
»Nein, wir müssen unser ganzes Vertrauen in den Zaren setzen«, sagte die Frau des Rabbi, die an der nächsten Bude um Fische feilschte.
»Schämt Euch, Rebbitzin, es steht geschrieben: Wir sollen unser Vertrauen nicht in Fürsten setzen.«
Die Umstehenden wiesen den rothaarigen Metzgerburschen zur Ruhe.
»Ihr elenden Monarchisten,« zischte er, »wir Juden werden nicht eher Frieden haben, bis die Republikaner …«
»Eine Republik ohne Sozialismus«, unterbrach ihn ein Mädchen mit einem Waschkorbe. »Wozu kann uns das nützen? Wartet, bis die N. S. –«
»Wer anders als die Arbeiterpartei verspricht allen Nationalitäten gleiche Rechte«, meinte ein Mädchen mit Brillen, »vertraut der Trudowaja!«
»Zum Teufel mit den Arbeiterparteien,« sagte ein mit alten Kleidern handelnder Mann; »seht, wie uns die Bundisten betrogen haben; zuerst waren sie Fleisch von unserem Fleische, nun sind sie es, die durch ihre Rücksichtslosigkeit die Pogrome provozieren.«
Der Schmied schlug mit seinem Hammer auf den Ladentisch. »Es gibt nur eine Partei, der wir vertrauen können, und das ist die C. D.«, wiederholte er.
»Bürger«, riefen gleichzeitig der republikanische Jüngling und das sozialistische Mädchen.
»Still, Kinder,« rief beschwichtigend der Schammes, »Heftigkeit führt zu nichts; selbst das Manifest in Wiborg war ein Irrtum. Als ein Mitglied der Partei der Friedlichen Erneuerung –«
»Friedliche Erneuerung,« rief der Schmied, »was, ein Jude will sich mit diesen Reaktionären vereinigen?«
Ein Kosak gallopierte plötzlich rücksichtslos durch die dicht aneinander stehenden Verkaufsbuden; die Juden flohen wie Hunde vor ihm auseinander. Das Mitglied der P. F. E. kroch unter einen Ladentisch. Selbst der Schmied verstummte. David wartete, bis der Kosak verschwunden war.
»Friedliche Erneuerung,« rief er dann, »die gibt es für euch nicht eher, bis ihr den Mut habt, euch nicht mehr um die russische Politik zu kümmern und für euch selbst zu kämpfen.«
»Ach, Sie sind ein Maximalist«, sagte der Küster.
»Nein, ich bin nur ein Minimalist. Ich wünsche nur das Minimum – nämlich, daß wir unser Leben retten möchten.«
Er verlangte zu wenig. Die armen russischen Juden wie die reichen russischen Juden waren alle sehr damit beschäftigt, die Welt oder doch das heilige Rußland zu retten, vollständig entmutigt über diese christliche Nächstenliebe, wanderte David um den Marktplatz und blickte in die ihn umgrenzenden Häuser; in einem der dunkelsten und schmutzigsten saß ein Flickschuster, der Schuhe besohlte, und um den sich eine Schar unsauberer Kinder herumtrieb.
»Friede sei mit Dir!« rief David ihm zu.
»Ich lebe immer in Frieden,« antwortete der Schuster vergnügt.
David blickte auf die glücklichen schmutzigen Kinder. Er hatte gesehen, wie ihresgleichen grausam niedergemetzelt wurden.
»Denken Sie nicht an die uns drohende Gefahr eines Pogroms?« fragte er.
»Ich habe allerdings davon munkeln hören,« sagte der Schuster, »aber wir Chassidim haben keine Furcht. Unser Wunderrabbi, dem die Macht über alle Sphären gegeben ist, wird nur ein Wort sprechen und –«
»Ein Zaddik Wunderrabbi. ist in dem letzten Pogrom getötet worden«, sagte David brutal. »Sie müssen sich dem Selbstverteidigungsbunde anschließen.«
Der Schuster ließ die Arbeit ruhen. »Was? Kämpfen wie ein Soldat? Nachdem ich das Glück gehabt, bei der Musterung eine hohe Nummer zu ziehen?«
»Wir wollen nicht für Rußland kämpfen, sondern um uns vor Rußland zu retten, wir müssen alle Hand in Hand gehen.«
»Was, ich sollte mich den Misnagdim anschließen?« rief der Schuster entsetzt. »Niemals werde ich gemeinsame Sache mit Leuten machen, die Baal-Schem verleugnen.«
David seufzte. Dann bemerkte er einen kräftigen Juden, der an der Türe des benachbarten Hauses stand. Er ging auf ihn zu und trug ihm seine Sache vor. Der Mann aber schüttelte den Kopf und sagte kurz: »Sie können vielleicht dem albernen Chassid hier nebenan so etwas vorreden, aber Sie können wirklich nicht erwarten, daß wir anderen mit diesen Ketzern, diesen gottlosen, tanzenden Derwischen gemeinsame Sache machen. Diese Bande ist ja sogar dazu fähig, das Nachmittagsgebet am Abend zu sprechen.«
Im nächsten Hause wohnte ein Maskil (Intellektueller), der von seiner hebräischen Zeitung aufblickte, um ernst zu fragen, wie er dazu kommen solle, sich so jungen, unwissenden Leuten anzuschließen? Sein Nachbar war ein Karait, der erst kürzlich von einer anderen Gemeinde hierher gezogen war. Der Karait erklärte ihm, daß in seinem Falle die Selbstverteidigung unnötig sei, da seine Sekte von der russischen Obrigkeit kaum als jüdisch anerkannt würde. Es lebten noch andere, allen möglichen Parteien angehörige Juden an dem Marktplatze, ein Litauer, der unter keinen Umständen etwas mit den polnischen Leckermäulern zu tun haben wolle, und der von dem Polen als Kartoffelschalenfresser bezeichnet wurde, und ein Mann aus Odessa, der sie alle beide Querköpfe nannte. Es war ganz unmöglich, so viel verschiedene Elemente unter einen Hut zu bringen. Müde und schweren Herzens trat David den Heimweg nach seinem Wirtshause an.
*
Unterwegs geriet er unter einen geräuschvollen Schwarm jüdischer Knaben, die aus einer Elementarschule kamen. Sie waren im Alter von acht bis zwölf Jahren, aber selbst das jüngste dieser Kinder hatte einen alten Zug im Gesichte, und obgleich die Luft erfüllt war von dem Lärmen und Plaudern, das den Exodus aus der Schule von Kindern, die stundenlang in den muffigen Klassenzimmern eingesperrt waren, stets begleitet, so machten diese Jungen doch keinen vergnügten Eindruck, sie liefen und spielten nicht, wie dies andere Kinder sofort zu tun pflegen. Es war eine allgemeine Aufregung, die all diese durcheinanderschwätzenden Zungen gelöst hatte und all diese kleinen Ohren auf die Reden ihrer Rädelsführer horchen ließ. Anstatt nach Hause zu eilen, scharten sich die Schulknaben um ihre Lieblingsredner.
Ein frühreifer Ernst furchte diese kindlichen Stirnen.
Es war David so, als ob er den einen dieser kleinen Redner kennen müsse, und nachdem er ein paar Minuten den Tiraden des Burschen gegen die »Autokratie des Schuldirektors und gegen die bureaukratischen Methoden des Inspektors« gelauscht hatte, dämmerte in ihm die Überzeugung, daß dieser kleine Demagoge der Sohn seines Wirtes sein müsse.
»Hallo, Kalman«, rief er überrascht.
»Hallo, Kamerad«, antwortete der Knabe höflich.
»Gehörst du auch zu den Revolutionären?« fragte David lächelnd.
»Meine ganze Klasse gehört zu dem Junior-Bunde,« antwortete der Knabe ernsthaft.
»Dann bist du nicht so friedlich wie dein Papa?«
Die Würde des Knaben und sein sicheres Auftreten verließen ihn plötzlich; er errötete zornig und war offenbar beschämt darüber, einen so gemäßigten Vater zu haben.
»Mach dir nichts daraus, Kamerad Kalmann,« sagte ein anderer Knabe, ihn tröstend auf die Schulter klopfend, »es gibt in jeder Familie wunde Stellen.«
Ein plötzlich von allen Seiten erschallender Beifallssturm erlöste ihn aus seiner peinlichen Lage. David wandte den Kopf und sah, wie die Augen sämtlicher Kinder auf einen großen dickköpfigen Jungen gerichtet waren, der auf eine Eierkiste gesprungen war. Er trug die blaue Bluse des Radikalismus, und der leichte Flaum um seine Lippen verriet, daß er wohl schon 15 Jahre alt war.
»Kameraden,« rief er, »in meiner Jugend war ich selbst tonangebend in eurer Schule, aber auch in jenen alten Tagen stand sie unter der Herrschaft der brutalen Autokratie. Euere einzige Rettung ist ein allgemeiner Streik. Ihr müßt euch den Syndikalanarchisten anschließen –«
Dieser kühne Vorschlag wurde mit allgemeinem freudigen Beifall begrüßt. Die Mitglieder des Junior-Bundes schwenkten begeistert ihre Tornister. Nur der Sohn des Wirtes stand stumm und stirnrunzelnd da.
»Es scheint, daß du nicht mit seiner Meinung überein stimmst«, sagte David.
»Nein«, antwortete der kleine Bundist ernsthaft. »Ich folge dem Kameraden Berl. Dieser Bursche dort ist nur deshalb so populär, weil er als ein Verdächtiger von dem Gymnasium in Warschau ausgewiesen wurde.«
»Ihr müßt streiken,« wiederholte der jugendliche Agitator. »Ein Streik ist das einzige Mittel, eure berechtigten Forderungen zur Geltung zu bringen.«
»Ihr müßt alle schwören, nicht eher wieder zur Schule zu gehen, bis man eure Vorschläge angenommen hat.«
»Wir schwören es«, riefen die Kinder von allen Seiten. Aber die Stirn des Wirtssohnes hatte sich düster umzogen.
»Es ist gut, Kameraden«, sagte der Redner. »Der Erfolg, den ihr haben werdet, wird gleichzeitig auch eine Lehre für eure Eltern sein. Nur durch Anwendung der Philosophie von Marx können wir uns zu einer gesunden Weltanschauung durchringen.«
Da sprang plötzlich der Wirtssohn mit einem kühnen Satze auf die Eierkiste und stand neben dem Agitator. »Marx ist ein alter Hanswurst!« rief er laut. »Wozu soll ein passiver Streik uns nutzen? Laßt uns zunächst dem Direktor Vorstellungen machen, laßt uns –«
»Wer hat dir das gesagt,« zischte der Redner ihn an, »Genosse Berl oder Genosse Schmerl?«
Der Knabe überhörte den Sarkasmus dieser Worte.
»Du weißt, daß Schmerl eine alberne Milchsuppe der Radikalen Partei ist«, sagte er ärgerlich.
»Glaube mir,« sagte der andere begütigend, »ein friedlicher Streik ist besser als Bomben.«
»Hört mich, Mitbürger«, rief ein dritter Knabe und sprang ebenfalls auf die Eierkiste. Er hatte rotes Haar und leuchtende Augen. »Wenn Rußland gerettet werden soll, so kann es nur dadurch geschehen, daß wir Integralisten das Programm der Sozialen Revolution in seiner ganzen Reinheit aufrechterhalten, so wie es war, ehe die Partei sich in Maximalisten und Mini –«
Hier brach die Eierkiste unter dem Gewichte der drei Redner plötzlich zusammen, und die Knaben purzelten übereinander. Damit aber hatte sich der Sturm gelegt. Die Schuljungen gingen in einzelnen lebhaft miteinander debattierenden Gruppen auseinander. Die zu einem Schulstreike notwendige Einigkeit war zertrümmert.
David trat traurig seinen Heimweg an und blickte nachdenklich auf die disputierenden Jungen, die ihm keineswegs alle Affen und Papageien zu sein schienen, wie das Judentum von jeher kindliche Rabbis gehabt, kluge Wunderkinder, die von der Kanzel herab ihr gelehrtes Wissen mit größter Beredsamkeit verkündeten, so hatte es nun frühreife Politiker und Sozialisten gezeitigt. Für einen Augenblick fühlte er sich versucht, den jungen Integralisten anzureden, dessen rotes Haar ihn lebhaft an seine Cousine erinnerte, aber bei näherem Überlegen unterließ er es. Hatte der Knabe es nicht, wie seine Senioren, offen ausgesprochen, daß Rußland und nicht das Judentum gerettet werden müsse?
Er kam zu einer Stunde heim, in der selten Gäste in der Wirtsstube waren, und er war daher kaum überrascht, auch Wirt und Wirtin nicht darin zu finden. Er setzte sich und fing an, einen melancholischen Bericht an das Hauptquartier zu schreiben, wurde aber durch ein unausgesetztes geheimnisvolles Klopfen daran verhindert, seine Gedanken auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Ungeduldig warf er die Feder hin und versuchte auszufinden, was es bedeute. Das Geräusch schien von unten zu kommen.
Der Wirt, der seine Fußtritte vernommen, blies rasch sein Licht aus.
»Ich bin es«, sagte David.
Der Wirt steckte die Kerze wieder an. David sah, daß in dem Keller eiserne Stangen, Instrumente, Kisten und ein Haufen Steine umherlagen.
»Ach so, Sie verstecken den Branntwein«, sagte David mit einem Lächeln.
»Nein, wir erweitern und befestigen den Keller, verproviantieren uns auf alle Fälle.«
»Samooborona«, sagte David.
»Allerdings – nur ist unsere Art, dies zu tun, etwas wirkungsvoller als die Ihrige, mein junger Hitzkopf.«
»Vielleicht haben Sie recht,« sagte David müde. Er ging wieder herauf und fuhr fort, seinen Bericht zu schreiben. Er war froh, daß der kleine Bundist noch eine Extrachance habe. Immerhin hatte er etwas ausgeführt und würde vielleicht einige Leben retten, vielleicht würde er mit der Zeit selbst dazu kommen, es wie der Wirt zu machen und nur eine passive Samooborona predigen; es war immer noch besser als gar keine.
*
Aber er konnte nicht recht mit dem Bericht fertig werden. Es war doch zu traurig, gestehen zu müssen, daß er noch keine Kopeke zusammengebracht, keinen Rekruten definitiv geworben habe. Er nahm ein fettiges Zeitungsblatt vom Tische und las mit bitterem Lachen, daß die Oktobristen die Juden von ihren Zusammenkünften ausgeschlossen hätten. Das erinnerte ihn an Erbstein, den Bankier, der ihm gesagt, daß man nur ihnen vertrauen dürfte. Würde der Bankier vielleicht nach dieser Enttäuschung zugänglicher sein? Ach, die Frage war: Konnte ein Bankier enttäuscht werden? Zugeben, daß man enttäuscht worden, heißt zugeben, daß man sich geirrt hat, und Bankiers wie Päpste sind stets unfehlbar.
David dachte an den einer Eule so ähnlichen Misrachi, von dem er sich so kurz verabschiedet hatte.
Er warf seine Feder hin und ging noch einmal zu dem Hause mit der Bundeslade und dem Telephon.
Als er Cantbergs Tür erreicht hatte, wurde diese plötzlich von innen aufgerissen, und ein junger Mann stürzte heraus.
»Niemals, Vater,« rief er heftig, »niemals kehre ich in dieses Haus zurück.« Er schlug die Tür zu und lief gerade in Davids Arme.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er.
»Es ist mein Fehler,« sagte David höflich, »ich war auf dem Wege, Ihren Vater zu besuchen.«
»Sie finden ihn in sehr schlechter Stimmung. Man kann sich nicht mit ihm auseinandersetzen.«
»Ich hoffe, Sie haben keine ernsten Differenzen gehabt.«
»Er ist ein so bigotter Zionist – er kann es nicht begreifen, daß der ganze Zionismus ein überwundener Standpunkt ist.«
»Ich weiß es.«
»Ach,« sagte der junge Mann eifrig, »dann werden Sie verstehen, was ich gelitten, bis ich mich vom Zionismus freigemacht.«
»Was sind Sie jetzt, wenn ich fragen darf?«
»Das einzige, was ein sich selbst achtender Jude überhaupt sein kann, ein Sejmist natürlich.«
»Eine jüdische Partei?« fragte David eifrig. Nach aller Begeisterung, die er überall für russische und Welt-Politik gefunden, war ihm selbst diese bescheidene Form einer Selbstverteidigung willkommen.
»Kommen Sie und trinken Sie ein Glas Tee mit mir, ich will Ihnen alles erzählen«, sagte der junge Mann, froh, jemand gefunden zu haben, dem er seine Theorien entwickeln konnte, »wir wollen nach Friedmanns Wirtshaus gehen – wir nennen es den Universitätsklub, weil die Intellektuellen dort ihren Tee zu trinken pflegen.«
»Mit Vergnügen«, sagte David, in der stillen Hoffnung, dort Rekruten werben zu können. »Aber ehe wir von Ihrer Partei reden, möchte ich Sie fragen, ob Sie nicht einem Zweigverein der Samooborona beitreten möchten?«
Das Gesicht des jungen Mannes verfinsterte sich.
»Unsere Partei kann sich keiner anderen anschließen«, sagte er.
»Aber ich rede auch von keiner Partei, sondern von einem Armeekorps.«
»Keine Partei?«
»Nein.«
»Aber Sie haben einen Vorstand?«
»Ja – aber nur –«
»Und Zweigvereine?«
»Natürlich, aber einfach nur –«
»Und eine Kasse?«
»Das Geld ist nur für –«
»Ihr lest Referate?«
»Nur wenn –«
»Ganz entschieden seid ihr eine Partei!«
»Ich sage Ihnen, daß das nicht der Fall ist. Wir wünschen, daß alle Parteien sich der Samooborona anschließen möchten.«
»Es tut mir leid. Ich habe augenblicklich zu viel zu tun, um an etwas anderes denken zu können. Unser Parteitag wird sich in nächster Woche versammeln, und bis dahin muß noch unendlich viel Arbeit geschehen.«
»Arbeit,« rief David verzweifelt, »was für Arbeit?«
»Es werden dort viele große Reden gehalten. Ich selbst werde freilich kaum mehr als eine Stunde sprechen, aber unsere Berichterstatter beanspruchen jeder wenigstens zwei Stunden. Unsere letzte Sitzung hat bis fünf Uhr morgens gedauert. Ich sage Ihnen, es gab da aufregende Szenen.«
»Aber über was wird dort debattiert?«
»Über was dort debattiert wird?« Der Sejmist sah David mitleidig an. »Zuerst sind es die bevorstehenden Wahlen zur Duma, die uns beschäftigen, wir haben uns darüber zu einigen, welchen Kandidaten wir unterstützen wollen. Dann wird die Frage der jüdischen Autonomie im russischen Parlament debattiert werden – das ist unser Grundprinzip. Endlich aber, da wir immerhin eine relativ neue Partei sind, müssen wir alles daran setzen, mit allen existierenden Parteien in Fühlung zu treten. Es muß überlegt werden, mit welchen wir bei den Wahlen Hand in Hand zu gehen haben. Obgleich die meisten dieser Parteien den höchsten Interessen des jüdischen Volkes gefährlich sind, da sie die Entwicklung der historischen Notwendigkeit schädlich beeinflussen, so gibt es doch einige, mit denen wir hie und da zusammengehen können, wenn unsere Arbeit sich begegnet.«
»Welche Arbeit?« fragte David wieder.
»Sagt das nicht schon unser Name? wir sind die Vozrozhdenie – die Resurrektionisten – unsere Arbeit ist eine unbedingte historische Notwendigkeit –«
Man war vor dem Wirtshause angekommen, und als der Sejmist die Tür öffnete, machte ein babylonisches Stimmengewirr die Fortsetzung seiner Rede unverständlich. Der Lärm entstand nur durch das laute Durcheinandersprechen von vier Personen, die von dickem Zigarrenrauch umhüllt nahe beim Ofen zusammensaßen. In einem der Gesellschaft erkannte David den Teehändler, den er am Morgen aufgesucht; doch schien dieser sich seiner nicht zu erinnern. Er verbreitete sich noch immer über die Individualität Israels – die wie es sagte, zu jeder Zeit und an jedem Orte stets dieselbe blieb. Er nickte jedoch dem jungen Sejmisten zu und bemerkte ironisch:
»Sieh da, der Träumer kommt.«
»Ich ein Träumer, wahrhaftig!« Der junge Mann schien sich darüber zu ärgern, vor seinem neuen Bekannten so bezeichnet zu werden. »Ihr Achad-Haamisten seid es, die erweckt werden müssen.«
Der Teehändler lächelte überlegen. »Die Vozrozhdenie würden sehr wohl daran tun, die Philosophie Achadahaams zu studieren. Dann würden sie es wenigstens begreifen lernen, daß ihre Bestrebungen schließlich zu Selbstzerstörung statt zur Weiterentwicklung führen würden. – Haben Sie das nicht auch gesagt, Witsky?«
Witsky, ein junger Advokat, protestierte dagegen.
»Was ich sagte,« so erklärte er dem Sejmisten, »war nur, daß ihr Sejmisten in eurem Suchen nach proletarischer Betätigung ganz die Theorie verloren habt. In unserer Partei allein findet man eine Verbindung des praktischen mit dem Idealen. Sie allein – –«
»Darf ich mir erlauben, Sie zu fragen, für welche Partei Sie sprechen?« unterbrach ihn David.
»Für die neueste Jüdische Sozialdemokratische Arbeiterpartei von Rußland«, antwortete Witsky stolz.
»Sind Sie wirklich die neueste Partei?« fragte David trocken.
»Und die beste! Wenn wir wünschen, Palästina zum Schauplatz unserer sozialen Regeneration zu machen, so geschieht dies nur, weil es eine unbedingte historische Notwendigkeit ist.«
Der Sejmist unterbrach ihn traurig. »Ich sehe, daß wir auf unserer Konferenz uns gegen Ihre Partei erklären müssen.«
»Pah! Die J. S. A.s werden durch ihre Isolierung nur noch stärker werden, haben wir nicht freiwillig unsere Beziehungen zu den D. K. gelöst? Bei der Entwicklung der Kräfte der Völker.«
»Es ist nicht recht von Ihnen, Witsky, daß Sie einen Fremden irreleiten«, warf sein hohläugiger, brillentragender Nachbar ein. »Aber vielleicht mißverstehen Sie selbst die genetischen Momente Ihres Programms. Die Evolution ist es, die ganz sicher durchführen wird, daß die Juden eine autonome Stellung im Parlamente einnehmen werden.«
»Wir aber sagen –« begannen die anderen zwei gleichzeitig.
Der hohläugige, brillentragende Mann winkte ihnen müde ab. »Wer anders als die Polnischen Nationaldemokraten erweisen sich als das Resultat der historischen Notwendigkeit? Wir vereinigen die konservativen Elemente der Spojnia Narodowa, der Nationalliga und der Partei der Realpolitiker mit den Reformelementen der Demokratischen Liga und der fortschrittlichen Demokraten. Folglich – –«
»Aber die treue wahre Polnische Partei –« begann Witsky.
»Der Kolo Polskie (Polnische Ring) ist halb antisemitisch«, begann der Sejmist. Wieder sprachen alle durcheinander; aus dem Chaos ihres lauten Gesprächs ertönte jetzt deutlich eine dünne, scharfe Stimme. Sie kam von dem vierten Mitglied der Gruppe, einem schlecht rasierten, häßlichen Mann, der bisher sich wenig an ihren Reden beteiligte und nur geraucht hatte.
»Als philosophischer Kritiker, der mit allen Parteien sympathisiert, gestatte ich mir, Ihnen, Freund Witsky, zu sagen, daß Ihr Programm der Einheit ermangelt. Zuerst war es ökonomisch, dann dualistisch, zuerst induktiv, dann deduktiv.«
» Moj Panie drogi,« (mein lieber Herr) wandte David sich an ihn, »wenn es wahr ist, daß Sie mit allen Parteien sympathisieren, dann werden Sie sicher einem allgemeinen Bunde beitreten, dessen Zweck die Selbstverteidigung ist.«
»Sie vergessen, daß ein philosophischer Kritiker gleichzeitig mit allen Parteien nicht übereinstimmt.«
Endlich verlor David die Geduld. »Meine Herren,« rief er spöttisch, »Sie können hier sitzen und Rauchringe blasen, bis der Messias erscheint, aber ich versichere Ihnen, daß es nur eine unbedingte historische Notwendigkeit gibt, das ist die Samooborona.«
Ohne Tee getrunken zu haben – der Resurrektionist hatte übrigens auch ganz vergessen, ihn zu bestellen – rannte er auf die Straße.
Er war nur ein Knabe und nur das Unrecht, das man den Juden tat, drückte ihm die Waffen in die Hand. Er hatte bisher kaum Notiz von allen diesen Parteien genommen, die sein Volk verwirrten, diese lächerlichen Kaleidoskopischen Verbindungen der russischen und jüdischen Politiker – aber als er der Gesellschaft dieser Philosophen entflohen und nun durch die schon dämmrigen Straßen lief, da bebte jeder Nerv in ihm; ihm schien, als ob das ganze Alphabet wie Würfel durcheinandergeworfen würde, um jedesmal den Namen einer anderen Partei zu bilden. Er hatte den einem nächtlichen Alp ähnlichen Eindruck von wirr miteinander kämpfenden Sekten und streitenden Parteien, die jede für sich ihre Konzile, Verbindungen, Parteitage arrangierten, sich um Kleinigkeiten balgten, und die alle über eine Reihe unermüdlich in allen Sprachen disputierender langweiliger Redner verfügten, die ganze Nächte mit ihren resultatlosen schwulstigen Reden erfüllten.
Nun, es konnte nicht geändert werden. In der schrecklichen Finsternis, in der sich sein Volk befand, war es vielleicht nicht unnatürlich, daß jeder in seiner Weise nach dem Lichte strebte. Die Russen waren ja in gerade soviele Parteien zersplittert wie die Juden und der Grund dafür war wohl der gleiche: beide waren von der Regierung ausgeschlossen und politisch rechtlos – so spannen sie Theorien.
Vielleicht lag das Heil der Juden auch wirklich darin, daß sie sich ganz mit Rußland identifizierten. Aber wer konnte wissen, ob nicht die russischen Patrioten, denen die Israeliten heute als Mitarbeiter willkommen waren, sie nicht, sobald die gemeinsame Sache gewonnen war, mit Hohn zurückstoßen würden? Vielleicht lag Israels einzige Hoffnung darin, sich selbst zu bewahren! Die armen verwirrten russischen Juden, die sowohl als Juden wie als Russen in Notlage waren, tappten im Dunkeln und suchten vergebens, sich der sie von allen Zeiten umgarnenden Schlingen zu entziehen.
Parteien waren vielleicht wirklich unvermeidlich, damit mußte er sich abfinden, wie nun, wenn er ein geheimes Samooborona-Komitee bildete, das aus Repräsentanten aller Parteien zusammengesetzt war? Aber wie sollte es ihm gelingen, sie alle kennen zu lernen? Außerdem bildeten sich fortwährend neue Parteien, lösten sich wieder auf und veränderten ihr Aussehen so schnell wie die Wolken des Himmels, während er über diese Dinge nachsann, hörte er plötzlich die Stimmen zweier junger Leute, von denen der eine lebhaft für Gründung einer neuen Partei der Volksfreiheit plädierte, während der andere darauf bestand, daß eine Volksgruppe aller antizionistischen Parteien eine unbedingte historische Notwendigkeit sei. Er seufzte tief.
Was war es denn, was Israel daran verhinderte, sich zu gemeinschaftlichem Handeln aufzuraffen? War sein Volk zu sophistisch, hatte es sich zu sehr in die alte scholastische Bildung vertieft, daß es, sobald eine Tat versucht werden sollte, sich hinter philosophischen Spitzfindigkeiten versteckte? Hatten achtzehn Jahrhunderte des Brütens über dem Talmud es überhaupt für das wirkliche Leben unfähig gemacht, nicht nur weil es die ganze Kraft seines Denkens zu religiösen Problemen verbraucht, sondern vielleicht auch weil diese religiösen Probleme sich immer nur auf eine Zeit bezogen, in der Israel und sein Tempel in Palästina in Blüte stand? Die akademische Muße, die gewissenhafte Untersuchung, die man ohne Schaden in den Schulen der toten Vergangenheit widmen konnte, brachte sein Volk nun in die gärende Gegenwart mit – bei Dingen, wo es sich um Tod und Leben handelte.
Ja, so war es. Diese neue Generation zerlegte die Logik des Zionismus oder des Sozialismus mit derselben Spitzfindigkeit, mit der die Alten über das Ritual der Brandopfer diskutierten, deren Rauch seit dem 70. Jahre der christlichen Ära nicht mehr zum Himmel aufgestiegen war, oder über die Entscheidungen der Geonim in Babylon, obwohl schon längst der letzte Stein dieser Stadt in Trümmer zerfallen war. Die Männer der Jetztzeit beschäftigten sich ganz einfach mit der Welt der Zukunft, wie sie es früher mit der der Vergangenheit getan. So konnte es geschehen, daß logisch vollkommene Systeme des Zionismus entstanden, ohne daß man ein Zion hatte, Systeme des jüdischen Sozialismus ohne eine jüdische soziale Ordnung, Arbeiterparteien ohne Stimmrecht zum Parlamente.
Man hatte sich den Forderungen des aktuellen politischen Lebens entwöhnt, man lebte immer in einer Traumwelt, würde Israel niemals zur Wirklichkeit zurückkehren, nie soliden Grund unter seinen Füßen fühlen, nie dem Leben fest in das Auge sehen?
Der letzte Sonnenstrahl verlöschte an dem kalten Winterhimmel, als David plötzlich selbst ein unendlich müdes Gefühl überkam. Die Wirklichkeit ekelte ihn an. Er empfand eine tiefe Sehnsucht nach etwas Unwirklichem, nach ebenjener »toten Vergangenheit«, in der der fromme orthodoxe Jude noch heute seine glücklichsten Stunden verlebte. O, diese Parteien und ihr endloses Geschwätz über Politik und Philosophie, das ganze Tohuwabohu dieses ermüdenden Tages vergessen zu können!
Er mußte seine Seele wenigstens eine Stunde lang in Frieden baden. Er wollte wie ein Kind in das bekannte Studierhaus seiner Jugend gehen, in das Beth hamidrasch, wo die Graubärte über den großen wurmzernagten Folianten hockten und die Jünglinge sich bei dem Absingen frommer Hymnen hin und her wiegten. Dort allein lag die magische Welt der Phantasie und der Legende, die das eigentliche Heim seines Volkes gewesen, durch dessen Kraft Israel achtzehn Jahrhunderte des Leids und der Verfolgung ertragen und dabei doch gesund und fröhlich geblieben war, eine abgesonderte Welt, die durch kein Eindrängen der Wirklichkeit getrübt wurde.
Dort allein lag Zion und floß der Jordan, dort stand der Tempel, dort verkehrte man mit den Engeln, dort schützten die Patriarchen noch immer ihr Volk, vielleicht gab es in der Schule von Milovka sogar noch Kabbalisten, die hungerten und sich kasteiten, um himmlische Visionen zu erleben und durch einen Kuß Gottes beglückt zu werden. Wie köstlich mußte die Kühe dort sein, wie doppelt wohltuend nach der Unruhe und dem Lärmen des Marktplatzes von Mlovka! Nein, am heutigen Tage wenigstens wollte er nicht mehr an die Selbstverteidigung und an diese schrecklichen Modernen denken.
Er erkundigte sich nach dem Weg zum Beth Hamidrasch. Wie brüderlich die Weisen und die Jünglinge ihn begrüßen würden! Man würde ihn mit der seit undenklichen Zeiten immer gleichen Redensart begrüßen: »Aus welcher Stadt kommst du?« Dann, wenn er geantwortet, würde man sich nach dem Rabbi dort erkundigen, und was für Neuigkeiten er von dort mitbrachte. Unter Neuigkeiten verstand man, wie sich David mit schmerzlichem Lächeln erinnerte, immer nur eine neue Auslegung des heiligen Textes. Ja, das allein waren die Neuigkeiten, die diese friedliche Welt bewegten. Man lebte nur für das heilige Gesetz; die ganze Welt schien nur erschaffen zu sein, um das Gesetz zu studieren. Eine neue Auslegung der heiligen Schriften und Rollen war das einzige, was einen feinen Geist interessieren konnte. Die Zeit und er selbst hatten ihn dieser stillen Welt entfremdet; hatte er doch selbst sie oft genug in seinen Gedanken beschuldigt, schuld an der Untüchtigkeit seines Volkes zu sein, heute abend aber sehnte er sich mit jeder Fiber seines Herzens, von der rauhen Wirklichkeit in dies friedliche Asyl zu flüchten. Er suchte in seinem Gedächtnisse nach Neuigkeiten – nach theologisch interessanten Textauslegungen, die vielleicht den gelehrten Herren in Milovka entgangen waren.
Ihm war, als habe er endlich den sicheren Hafen erreicht, als er die Tür des Beth Hamidrasch öffnete und mit einem leisen »Friede sei mit euch« auf einer Bank vor einem Folianten niedersank, dessen heiliger Text von unzähligen Kommentaren umschrieben erschien. Er sah sich sofort von einem schwirrenden Haufen von alten und jüngeren Männern umringt.
»Welcher Partei gehören Sie an?« rief man ihm von allen Seiten zu.
*
Das Pogrom kam. Aber es kam in einer Form, auf die selbst David in keiner Weise vorbereitet war. Vielleicht war es eine Folge der dem Gouverneur von dem Rabbi überbrachten Mitteilung, die die Selbstverteidigung lächerlich machte. Keine macchiavellistischen agents provocateurs, keine Schufte mit falschen grauen Bärten, die die Rolle jüdischer Aufwiegler zu spielen hatten. Man führte ruhig die Artillerie in das jüdische Viertel, als ob Milovka eine feindliche Stadt gewesen wäre.
Als die Bomben über den übervölkerten Häusern zu explodieren anfingen, da sagte sich David mit grimmem Hohn, daß die ökonomische Vorsehung ihn davor bewahrt habe, Pistolenschützen auszubilden.
Der bleiche Hauswirt, der verzweifelt die Hände rang und seine Widuj (Totenbeichte) hersagte, bot ihm und seinem Geigenkasten ein Versteck im Keller an, aber er zog es vor, auf das Dach zu klettern, von wo aus er mit Hilfe eines kleinen Fernglases ganz deutlich den Kordon beobachten konnte, der rund um das dem Untergänge bestimmte Quartier gezogen war. Eine abprallende Kanonenkugel zerschmetterte den Kamin neben ihm, aber er rührte sich nicht. Sein Blick hing wie festgebannt an einer Gestalt, die er unter den Kanonieren erspäht hatte.
Es war Hesekiel Leven, den er sich seinerzeit zum Leutnant erkoren, von dem er die Taten eines Judas Makkabäus erhofft hatte. Jetzt trug er die Uniform eines Artilleristen und war mit der Bedienung einer Mitrailleuse beschäftigt.
»Armer Hesekiel,« rief David, »dein Schicksal ist das tragikomischste von allen! Aber du hast vergessen, daß mir immer noch eine Art der Samooborona zur Verfügung steht.« Mit spöttischem Lachen richtete er seine Pistole gegen die eigene Brust.
Und die Kanonen donnerten Stunde um Stunde. Als endlich das Bombardement vorüber war, lag die Ruhe des Teufels über dem Ghetto von Milovka. Nun schwiegen sie alle, die feurigen Redner und Vertreter aller Buchstaben des Alphabets, die polnischen Patrioten, die Zionisten und die Anti-Zionisten. Auch die Bürger und Philosophen, die Holz- und Pferdehändler, die Bankiers und Bundisten waren verstummt, Sozialisten und Demokraten, selbst der Zensor, der sorglose Karait und der fröhliche Chassid, der Wirt mit seinem revolutionären Sohne in seinem verborgenen Keller, der Rabbi in seinem Studierzimmer, die lärmende Menge auf dem Markt – sie alle, alle waren verstummt – verstummt auf immerdar …
Die gleiche unbedingte historische Notwendigkeit hatte ihnen allen ein Ende gemacht.