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Leopold Barstein, der Bildhauer, saß in seinem einsamen Atelier und brütete über seine verlorenen Glücksträume, als der Postbote ihm einen Brief brachte, der in großen weitläufigen und ihm völlig unbekannten Schriftzügen geschrieben war. Er begann »Engel Gottes!«
Er lachte bitter. »Gerade wenn ich mich in einer direkt diabolischen Stimmung befinde!« Er las den Brief nicht gleich, da er sofort erriet, daß es wieder einer der unzähligen Bettelbriefe sei, die als Nachwehen seiner Zionistenperiode im Ostend bei ihm einliefen. Er wandte nur das Blatt um, um den Namen des überschwenglichen Briefstellers zu lesen. Er lautete: »Nehemiah Silvermann, Zahnkünstler und Restaurateur«. Nun mußte er doch herzlich lachen, denn er hatte den Sinn für Humor keineswegs verloren. Seine Phantasie schuf sofort das auf einem Piedestal stehende Marmorbild des Restaurateur-Dentisten: in der einen Hand hielt die Figur ein Füllhorn, in der anderen Zangen. Er las den Brief.
»3 A. Minorystraße O.
»Engel Gottes!
Ich habe die Ehre, mich an die menschliche und erhabene Großmut Euerer Gnaden zu wenden und Sie zu bitten, mir in Ihrer Barmherzigkeit und Menschenliebe eine großmütige Unterstützung zuzuwenden, um mich aus meiner Bedrängnis und den schweren Sorgen zu retten, unter denen ich ganz furchtbar leide. Ich habe in Rußland mein ganzes Vermögen verloren und bin ein ruinierter Mann. Ich befinde mich hier ohne alle Mittel und ohne zahnärztliche Praxis und mein Restaurant ist geschlossen, weil es mir an ein paar elenden Goldstücken zum Betriebe fehlt. Ich weiß wahrlich nicht, was ich in dieser ebenso drückenden wie demütigenden Lage anfangen soll. Ich habe Ihre Wohltätigkeit, Ihre Menschenliebe und Ihre große Barmherzigkeit überall rühmen und preisen gehört. Somit wage ich es, die Güte, den Edelmut und die Nächstenliebe Eurer Gnaden demütigst in Anspruch zu nehmen und bitte Sie, mir Ihre Hilfe zu gewähren und mich durch Ihre Gnade aus meiner traurigen Lage zu erlösen. Ich bitte Sie um Ihrer großen Güte willen, mir so bald wie möglich Antwort auf diese Zeilen zu geben.
Ihr gehorsamster und ergebenster Diener
Nehemiah Silvermann
Dentist und Restaurateur.«
Diese schwulstige Sprache wirkte erheiternd auf Barsteins melancholische Stimmung; ihm war, als ob die von seiner Phantasie erschaffene Statue immer mehr Adjektive aus ihrem Füllhorn schütte. »Es ist wie der Angstruf eines bedrängten Wörterbuches,« murmelte er lächelnd, den Brief noch einmal durchlesend.
Er beantwortete den Brief, und es gefiel ihm, dies in möglichst knapper, geschäftsmäßiger Form zu tun. Er erbat sich Details über Silvermanns Verhältnisse und pekuniäre Lage. Hatte er sich schon an das russisch-jüdische Hilfskomitee gewandt, dessen Aufgabe es ist, die aus Rußland ausgewiesenen Juden zu unterstützen? Kannte er vielleicht den in der Nähe seiner Wohnung am Mausel-Platz wohnenden Dentisten Jakobs?
Jakobs war einer der eifrigsten Vertreter des Zionismus gewesen, die er in jenem kleinen Hinterzimmer des Ostends kennen gelernt hatte, und nun fiel es Barstein plötzlich ein, daß der beredte kleine Mann eventuell seinem zahnärztlichen Kollegen behilflich sein könne.
Mit umgehender Post kam wieder ein überschwenglicher Brief von dem »bedrängten Diktionär«.
»3. A. Minorystraße O.
Hochedler und engelgleicher Herr Leopold Barstein.
Ich habe die Ehre, Ihnen hierdurch für die freundliche Beantwortung meines Briefes zu danken. Ich habe meinen Lebensunterhalt in den ersten zehn Jahren, die ich hier verbracht, teilweise durch meine zahnärztliche Praxis erworben, solange keine so starke Konkurrenz da war, denn ich habe nirgends irgendeine wirksame Hilfe oder irgendeine Protektion gehabt, da ich hier keine Beziehungen habe. Die Zeit ändert sich außerdem und wir mit ihr, aber ohne Geld ist es überhaupt nicht möglich, zu irgend etwas zu kommen. Wenn mir jetzt in meiner verzweifelten Lage jemand nur £ 4 für mein Restaurant geben wollte, dann wäre mir geholfen. Ich verdiene hier nichts, ich muß endlich verzweifeln, ich gehe hier unter, in Rußland wurde ich ruiniert, bitte helfen Sie mir in Ihrer unergründlichen Gnade mit etwas, wenn ich £ 15 hätte, könnte ich von hier fortgehen und versuchen, irgendwo anders mein Brot zu verdienen, und wenn ich £ 30 hätte, würde ich nach Jerusalem gehen, weil die bittern Leiden und das Elend, das ich hier kennen gelernt habe, mich davon überzeugt haben, daß hier überhaupt nichts für mich zu machen ist. Ich bin nicht bei dem russisch-jüdischen Hilfskomitee gewesen, weiß auch nicht, wo es ist; wenn Sie damit vielleicht das Jüdische Asyl von der Lemanstraße meinen, so habe ich da nichts zu hoffen, da ich weder Protektion, Einführung noch Empfehlungen dafür habe. Die Armut findet selten gute menschlich denkende Schützer und Freunde. Die Leute sagen, daß Jakobs, der Zahnarzt, von dem Mauselplatze, kein guter Mensch sei und davon habe ich mich auch überzeugt, denn er nimmt mir alle Kunden fort. Ich ersuche Eure Gnaden nun demütigst, mir rasch Hilfe zu senden und dadurch den allgemeinen guten Ruf, in dem Eurer Gnaden Mildtätigkeit steht, noch zu erhöhen und zu befestigen.
Ihr gehorsamer und ergebener Diener
Nehemiah Silvermann,
Zahnarzt und Restaurateur.«
Dieser Brief warf ein neues Licht auf die Situation, klärte sie aber keineswegs auf. Barstein hatte geglaubt, daß Nehemiah ein Opfer der letzten russischen Wirren und geflohen sei, um den gegen die Juden verübten Greueln zu entgehen. Nehemiah war aber schon seit zehn Jahren in London, und wenn er vielleicht seinerzeit wirklich sein vermögen in Rußland verloren hatte, so hatte er diesen Verlust doch über ein Jahrzehnt überlebt. Seine Zukunftspläne schienen ebenso verschwommen und unklar zu sein wie seine Berichte über die Vergangenheit, vier Pfund würden nur eine augenblickliche Hilfe bedeuten; er würde damit seine Karriere in London aufzunehmen suchen. Mit £ 15 wollte er sein Glück an irgendeinem andern Orte versuchen. Mit £ 30 würde er nach Jerusalem ziehen und dort das Ende aller seiner Leiden finden. Barstein glaubte, daß es wohl am richtigsten sein würde, persönlich die Lage des sonderbaren Bittstellers zu untersuchen und da er am folgenden Tage die rechte Arbeitsstimmung nicht finden konnte, zerstörte er ärgerlich das Tonmodell, an dem er geformt hatte, setzte den Hut auf und wanderte in die Minorystraße. Er sah sich aber in Nr. 3 vergebens nach dem Schilde eines Zahnarztes oder nach einem Restaurant um. Er fand nur ein sehr bescheiden aussehendes Eckhaus. Nachdem er ungewiß ein paarmal davor auf und nieder gewandert war, klopfte er an die schäbige Haustür. Eine unordentlich aussehende Frau mit langen Ohrringen öffnete ihm und beantwortete seine Frage dahin, daß die Silvermanns zwei Zimmer in der zweiten Etage bewohnten.
»Was!« rief Barstein. »Ist er denn verheiratet?«
»Das will ich doch hoffen,« antwortete die Frau in ernstem Tone, »er hat ja wenigstens elf Kinder.«
Barstein stieg die enge, von keinem Teppich bedeckte Treppe hinauf und wurde von Frau Silvermann und ihrer Brut sehr zeremoniell und mit großer Bestürzung empfangen. Die Familie erfüllte sowohl das nach der Straße wie das rückwärts gelegene Zimmer, das eine Art von Küche zu sein schien, denn Frau Silvermann kam mit aufgerollten Ärmeln heraus, und man hörte von dort drinnen das Zischen einer Bratpfanne. Die kleine verblühte und eine schwarze Perücke tragende Frau entschuldigte in verlegenen Ausdrücken, daß ihr Mann nicht zu Hause sei. Barstein sah sich neugierig in dem Zimmer um und suchte vergebens eine an zahnärztliche Praxis erinnernde Einrichtung oder irgendein Zeichen, daß hier Kostgänger zu Mittag gespeist hätten. Er sah nur einige völlig verwahrloste Möbel, alte Rohrstühle mit zerlöcherten Sitzen, ein halb herabhängendes Bücherbrett mit zerfetzten Büchern und eine wie eine Art von Schrank aussehende Schlafgelegenheit, die Nachts herabgeklappt wurde und der halben Familie zur Lagerstätte diente. Aber von dem Operationsstuhle eines Zahnarztes war nichts zu entdecken. Sein Auge streifte die halbzerfetzten Bücher, darunter waren auch einige minderwertige Wörterbücher. Er bemerkte einen russisch-deutschen und einen deutsch-englischen Diktionär. Der aus dem Nebenzimmer dringende Geruch von etwas Gebackenem sowie das Zischen der Pfanne machten sich jetzt deutlich bemerkbar. »Sind Sie die Köchin des Restaurants?« fragte er.
»Des Restaurants?« wiederholte die Frau vorwurfsvoll, »Habe ich nicht genug damit zu tun, für meine Familie zu kochen? Woher sollte ich auch das Geld bekommen, um ein Restaurant zu eröffnen?«
»Ihr Mann schrieb mir doch –« murmelte Barstein ganz verlegen.
Das laute Schreien der in der Küche befindlichen jungen Brut veranlaßte die Mutter, ihn für einen Augenblick zu verlassen, um die Kinder zu beruhigen. Die größeren Kinder drängten sich erstaunt um ihn und starrten ihn mit offenem Munde neugierig an. Von der Küche konnte er Ohrfeigen, dann Flüstern und Schluchzen vernehmen. Dann erschien die arme Frau wieder: sie trug ein Waschbrett in der Hand, legte es über einen der sitzlosen Stühle und bat seine Exzellenz demütig, doch gefälligst Platz zu nehmen. Sie sagte, daß heute leider ein schulfreier Nachmittag sei und deshalb die Kinder alle zu Hause seien.
»Wo übt denn Ihr Mann seine zahnärztliche Praxis aus?« fragte Bartstein, sich sehr vorsichtig auf das Brett setzend.
»Wie sollte ich das wissen!« antwortete die Frau. »Er geht aus und kommt wieder.« – Zu Barsteins großer Befriedigung kam er in diesem Augenblicke wirklich zurück.
»Heiliger Engel!« rief er, sich tief verbeugend und ehrfurchtsvoll den Saum von Barsteins Rock küssend. Er war ein hagerer, melancholisch aussehender Mensch, der über sechs Fuß hoch war, und der durch den unmöglichen hohen alten Zylinderhut und den schäbigen Frack mit langen altmodischen Schößen noch größer wirkte. Bei seiner Ankunft zog sich die Frau sichtlich erleichtert mit ihrer ganzen Herde in die Küche zurück und ließ Barstein mit dem langen Manne zurück, der seinen Gast mit schwärmerischen Blicken betrachtete und ganz in Verzückung versunken schien.
Barstein fragte ihn unwirsch: »Wo üben Sie Ihre zahnärztliche Praxis aus?«
»Reden Sie nicht von mir,« antwortete Nehemiah. »Gestatten Sie mir nur, Sie anzuschauen.« Und er fuhr fort, den Bildhauer mit verhimmelndem Ausdrucke anzustaunen.
Barstein, der glaubte, daß der Mann ihn zum Narren halte, wiederholte noch einmal barsch: »Wo üben Sie Ihre zahnärztliche Praxis aus?«
Nehemiah schien den Sinn dieser Frage nicht sogleich zu begreifen, endlich aber antwortete er mit pathetischem Tone: »Woher sollte ich wohl hier Patienten bekommen? In Rußland hatte ich ein gutes Einkommen durch die zahnärztliche Praxis. Aber hier habe ich keine Freunde.«
Die Eigentümlichkeit seiner Redeweise amüsierte Barstein. Der Diktionär war offenbar die Quelle seiner Beredsamkeit. Er schien übrigens ganz redescheu zu sein und es vorzuziehen, Barstein mit seinen großen hellen Augen unverwandt ganz verzückt anzuschauen.
»Sie haben aber doch volle zehn Jahre hier gelebt,« warf Barstein ein.
»Sie erkennen daraus, wie barmherzig der Herr ist,« erwiderte Nehemiah eifrig. »Er hat mich und meine Kinder niemals verlassen.«
»Aber was haben Sie denn getan?« fragte Barstein.
Nehemiahs Augen nahmen einen vorwurfsvollen Ausdruck an.
»Fragen Sie vielmehr, was der Allmächtige getan hat,« sagte er.
Barstein hatte ein Gefühl, als ob er getadelt worden sei. Niemand will gern den Charakter eines heiligen Engels einbüßen. »Aber wie ist es mit Ihrem Restaurant?« sagte er. »Wo ist das?«
»Das ist hier.«
»Hier?« wiederholte Barstein, völlig fassungslos um sich blickend.
»Wo denn sonst? Hier würde ich die besten Aussichten zur Eröffnung eines koscheren Restaurants haben. Es gibt Hunderte und Hunderte von Neuangekommenen in dieser Gegend, arme junge Leute, die kaum ein Bett oder eine Zimmerecke haben, um nachts darauf zu schlafen. Sie wissen nicht, wohin sie gehen sollen, um mittag zu essen, und meine Frau ist, Gott sei Dank, eine sehr tüchtige, erfahrene Köchin.«
»Ach so, dann ist Ihr Restaurant vorläufig nur ein Plan.«
»Natürlich – ich möchte sagen: ein guter Rat – den ich mir selber gegeben habe.«
»Aber haben Sie genug Teller, Schüsseln und Tischzeug? Können Sie es wagen, Nahrungsmittel zu kaufen, und dabei riskieren, daß sie nicht gegessen werden?«
Nehemiah hob die Hände zum Himmel.
»Nicht gegessen werden! Bei einer Familie wie die meine!«
Barstein mußte lachen, und dazu milderte sich seine Stimmung, als er die sensitive und künstlerische Bewegung von Nehemias wohlgebildeten erhobenen Händen bemerkte – sie mochten wohl geschickt genug gewesen, mit Zangen fertig zu werden. »Ja,« fuhr Barstein fort, »es könnte ja gar nicht anders kommen. Denn wie sollte es sich rentieren, hier zwei Treppen hoch ein Restaurant zu eröffnen, wo es von keinem Vorübergehenden bemerkt wird?«
Während des Sprechens fiel ihm ein, daß er einmal in Sizilien in einem Hotel war, das aber nur aus einem Zimmer bestanden hatte, vielleicht waren im Ghetto auch sizilianische Sitten üblich.
»Ich bin nicht so ehrgeizig, gleich ein großes Restaurant eröffnen zu wollen,« erklärte Nehemiah. »Aber sehen Sie, hier ist ein großes leeres Zimmer, was soll ich damit anfangen. Natürlich schläft nachts der größere Teil der Familie darin, aber bei Tage ist es die reine Verschwendung. Außerdem schicken mir meine Freunde in Rußland und Amerika jede Woche verschiedene hebräische und jüdische Zeitungen; eine andere kaufe ich mir selbst hier. Wenn ich die Blätter gelesen habe, hat niemand mehr Nutzen davon. Deshalb habe ich den Plan geschmiedet, hier ein Lesezimmer einzurichten, wohin die jungen Leute, die nur eine Schlafstelle haben, abends kommen können, um gemütlich die Zeitungen zu lesen. Wenn sie erst wissen, daß sie hierher kommen können, wird es sehr leicht sein, sie zum Essen und Trinken zu animieren. Zuerst werde ich nur Kaffee und Zigaretten verkaufen, aber später soll meine Frau ihnen alle koscheren Delikatessen Polens bereiten. Wenn dann unsere Kundschaft zu groß für diesen Raum wird, können wir Bergmanns großes elegantes Restaurant in Whitechapel übernehmen. Er hat mir schon den Preis dafür mitgeteilt. Er beträgt nur £ 200. Und wenn Eure Herrlichkeit –«
»Aber ich kann unmöglich £ 200 aufbringen,« sagte Barstein ganz erschrocken.
»Nein, nein, es ist der Allmächtige, der es bescheren wird,« sagte Nehemiah beruhigend. »Von Ihnen verlange ich das nicht.«
»In diesem Falle,« antwortete Barstein trocken, »muß ich sagen, daß ich diesen Plan für ausgezeichnet halte. Ihre Idee, klein anzufangen und sich dann allmählich zu vergrößern, ist sachgemäß und vernünftig; außerdem kann es ja auch leicht vorkommen, daß einige der jungen Leute Zahnschmerzen bekommen. Ich begreife nur nicht, wozu Sie mich dabei nötig haben – es sei denn, daß ich Sie mit einigen Zeitungen und Journalen unterstützen kann?«
»Sagte ich nicht, daß Sie vom Himmel gesandt seien?« Nehemiahs Augen leuchteten wieder. »Aber ich brauche keine Zeitungen. Für mich ist es genug Gnade, daß Ihr heiliger Fuß mein bescheidenes Heim betreten hat. Ich dachte, Sie würden mir Geld senden. Aber daß Sie die Gnade haben würden, mich selbst aufzusuchen! Nun kann ich sagen, daß ich Auge in Auge mit dem Engel des Herrn gesprochen habe.«
Barstein war gerührt. »Ich denke, Sie werden einen größeren Tisch für Ihr Lesezimmer notwendig haben?« sagte er.
Die lange Gestalt schüttelte verneinend den Kopf. »Das einzige, was unumgänglich notwendig zu meiner Operation ist, das ist Gas –«
»Gas?« wiederholte Barstein erstaunt. »Dann beabsichtigen Sie also, Ihre Zahntechnik doch wieder aufzunehmen?«
»Nein,« erklärte Nehemiah, »ich brauche das Gas für mein Restaurant. Wenn ich keine fröhliche helle Beleuchtung habe, werden die jungen Leute nicht herkommen; aber es ist nur das Penny-Gas, das ich gebrauche.«
»Nun, wenn es nur einen Penny kostet – –«
»Immer einen Penny für den Gasautomaten, aber die Gasuhr muß bezahlt, die Brenner müssen angeschafft werden – –«. Er meinte, daß er mit £ 4 das Zimmer in einen Lichtsalon verwandeln könne, der genügen würde, alle heimatlosen Motten der Nachbarschaft anzuziehen.
Das also war der erste Plan, zu dessen Ausführung Nehemiah £ 4 von ihm erbeten hatte. Der Mann hatte die unerwartete Prüfung seiner Verhältnisse schließlich bestanden – er war offenbar kein Krösus – und wenn £ 4 eine hungernde Familie retten, obendrein noch Licht über die ganze Nachbarschaft verbreiten konnten – –
Barstein drückte auf seine kleine an der Uhrkette befestigte Goldbörse. Sie enthielt nur 3 £ 10 sh.
»Ich fürchte, daß ich nicht genug bei mir habe,« murmelte er.
»Als ob ich Ihnen nicht traute!« rief Nehemiah vorwurfsvoll. Und als er seine langen Rockschöße aufhob, um das Geld einzustecken, bemerkte Barstein, daß er keine Weste anhatte.
Ungefähr sechs Monate später, als Barstein diese kleine Episode schon vollständig vergessen hatte, erhielt er wieder einen Brief, dessen Phraseologie sie ihm augenblicklich in das Gedächtnis zurückrief.
»An die hochangesehene, kompetente und überall maßgebende Kunstautorität, dem in der ganzen Welt anerkannten und hochberühmten Bildhauer Leopold Barstein. 3. A. Minorystraße O.
Geehrter Herr!
Ich habe die Ehre und die Freude, Ihnen meine wahre und aufrichtige Erkenntlichkeit, sowie meinen tiefgefühlten und verbindlichen Dank auszusprechen für Ihre großmütige, hochherzige, edelmütige und sympathische Teilnahme, sowie für Ihre wirklich humane, wohltätige, selbstlose, freundliche Menschenliebe, mit der Sie meine große Not gelindert haben und ich bin auch jetzt wieder in äußerst bedrängter Lage, da ich doch in Rußland ruiniert wurde und da das Elend dort und die Judenhetze kein Ende nimmt und ich auch hier zu nichts kommen kann und ich fort möchte, aber ich würde lieber nach Bursia gehen als nach Rußland zurückkehren. Ich erhielt durch Ihre hochgeschätzte, liebenswürdige und liebenswerte Güte vor einiger Zeit £ 4, die eine momentane Hilfe für mich waren, da ich sehr arm bin und ich mich jetzt wieder in gedrückter, dürftiger, höchst elender und verzweifelter Lage befinde, und da ich hier nichts verdienen kann und daher untergehen muß. Ich kann hier meinen Lebensunterhalt nicht finden, obwohl ich wissenschaftlich gebildet bin und verschiedene fremde Sprachen verstehe und obwohl ich philologische Neologie und Archäologie verstehe und das beste wäre es, wenn ich meine Kenntnisse in einem anderen Lande verwertete und ich möchte nach Bursia gehen oder in die Türkei. Deshalb bitte und flehe ich zu Eurer Gnaden, bei Ihrer bewährten Großmut und Menschenliebe durch dies demütige und dringende Ersuchen, mir zu helfen und zwar recht bald, so schnell es Eure Herrlichkeit in Ihrer unendlichen Güte und Gnade ermöglichen können.
Ihr gehorsamster ergebenster Diener
Nehemiah Silvermann,
Dentist und Professor der Sprachen.«
So hatte sich also eine Akademie für Sprachen aus dem Gase entwickelt und kein Restaurant! Jedenfalls war der Mann wieder in Not. Seine Auswanderung erschien ihm als einziger Rettungsanker.
Aber wo in aller Welt lag denn Bursia? Möglicherweise hatte er Persien gemeint? Aber warum gerade Persien? Worin bestand die Anziehungskraft dieses exotischen Landes, und was sollte Frau Silvermann mit ihrer Kinderschar in Persien tun? Nehemiahs früher ausgesprochener Wunsch, nach Jerusalem gehen zu wollen, hatte etwas viel Verständlicheres, vielleicht dachte er immer noch daran und hoffte, von der Türkei aus dahin zu gelangen. Nicht minder charakteristisch fand Barstein Nehemiahs hartnäckiges Klagen über den Verlust seines Vermögens in Rußland.
Ein paar Tage beschäftigte sich der Bildhauer mit dem Inhalte des Briefes und kam zu dem Entschlusse, noch einmal in die Minorystraße zu fahren. Aber er hatte gerade eine dringende Arbeit unter Händen, und ehe er sich davon losreißen konnte, fiel ein noch üppigerer Schauer schöner Worte über ihn. Der Brief, den Barstein erhielt, lautete folgendermaßen:
»3. A. Minorystraße O.
Ich habe die Ehre, Eure Gnaden zu fragen, was Sie über meine bevorstehende baldige Abreise gnädigst beschlossen haben? Ich muß meine bescheidene, aber dringende Bitte wiederholen und ersuche Eure Gnaden, falls Ihre Menschenliebe keinen anderen Ausweg weiß, mich aus meiner trostlosen Lage und von meinen bittern Sorgen und Kümmernissen zu erlösen, doch so schnell wie möglich eine anonyme Privatkollekte unter Ihren hochachtbaren guten Freunden zu arrangieren und auf diese Weise wenigstens £ 15, oder besser £ 25 zusammen zu bekommen, damit ich in ein anderes Land gehen kann, selbst wenn es Bursia sein sollte, damit ich dort meinen Lebensunterhalt durch die Zahnpraxis oder durch meine wissenschaftlichen und philologischen Kenntnisse gewinnen kann. Die Konkurrenz ist hier in allen Dingen zu groß. Ich finde hier keine zahnärztliche Beschäftigung, keine Praxis, ich habe keine Beziehungen, keine Hilfe, Kein Verdienst noch Erwerb, keine Empfehlungen, kein Geld, keine guten Freunde, keine nützlichen Bekanntschaften; in Rußland wurde ich ruiniert und hier komme ich um und ich bin schon verzweifelt und verzage vollständig. Ich weiß nicht, was ich in meiner dringenden, aktuellen, äußersten und ungeheuern Not tun soll und muß. Mir haben viele gute Leute gesagt, daß es ganz nutzlos sei, sich an die Armenverwaltung zu wenden, da die den Unglücklichen doch nicht hilft, sondern oft nur schadet durch zu eingehende Erkundigungen und Fragen, und sie wirft den Armen ihre Fehler vor und sucht sie in Strafe zu bringen. Ich will nichts damit zu tun haben und in dem Russisch-Jüdischen Hilfskomitee habe ich einmal Herrn Ascher Aaronsberg getroffen, und der ist mir durchaus nicht sympathisch. Und ich ersuche und bitte Euere Gnaden demütiglich, mir in ihrer unendlichen Güte und Menschenfreundlichkeit so bald wie möglich Ihre gnädige Antwort zukommen zu lassen.
Ihr demütiger gehorsamster Diener
Nehemiah Silvermann
Dentist und Professor der Sprachen.«
Sobald es anfing im Atelier zu dämmern, nahm Barstein einen Wagen und eilte zur Minorystraße.
Nehemiahs Stimme bat ihn, einzutreten, und als Barstein die Tür öffnete, sah er die lange Gestalt mit dem Zylinderhute auf dem Kopfe in einsamem Brüten auf dem Stuhle sitzen und bei dem elenden Schein eines kleinen Nachtlichtes eine Zeitung lesen. Nehemiah sprang mit einem Freudenschrei auf und verneigte sich sehr tief vor dem Gaste, von dem hohen Hute bis herab zu den langen Rockschößen war er völlig unverändert, und eine himmlische Freude verklärte sein vergrämtes Gesicht, als er den Bildhauer begrüßte.
Aber Barstein zog seinen Rock fest um sich und vereitelte dadurch den Kuß, den Nehemiah darauf zu drücken versuchte.
»Wo ist das Gas?« fragte er trocken.
»Ach! Die Gesellschaft hat die Gasuhr zurückgezogen.«
»Aber die Beleuchtungsobjekte?«
»Was hatten wir andres zu essen?« sagte Nehemiah einfach.
Ein plötzlich in Barstein aufsteigender Verdacht veranlaßte ihn, den Blick zur Decke zu erheben. Er entdeckte dort jedoch wirklich das Fragment einer Gasröhre. Er konnte sich jedoch nicht erinnern, ob diese schon früher dagewesen sei oder nicht.
»Dann sind die jungen Leute wohl nicht gekommen?« sagte er.
»O ja, sie kamen, lasen und aßen – aber sie wollten nicht bezahlen.«
»Sie hätten von vornherein erklären müssen, daß sie nur gegen sofortige Zahlung etwas bekommen könnten.«
Wieder glitt ein vorwurfsvoller und erstaunter Schatten über Nehemias schmales, melancholisches Gesicht.
»Könnte ich einen Bruder in Israel bedrängen? wohin sollten diese jungen Leute gehen, wenn nicht zu mir?«
Abermals fühlte Barstein, daß sein Engelruf gefährdet sei. Er beeilte sich, das Unterhaltungsthema zu wechseln.
»Warum wollen Sie gerade nach Bursia gehen?« fragte er.
»Ja, warum sollte ich wünschen, gerade nach Bursia zu gehen?« antwortete Nehemiah nachdenklich.
»Sie haben das doch gesagt – ?« Bartstein zeigte ihm den Brief.
»Ach, ich meinte damit nur, daß es besser sei, als nach Rußland zurückzukehren. Herr Ascher Aaronsberg spricht immer nur davon, uns alle nach Rußland zurücksenden zu wollen.«
»Ja, das möchte er,« sagte Barstein grimmig. »Aber wo liegt denn eigentlich Bursia?«
Nehemiah zuckte die Achseln. »Wie soll ich das wissen? Meine kleine Rebekka hat in der Schule eine Karte davon gezeichnet, mit der sie den ersten Preis von £ 5 gewonnen hat; wir haben zwei Monate von dem Gelde gelebt. Meine Rebekka ist ein geniales Kind.«
»Ach, dann hat der Allmächtige Ihnen wirklich immer wieder etwas geschickt?«
»Vertraue ich aber nicht ganz auf seine Güte? Wie sollte ich sonst mit der Last so vieler Kinder das Leben ertragen?«
»Diese Last verdanken Sie sich selbst,« konnte Barstein sich nicht enthalten zu sagen.
Wieder glitt jener schmerzliche Ausdruck über Nehemiahs Züge; es war, als habe er plötzlich Tonfüße unter den gewichsten Stiefeln Barsteins entdeckt.
»Geht hin und seid fruchtbar und mehret euch,« zitierte Nehemiah in hebräischer Sprache; »ist das nicht das erste Gebot in der Bibel?«
»Also,« antwortete der Bildhauer ausweichend, »Sie wollen nach der Türkei gehen? Ich glaube aber, Sie meinen Palästina?«
»Nein, die Türkei. Es ist die Türkei, die wir Zionisten aufsuchen sollten, um dort für Palästina zu arbeiten. Sind nicht viele der Beamten des Sultans Juden? Wenn wir sie zu warmherzigen Zionisten umzuwandeln vermöchten – –?«
Das war ein ihn interessierendes Thema, und Barstein setzte sich auf den Tisch, um mit Nehemiah darüber zu diskutieren. Die Ehrfurcht, mit der Nehemiah seinen Ansichten lauschte, war rührend, aber gleichzeitig ein wenig verwirrend. Barstein fühlte sich gedemütigt von dem hohen Begriff, den Nehemiah von ihm hatte. Dennoch konnte er kaum annehmen, daß der Mann ihm schmeicheln wollte, denn von den Zionistenführern sprach Nehemiah womöglich mit noch größerer Verehrung und mit einer Rührungsträne im Auge. Seine lange Gestalt schien sich zu recken, sein schmales Gesicht einen überirdischen Ausdruck anzunehmen, als er seinen Plan zu der Wiedereroberung Jerusalems entwickelte, und der erste Eindruck, den Barstein von seiner Ehrlichkeit empfangen, vertiefte sich immer mehr.
Indessen fuhr, es Barstein durch den Statt, daß Nehemiah wohl kaum Gelegenheit haben würde, mit den ottomanischen höheren Beamten in Berührung zu treten und Einfluß auf sie zu gewinnen, und daß die einzige, jetzt wichtige Frage die sei, wie Nehemiah sich, seine Frau und »wenigstens elf Rinder« in der Türkei durchbringen wolle. Er erwähnte diesen Punkt.
Nehemiah glitt darüber weg. »Bis ob der Allmächtige uns nicht gerade so gut in der Türkei erhalten könnte wie in England,« fragte er. »Ja, selbst in Bursia schläft der Schützer Israels nicht.«
Bei dieser Gelegenheit war es, daß das Wort Luftmensch durch Barsteins Statt fuhr. Nehemiah war nicht wie die andern Menschen und ließ sich nicht von der Last irdischer Alltagssorgen herabziehen. Er war ein »Luftmensch«, der auf leichten Schwingen durch den Äther flog. Gewiß, er sprach von seinen quälenden Sorgen, aber er war sich ihrer Last dann am schwersten bewußt, wenn er sie in einer literarischen Rhapsodie schilderte. Im Schlimmsten Falle waren es leichte Wolken auf dem blauen Himmel. Sie hatten nichts mit den Nebeln zu tun, die häufig den Himmel seiner eigenen Visionen verschleierten. Niemals hatte Nehemiah auch nur einen Augenblick des blauen Himmels vergessen, niemals hatte er aufgehört hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen. Selbst sein Pessimismus war nur ein versteckter Optimismus, da es nur ein persönlicher Pessimismus war, dem immer wieder durch ein neues, ihm von der Vorsehung gespendetes Stück Brot geholfen war; er hatte nichts gemein mit der unpersönlichen Verzweiflung über das Wesen der Dinge, die dem Denker solche düstere Stunden bereitet, wie hatte Nehemiah während dieser zehn Jahre seines Aufenthaltes in England gelebt? Wer konnte es sagen? Aber er sein Mut war ungebrochen; er hatte die Kraft in sich gehabt, sich von der Scholle loszureißen, wo seine Wiege gestanden, und sich in ein ihm gänzlich unbekanntes Land zu wagen, um dort mit allen nur erdenklichen Mitteln sich durch den Wechsel des Lebens und die unglaublichsten, unberechenbarsten Krisen zu schlagen. Und obwohl er immer dem Untergange nahe war und sich oft hungernd und frierend zu Bett legen mußte, hatte er doch mehr für die Nachwelt getan als der Bildhauer mit seinen toten Marmorbildern.« Jahr um Jahr hatte er ein neugeborenes Kind mit Psalmsingen und Dankgebeten fröhlich willkommen geheißen, niemals hatte Nehemiah auch nur für einen Augenblick den starken Glauben an das Leben, an Gott und sich selbst verleugnet.
Ja, und seine Achtung vor andern war beinahe noch tiefer als seine Selbstachtung. Ein unverwüstlicher Idealist, war er in dem glücklichen Glauben, unter einer Gemeinschaft von Gott gleichen Menschen zu leben. Er war sich keiner Übertreibung bewußt, wenn er Barstein als »Engel Gottes« anredete. Verstand und Güte waren seine Leitsterne. Welch hohen Mut bewies er in seinen weltlichen Angelegenheiten, und welche Zähigkeit! Er hatte sich einmal mit der Zahntechnik befaßt, und hielt sich immer noch für einen Dentisten. Ehe er noch ein Tischtuch besaß, kam er sich schon wie der Besitzer eines Restaurants vor. Er genoß die Vorfreude des Glücks, das ihm die Zukunft vielleicht bescheren Konnte, und gleichzeitig die Erinnerung alles Guten, das er in der Vergangenheit genossen hatte. Selbst wenn es ihm noch so schlecht ging, war er nicht unglücklich; er lebte immer in seinen goldenen Träumen. Mochte der oberflächliche Beobachter ihn für unpraktisch und hilflos halten, – wenn man den Mann ernst nahm, mußte man zugeben, daß er ein Meister der Lebenskunst war. War er nicht wie eine Verkörperung des großen jüdischen Evangeliums von den Lilien auf dem Felde?
»Sie sollten nicht nach Bursia gehen,« sagte Barstein warm. »Mit fünfzehn Pfund Sterling und selbst mit fünfundzwanzig Pfund ist es unmöglich, daß eine Familie von dreizehn Köpfen dahin gelangen könnte; die Summe reicht jedoch vollständig aus, um hier ein kleines Geschäft einzurichten.«
Nehemiah starrte ihn an. »Bote des Herrn!« war alles, was er hervorbrachte. Dann erhob er seine Augen zum Himmel und sprach eine hebräische Dankeshymne, in der von dem Widder die Rede war, der geopfert wurde, um Isaaks Leben zu retten.
Barstein wartete geduldig, bis die frommen Lippen sich wieder geschlossen hatten.
»Was für ein Geschäft würde Ihnen am zweckentsprechendsten erscheinen?«
»Sollte ich es wagen, dem Vorschlage des gottgesandten Engels zuvorzukommen?« fragte Nehemiah mit feucht schimmernden Augen zurück.
»Ich dachte mir, daß sich vielleicht irgend etwas finden ließe, wobei Ihre Kinder Ihnen schon ein wenig behilflich sein könnten. Wie alt ist das älteste?«
»Ich werde meine Frau fragen,« rief er. Die kümmerliche Gestalt kam herein.
»Wie alt ist Moschele?«
»Weißt du nicht, daß er zum letzten Laubhüttenfeste zwölf Jahre alt wurde?«
Nehemiah streckte seine langen Arme in die Höhe. »Barmherziger Himmel! Dann muß er anfangen, seine ›Parschah‹ Sein für die jüdische Konfirmation nötiges Pentateuchkapitel. zu lernen. Was wird es sein; wo ist mein Chumasch Pentateuch, die fünf Bücher Moses.?« Frau Silvermann holte das zerfetzte Buch von dem Bücherbrett herab, und Nehemiah durchblätterte, über das Nachtlicht gebeugt, dessen Seiten und vergaß darüber vollständig seine Zukunftspläne.
Barstein wandte sich an die Frau. »Zu welchem Geschäfte würde Ihr Mann sich wohl am besten eignen?« fragte er.
»Ist er nicht Zahnarzt?« fragte sie zurück.
Barstein wandte sich an Nehemiah, der immer noch eifrig in seinem Buche blätterte.
»Möchten Sie wohl wieder Zahnarzt werden?«
»Ach, wie aber sollte ich Kunden finden?«
»Sie müssen ein Schild am Hause anbringen lassen, auf dem Sie sich als Zahnarzt empfehlen. Die Hauswirtin wird Ihnen gewiß gestatten, es über der Haupteingangstür zu befestigen, besonders wenn Sie noch ein Zimmer dazumieten. Ich werde die notwendigen Instrumente kaufen und Sorge dafür tragen, daß das Zimmer höchst anständig und zweckentsprechend eingerichtet wird. Sie können auch Ihre Zeitungen dort auflegen – wer weiß, vielleicht kommen die Leute schon darum gern, weil sie dort etwas zu lesen finden,« fügte er lächelnd hinzu.
Nehemiah wandte sich an seine Frau: »Sagte ich es dir nicht, daß er ein gnadenbringender, freundlicher Erzengel sei!« rief er begeistert.
Barstein saß mit Rozenoffski, dem russisch-jüdischen Pianisten, und mit dem galizisch-jüdischen Maler Schneemann vor einem Kaffeehause in Rom und schlürfte Wermut, als er zuerst wieder von Nehemiah hörte.
Er wartete ungeduldig auf einen wichtigen Brief und hatte seinen Atelierdiener beauftragt, ihm, sobald der Briefbote käme, die Postsachen nachzubringen. Als der Mann erschien, griff er erwartungsvoll nach dem übergebenen Brief, aber die schlecht geschriebene schwülstige Aufschrift enttäuschte ihn sofort und verriet ihm, daß er wieder ein Schreiben des halb schon vergessenen »Luftmenschen« vor sich habe. Er warf den Brief ungeduldig auf den Tisch.
»O, lies doch ruhig deinen Brief,« protestierten seine Freunde, die Bewegung falsch verstehend.
»Ich errate schon, was es ist,« sagte er ärgerlich. Hier, in der klassischen Atmosphäre Roms, in diesem südlichen Sonnenschein fühlte er weniger Sympathie mit dem seltsamen, überspannten Nehemiah, der ohne Zweifel wieder neuerdings Schiffbruch erlitten hatte und nun Hilfe von Barsteins engelhafter Güte erbat. Nein, für diesen Tunichtgut wollte er keinen Pfennig mehr opfern. Mochte seine Vorsehung sich seiner annehmen.
»Ist sie schön?« neckte ihn Schneemann.
Barstein lachte laut auf. Seine gereizte Stimmung war verschwunden. Der Gedanke, daß man die Affäre Nehemiah für ein Liebesabenteuer halten könne, war zu belustigend.
»Ihr könnt den Brief lesen,« sagte er.
Schneemann protestierte in drolliger Weise dagegen. »Nein, nein, das würde indiskret sein. Lies du uns vor, was dein Engel schreibt.«
»Aber ich bin ja selbst der Engel,« lachte Barstein, als er den Brief aufriß. Er las ihn vor und brach verschiedene Male in fast hysterisches Lachen aus über die überschwenglichen Ausdrücke und die verschwenderisch gebrauchten Adjektive Nehemiahs. Rozenoffski und Schneemann wurden von seiner Fröhlichkeit angesteckt, und selbst die an den benachbarten kleinen Tischen sitzenden Italiener, die den Grund ihrer Heiterkeit nicht kannten, lachten und schrieen mit den tollen Fremden.
»3 A. Minorystraße, O.
Hochwohlgeborener engelhafter Herr Leopold Barstein!
Ich habe noch einmal die Ehre, mich an Ihre freundliche, über alles erhabene, gnädige und barmherzige Menschenliebe zu wenden mit der demutsvollen, dringenden Bitte um Ihre so viel vermögende Fürsorge und Ihren gnädigen, mächtigen Schutz, denn ich bin tatsächlich in sorgenvoller, verzweifelt trauriger Lage und in bitterer Armut, denn es ist nicht möglich, durch die zahnärztliche Praxis Geld zu verdienen, weil ich weder Hilfe noch Schutz, weder Empfehlungen noch Beschäftigung habe, außerdem ist die Konkurrenz eine so große. Ich bin in Rußland ruiniert worden und habe nichts, um das herannahende jüdische Neujahrsfest würdig zu feiern. Ihre barmherzige, eines Erzengels würdige große Güte und Freigebigkeit hatte mich instand gesetzt, meine zahnärztliche Arbeit wieder aufzunehmen und damit wenigstens meinen bescheidenen Lebensunterhalt zu verdienen; aber ich verdiente nicht genug, und damit ist es nun auch vorbei, infolge der Verhältnisse und der bittern äußersten ganz ungeheuern Not. Deshalb flehe ich zu Euerer Herrlichkeit, ihre berühmte und fürstliche, über alles erhabene engelhafte Großmut auch heute nicht zu verleugnen und mir in Ihrer unerschöpflichen, segensvollen und barmherzigen Güte und Mildtätigkeit doch gleich gnädige Hilfe zu senden, wie dies einem so vollendeten und vollkommenen Menschenfreunde, wie Eure Gnaden sind, nur natürlich erscheinen wird. Ich wünsche Ihnen ein frohes neues Jahr. –
Ihr gehorsamer und ergebener Diener
Nehemiah Silvermann,
Dentist und Professor der Sprachen.«
Als er den Brief zu Ende gelesen, kam ihm Schneemanns Antwort darauf völlig unerwartet.
»Ist denn ›Rosch Haschanah Das jüdische Neujahrsfest.‹ so nahe,« sagte er.
Die Ghettoerinnerungen ihrer Kindheit stürmten auf die drei Künstler ein, während sie sich bemühten, das Datum des jüdischen Neujahrsfestes festzustellen, jener feierlichen Zeit, wo der Klang irdischer Trompeten das himmlische Urteil verkündet.
»Aber es muß ja heute sein!« rief Rozenoffski plötzlich. Er dachte, daß die Kinder des Ghetto wohl kaum begreifen könnten, daß ihnen das himmlische Gericht so gleichgiltig geworden.
Barstein erhob sein Glas. »Ich trinke auf ein glückliches neues Jahr,« sagte er.
Die drei Männer ließen die Gläser aneinanderklingen. Rozenoffski zog einen Hundertlireschein aus der Tasche: »Schick das dem armen Teufel.«
»Aha,« lachte Schneemann, »du denkst immer noch: ›Mildtätigkeit befreit vom Tode!‹ Nun, ich muß gleichfalls das Heil meiner Seele retten.« Er warf auch einen Hundertlireschein auf den Tisch.
Dem scharf analysierenden Barstein schien es, als ob eine gewisse abergläubische Furcht sich hinter Schneemanns Lachen und Rozenoffskis Gabe verstecke.
»Ihr werdet den Luftmenschen dadurch nur in seinem fatalistischen Vertrauen auf die Vorsehung bestärken,« sagte er, die Neujahrsgeschenke sammelnd. »Er wird abermals erklären, daß das himmlische Gericht ihn würdig befunden, und daß der Herr sich seiner erbarmt habe.«
»Nun, und ist er es denn nicht?« lachte Schneemann.
»Vielleicht ist er es,« sagte Rozenoffski sinnend –, »Chi sa?« –