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Als ihre Fanny endlich heiratete, war Natalia – wie jeder die alte Trödlerin nannte – nicht sehr erfreut darüber. Natalia hatte früher immer gedacht, daß, wenn eine fast schon matronenhafte Tochter von dreiundzwanzig Jahren, die beinahe über das Heiratsalter hinaus war, dennoch in die Ehe träte, sie unbedingt eine gute Partie machen würde, die für Mutter und Tochter Vorteile bringe. Als aber der zukünftige Schwiegersohn sich ihr vorstellte, befriedigte er ihre Ansprüche keineswegs; er bestand durchaus nicht vor dem kritischen Auge der alten Trödlerin. Sie blieb dabei, daß Henri Elkmann kein richtiges jüdisches Aussehen habe. Schon der Schnitt seiner Kleider schien ihr verdächtig und regte die Vermutung in ihr an, daß er am Ende gar an Wettrennen teilnehme.
Ganz vergebens versuchte Fanny ihr klar zu machen, daß Henri niemals zu den Rennen ginge, daß seine Pflichten als Buchführer in S. Cohns Warenhaus ihn viel zu sehr in Anspruch nähmen, um an solchen Vergnügungen teilzunehmen, und daß der elegante Schnitt seines Anzuges von ihm gefordert wurde, um Reklame für das Geschäft zu machen.
»Ach, das kenne ich schon; natürlich wird er dich nicht mit zu den Rennen nehmen,« erklärte sie in jüdischem Dialekte, »aber alle diese jungen Leute mit karrierten Anzügen und mit Blumen in ihren Knopflöchern wetten und spielen und tun noch viel schlimmere Dinge, und nachher müssen dann ihre Frauen und Kinder die Hilfe ihrer alten Mütter in Anspruch nehmen.«
»Ich werde dir ganz gewiß niemals zur Last fallen,« erwiderte Fanny ärgerlich.
»Wem denn sonst? Du bist eine nette Tochter! Möchtest du denn Fremden zur Last fallen? Oder solltest du vielleicht gar daran denken, die öffentliche Wohltätigkeit in Anspruch nehmen zu wollen?« Ein Schauder durchrieselte ihren mageren Körper. Sie war schon mit sechzig Jahren ein hageres, altes Weibchen gewesen und hatte das Ansehen der ehrwürdigen Großmutter gehabt, die sie nun allmählich geworden; nur war ihr Haar tiefschwarz geblieben, denn als strenggläubige Jüdin trug sie natürlich eine Perücke. Das Leben war immer unsanft mit ihr umgegangen. Seit dem Tode ihres Mannes und seit Fannys frühester Kindheit hatte sie sich ihren kargen Lebensunterhalt dadurch verdient, daß sie mit alten Sachen handelte und diese etwas teuerer verkaufte, wie sie sie erstanden hatte. Sie pflegte sich an den Hintertüren der Villen einzustellen, um dort mit gewinnsüchtigen Frauen und Damen zu handeln, die sich deshalb mit der alten Trödlerin einließen, weil sie selbst ein Geschäft dabei zu machen hofften.
Natalia pflegte die vor ihr auf dem Boden liegenden alten Kleider und Putzgegenstände mit verächtlichen Blicken zu prüfen und wohl gar mit dem Fuße fortzustoßen. »Wie könnte ich solches Zeug wieder los werden?« fragte sie. »Ich habe Ihnen das letztemal zu viel gezahlt, ich habe bei dem Handel zugesetzt.« Wenn sie dann den Preis hartnäckig bis auf das äußerste herabgedrückt hatte, zog sie einen alten schäbigen Lederbeutel aus ihrem Busen und zahlte den Betrag in klappernden Silber- und Kupfermünzen. Dann packte sie die erhandelten Sachen so schnell sie konnte in ihren großen Sack und schwankte fröhlich davon. Die Herrenkleider verschacherte sie ohne weiteres an kleine Geschäfte, in denen man mit getragenen Sachen handelte, aber die Frauenkleider wußte sie geschickt zu reinigen, zu wenden und aufzuarbeiten, um sie dann in erneutem Glanze Sonntag morgens in Petticoat-Lane zu verkaufen. Sie gehörte zu den bescheidenen Agenten des großen ökonomischen Prozesses, durch den abgetragene Kleider ein neues frisches Ansehen erhalten, um dann aus den höheren Gesellschaftskreisen in immer tiefer stehende Regionen überzugehen.
Als sie zuerst ihren Handel begann, da konnte sie nur gerade so viel Englisch, um sich notdürftig durchzuhelfen. Aber durch den fortgesetzten Verkehr mit Engländern hatte sie dann ein Jahr nach dem Tode ihres Mannes mehr Englisch gelernt als in den 25 Jahren, die sie vorher in dem Ghetto von Spitalfields verbracht hatte.
Es war Fannys Obliegenheit gewesen, während die Alte handeln ging, das Haus zu versorgen und das Abendessen zu bereiten. Der Widerstand der Mutter gegen ihre Heirat entsprang keinen selbstsüchtigen Motiven. Sie machte sich nichts daraus, nachdem sie den ganzen Tag herumgelaufen und endlich heimgekehrt war, selbst das Feuer anzuzünden und sich mit einem gebratenen Hering zu begnügen. Fanny hatte ihr freilich angeboten, sie solle zu ihr ziehen in das elegante, zwei große Zimmer enthaltende Häuschen in der Nähe von Kings Croß, das Henri einrichtete. Sie könnte dort ganz gut nachts auf einem zusammenlegbaren Bette im Wohnzimmer schlafen. Aber der Unabhängigkeitsgeist der alten Frau und ihr Mißtrauen gegen den Schwiegersohn bewogen sie, ihr bescheidenes Ghettozimmerchen vorzuziehen. Trotz aller Gründe, die Fanny dagegen aufbrachte, konnte sie eine gewisse Antipathie gegen die Art, wie Henri sich kleidete, ja selbst gegen seine ganze Beschäftigung nicht überwinden – vielleicht war es der ihr unbewußte Antagonismus der alten Kleider gegen die neuen, der fast symbolisch war für die alte Generation und die pietätlosen Kinder der Neuzeit, die die Alten niedertreten. Henri selbst war im geheimen erfreut darüber, daß die Alte das Anerbieten ihrer Tochter nicht annahm. In der ersten Zeit seiner Verlobung hatte er, da er wirklich sehr verliebt in Fanny war, die alte polnische Jüdin, die seltsamerweise die Mutter der hübsch und rosig aussehenden Fanny war, mit in den Kauf genommen. Aber wenn es etwas in der Welt gab, das ihm Ekel und Abscheu erregte, so waren dies alte Kleider. Er fühlte sich wie ein Teil der großen englischen Welt der Mode und des Geschmacks, deren Taillenweite er von seinem hohen Stuhle herab registrierte, und sogar in gewisser Beziehung zu dem beliebten Komiker, dessen zwar nicht teueren, aber stilvollen Abendanzug er bis in die kleinsten Details beschreiben mußte.
*
Die Jahre gingen dahin, und es schien wirklich beinahe so, als ob die Befürchtungen der alten Frau grundlos gewesen. Henri ging nicht zu den Rennen, und Fanny und ihre Kinder Becki und Joseph hatten es nicht nötig, die Unterstützung der Mutter in Anspruch zu nehmen. Seine Stellung verbesserte sich vielmehr, und er konnte es sich leisten, ein nettes Häuschen mit vier Zimmern in der Holloway Street zu mieten; das war besonders angenehm, da es so nahe bei dem Warenhaus S. Cohns gelegen war, daß er des Mittags zum Essen nach Hause kommen konnte. Aber ach! die arme Fanny sollte die Annehmlichkeiten ihrer verbesserten Lage nicht lange genießen. Sie zog in das enge Grabeskämmerlein, und nachdem sie heimgegangen, schien das vier Zimmer enthaltende Häuschen den Hinterbliebenen unglaublich leer und kahl zu sein. Selbst Nataliens Dachstube in dem Ghetto, die Fanny doch schon seit sieben Jahren nicht mehr geteilt hatte, erschien der armen Mutter öde und leer. Sie fühlte sich unsäglich einsam, und dabei wurden dennoch die Besuche bei ihren Enkelkindern immer seltener. Nachdem das verbindende Glied ihrer Tochter fehlte, fühlte sie sich keinen Augenblick mehr wohl in dem Hause, dessen ganze Einrichtung ihre eigene soziale Stellung weit überragte. Henri behandelte sie auffallend steif und frostig, und die Kleinen näherten sich nur ungern dieser ernst und streng aussehenden alten Frau, die sie danach fragte, ob sie regelmäßig ihre Gebete verrichteten, und die so unangenehm nach Heringen roch. Allmählich ging sie gar nicht mehr in das Haus ihres Schwiegersohnes.
Dann plötzlich erwies es sich, daß das Mißtrauen, das sie stets gegen Henri Elkmann empfunden hatte, nur zu gerechtfertigt war.
Ehe nur das Trauerjahr vorüber, ehe er berechtigt war aufzuhören, den Kaddisch für ihren Liebling Fanny zu sprechen, hörte sie, daß der Elende wieder verheiratet sei! Verheiratet und zwar, um das Maß des Greuels vollzumachen, mit einer Christin! Natalia erfuhr diese Neuigkeit von einer plauderlustigen Dame, eine ihrer Klientinnen; sie bohrte mit ihrem Messer Löcher in den übervollen Sack, um den Strick hindurch zu ziehen; sie bohrte verzweifelt mit ihrem Messer hinein, als ob der Sack Henri Elkmanns Herz gewesen sei.
Sie kannte die Details des pikanten zarten Verhältnisses nicht, das sich zwischen ihm und der hübschen Gehilfin in dem großen Tuchgeschäft, das in der Nähe des Holloway-Warenhauses gelegen war, entwickelt hatte, und sie hatte nicht das geringste Verständnis für die allmähliche Umwandlung, die sich in Henri vollzogen hatte.
Wie er, nachdem er anfangs nur die Reize der hübschen Britin bewundert hatte, allmählich dazu gekommen war, sein Judentum aufzugeben, das rührte sie nicht. Es war ihr zum Glück nicht bekannt, daß selbst ihre Fanny in den letzten Jahren den Pfad der Tugend oft genug verlassen und am Sabbat nachmittag mit ihrem Manne Landpartien gemacht hatte, um etwas Landluft zu atmen. Sie war rücksichtsvoll genug gewesen, ihr solche Dinge zu verschweigen. In den Rügen der strenggläubigen alten Trödlerin war Henri Elkmann einfach ein Ungeheuer von Schlechtigkeit, sie glaubte sogar, daß er sich habe taufen lassen, und daß er in einer christlichen Kirche getraut sei, obwohl die Vermittlerin der schlimmen Nachricht sie über diesen Punkt zu beruhigen suchte und ihr versicherte, daß der Ehebund nur auf dem Standesamte geschlossen sei.
»Möchten alle Plagen Pharaos ihn ereilen,« rief sie in ihrem pittoresken Jargon. »Möchten seine schönen Kleider ihm vom Fleische und das Fleisch ihm von den Knochen fallen! Möge Fannys beleidigte Seele vor dem ewigen Gerichtshof gegen ihn zeugen! Sie aber, dieses Heidenweib, soll von einem jähen Tode betroffen werden.«
Sie zog die Enden ihres Strickes fest zusammen, als ob es um den Hals der Frau wäre.
»Still doch, stille, Sie böse alte Hexe,« rief die Plauderin entrüstet, »was sollte dann wohl aus Ihren eigenen Enkelkindern werden?«
»Für die kann es gar nicht schlimmer werden, als wie es jetzt ist, nachdem eine Heidin in das Haus gezogen ist. Ihr Judentum wird dadurch vernichtet werden, vielleicht wird sie die armen Geschöpfe sogar taufen lassen. O, Vater im Himmel!«
Der Gedanke lastete schwer auf ihr. Sie stellte sich vor, wie ihre unschuldigen Enkel Becki und Joseph das Kruzifix küßten. Es würde ganz sicher sein, daß sie kein koscheres Essen mehr bekämen, wie sollte diese Fremde etwas von den Geheimnissen der Fleischzubereitung wissen, und wie man Fleischteller stets sorgsam von den Buttertellern zu trennen habe?
Endlich konnte sie die auf ihrem Herzen ruhende Last nicht mehr länger ertragen.
Sie nahm ihren weg an Elkmanns Haus vorbei und tief unter ihrem Sacke gebückt, pochte sie an die ihr so wohlbekannte Tür. Es war um die Frühstückszeit, und als man ihr öffnete, kamen ihr ungewohnte kulinarische Düfte entgegen. Ihre aufgeregte Einbildungskraft spiegelte ihr vor, daß sie Speck röche. Das immer noch an der Türpforte angebrachte jüdische Amulett vermochte ihr keinen Trost zu verleihen; es war einfach dort vergessen worden, ein stummes Symbol des früheren Judentums.
Eine sehr hübsche, freundliche, junge Frau mit blauen Augen und wie Rosen prangenden Wangen öffnete die Tür.
Vor Natalias Augen tanzte alles, sie konnte kaum etwas sehen.
»Alte Kleider?« frug sie mechanisch.
»Nein, danke Ihnen,« erwiderte die junge Frau. Ihre Stimme war süß, aber Natalien klang sie wie die Stimme Liliths, der Räuberin neugeborener Kinder. Ihre rosigen Wangen hielt sie für Schminke. Im Hintergrunde drang der Duft unkoscheren Essens aus der früher so rituell geführten Küche, die der christliche Eindringling profaniert hatte. Zwischen Natalia und ihren Enkeln aber stand diese fremde, mädchenhafte Gestalt und schien sie unerreichbar weit von der Großmutter zu trennen.
Sie konnte die Schwelle nicht wieder überschreiten, ohne eine weitere Erklärung zu geben.
»Ist Herr Elkmann zu Hause?« fragte sie.
»Sie kennen seinen Namen?« sagte die junge Frau etwas überrascht.
»Ja, ich kenne ihn ziemlich genau.« Der spöttische Ausdruck dieser Worte wurde glücklicherweise von der jungen Frau nicht verstanden.
»Es tut mir leid, daß jetzt nichts zu verkaufen da ist,« sagte sie höflich.
»Nichts? Nicht einmal ein paar alter Schuhe?«
»Nein.«
»Aber die Schuhe der toten Frau? Oder – tragen Sie die vielleicht?«
Diese Worte kamen so unerwartet, wurden mit so seltsamem Ausdruck gesprochen, und die Augen des alten Weibes leuchteten dabei so unheimlich, daß die junge Frau mit einem leisen Schrei zurückbebte.
»Henri,« rief sie.
Mit der Gabel in der Hand kam Elkmann aus dem Speisezimmer und blieb erschrocken stehen, als er Natalia erkannte.
»Was willst du hier,« murmelte er.
»Fannys Schuhe,« rief sie.
»Wer ist das?« fragte die junge Frau, ihren Mann erstaunt ansehend.
»Ein halb verrücktes altes Weib, dem wir aus Mitleid zuweilen etwas zu verdienen geben,« flüsterte er zurück, führte sie dann rasch in das Zimmer. »Laß mich allein mit ihr fertig werden,« sagte er leise und schloß die Tür.
»So, das also ist deine geschminkte Puppe,« zischte die Schwiegermutter in jüdischem Jargon.
»Geschminkt,« sagte er ärgerlich. »Gretchen geschminkt? Sie ist so wenig geschminkt wie ein rosiger Apfel. Sie ist ein Landmädchen, und ihre Mutter war eine Lady.«
»Ihre Mutter vielleicht! Aber sie! Du siehst im Schaufenster einen glänzenden Zylinderhut, der zu 16½ Schilling ausgezeichnet ist, und bildest dir ein, er wäre neu. Aber ich weiß es besser, woher er stammt. Er ist aus dem Rinnstein aufgelesen worden. Ach, wie ist es nur möglich, daß du dich von ihr bestricken ließest, während es doch so viele rechtschaffene Jüdinnen gibt, die keinen Mann haben.«
»Es tut mir leid, wenn sie dir nicht gefällt, aber es ist das meine Angelegenheit und nicht die deine.«
»Nicht die meine? Nachdem ich dir meine Fanny gegeben, die Sklavenarbeit für dich verrichtet und dir zwei Kinder geboren hat?«
»Es ist ihrer Kinder wegen, daß ich wieder zu heiraten gezwungen war.«
»Was? Du mußtest wegen Fannys Kindern eine Christin heiraten? O möge Gott dir deine Sünde vergeben!«
»Wir sind hier nicht mehr in Polen,« sagte er verdrießlich.
»Ach! Ich habe es stets gesagt, daß du ein Sünder in Israel bist. Meine Fanny hat um deiner Sünden willen sterben müssen. O, möchte der schwarze Tod auch dich vernichten!«
»Wenn du jetzt nicht aufhörst zu fluchen, werde ich einen Polizisten rufen.«
»O, sperr mich nur ein, sperr mich nur ein – die Schmach kommt über dich. Die ganze Welt soll es wissen.«
»So geh ruhig fort. Du bist nicht berechtigt, hierher zu kommen und Gretchen – meine Frau zu erschrecken. Sie ist sehr zart und muß geschont werden.«
»So mag sie für uns alle geopfert werden. Ich habe das Recht, hierher zu kommen, so viel es mir beliebt.«
»Das Recht hast du nicht.«
»Doch. Ich habe ein Recht auf die Kinder. Mein Blut fließt in ihren Adern.«
»Du hast kein Recht auf sie. Die Kinder gehören ihrem Vater.«
»Ja, ihrem Vater im Himmel,« sagte sie die Hand erhebend und mit dem pathetischen Ausdruck einer Prophetin, während sie mit der anderen Hand den Sack auf ihre Schultern lud. »Die Kinder sind die Kinder Israels, und sie müssen sich unter das Joch des Gesetzes beugen.«
»Was willst du denn eigentlich hier?« sagte er, sie zornig anblickend.
»Gib mir die Kinder, ich werde sie in der Furcht des Herrn erziehen, wandle du deine eigenen gottlosen Wege, frei von jeder Last – du und deine christliche Puppe! Du gehörst nicht mehr zu uns. Gib mir die Kinder, und ich werde ruhig gehen.«
Er sah sie spöttisch an. »Du hast wohl getrunken, meine gute Schwiegermutter?«
»Ja, das Wasser der Trübsal. Gib mir die Kinder.«
»Aber die würden gar nicht mit dir gehen wollen. Sie lieben ihre Stiefmutter zärtlich.«
»Sie lieben diese geschminkte Dirne? Sie, in deren Adern jüdisches Blut fließt, und in deren Adern das Gedächtnis an ihre Mutter noch so lebendig ist? Unmöglich!«
Er öffnete leise die Zimmertür. »Becki, Joseph, kommt doch mal her, nein, du nicht, Gretchen, mein Liebling. Es ist alles in Ordnung. Die alte Frau möchte nur so sehr gern den Kindern guten Tag sagen.«
Die zwei Kinder trippelten in den Hausflur; ihre Servietten waren noch umgebunden und ihre Mündchen noch nicht abgeputzt, aber sie waren ungewöhnlich sauber und zierlich gekleidet. Beim Anblick ihrer Großmutter, die sie ernst und mit gerunzelter Stirn anblickte, blieben sie verdutzt stehen.
»Meine Lämmer,« rief Natalia in zärtlichstem, aber darum doch nicht gewinnendem Tone, »wollt ihr nicht zu mir kommen und mir einen Kuß geben?«
Becki, ein sehr verständiges Persönchen von sieben Jahren, trat mutig näher und hielt der Großmutter die Backe hin. »Wie geht es dir, Großmama,« sagte sie steif.
»Und du Joseph,« sagte Natalia, ohne ihr zu antworten, »mein Herzblatt und meine Krone, willst du nicht zu mir kommen?«
Der kleine Joseph, der erst viereinhalb Jahre alt war, stand verlegen da und steckte den Finger in den Mund.
»Bring ihn zu mir, Becki. Sage ihm, daß ich gekommen bin, euch mitzunehmen, und daß ihr von jetzt an bei mir wohnen sollt.«
Becki zuckte die Achseln. »Er kann es tun, wenn er will. Ich will es nicht,« sagte sie lakonisch.
»O Becki,« erwiderte die Großmutter. »Du wirst doch nicht hier bleiben wollen und deine arme Mutter dadurch quälen?«
Becki stutzte. »Meine Mutter? Sie ist tot,« sagte sie.
»Ja, aber ihre Seele lebt und wacht über euch. Komm Joseph, mein Augapfel, komm mit mir.«
Sie gab ihm die schönsten Schmeichelworte, aber der kleine Junge, der zu glauben schien, daß sie ihn in ihren Sack stecken und darin forttragen wolle, erhob ein entsetzliches Geheul. Darauf kam die junge Frau erschreckt aus dem Eßzimmer, und das Kind stürzte ihr entgegen und drückte sie eng an sich, als suche es Schutz bei ihr.
Henri sah die alte Frau mit triumphierendem Lächeln an.
Natalia wurde es abwechselnd heiß und kalt. Nicht allein, deshalb, weil ihr kleiner Joseph sich in die Arme dieses Geschöpfes flüchtete, selbst nicht, weil er ihre Mütterlichkeit anerkannte. Es war das Wort Mama, was sie so tief verletzte. Das Wort schien ihr ein Beweis dafür, daß aus diesem Hause der alte Glaube für immer verschwunden sei. Mama, so hörte sie die Kinder christlicher Eltern ihre Mutter anreden, an deren Türe sie handelte. Fanny war eine Mutter gewesen, eine liebe häusliche, jüdische Mutter. Dieses Wort Mama, das man ihre Enkel gelehrt, erschien ihr wie ein Triumph des über das Grab ihrer Tochter wegschreitenden Christentums.
»Wenn Mamas Schuhe verkauft werden sollen, so laßt es mich wissen,« zischte sie. »Ich werde euch den höchsten Preis dafür zahlen!«
Es graute Henri, aber er antwortete, indem er sie dem Ausgange zudrängte: »Gewiß, gewiß. Guten Morgen.«
»Ich werde dir dafür geben, was du forderst – ha, ich weiß es gewiß, sie kommen – kommen in meinen Sack!«
Die Tür schloß sich hinter der grotesken alten Sibylle, und Henri zog sein zitterndes junges Weib zärtlich an die Brust und drückte einen langen Kuß auf ihre frischen Kirschenlippen.
Später erklärte er ihr, daß die halbverrückte alte Trödlerin den Kindern wie der ganzen Nachbarschaft unter dem Namen »die Großmutter« bekannt sei.
*
Die zweite Frau Elkmann starb, als sie ihrem ersten Kinde das Leben gab. Das rosige Antlitz verblaßte und sah aus wie ein weißes Engelsgesicht; die zarte zierliche Gestalt lag wie ein aus Marmor gehauenes Bild still und regungslos, und das Geschrei eines winzigen kahlköpfigen Geschöpfchens war der Preis ihres Sterbens. Henri Elkmann war überwältigt von Schmerz und abergläubischem Grauen.
Ihm summte eine althebräische Redensart durch den Kopf: »Es gibt drei Dinge, um deretwillen die Frauen im Wochenbett sterben.« Er erinnerte sich nicht genau, was für Dinge es seien; nur das fiel ihm ein, daß es eine Frau niemals unterlassen dürfe, ein Stückchen des Teiges, aus dem das Sabbatbrot gebacken würde, in das Feuer zu werfen. Aber solche Unterlassungssünden konnten doch kaum einer Christin angerechnet werden, dachte er traurig. Das einzige, was ihn etwas von seinem Kummer abzog, war die Sorge um das neugeborene Kindchen.
Es dauerte ein paar Tage, ehe die traurigen Nachrichten die alte Frau erreichten.
»Es ist eine gerechte Strafe,« sagte sie mit einer gewissen feierlichen Befriedigung. »Nun wird die Seele meiner Fanny Ruhe finden.«
Aber sie weidete sich nicht an der Gerechtigkeit des Gottes Israels und kam auch nicht, um die alten Kleider der gestorbenen jungen Frau zu erhandeln. Sie war einfach zufrieden, daß eine ihr sündhaft erscheinende Verbindung durch höhere Gewalt aufgelöst sei, und sie klopfte dann ohne ihren Sack bescheiden an der Tür Elkmanns an, um zu fragen, ob sie ihm in dieser tragischen Krisis irgendwie behilflich sein könne.
»Aus meinen Augen, du mit deinem bösen Blick,« rief Henri und schlug ihr die Tür vor der Nase zu.
Da brach Natalia, von ihren Gefühlen überwältigt, in heiße Tränen aus. So sollte sie immer noch ausgeschlossen bleiben!
*
Die nächste Neuigkeit, die Natalia zu Ohren kam, war ebenso aufregend wie Gretchens Tod. Henri hatte abermals geheiratet, wahrscheinlich hatte er sich des schon bei seiner ersten Ehe benutzten Vorwandes bedient, daß er dies seinen Kindern schuldig sei; jedenfalls hatte er auch diesmal die übliche Trauerzeit nicht abgewartet.
Seine dritte Frau war jedoch eine Jüdin, wie die erste. Henri war zu seinen Glaubensgenossen zurückgekehrt. War es sein Gewissen, das ihn dazu veranlaßte? Niemand wußte es. Was aber jeder wußte, das war, daß die dritte Frau Elkmann eine jüdische Schönheit reinster Rasse sei, die dem orthodoxen Glauben angehörte, und die ihre 50 Pfund Sterling in bar und außerdem eine reiche Aussteuer von Betten, Leinen und anderen nützlichen Dingen mitbrachte, die ihre Eltern für sie zusammengerafft hatten, ohne vorauszusehen, daß sie einen Mann heiraten würde, der zum zweitenmal Witwer war, und der daher schon überreich mit Möbeln und Hausinventar versorgt war.
Die Gefühle der alten Trödlerin waren gemischter wie je. Sie hatte eine Empfindung, als hätte der jüdische Geistliche nicht so leichthin Elkmann unter den Heiratsbaldachin zulassen dürfen. Ihr schien die Erinnerung an Fanny aufs neue entweiht durch diese so rasch aufeinanderfolgenden Ehen. Auf der anderen Seite freute es sie, daß die neue Stiefmutter ihrer Enkel eine orthodoxe Jüdin sei, die sie lehren würde, die Gesetze der Religion heilig zu halten, und die ihnen keine Mama, sondern eine jüdische Mutter sein würde, die sie lieben und treu pflegen würde. Dieser Gedanke tröstete sie einigermaßen dafür, daß sie aus ihrem Hause ausgeschlossen blieb; sie fühlte, daß dies notwendig sei, selbst wenn Henri ihr freundlicher gesinnt gewesen wäre. Diese dritte Frau hatte sie natürlich dem Hause noch mehr entfremdet, sie fühlte, wie ihre Beziehungen immer loser wurden. Sie war in den Rang einer Cousine entfernterer Verwandten zurückgedrängt, wagte es kaum mehr, ihre Rechte als Schwiegermutter geltend zu machen.
Die Tage gingen vorüber, und wieder beschäftigte sich der Klatsch mit Elkmanns Haushaltung. Die Nachrichten darüber, die, wie alles, was zu ihr kam, aus zweiter oder dritter Hand stammten, wurden von Natalia auf ihren Rundwanderungen begierig gesammelt. Es schien, als ob Henri mit seiner dritten Frau ganz elend hereingefallen sei. Sie war zänkisch, sie schlug ihre Stiefkinder, und was die schlimmste und seltenste Sünde bei einer jüdischen Hausfrau ist – sie trank. Man sagte, daß Henri in Verzweiflung darüber sei.
»Nebbich, die armen kleinen Kinder,« rief Natalia entsetzt. Sie sann vergebens darüber nach, wie ihnen zu helfen sei; aber wie sehr sie auch ihr Gehirn zermarterte, sie konnte keinen Ausweg finden.
Wochen vergingen, und von allen Seiten trug man es der Alten zu, wie schlecht die dritte Frau Elkmann sich betrage. Dann kam der Zusammensturz – Henri war verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen! Die schlechte Frau und die unschuldigen Kinder saßen verlassen in dem vierzimmerigen Hause. Er erschien nicht mehr in dem großen Kleidergeschäfte S. Cohns. Einige wollten wissen, daß er Selbstmord, begangen habe; andere behaupteten, daß er nach Amerika geflohen sei. Benjamin Beckenstein, der Zuschneider des Geschäftes, der die letztere Hypothese aufgestellt hatte, erzählte, daß er ihm gesagt habe: »Nachdem ich mit zwei Engeln gelebt habe, ist es mir unmöglich, mit einem Dämon zu leben.«
»Ach! Endlich also sieht er doch ein, daß Fanny ein Engel war,« sagte Natalia, ohne der Vermutung, daß er vielleicht nach Amerika gegangen sei, irgendwelche Bedeutung zu geben und auch über den anderen Engel weggleitend. Ihre Gedanken beschäftigten sich nur noch mit diesem einen Thema. Wie konnte auch ein Mann, der es kennen gelernt, welcher Segen eine nüchterne, gottesfürchtige Frau ist, nun das Leben an der Seite eines Weibes ertragen, das trank und die Kinder schlug? »Nein, es war kein Wunder, daß er sich selbst ums Leben gebracht hatte!«
Die Klatschbasen bedeuteten sie, daß Elkmanns Bemerkung mehr darauf hinweise, er habe sich seiner unglücklichen Ehe durch die Flucht entzogen.
»Sie haben recht,« gab Natalia unlogischerweise sofort zu. »Das ist die Handlungsweise eines Feiglings, wie er es ist; er überläßt die armen Kinder der Gnade und Barmherzigkeit eines Weibes, mit dem er selbst es nicht aushalten konnte. Um Gottes willen, was soll nun aus den armen kleinen Wesen werden.«
»O, ihr Vater, der Kürschner, wird sich um sie zu kümmern haben,« versicherte man ihr. »Er hat seine Tochter damals doch auch anständig ausgestattet. Sie wissen, daß sie fünfzig Pfund in barem Geld und dazu Betten und Hausrat mit in die Ehe brachte. O, Elkmann hat sich das schon überlegt! Er weiß recht gut, daß seine Kinder nicht verhungern werden.«
»Ich bin dessen nicht so sicher,« sagte die alte Frau und schüttelte sorgenvoll ihr Haupt mit der schwarzen, glänzenden Perücke darauf.
Was sollte sie anfangen? Ach, wenn nun der Kürschner sich eine solche Last nicht aufbürden ließe? Sie fühlte, daß durch Henris Flucht ihre eigenen Beziehungen zu dem Hause Elkmanns noch loser geworden, wenn sie jetzt käme, um auszuspionieren, wie es um die Kinder stände, würde sie der Frau zu trotzen haben, in deren rechtmäßiger Obhut sie standen. Aber nein, bei reiflicherem Überlegen fand sie, daß es eben diese andere Frau war, die durch Henris Flucht den Kindern zur Fremden geworden war. Was verband diese schlechte Person noch mit den Kindern? Sie war nur ein Eindringling, heraus mit ihr oder, wenn das nicht ging, heraus mit den Kindern.
Ja, sie wollte dreist hingehen und sie fordern. Die arme Becki! der arme Joseph! Ihr Herz blutete. »Ihr sollt geschlagen werden, nachdem ihr die Liebe einer Mutter kennen gelernt habt!« Natürlich würde es ihr nicht leicht werden, die Kinder durchzubringen. Aber wenn sie noch mehr arbeitete, noch fleißiger umherlief und abends etwas länger nähte und die alten Kleider auffrischte; wenn sie etwas weniger und nicht ganz so luxuriös essen würde, dann, meinte sie, würde es schon gehen. Tagsüber würden die Kinder beide ja meistens in der Schule sein und sie nicht hindern, die gewohnten Rundgänge zu machen, und wenn sie dann abends die eingekauften Sachen sortierte und ausbesserte, würden sie bei der Großmutter sein. Ach, wie köstlich, daß dann endlich die Bürde der Einsamkeit von ihr genommen würde; die hatte schwerer auf ihr gelastet als der schwerste Sack. Ein solcher Preis lohnte schon die Arbeit und Sorge, vor dem Schlafengehen würde sie mit ihnen die hebräischen Nachtgebete sprechen und sie dann warm zudecken, genau so, wie sie dies einst mit Fanny getan.
Wie aber, wenn diese Frau ihre Kinder nicht gutmütig abtreten würde – und Natalia glaubte beinahe, daß sie es nicht tun würde – nur aus Tücke und teuflischer Bosheit. Wie, wenn ihre wohlhabenden Eltern sie reichlich versorgten und sie die Kinder behalten wollte, um sich an ihnen für die Flucht des Vaters zu rächen oder sie als Geisel zu behalten, die ihr für seine Rückkehr bürgten? Nun, dann war Natalia fest entschlossen, sie zu überlisten – wenn es sein müßte, die Kinder gewaltsam zu entführen! Waren sie erst in den Händen ihrer Großmutter, dann wollte sie die Hilfe des Gesetzes in Anspruch nehmen; das würde ihr schon beistehen und die armen Kinder nicht dieser Fremden, diesem dem Trunke ergebenen, wüsten Weibe ausliefern, das keine Rechte an sie hatte.
Aber erst an einem Sonntagnachmittag, während sie die alten Kleider einer in Holloway wohnenden jüdischen Familie erhandelte, gestaltete sich der Gedanke an eine gewaltsame Entführung ihrer Enkel bei ihr rasch zum festen Entschlusse. Sie mußte einen Wagen nehmen, um die eingekauften Sachen in ihre sehr entfernt liegende Wohnung zu bringen. Welch herrliche Gelegenheit, gleichzeitig die Kinder mit fortzunehmen! Elkmanns Haus lag auf ihrem Heimwege. Es reizte sie, die Kinder möglichst billig zu holen und darum überschätzte sie die Chancen. Sie packte ihren Kram, der in großen Haufen an der Erde lag, so schnell wie möglich in ihren Sack, preßte die Kleider immer fester aufeinander, bis es schien, als habe sie einen Wundersack der das ganze Kleidergeschäft in Holloway in sich aufnehmen könne. Natalias Hirn erhitzte sich mehr und mehr bei dem Gedanken an das kommende Abenteuer. Sie ließ ihren Sack in dem Hausflur stehen und eilte davon, einen Wagen zu holen. Wenn Natalia zu anderen Gelegenheiten zur Fortschaffung ihrer Einkäufe eine Droschke nehmen mußte, so beschäftigte diese Angelegenheit sie wenigstens eine halbe Stunde. Sie feilschte um den Preis, klagte den christlichen Kutschern ihre große Armut und bot ihnen eine lächerliche Summe dafür, sie und ihren Sack nach Hause zu fahren.
Aber heute war sie so aufgeregt, daß sie nur einen mittelmäßigen Handel abschloß. Der umfangreiche Sack wurde in der Droschke verpackt, Natalia sprang ihm nach und sagte dem Kutscher mit fester Stimme, er solle sie nach Elkmanns Haus fahren.
Die unerwartete Erscheinung eines Wagens lockte Becki vor die Haustür, ehe noch die Großmutter Zeit gefunden hatte, auszusteigen. Die Kleine war noch nicht zehn Jahre alt, aber sie war früh entwickelt, sowohl körperlich wie geistig. Es war etwas unbeabsichtigt Freches in der altklugen Art, mit der sie Erwachsene wie ihresgleichen behandelte; aber jetzt nahm ihr Gesicht einen völlig kindlichen Ausdruck an, und mit einem freudigen Schrei: »O Großmutter,« sprang sie in die Arme der alten Frau.
Es war die Genugtuung für des kleinen Josefs »Mama«. Reichliche Tränen flossen über die Wangen der Alten, als sie ihr verlorenes Lamm an die Brust drückte.
Das schmerzliche Weinen eines ganz kleinen Kindes drang aus dem Innern des Hauses, ohne daß aber Großmutter und Enkelin Notiz davon nahmen.
»Wo ist deine Stiefmutter, mein armer Engel?« fragte Natalia halblaut.
Beckis Stirn legte sich in häßliche zornige Falten. Ihr Gesicht sah aus wie das eines erwachsenen Mädchens.
»An den Sonntagen werden die Wirtshäuser um ein Uhr geöffnet.«
»O, mein Gott,« rief Natalia entsetzt, in dem Augenblicke vergessend, wie günstig dieser Umstand ihrem Vorhaben sei. »Eine Jüdin! Du willst doch nicht im Ernste sagen, daß sie in die Wirtshäuser geht, um zu trinken?«
»Du wirst doch nicht glauben, daß ich sie hier trinken ließe,« sagte Becki. »Wir haben hier schöne Auftritte, das kann ich dir sagen. Der einzige Trost ist, daß sie immer besser gelaunt ist, wenn sie total betrunken ist.«
Das Schreien des Kindes wurde lauter und schmerzlicher.
»Still doch, stille, du armes kleines Tierchen,« rief Becki und trat mechanisch in das Haus, wohin die Großmutter ihr folgte.
In dem einst so sauber gehaltenen stattlichen Wohnzimmer sah es schmutzig und unaufgeräumt aus. Natalia schien es, als ob alles so röche wie die Sachen in ihrem Sacke. In einer muffigen, unsauberen Wiege lag ein Kind, das aus vollem Halse jämmerlich schrie.
Becki beugte sich über das kleine hilflose Wesen und suchte es zu beruhigen, ehe die alte Frau recht begriffen hatte, wie es eigentlich hierhin käme. Selbst, nachdem sie sich darauf besonnen, bedurfte sie einiger Sekunden, um sich zu sammeln.
Ach, dieses Baby war es, das der geschminkten Puppe das Leben gekostet hatte! So, lebte es also immer noch und erinnerte durch sein Geschrei in unliebsamer Weise an jene kurze, aber schmachvolle Episode. »Verstumme wie deine Mutter,« murmelte sie gehässig, welch ein Elend hatte Henri Elkmann zurückgelassen! Wie recht hatte sie gehabt, da sie ihm von Anfang an mißtraute.
»Wo aber ist mein kleiner Josef?« sagte sie laut.
»Er spielt irgendwo auf der Straße.«
»Ach, mein Gott. Er spielt, während er wie dieses Kind der Schande weinen sollte. Geh und hole ihn sofort herein!«
»Was willst du denn von ihm?«
»Ich will euch alle beide mitnehmen, diesem Elende hier entreißen. Möchtest du gern mit mir gehen und bei mir bleiben, was, mein Lamm?«
»Aber sicher; alles ist besser, als das Elend hier.«
Natalia umarmte sie stürmisch.
»Geh und hole mir meinen Josef, aber schnell – mach schnell, ehe die Wirtshausläuferin nach Hause kommt.«
Becki eilte davon, und Natalia sank erschöpft in einen Stuhl, ganz überwältigt von Ermüdung und Gemütsbewegung.
Das Baby in der Wiege neben ihr fing wieder jämmerlich zu schreien an, und fast automatisch begann sie das arme Ding hin und her zu schaukeln und dabei, sich selbst unbewußt, ein althebräisches Schlafliedchen zu singen:
»Schlafe, Kindchen, schlaf du ein,
Ein Rabbi ist der Vater dein;
Die Mutter bringt dir Mandelkern,
Die ißt das liebe Kindchen gern.
Sie fleht zum Herrn andachtsvoll,
Daß er ihr Kindchen segnen soll.
Als das klägliche Weinen verstummt und das kleine Wesen beruhigt schien, vergegenwärtigte sich die Alte plötzlich mit einem gewissen Schrecken, daß sie das Kind einer Ketzerin mit einem jüdischen Wiegenliedchen zur Ruhe gesungen habe. Sie zog ihren Fuß so rasch von der Wiege zurück, als ob sie plötzlich glühend heiß gewesen wäre. Da aber ertönte gleich wieder das gellende Geschrei, und sie stellte ihren Fuß ärgerlich auf die Wiege zurück. »Nu, nu,« rief sie, das Kind ärgerlich hin und her schaukelnd, »so schlafe doch endlich ein.«
Als es ruhiger wurde, schaute sie es verstohlen an und bemerkte, daß es das Saughütchen seiner Flasche verloren hatte.
»Da, da, trinke,« sagte sie, es ihm wieder in das Mündchen schiebend. Das Baby öffnete seine Augen – es waren selten schöne, große blaue Augen – blickte sie vertrauensvoll an und lächelte freundlich. Natalia zitterte. Es waren dieselben blauen Sterne, die einst die dunkeln Augen ihrer Fanny in Vergessenheit gebracht; das Mündchen, das jetzt so zufrieden an seiner Flasche sog, war genau so gebildet wie die Kirschenlippen jenes jungen Weibes, das sie »die geschminkte Puppe« nannte.
»Nebbich! Das arme, verlassene Waislein,« entschuldigte sie sich vor sich selber. So also erfüllte eine jüdische Stiefmutter ihre Pflicht an ihren Stiefkindern! Da hätte sie ebenso gut eine Christin sein können. Und ganz plötzlich kam ihr die Erinnerung, daß die Christin ihre Enkelkinder treu versorgt, und daß sie eine tadellose Stiefmutter gewesen sei. Während sie über diesen Gedanken grübelte, kehrte Becki zurück, die Josef herbeizerrte, der einen Papierdrachen mit langem Schweife hinter sich herschleifte.
Der Knabe, ein stämmiges Bürschlein von sieben Jahren, begrüßte die Großmutter nicht so freudig, wie Becki dies getan, wahrscheinlich litt er weniger unter den häuslichen Verhältnissen. Aber er ließ sich willig von Natalia an das Herz ziehen. »Hat sie dich geschlagen,« murmelte sie zärtlich, »hat sie meinen lieben kleinen Josef geschlagen?«
»Verliere keine Zeit, Großmama,« sagte Becki in übermütigem Tone, »wenn wir wirklich fortgehen sollen.«
»Nein, mein Liebes. Wir wollen sofort gehen,« und während sie den Knaben losließ, fiel ihr Blick auf seine halbgeöffnete Weste.
»Was,« rief sie tragisch, »du trägst kein Arba Kanfos? Sie sieht nicht einmal danach? Ach, es wird eine gute Tat sein, wenn ich euch aus diesem gottlosen Hause führe.«
»Aber ich habe gar keine Lust, mit dir zu gehen,« sagte der Junge verdrossen, da ihm plötzlich einfiel, wie streng sie darauf hielt, die üblichen Gebete zu sprechen.
»Du kleiner Narr,« sagte Becki. »Wir werden fahren in dem Wagen, der vor der Tür steht.«
»In dem Wagen?« rief er fröhlich.
»Ja, mein Augapfel. Und du wirst nicht mehr geschlagen werden.«
»Ich! Ihre Prügel tun mir nicht weh,« rief er verächtlich. »Sie hat ja nicht mal einen ordentlichen Stock wie der Lehrer in der Schule.« »Aber sollen wir nicht unsere Sachen mitnehmen?« sagte Becki.
»Nein, kommt mit mir, wie ihr geht und steht. Sie soll keinen Vorwand haben, euch zurückzufordern. Ich werde euch Kleider genug verschaffen, so gut wie neu.«
»Und die kleine Daisy?«
»O, ist es ein Mädchen? Eure Stiefmutter wird danach sehen. Sie kann sich nicht darüber beklagen, wenn ihr nur eins von euch zur Last fällt.«
Sie ließ die Kinder in die Droschke steigen und folgte ihnen; mit dem dicken Sacke, der darin schon untergebracht, war diese nun ganz voll.
»Es ist nicht vorher abgemacht worden, daß noch mehr Passagiere einsteigen sollen. Das geht nicht für das geringe Fahrgeld,« brummte der Kutscher.
»Sie können doch unmöglich für die Kinder etwas rechnen,« sagte Natalia, »die sind doch beide noch keine sieben Jahre alt.«
Der Kutscher fuhr ab. Becki starrte durch das Fenster. »Ob wir wohl Frau Elkmann begegnen werden?« sagte sie amüsiert. Josef beschäftigte sich damit, den in Unordnung geratenen Schweif seines Drachens zu entwirren.
Natalia aber war so in Gedanken vertieft, daß sie keine Notiz von ihnen nahm. Die arme kleine Daisy! Sie konnte das Bild des Kindes mit den schönen blauen Augen nicht los werden. Welch tragisches Schicksal, den Händen einer Trinkerin, die sich in Wirtshäusern umhertrieb, preisgegeben zu sein! Wer wußte, was da alles passieren konnte? Was wenn sie die Flucht Beckis und Josefs entdeckte und in ihrer betrunkenen Wut der armen Kleinen ein Leid zufügte? Unter allen Umständen konnte man einer so tief gesunkenen Person nicht die Sorge für ein unschuldiges Kind überlassen. Freilich sie selbst hatte kein Anrecht auf dieses Kind – es floß ja nicht einmal rein jüdisches Blut in seinen Adern. Da lag es nun, lächelnd und die schönen, blauen Augen aufschlagend. Es hatte sie so freundlich angelächelt, ohne zu ahnen, daß sie es seinem grausamen Schicksale überlassen würde. Und jetzt schrie es wieder! Sie hörte es trotz des durch den davonfahrenden Wagen verursachten Geräusches. Aber wie sollte sie es möglich machen, ein so kleines Kindchen aufzuziehen, da sie doch zu ihren täglichen weiten Rundgängen gezwungen war? Die anderen Kinder waren schon größer, sie waren tagsüber in der Schule. Nein, es war unmöglich. Sie bildete sich ein, daß das Schreien des Kindes lauter und immer lauter wurde.
Sie steckte den Kopf aus dem Fenster. »Fahren Sie zurück, schnell zurück, ich habe etwas sehr Wichtiges vergessen.«
Der Kutscher fluchte, »Haben Sie mich für die ganze Woche engagiert?«
»Ich gebe Ihnen ein Extratrinkgeld. Fahren Sie schnell zurück.«
Der wagen wurde umgedreht, das unschuldige Pferd bekam einen Schlag mit der Peitsche und lief schnell zurück.
»Was hast du denn nur vergessen, Großmütterchen?« fragte Becki, »es war sehr dumm von dir.«
Die Droschke hielt vor der Türe von Elkmanns Haus. Natalia blickte nervös um sich, sprang heraus und stieß dann einen verzweifelten Schrei aus.
»Ach! Wir haben die Türe zugeschlagen.« Ihr Wunsch, sich des Kindes zu bemächtigen, wurde durch die scheinbare Unerreichbarkeit noch gesteigert.
»O, das tut nichts,« sagte Becki, »du brauchst nur die Türklinke herumzudrehen.«
Natalia tat es und lief rasch in das Haus. Da lag das Kind – es schrie nicht – sondern schlief friedlich. Natalia riß es leidenschaftlich an sich und eilte, so schnell sie konnte, damit in den Wagen zurück.
»Was, du nimmst auch Daisy mit?« rief Becki. »Aber sie gehört dir nicht.«
Natalia aber schloß die Wagentüre, und die Droschke fuhr rasch dem Ghetto zu.
Die Tatsache, daß Natalia sich der Kinder bemächtigt habe, konnte natürlich kein Geheimnis bleiben, aber die Familie der Stiefmutter tat nicht den kleinsten Schritt, sie zurückzuerlangen. Die Frau selbst ging bald den Weg, den ihre beiden Vorgängerinnen gewandelt; man hat nie erfahren, ob sie eine Nachfolgerin gehabt hat, und wo Henri Elkmann geblieben ist.
Der plötzliche Wechsel von einer allein lebenden, alten Eigenbrödlerin in eine mater familias war übrigens durchaus nicht so reizend, wie Natalia dies geglaubt hatte.
Sie war dazu gezwungen, Daisy in Pflege zu geben, und das verursachte große Ausgaben. Aber diese Sorge war nichts gegen den fortwährenden Ärger, den ihre legitimen Enkel ihr verursachten. Gleich am ersten Abend murrten sie über die Ärmlichkeit und Schäbigkeit ihrer Speicherwohnung. Was ihre Großmutter auch für sie tun mochte, es gelang ihr nicht, ihre Ansprüche zu befriedigen; sie sprachen immer nur von den früheren guten Tagen. Sie waren durch den Vater und den unregelmäßigen Haushalt in Grund und Boden verdorben. Der Einfluß der christlichen Stiefmutter hatte zwar verfeinernd auf sie gewirkt, war aber doch von zu kurzer Dauer gewesen, um nachhaltig zu sein. Er hatte gerade lange genug gedauert, um Josef den religiösen Pflichten, die Fanny ihn gelehrt, abtrünnig zu machen, und es war keine der kleinsten Aufgaben der alten Frau, ihn dem alten Glauben zurückzugewinnen.
Das einzige, was Natalia über die Misere des Lebens hinweg half, war ihre Liebe zu der kleinen Daisy, die täglich schöner, graziöser und herzgewinnender wurde.
Natalia hatte in ihrem ganzen Leben kein so entzückendes Kind gesehen. Alles, was Daisy tat und sagte, schien ihr vollkommen zu sein. Ihr Gehorsam, ihr Verständnis für die Großmutter waren einfach bewunderungswürdig.
Eines Tages, als Daisy drei Jahre alt war, erzählte die Kleine der Großmutter, daß, als sie abwesend gewesen, Becki Josef an den Haaren gezogen habe.
»Still! Du mußt nicht klatschen,« sagte Natalia verweisend. »Becki hat Josef nicht an den Haaren gezogen,« korrigierte Daisy sich sofort.
Becki, die sich über das Ghetto erhaben fühlte, obwohl sie, ohne sich dessen bewußt zu sein, dessen schlimmste Eigenschaften ererbt hatte, ärgerte sich sehr darüber, daß Daisy sich all die jüdischen Worte und Redensarten, die aufzugeben Natalia zu alt war, schnell aneignete, obwohl Becki stets dagegen protestierte. Es war dies nicht der einzige Grund heftigen Wortwechsels zwischen Becki und der Großmutter, die von ihrer Enkelin offen beschuldigt wurde, daß sie Daisy vorziehe. Becki war kaum 15 Jahre alt, als sie mit einem Unabhängigkeitsbedürfnis, das sonst sehr lobenswert war, in dem Pelzgeschäft des Vaters ihrer zweiten Stiefmutter Arbeit suchte und dann Unterkommen bei einer Familie fand, die ihr, wie sie sagte, nicht so auf die Nerven fiel wie ihre Großmutter.
Ein oder zwei Jahre später folgte Josef ihrem Beispiele. So geschah es durch unvorhergesehene Schicksalswendung, daß die alte fünfundsiebzigjährige Trödlerin allein mit dem siebenjährigen Kinde zurückblieb.
Aber dieses Kind entschädigte sie für alles, was sie durchgemacht hatte, und ließ sie alle überstandenen Sorgen und Mühen vergessen.
Als ihre scharfen Augen schwächer zu werden anfingen, fädelte Daisy ihr abends die Nadeln ein und saß bei ihr, wenn ihre geschickten Hände alte Kleider in neue verwandelten. Daisy las ihr dabei aus ihren englischen Erzählungsbüchern vor. Natalia interessierte sich lebhaft für diese Kindergeschichten, die sie in ihrer zweiten Kindheit zum erstenmal hörte. Jack, der Riesentöter, Aladin und Aschenbrödel waren für sie entzückende neue Geschichten. Die Lieblingsgeschichte beider aber war das Märchen vom Rotkäppchen, mit seinem stets wiederkehrenden Satz: »Großmutter, was hast du für große Augen!« Das ließ sich so drollig sagen; es schien besonders für sie geschrieben zu sein. Oft sah Daisy plötzlich auf und sagte: »Großmutter, was hast du für einen großen Mund!« »Damit ich dich besser fressen kann,« antwortete die Großmutter flugs, und dann umarmten und küßten sie sich zärtlich. Der Freitagabend war der große Abend, der einzige Abend in der Woche, an dem Natalia nicht arbeitete. Nur die Religion war stark genug, sie zu bestimmen, die fleißigen Hände ruhen zu lassen. Auf dem weißen Tafeltuche standen zwei Kupferleuchter mit Kerzen darin, die angesteckt wurden, sobald die ersehnte Dämmerung das Nahen des Sabbats verkündete, um mit ihrem Schein das Fischgericht und das rituell geflochtene Brot festlich zu beleuchten. Nach dem Abendessen sang Natalia das hebräische Dankgebet mit großer Andacht. Dann erzählte sie Daisy von ihrer Jugendzeit in Polen, komische Geschichten oder auch traurige Erinnerungen an die dort erlittene Unterdrückung und Verfolgung. Daisy horchte aufmerksam, lachte, weinte und schauderte bei ihren grotesken Erzählungen. Die Vermischung der Rassen war vielleicht Grund dazu, daß sie sich zu einem ganz ungewöhnlich sensitiven und intelligenten Kinde entwickelt hatte, und Natalia war durchaus dazu berechtigt, zu glauben, daß ihr eine glänzende Zukunft bevorstehe.
Aber nach 18 Monaten dieses köstlichen Lebens ließ plötzlich Natalias wunderbare Leistungsfähigkeit nach. Sie verdiente immer weniger. Neben der Dankbarkeit gegen Gott, daß er die Last, Becki und Josef zu erhalten, von ihren Schultern genommen hatte, schlich sich langsam eine geheime Furcht in ihr Herz. Wie, wenn sie aus dem Leben gerufen würde, ehe Daisy alt genug war, sich selbst durch das Leben zu bringen? Wie, wenn sie unfähig würde, die Last der Arbeit bis zum Ende zu tragen? Was die Lage noch ernster machte, war, daß so viele Emigranten nach London kamen und der Hauswirt die Miete um einen Schilling die Woche erhöht hatte. Wenn Daisy schlief, lag die alte Frau noch lange wach im Bette und flehte zum Herrn, er möge ihr Kraft verleihen und ihr Leben erhalten.
Es war ein schwüler Sommer, und das machte die Last, unter dem immer mehr anschwellenden Sack den ganzen Tag von Tür zu Tür zu ziehen, beinahe unerträglich. Eine unbedeutende Sache war es, die es Natalia grausam zum Bewußtsein brachte, daß ihre körperliche wie finanzielle Kraft im Abnehmen war. Die Ferienzeit nahte, und Daisy gehörte zu den glücklichen Kindern, denen von dem Schulkomitee ein Aufenthalt auf dem Lande bewilligt wurde. Sie sollte vierzehn Tage in Kent auf einem kleinen Gute verbringen; indessen erwartete das Komitee, daß ihre Eltern oder ihre Pflegerin die kleine Summe von vier Schillingen für die Reisekosten beitrügen. Daisy wäre wohl auch ganz frei mitgenommen worden, wenn die Großmutter ihre absolute Armut erklärt hätte. Aber dann hätte man erst Nachforschungen über ihre finanzielle Lage angestellt, und vor solch einer Demütigung bebte Natalia zurück. Fast mehr noch zitterte sie davor, dem armen Kinde selbst ihre Armut zu enthüllen. Am allerpeinlichsten war der Gedanke, Daisy den ländlichen Aufenthalt versagen zu sollen, auf den sich das Kind schon lange gefreut hatte, und von dem es sich die schönsten Vorstellungen machte. Natalia selbst hielt nicht viel von dem Landleben, da sie in einem armen polnischen Dorfe geboren worden war, in dem die Bewohner ihre elenden Baracken mit den Schweinen teilten. Sie wollte aber Daisy nicht enttäuschen. Durch rastloses Umherwandeln in der Hitze, durch unermüdliches Handeln mit den Hausfrauen gelang es Natalia, die vier Schillinge aufzubringen, und die nichts ahnende Daisy stieg fröhlich in den von glücklichen, lärmenden Kindern erfüllten Zug, während die Großmutter ihr mit ihrem bunten Taschentuch den Abschiedsgruß zuwinkte.
Der erste Abend, den sie ohne ihren kleinen Sonnenschein verlebte, erschien der alten Trödlerin ganz schrecklich zu sein. Aber schon am folgenden Tage erhielt sie eine fröhliche Postkarte von Daisy, die der Gemüsehändler unten im Hause ihr vorlas. Das erfüllte sie mit neuem Mute. Natalia nahm unverdrossen ihren Sack auf und wanderte durch die erstickend schwülen Straßen.
In der zweiten Woche schrieb das Kind einen Brief, in dem es erzählte, daß es eine ganz besondere Freundin in einer alten Dame gefunden habe, die sehr gut zu ihr sei und wohl reich sein müsse; sie holte Daisy zum Spazierenfahren ab und erwies ihr viel Freundliches. Diese alte Dame schien eine Zuneigung zu ihr gefaßt zu haben von dem Augenblicke an, da sie das Kind vor dem Hause hatte spielen sehen.
»Vielleicht hat Gott in seiner Gnade ihr jemand geschickt, der sich ihrer annimmt, wenn ich dahingegangen sein werde,« dachte Natalia, der die Aufgabe, die Treppe hinunter- und dann wieder heraufzugehen, um sich den Brief vorlesen zu lassen, heute so schwer erschien, daß sie ein Gefühl hatte, als würde sie nie wieder ihr Tagewerk aufnehmen können.
Ganz elend und zerschlagen legte sie sich zu Bett. Ihre Zimmernachbarin, die Frau des Flickschusters, nahm sich ihrer an, pflegte sie und schickte zum Armenarzt. Aber sie wollte durchaus nicht, daß man Daisy von ihrer Krankheit schreiben solle, und daß dieser die Ferien verkürzt würden. An dem Tage, als Daisy zurückerwartet wurde, bestand sie, trotz ärztlicher Widerrede darauf, aufzustehen und sich anzukleiden. Dann schickte sie alle fort und lag still auf ihrem Bette, bis sie Daisys leichten Fußtritt hörte; dann sprang sie auf, um sie in scheinbarer Gesundheit zu empfangen. Aber das Geräusch anderer Fußtritte sowie der Eintritt einer brillentragenden silberhaarigen vornehmen Dame, die das Kind begleitete, verdarben ihr die Freude des Wiedersehens. Sie hatte das, was Daisy von ihrer neuen Freundin geschrieben, vollständig vergessen und schaute nun mit pathetischem Blicke auf die fremde Dame und das sonnenverbrannte Kind.
»O, Großmutter! was hast du für große Augen!« rief Daisy und lief fröhlich lachend auf sie zu.
Aber die gewohnte Antwort blieb aus.
»Das Zimmer ist nicht ordentlich geputzt,« sagte Natalia in vorwurfsvollem Tone und putzte sorgsam den Stuhl ab, den sie ihrem Gaste anbot. Aber die alte Dame nahm ihn nicht an.
»Ich bin gekommen, um Ihnen selbst zu danken für alles, was Sie für meine Enkelin getan haben.«
»Ihre Enkelin?« Natalia fiel auf ihr Bett zurück.
»Ja. Ich habe gewissenhafte Nachforschungen angestellt, es ist ganz gewiß. Daisy ist sogar nach mir getauft worden. Ich freue mich so sehr darüber.« Ihre Stimme zitterte.
»Sie sind hergekommen, um sie von mir fortzunehmen,« schrie die Alte entsetzt.
Daisys frisches Aussehen schien ihr schon ein Zeichen dafür zu sein, daß sie in eine andere Welt gehöre.
»Nein, nein, beruhigen Sie sich doch. Ich habe genug durch meine Selbstsucht gelitten. Es ist meine Unduldsamkeit, durch die meine Tochter sich mir entfremdet hat.« Sie senkte demütig ihr weißes Haupt, bis ihre Gestalt beinahe so gebeugt wie die Natalias erschien. »Was kann ich tun, mein Unrecht gutzumachen, Buße zu tun? Wollen Sie nicht mit mir kommen, bei mir auf dem Lande leben und mir erlauben, für Sie zu sorgen. Ich bin nicht reich, aber doch so gestellt, Ihnen jede Bequemlichkeit bieten zu können.«
Natalia schüttelte den Kopf. »Ich bin Jüdin. Ich könnte nicht mit Ihnen essen.«
»Das habe ich ihr ja auch gesagt, Großmutter,« meinte Daisy eifrig.
»Dann soll das Kind bei Ihnen bleiben, aber Sie müssen mir gestatten, dafür zu sorgen,« sagte die alte Dame.
»Aber wenn es doch so sehr gern auf dem Lande ist« – murmelte Natalia schwach.
»Ich will aber am liebsten bei dir sein, Großmutter,« und Daisy drückte ihre rosige Wange fest an das verwelkte Gesicht der Alten, das von hellen Freudentränen benetzt wurde.
»Daisy nennt Sie Großmutter und mich nicht,« sagte die alte Dame mit einem Seufzer.
»Ja – – und ich – ich habe dereinst ihrer Mutter den Tod gewünscht – o, möge Gott mir die Sünde vergeben.«
Natalia brach in leidenschaftliches Schluchzen aus und wiegte sich hin und her, Daisy fest an das Herz drückend.
»Was sagen Sie da?« Daisys Großmutter flammte auf, und der alte Grimm erwachte in ihr. »Sie haben Gretchen den Tod gewünscht?«
Natalia nickte. Ihre Arme fielen schlaff herunter. »Tot, tot, tot,« erwiderte sie mit seltsam summender Stimme. Dann glitt ein starrer Ausdruck über ihr Gesicht, und sie fiel auf ihr Bett zurück. Trotz der glänzend schwarzen Perücke hatte sie plötzlich ein verändertes unendlich altes Aussehen.
»Sie ist krank,« rief Daisy entsetzt.
Die Frau des Flickschusters eilte herbei, half Natalia ordentlich in das Bett und erzählte, mit welchem Eigensinn sie darauf bestanden habe, aufzustehen. Natalia lebte noch bis zum nächsten Nachmittage, und Daisys wirkliche Großmutter stand neben der jüdischen Totenwächterin an ihrem Totenbette.
Gegen elf Uhr morgens sagte Natalia: »Stecke die Kerzen an, Daisy, der Sabbat naht.« Daisy legte ein weißes Tischtuch über den alten hölzernen Tisch, stellte die Kupferleuchter darauf, zog ihn ganz nahe an das Bett und steckte die Kerzen an. Sie brannten mit seltsamer Unnatürlichkeit im hellen Augustsonnenschein.
Ein heiliger Friede leuchtete von dem Antlitze der alten Trödlerin. Ihre vertrockneten Lippen murmelten hebräische Gebete, mit denen sie den Sabbat begrüßte; allmählich aber verstummte sie – – –
»Daisy,« sagte ihre Großmutter, »bete das Gebet, das ich dich gelehrt habe.«
»Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken,« schluchzte das Kind gehorsam.