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Leopold Bartstein hätte sich bei dem Mittagessen, das Sir Ascher Aaronsberg gab, von Rechts wegen stolz und glücklich fühlen müssen, denn ihm war die Ehre zuteil geworden, die christliche Bürgermeisterin von Middleton, dieser aufblühenden Zentrale, zu Tisch führen zu dürfen. Aber Bartstein war jung, er war Bildhauer und kam gerade von Paris, wo er studiert und viele Salontriumphe gefeiert hatte. Der Gesellschaft der Juden und des ganzen Judentums hatte er sich ziemlich entwöhnt, und er unterschätzte sogar die Gesellschaft der christlichen Würdenträger Middletons, die ihm sehr spießbürgerlich erschienen. In Paris hatte er sein Dasein mit vollen Zügen genossen, er hatte auf dem Boule-Miche nachts im Kreise seiner Kunstgenossen getanzt, gesungen und gekneipt. Nach dem fröhlichen Leben, das er dort geführt, erschien ihm selbst London düster und freudlos, obwohl man ihn in den besten Kreisen willkommen hieß. Gewann dieser glückliche junge Mensch doch schon durch seine körperlichen Vorzüge und seine strahlende blonde Schönheit aller Herzen; dazu kam noch, daß er ein stets heiterer und geistvoller Gesellschafter war. Es erschien seinem künstlerisch gebildeten Auge, als ob die Fabriken, aus denen Sir Ascher Aaronsberg, Parlamentsmitglied, und die meisten seiner wohlhabenden Gäste hervorgegangen, eine Verunzierung unseres schönen Planeten seien, und er war noch in jener jugendlichen Sturm- und Drangperiode, wo man die Worte nicht wägt, sondern seine Gedanken über das, was die Menschen aus dieser schönen Welt gemacht haben, offen ausspricht. Nun war aber die Bürgermeisterin von Middleton unglücklicherweise ziemlich taub, so daß sie sich nicht durch seine Worte erschüttern ließ. Sie antwortete auf alle seine gewagten Bemerkungen nur mit einem liebenswürdigen Lächeln. Seine andere Tischnachbarin war Frau Samuels, die rotwangige, sehr wohltätige Witwe des ›Volkstuchhändlers‹, über dessen häßliches Reklameschild Bartstein sich als Kind schon immer geärgert hatte. Es war deshalb nur zu natürlich, daß sein Blick immer wieder über die glänzend gedeckte Tafel wanderte und auf der Gestalt eines jungen Mädchens haftete, das, wenn man ihn nicht ganz besonders dadurch zu ehren gedacht hatte, indem man ihn zum Kavalier der Bürgermeisterin machte, vielleicht jetzt seine Tischnachbarin sein könnte. Es ist wahr, das Mädchen war eine Jüdin, und er mochte die Juden nicht leiden. Aber der Anblick Mabel Aaronsbergs überraschte ihn. Ihre schlanke, vollkommen ebenmäßige Gestalt, ihre marmorkühle weiße Haut erinnerten an eine Statue, aber an eine Statue, die geschaffen zu haben er stolz gewesen sein würde. Wie dieser langweilige alte Fabrikbesitzer zu einer solchen Tochter gekommen, das war ein Rätsel, das der Bildhauer vergebens zu lösen suchte, während er sich durch das lange und auserlesen gute Diner durchaß.
Nicht als ob Sir Ascher selbst so unmalerisch gewesen wäre; er war das Bild eines gesunden, derben Briten, mit einem großen weißen Barte wie der Weihnachtsmann. Aber eine Ähnlichkeit mit der poetischen und reinen Mädchenerscheinung seiner Tochter hatte er nicht. Lady Aaronsberg mochte vielleicht dereinst an sie erinnert haben, aber sie war gestorben, noch ehe sie sich mit dem Titel einer Lady schmücken konnte, und zu ihren Lebzeiten hatte Bartstein noch nicht die Ehre gehabt, zu den Kreisen der Spitzen der Gesellschaft zugezogen zu werden. Er verdankte diese Auszeichnung nur seinem im Auslande errungenen Ruhm und dem Umstande, daß die Behörde ihn eingeladen hatte, sich bei der Organisation einer städtischen Kunstausstellung zu beteiligen.
»Ich bewundere Sir Ascher so sehr,« unterbrach die Bürgermeisterin plötzlich seinen Gedankengang. »Ich finde, er sieht genau aus wie einer der Patriarchen.«
Ein Patriarch aus Palästina, das war die letzte Person, an die Sir Ascher von seinen Dienern umgeben den Bildhauer erinnerte; er hatte sich die Patriarchen vielmehr wie die von Rembrandt dargestellten Rabbis gedacht. Aber er antwortete in höflichem Tone: »Unsere Patriarchen waren Polygamisten.«
»Ganz gewiß,« entgegnete die taube Bürgermeisterin.
Bartstein, der über diese Antwort verblüfft war, hätte ihr seine Behauptung am liebsten noch einmal laut zugerufen, aber das erschien ihm doch an einer so feinen Tafel nicht schicklich. Die Bürgermeisterin fuhr ganz begeistert fort: »Man kann ihn sich so gut vorstellen, wie er unter dem Eingange seines Zeltes sitzt und Zwiesprache mit den Engeln hält.«
Diesmal brach Bartstein in ein so laut schallendes Gelächter aus, daß sich die Augen aller Gäste mit neidischem Ausdruck auf ihn wandten. »Ihr amüsiert Euch da unten für Euch ganz allein,« rief Sir Ascher ihm freundlich zu, und sein Bild als das eines gesunden derben Briten festigte sich so sehr in Bartsteins Sinne, daß er kaum verstehen konnte, wie es möglich sei, daß die Bürgermeisterin in ihm etwas anderes erblickte als den prosaischen Provinzler und das ehemalige Parlamentsmitglied, das er war. Es ist eben eine Einbildung, dachte er. Sie hat viel in der Bibel gelesen und vergleicht nun jeden, mit dem sie in Berührung kommt, mit biblischen Gestalten. Man könnte ebensogut einen sächsischen Piraten oder einen normannischen Abenteurer mit einem modernen Londoner vergleichen.
Als ob er die Anschauung Bartsteins, daß er ein derber richtiger Brite sei, bestätigen wolle, hörte man, wie Sir Ascher mit lauter, das Geräusch der allgemeinen Unterhaltung übertönender Stimme sich heftig gegen die Ansichten Tom Fullers, des entarteten Sohnes eines Tory-Edelmannes verwahrte.
»Was, Irland sollte das Recht der Selbstregierung bekommen?« rief er leidenschaftlich. »O, mein lieber Herr Fuller, das würde den Anfang des Endes unseres Reiches bedeuten.«
»Aber die Irländer sind doch gerade so berechtigt, sich selbst zu regieren, wie wir es sind,« behauptete der junge Engländer.
»Sie würden alles aufbieten, die protestantische Minorität zu unterdrücken,« rief Sir Ascher. »Das Recht der Selbstregierung für Irland bedeutet nichts anderes als den Triumph des Katholizismus.«
Es kam Bartstein in den Sinn, daß selbst die Niederlage der römischen Katholiken doch noch lange keinen Sieg des Judentums bedeuten würde, aber er unterdrückte diese Antwort. Mochte der junge Brite selbst seine Ansicht verteidigen. Und der schien sich auch nicht dazu nötigen zu lassen.
»Wie wäre es denn mit der Selbstregierung für Indien? Dort gibt es keine Katholische Majorität?«
»Es hieße Indien aufgeben!« Sir Ascher machte ein ganz entsetztes Gesicht. Solche ketzerischen Ansichten waren ihm ganz neu. »Es hieße das schönste Juwel aus der britischen Krone preisgeben. Der russische Bär würde kommen und Indien verschlingen. Nein, nein und tausendmal nein.« Sir Ascher gestikulierte in seinem patriotischen Eifer mit seiner Gabel und schien es ganz vergessen zu haben, daß er nicht auf der Rednertribüne stand.
»Ja,« fuhr die taube Bürgermeisterin fort, die bewundernd seine lebhaften Bewegungen verfolgte, »so denke ich mir, daß auch die Patriarchen zu ihrem Volke gesprochen haben.« Wieder lachte der junge Bildhauer herzlich. Er fand es zu amüsant, daß der Löwe von Juda sich das Fell des Löwen von England geliehen habe. Dem kosmopolitisch denkenden Künstler erschien dieser kleinbürgerliche Patriotismus besonders reizend. Dann aber wanderte sein Auge wieder hinüber zu Fräulein Aaronsberg, und darüber vergaß er alle diese Kleinigkeiten.
Das Ende des Mahles wurde nicht dadurch bezeichnet, daß die Damen sich von ihren Stühlen erhoben, sondern daß der Wirt ein schwarzes Mützchen aus der Tasche seines Frackes zog und es auf den Kopf setzte. Nachdem er sich so in orientalischer weise zum Gebete gerüstet hatte, erschien es Bartstein plötzlich, als ob die Behauptung der Bürgermeisterin doch berechtigt sei, denn mit dem langen weißen Barte, der die moderne gesteifte Hemdbrust verbarg, verwandelte Sir Ascher sich, als er das hebräische Dankgebet zu sprechen begann, wirklich in eine Rembrandtsche Gestalt. Bartstein empfand plötzlich ein neues künstlerisches Interesse für dieses provinziale Exmitglied des Parlaments, das, von gepuderten Dienern umgeben, am Ende seines schimmernden Mittagstisches saß und in der Sprache der alten Propheten redete; er empfand eine gewisse Achtung vor der Festigkeit, mit der der Vater von Fräulein Aaronsberg sich zu seinem Glauben bekannte, den er, wie Gebetriemen, auf der Stirn trug. Es sprach wirklich für dessen Charakter, daß seine Mitbürger diesen Mann früher als Parlamentsmitglied erwählt hatten, obwohl er der allgemein unpopulären Rasse und dem wenig beliebten Glauben angehörte, und daß sie jetzt ruhig an seinem Tische saßen, während er das langweilige Dankgebet sprach. Obwohl Sir Ascher nicht einmal die kürzere Form gewählt hatte, die von einem weißen Rabbi für ähnliche schwierige Gelegenheiten eingeführt worden ist, so waren es doch seltsamerweise nur die jüdischen Gäste, die offenbar nervös bei dieser religiösen Zeremonie wurden. Man erkannte sie sehr leicht an der etwas komischen Art, mit der sie sich den Kopf mit der Serviette bedeckten. Es schien, als fürchteten sie, die Christen, deren köstliche Gesellschaft die Juden so sehr zu schätzen wissen, durch Sir Aschers langes Dankgebet zu langweilen. Es war besonders der Sohn des Wirtes, Julius, der dies zu empfinden schien, und in dessen intelligentem Gesicht deutlich Spuren der Ungeduld sichtbar wurden.
Er studierte in Oxford, wo er den Glauben seines Vaters verachten gelernt hatte, woraus er kein Geheimnis machte, und wovon nur Sir Ascher selbst nichts wußte. Bartstein beobachtete seine Nervosität, und sie erfüllte ihn mit einem seltsam gereizten Gefühle gegen seine Glaubensgenossen, obwohl er selbst es gewissenhaft unterlassen hatte, sein Haupt mit der Serviette zu verhüllen. Ein gewisser Rassenstolz, dessen er sich selbst bisher nicht bewußt gewesen, bäumte sich trotz seines Kosmopolitismus in ihm auf, und er hoffte nur, daß der tapfere Sir Ascher recht lange beten möge. Er war strenggläubig erzogen und in seiner Jugend ein leidlich geschulter Hebräer gewesen, und obwohl er seit vielen Jahren weder selbst gebetet noch hebräische Gebete hatte sprechen hören, so empfand er doch jetzt ein neues, fast künstlerisches Interesse daran, dieser Danksagung, den seltsam legendenartigen Worten und dem eigentümlichen Singsang, der nur ab und zu sich zu einer gewissen Melodie erhob, zu lauschen.
Wie hatte er einst als Knabe diese Danksagung gehaßt, die unfehlbar der Mahlzeit folgte, und die ihm beinahe die Freude am Essen verdorben hatte. Aber heute abend, nach einer so langen Zwischenpause, horchte er vorurteilslos den Worten dieses Gebetes und gab sich wie ein echter Künstler dem Eindrucke hin, den die pathetischen Ausdrücke auf ihn machten.
»Wir danken dir, o Herr, unser Gott, daß du unseren Vätern ein begehrenswertes, gutes und reiches Land als Erbteil gegeben hast, und weil du, o Herr, unser Gott, uns aus dem Lande der Ägypter geführt und uns aus dem Hause der Knechtschaft befreit hast – –«
Bartstein hörte für den Augenblick nichts weiter. Das paradoxe dieser so weit zurückzielenden Dankbarkeit überraschte ihn zu sehr. Was, Sir Ascher dankte Gott dafür, daß seine Vorväter vor mehr als dreitausend Jahren nicht ohne harte Kämpfe ein Land errungen hatten, daß schon seit 1800 Jahren wieder verloren war! Wie wunderbar das Gedächtnis dieser Hebräer war!
Aus dem Hause der Knechtschaft erlöst, wahrhaftig! Sir Ascher selbst hatte wohl kaum je ein Haus der Knechtschaft gekannt – hier spielte ein spöttisches Lächeln um die Lippen des Künstlers –, es sei denn, daß er vielleicht das Unterhaus als solches betrachtet hatte (aus dem er durch die reaktionäre Strömung verdrängt worden war); sein eigenes Haus nannte er selbst stolz eine Halle der Freiheit. Aber daß der russische Jude heute noch des Auszuges aus Ägypten gedachte! O des Wunders einer solch frommen Geduld! Es lag etwas Erhabenes darin, das an das Lächerliche grenzte.
Sir Ascher betete weiter:
»Erbarme dich, o Herr unser Gott, über Israel, dein Volk, über Jerusalem, deine Stadt, über Zion, die Wohnung deines Ruhmes, über das Königreich aus dem Hause Davids, deines Gesalbten.«
Bartstein verlor sich in eine neue Träumerei. Dies war in der Tat ein palästinischer Patriarch. Nicht an der Körperschaft Middletons oder an den Vorsälen Westminsters oder an seinem kolossalen Geschäfte, ja selbst nicht an dem Ruhm des britischen Kaiserreiches hing Sir Aschers innerstes Herz. Er hatte nur Äußerlichkeiten von seiner Umgebung angenommen. Im tiefsten Innern war er kein Brite. »Erbarme Dich, o Herr, über Israel, dein Volk!« Trotz allen äußeren Pompes und trotz seines Reichtums fühlte er sich doch als einer seiner verstreuten, mißhandelten Brüder, die achtzehn Jahrhunderte lang sowohl dem Sturm der Verfolgung wie dem Sonnenschein der Toleranz widerstanden haben, und deren einziger Trost in dieser langen Verbannung der Traum Zions ist. Den in Bartstein lebenden Künstler durchschauerte es. Konnte es etwas Fesselnderes geben, als hinter der Maske dieses Fabrikherrn den Träumer, hinter dem englischen Parlamentsmitglied den hebräischen Schwärmer zu entdecken?
Sein fürstlich eingerichtetes Haus mit seinen Livreedienern war also keine Burg des Philistertums, in der ein Künstler nicht atmen konnte, sondern eine Zitadelle des Geistes. Er empfand plötzlich eine tiefe Achtung vor seinem Wirte. Unwillkürlich suchte er das Antlitz seiner Tochter.
Des Eindrucks unbewußt, den er auf den sensitiven Künstler machte, fuhr die Rembrandt-Gestalt fort zu beten: »Und baue Jerusalem, die heilige Stadt, von neuem auf, laß sie rasch erstehen in unseren Tagen.«
Das war der Höhepunkt der Romantik, die sich in so seltsamer Weise in diese britische Mittagsgesellschaft geschlichen hatte. Jerusalem sollte in unserer Zeit auferbaut werden! Hielten die Juden das wirklich für möglich?
Bartstein überlief es heiß und kalt. Diese Idee war eine vollständig neue für ihn; er hatte offenbar als Knabe noch kein Verständnis für seine Religion und sein Volk gehabt. Seine Phantasie wurde mächtig angeregt. Vor seinem inneren Auge entstand das Bild eines neuen Zions, das durch so starke Hände wie die Sir Aschers erbaut und durch junge Mütter, die so schön wie seine Tochter waren, bevölkert wurde; ein großes Kaiserreich, das durch Einigkeit und Freiheit einer Rasse entspringen würde, die selbst jetzt, da sie unterdrückt und in aller Welt verstreut war, doch eines der mächtigsten Völker der Erde geblieben war. Als sich die Damen von der Tafel erhoben, war er so tief in seine Träumerei versunken, daß er beinahe vergaß, ebenfalls aufzustehen. Als er es endlich tat, begleitete er die Damen aus dem Speisesaal. Es war nur Fräulein Aaronsbergs taktvolle Anrede: »Möchten Sie nicht eine Zigarre rauchen?«, die ihn zur Wirklichkeit erweckte.
»Das Dankgebet war beinahe ebenso lang wie das Mittagessen«, flüsterte Tom Fuller ihm zu, als er zu der Tafel zurückkehrte. »Ist es bei den Juden Sitte, nach jeder Mahlzeit ein so langes Gebet zu sprechen?«
»Bei den Frommen,« antwortete Bartstein ein wenig verletzt, während er eine Zigarre anzündete.
»Dann ist es kein Wunder, daß sie den Christen über sind,« sagte der junge Radikale, der offenbar originelle Ansichten hatte. »Wenn eine Nation sich so viel Zeit zum Verdauen nimmt, muß sie notwendig alle anderen Völker überdauern, die so überschnell ihre Mahlzeiten verzehren. In Amerika werden sie sicher die Herrschaft erringen.«
»Es ist ein schönes Dankgebet,« sagte Bartstein vorwurfsvoll, »der Zauber Zions verklärt die Prosa des Essens.«
»Sie sind doch kein Jude?« sagte Tom mit plötzlichem Verdachte.
»Ja, ich bin ein Jude,« erwiderte der Künstler mit einer Würde, die ihn selbst überraschte.
»Ich würde Sie niemals für einen solchen gehalten haben,« meinte Tom.
Bartstein fühlte sich unwillkürlich von diesen Worten angenehm berührt. »Aber warum nur?« fragte er sich selbst. »Wie kann ich mich dadurch geschmeichelt fühlen, daß man mich nicht für einen Juden hält; was bedeutet das? Steckt in meiner Natur irgendwo ein Stück Antisemitismus? Ist unser Volk so tief gesunken, daß es sich selbst verachtet?«
»Ich bitte Sie um Entschuldigung,« fuhr Tom fort. »Es war nicht meine Absicht, Ihnen etwas Unangenehmes zu sagen. Ich schätze das Pittoreske des Judentums, der Bibelsprache und alles, was dran hängt, sehr hoch. Ebenso sympathisiere ich mit Ihrem Wunsche nach jüdischer Selbstregierung.«
»Meinem Wunsche?« sagte der Künstler verblüfft. Sir Ascher unterbrach das Gespräch, indem er beiden Herren ein Glas seines vorzüglichen achtundvierziger Portweines aufnötigte und dann die Aufmerksamkeit des Künstlers auf die Gemälde lenkte, die das stattliche Speisezimmer schmückten. Da war ein Gainsborough, ein Reynolds, ein Landseer. Er führte Bartstein an den Wänden herum.
»Ich liebe die englische Schule sehr,« sagte er. Sein schwarzes Käppchen war in die Tasche seines Frackes zurückgewandert; er war wieder ganz ein gesunder wackerer Brite geworden.
»Sie haben gar keine Italiener?« frug der Künstler.
»Nein,« sagte Sir Ascher und fuhr dann mit gedämpfter Stimme fort: »Unter vier Augen gesagt, ist man bei der italienischen Kunst niemals sicher vor der Madonna und erst recht nicht vor ihrem Sohne.« Diese Worte erinnerten wieder an den Patriarchen aus Palästina. Sir Ascher hatte es sich im allgemeinen zur Regel gemacht, nur mit solchen Leuten über Theologie zu sprechen, von denen er ganz sicher war, daß sie seiner Meinung wären. Übrigens äußerte er niemals, weder im privaten noch im öffentlichen Leben, auch nur ein unfreundliches Wort gegen seine christlichen Mitbürger. »Wir alle sind die Kinder eines Vaters,« pflegte er auf der Rednertribüne zu sagen. Aber im tiefsten Innern seines Herzens hegte er eine verwirrte Verachtung vor der arithmetischen Unfähigkeit der Anbeter der Dreieinigkeit.
Er beurteilte das Christentum nur von diesem einen Standpunkte aus. Eine Nation, die wirklich ein Genie für Arithmetik hatte, konnte unmöglich auf solche Irrtümer hereinfallen. »Wie können drei jemals eins sein?« frug er spöttisch, wenn er sich sicher und nur unter seinen Glaubensgenossen fühlte. Diese Frage lag auch in dem Ausdruck seiner Augen, als er mit dem Bildhauer über italienische Kunst sprach, und ein leichtes Lächeln zuckte um seine Lippen, das seinen Glaubensgenossen aufforderte, das Gefühl geistiger Überlegenheit über die armen, blinden Christen an seiner Tafel und über das Christentum im allgemeinen zu teilen.
Aber der Künstler kam dieser Einladung nicht nach. »Die Madonna ist jedenfalls ein sehr schöner Begriff,« sagte er.
Sir Ascher sah ihn bestürzt an. »Ach so, ja, Sie sind ein Künstler,« erinnerte er sich. »Sie denken nur an die schöne Außenseite. Aber wie können drei in eins und eins in drei enthalten sein?«
Bartstein antwortete nicht, und Sir Ascher fügte in leisem, höhnischem Tone hinzu: »Ohne die Personen zu verwechseln oder die Substanz zu teilen.«
Ein plötzlicher Auftrag rief Bartstein nach London zurück, noch ehe er den üblichen, auf das Mittagessen folgenden Besuch machen konnte. Aber der an jenem Abend in seiner Seele ausgestreute Samen ging auf. Dieser Samen war nichts weniger als die Idee einer nationalen Wiedergeburt seines Volkes. Er schlug seine alten Gebetbücher nach, und während er Seite für Seite darin aufmerksam durchstudierte, entdeckte er in deren Inhalt, der einst dem Knaben wie eine Serie von Silben erschienen war, die so rasch wie möglich in eintönigem Singsang verständnislos hergeplärrt werden mußte, einen tiefen, bisher ungeahnten Sinn.
»Ich hätte ebensogut ein Gebetrad drehen können,« sagte er bedauernd, als er entdeckte, mit welcher eisernen Zähigkeit dieses Volk, das erst von den Römern, später von jeder gerade das Ruder führenden Macht unterdrückt worden war, seine Sehnsucht nach dem ihm einst zugehörigen heiligen Lande bewahrt hatte. Mabel Aaronsberg schien ihm die verklärte Verkörperung dieser heißen Sehnsucht, des Geheimnisses seiner Rasse und seines Blutes zu sein.
Er hatte es nicht nötig, seine Lebensweise zu ändern, um sie zu sehen, weil er sie den ganzen Tag über vor sich sah. In seinem Atelier befanden sich zahllose in Ton entworfene Skizzen, die sie darstellten. Aber wenn diese Tochter seines Volkes ihm die Schönheit seiner Nation versinnbildlichte, so trieb es ihn gleichzeitig, sich in die Tragödie der Juden zu vertiefen. Er suchte sich in den elendesten und traurigsten Straßen und in den kleinen Synagogen des Ostends, seltsame, verwahrloste Gestalten mit langen Ohrlocken und ernsten, traurigen Augen. Von einer dieser Gestalten erfuhr er zu seinem Erstaunen, daß der Traum von einer Wiederaufrichtung Zions, den er allein geträumt zu haben glaubte, von Myriaden geteilt wurde und sich jetzt zu einer nationalen Bewegung gestaltete.
Er trat dieser Bewegung bei und wurde durch sie in seltsame Versammlungen geführt. Er schloß sich einem Komitee an, das sich in einem kleinen Hinterzimmer versammelte, und das ihn und seine Argumente zuerst mit einer gewissen Ehrerbietung, später mit Vertraulichkeit und gelegentlich sogar verächtlich aufnahm. Althändler und Zigarrenmacher verstanden es in viel beredterer Weise, von ihren Idealen zu reden, wie er; sie kannten den Talmud besser wie er selbst. Daß sie auch viel mehr davon verstanden, wie die lokale Organisation der zionistischen Bestrebungen zu leiten sei, war ja ganz natürlich. Aber trotz der niederen, armseligen Umgebung, der kleinlichen Reibereien, der grotesken Eifersüchteleien, durch die diese Bewegung getrübt wurde, bewahrte er sich die Begeisterung dafür. Er hatte sich selbst und seine Kunst endlich gefunden. Er schuf ein großes, Michelangelo würdiges Bildwerk, das den Genius seines Volkes darstellte, der mit der Posaune die Gläubigen zu neuem Leben erweckte. Er sandte das Kunstwerk an einen Zionistenkongreß, wo es ausgestellt wurde und Furore erregte, und wo der Künstler viele andere Künstler kennen lernte, die alle schon lange unter dem Einflusse der Anregung arbeiteten, die ihm bisher so fremd gewesen war, und deren Werke hier versammelt und ausgestellt waren. Skulpturen, Bilder, Bücher, ja sogar Postkarten zeugten von dem zionistischen Einflusse. Einige der bedeutenderen Künstler waren im Begriffe, nach Palästina aufzubrechen, um dort eine Schule für Kunst und Kunstgewerbe zu begründen.
Bartstein dachte daran, sich ihnen anzuschließen. Unterdessen wunderte man sich in den Kreisen der Bohème, die er durch seine Heiterkeit und Liebenswürdigkeit geschmückt hatte, was wohl aus ihm geworden sein möge. Sein neuausgestelltes bedeutendes Werk gab eine Art von Antwort auf die Frage und die wenigen, denen er zufällig begegnete, erzählten bekümmert, daß er wie ausgetauscht sei. Der leichtherzige und leichtfüßige Tänzer der Pariser Künstlerbälle hatte aufgehört zu sein. Der alles verspottende Witz des modernen Heiden war verstummt. Der Künstler von heute war ein neues Wesen, das mit ernster Stimme und traurigen Augen dreinschaute, die sich nur dann erhellten, wenn er seines Traumes gedachte. Nie hatte man in der Bohème erlebt, daß einer der Ihren sich plötzlich so ganz verwandelt hätte.
Aber die Idee dieses Traumes nahm eine andere Gestalt an. Ehe er ernsthaft seine Reise nach Palästina beschließen konnte, begegnete er Mabel Aaronsberg zum zweiten Male. Sie war unter der Obhut einer Tante nach London gekommen, um die Saison mitzumachen, und er traf sie zufällig in einer der neueren Kunstausstellungen vor einer Statue, die er selbst geschaffen und mit dem lieblichen Zuge Mabels geschmückt hatte. Sie lobte harmlos die Psyche, ohne ihr eigenes Bild darin zu erkennen, und obgleich dies Bartstein etwas betrübte, mußte er doch zugeben, daß die Schönheit seiner Statue weit hinter der des Originals zurückblieb.
Er erschien dann wieder in den gesellschaftlichen Kreisen, wo Schriftstellern und Künstlern der Hof gemacht wird. Unglücklicherweise waren dies jedoch nicht die Kreise, in denen Mabel verkehrte, und Bartstein war daher gezwungen, die Einladungen der jüdischen Gesellschaft von Bayswater anzunehmen, gegen die er einen gewissen Widerwillen empfand, trotz seines zu neuem Leben erwachten Nationalgefühls. Hier unter Hunderten, ihm wie Schatten erscheinenden, gleichgültigen, tanzenden und plaudernden Gestalten gelang es ihm, gelegentlich eine Stunde reinsten, ungetrübten Glückes zu erringen, wenn er Mabel traf.
Selbstredend mußte er als aufrichtiger Mensch davon reden, wovon sein Herz so ganz erfüllt war. Mabel, die gewöhnlich in allen Dingen die Ansichten ihres Bruders Julius teilte, war ziemlich erstaunt über das, was er ihr erzählte. Ihre marmorkühle schöne Ruhe, die sie stets zu bewahren wußte, rettete ihren Verehrer vorläufig davor, zu begreifen, wie wenig sie ihn verstand. Sie hatte wirklich bisher kaum von solchen Dingen reden gehört. Der Zionismus war ihr etwas, das in das östliche Stadtviertel Londons gehörte. In den Gesellschaftskreisen wurde er kaum je erwähnt. Aber Bartstein war ein Bildhauer und lange im Auslande gewesen, außerdem sah er absolut nicht wie ein Jude aus, und so kam es, daß in seinem Munde die Begeisterung für den Zionismus nicht so schrecklich klang. Seine schlanke, biegsame hohe Gestalt ragte unter den meist nur mittelgroßen, untersetzten jungen Leuten der jüdischen Gesellschaft hervor; er sah fast wie ein Angelsachse aus, und obgleich seine Manieren vielleicht nicht ganz so gut wie die eines Christen waren – sie vergaß nie den faux pas, den er bei der Mittagsgesellschaft ihres Vaters gemacht –, so schien es ihr doch, als blicke er sie mit der Verehrung an, die Christen den Frauen zollen, und nicht mit der orientalischen Berechnung ihrer anderen Glaubensgenossen. Außerdem wußte sie, daß die Londoner Juden sie wie eine Provinzlerin ansahen, während Bartstein ihr eines Tages gesagt hatte, daß ihre Schönheit universal sei. Selbst Julius hatte die Größe von Bartsteins Skulpturen anerkannt, deren moderne Richtung in Oxford volle Würdigung fand, was jedoch auf Mabel den tiefsten Eindruck machte, war das fortgesetzte Lob, das den Werken ihres Verehrers in den christlichen Zeitungen gezollt wurde. Als er ihr endlich einen Heiratsantrag machte, war das einzige, was sie fürchtete, ihr Vater möchte seine Einwilligung versagen.
»Er ist so orthodox,« flüsterte sie, als sie bei dem großen jüdischen Wohltätigkeitsballe in einer der rosenbekränzten Nischen saßen, wo, umrauscht von den süßen Tönen eines Straußschen Walzers, Bartstein ihr seine Liebe gestanden hatte.
»Nun,« sagte er lächelnd, »ich bin aber wirklich kein so schlechter Mensch.«
»Aber du rauchst am Sabbath, Leo – du hast es mir erzählt.«
»Und du hast mir verraten, daß dein Bruder Julius das auch tut –«
»Ja, aber der Vater weiß nichts davon, wenn Julius am Freitag abend gern rauchen möchte, dann zieht er sich stets in sein Zimmer zurück.«
»Nun, ich würde ganz gewiß nicht in dem deines Vaters rauchen.«
»Nein – aber du könntest es ihm verraten. Du bist immer so gerade aus.«
»Ich verspreche dir, es ihm nicht zu sagen, es sei denn, daß er mich direkt danach fragt.«
Sie lächelte traurig. »Er wird dich wohl nicht danach fragen. Es wird nie so weit kommen.«
Er lächelte zuversichtlich. »Du bist nicht sehr ermutigend, Liebste! Aber was könnte er gegen mich einzuwenden haben?«
»Viel. Du bist ein Künstler, mit allerhand sehr seltsamen Ansichten. Dann bist du wohl auch« – sie errötete und zögerte – »vielleicht nicht reich genug – –«
Er drückte ihre Hand. »Doch, das bin ich wohl. Ich bin der reichste Mann hier im Saale.«
Ein kleines entzücktes Lächeln stahl sich um ihre Lippen, dann fuhr sie fort: »Du sagtest mir aber doch einmal, daß du nicht so viel verdientest, daß der Marmor sehr teuer sei – –«
»Ja, aber das Leben eines Junggesellen ist noch viel teurer; ich werde viel weniger gebrauchen, wenn ich verheiratet bin.«
Sie machte ein Mäulchen. Es schien ihr, als ob er die Situation nicht ernst genug nähme, und als ob er sich nicht klar gemacht habe, daß sie eine Erbin sei. Er fuhr indessen fort, über ihre Befürchtungen zu scherzen. Sie war so schön und er so stark, was konnte sich da zwischen sie drängen? Ganz gewiß nicht der Patriarch aus Palästina, für den er wirklich ein tieferes Interesse empfand.
Aber Mabels Pessimismus ließ sich nicht wegscherzen, selbst nicht als bei dem Abendessen der Champagner schäumte. Er hatte ein Tischchen für zwei Personen reservieren lassen, und die beiden vergaßen ihre Umgebung und beschäftigten sich nur miteinander.
»Im schlimmsten Falle kann ich dich entführen, und wir entfliehen dann nach Palästina,« sagte er endlich, halb scherzend, halb ernsthaft.
Mabel schauderte. »Dann müßten wir ja nur unter Juden leben!«
Der strahlende Ausdruck seines Gesichtes verblich plötzlich. Es war, als ob sie ihn mit ihrem Messer in das Herz getroffen hätte. Er hatte das Schweigen, das sie stets seinen nationalen Rhapsodien entgegenbrachte, immer für ein Zeichen des Einverständnisses gehalten.
Mabel würde ihn auch schwerlich enttäuscht haben, wenn seine Beziehungen zu ihr rein platonische geblieben wären. Da er aber nun offen um sie geworben, war sie doch gezwungen, Farbe zu bekennen. Nachdem Bartstein vom Zionismus gesprochen, hatte sie bemerkt, daß ihr vornehme Christen im ganzen außerordentlich sympathisch seien. Dies war aber die einzige christliche Anschauung, die Mabel nicht imponierte. »Der Zionismus ist ganz gut für die Christen,« entschied sie nach einigem Nachdenken, »sie kommen nicht in Gefahr, nach Palästina gehen zu müssen.«
»Warum könntest du nicht nur unter Juden leben?« fragte er sie leise.
Mabel atmete tief auf, als ob sie eine erdrückende Last abwerfen wolle. »O, da konnte man nicht frei atmen,« erklärte sie.
»Lebst du denn nicht jetzt auch unter Juden?«
»Schau doch nicht so düster drein, du törichter Mann. Man muß doch nicht überall Juden haben, Juden im Hinter- und im Vordergrunde. Das wäre wie ein großes Ghetto.« Wieder schauderte er unwillkürlich.
»Jedes andere Volk ist im Hinter- und im Vordergrunde. Du wirst doch nicht Frankreich oder Italien ein Ghetto nennen wollen?« Er fühlte es deutlich, daß, ohne daß sie sich selbst dessen bewußt war, hinter Mabels Abneigung gegen eine Ansammlung der Juden ein gewisser Antisemitismus verborgen war. Der Mut sank ihm. Niemals – selbst nicht in jenen elenden Hinterzimmern des Ostends, wo das ärmliche, oft sogar schwindsüchtige Aussehen seiner Mitarbeiter an der großen nationalen Aufgabe, die er sich gestellt hatte, ihm oft genug schwer auf das Herz gefallen war – hatte er eine so tiefe Verzweiflung empfunden wie jetzt in diesem reichgeschmückten Speisesaale, wo er umgeben von den einflußreichsten und leistungsfähigsten Männern seiner Rasse, von Rechtsgelehrten und Kaufleuten war, die, wenn sie sich zusammentaten, mit vereinten Kräften und unbeschränkten Geldmitteln fast alles ausführen konnten, was sie gewollt hätten.
»Die Juden können nicht einer von dem anderen leben,« erklärte Mabel mit weiser Miene.
Bartstein antwortete nicht. Er fragte sich, selbst mit der analysierenden Wißbegierde des Künstlers, was wohl der Ursprung dieses selbstmörderischen Antisemitismus sei? War es die natürliche Selbstverachtung einer Rasse, die nicht mehr die Kraft und den Mut hatte, sich als selbständiges Volk durchzusetzen und zu verteidigen? Nein, nein! Die Quelle, aus der dieses Gefühl entsprang, war nicht so lauter. Es war nur die eigentümliche Neigung der Juden, die Sitten ihrer Umgebung nachzuahmen, die so weit ging, daß sie sogar den Widerwillen aller anderen Völker gegen ihre Rasse nachempfand. Er fand diese Anschauung durch die Tatsache bestätigt, daß, wenn die Juden sich irgendwo niedergelassen, die zuerst Angekommenen immer sehr ungern sahen, daß sich viele andere Glaubensgenossen ihnen anschließen, weil sie stets fürchteten, dadurch die so mühsam errungenen Privilegien wieder zu verlieren. Er gedachte seiner eigenen Anschauungsweise, ehe er sich der zionistischen Bewegung angeschlossen hatte. »Ja,« entschied er, »es ist wirklich so. Jeder Jude, der in unser Land, unsere Stadt oder in unsere Straße kommt, scheint uns ein Eindringling zu sein. Er zieht die Aufmerksamkeit auf uns, er macht die Christen aufs neue auf den zwischen uns herrschenden Unterschied aufmerksam, er trägt dazu bei, den Rischus (die üble Gesinnung) gegen uns aufs neue zu erregen. So ist es gekommen, daß wir selbst Antisemiten geworden sind. Aber es ist doch nicht logisch, daß wir unseren Widerwillen gegen eine zu große Niederlassung der Juden hier in England nun auch gegen deren Ansiedlung in Palästina übertragen. Oder sollte dies am Ende doch logisch sein? Sollte es vielleicht die Furcht sein, daß, wenn ein Teil der Juden nach Palästina auswanderte und einen sich selbstregierenden Staat bildete, dann unsere Mitbürger immer daran erinnert würden, daß wir doch nicht so radikale englische, deutsche, französische oder amerikanische Patrioten sind, wie wir uns dessen so gern rühmen? Fürchten wir im stillen, sämtlich nach Palästina abgeschoben zu werden, und ängstigen wir uns vor der endlichen Erfüllung eines Traumes von achtzehn Jahrhunderten?«
Dieser Gedanke drängte ihm ein bitteres Lächeln auf.
»Ich fürchtete schon, du wärest wie König Heinrich – würdest niemals wieder lächeln,« gab Mabel ihm freundlich lächelnd zurück.
»Wir sind wirklich ein lächerliches Volk,« antwortete er, wieder ernst werdend, »weder Fisch noch Fleisch – –«
»Laß das Grübeln und iß dein gut gebratenes Hühnchen,« lachte Mabel. Sie fühlte, daß er ihrer Macht zu entschlüpfen drohte, und vergaß ihre eigenen Befürchtungen in dem Bemühen, seine düstere Stimmung aufzuheitern.
Aber sie hatte seine Gedanken nur in eine neue Richtung geleitet. »Hühnchen,« sagte er grimmig. » Koscher zubereitet natürlich und mit kleinen, gebratenen, Speck nachäffenden Wurststückchen garniert. Zum Nachtische gibt es dann Eiscreme nachäffendes Wassereis. Wir sind sogar unfähig geworden, die Individualität unserer Diät zu bewahren. Feuerbach hat ganz recht, wenn er sagt: ›Der Mensch ist, was er ißt‹. In Palästina werden wir es wenigstens wagen, unserem eigenen Geschmacke gerecht zu werden.« Er lachte bitter.
»Du bist nicht sehr romantisch,« schmollte Mabel.
In der Tat fühlte sie sich dadurch verstimmt, daß so bald, nachdem sie einander ihre Liebe gestanden, dieser Bartstein an etwas anderes denken konnte. Sie berührte flüchtig seine Hand unter dem Tischtuche.
»Sie ist vielleicht noch zu jung für so ernste Dinge,« dachte Bartstein, unter der leisen Berührung freudig erbebend. War sie nicht außerdem Sir Aschers Tochter? Sie hatte ganz gewiß etwas von seiner Liebe für Palästina und sein Volk geerbt. Es war dieser philisterhafte Verkehr, der sie verdorben hatte, vielleicht hatte auch der Oxforder Student, ihr Bruder Julius, einen schlechten Einfluß auf sie gehabt.
»Darf ich dir ein wenig Mandelpudding vorlegen?« frug er sie zärtlich.
Mabel lachte verlegen. »Ich sehne mich nach Romantik, und du bietest mir Mandelpudding an. O, ich möchte gern mal in eine jüdische Gesellschaft kommen, wo es keinen Mandelpudding gäbe.«
»Das sollst du – in Palästina,« gab er lachend zurück.
Sie schmollte wieder. »Bei dir führt jeder Weg nach Palästina.«
»Das ist wahr,« antwortete er tiefernst. »Ohne Palästina stürzt unsere Vergangenheit zusammen und ist unsere Zukunft auf Flugsand gebaut.«
Sie sah ihn ganz erschrocken an. »Aber was sollten wir da machen? Wir können doch nicht den ganzen Tag über beten?«
»Natürlich nicht,« sagte er eifrig. »Die neue Generation müßte für den Ruhm der kommenden Tage erzogen werden. Ich selbst werde als Lehrer an der Kunst- und Gewerbeschule, die wir dort errichten werden, wirken. Sie soll ›Bezalel‹ heißen; ist das nicht ein schöner Name? Bezalel ist der erste Künstler, von dem in der Bibel gesprochen wird, und er wird darin genannt als ein Mensch, der erfüllt von göttlicher Weisheit und wohlunterrichtet in allen Künsten sei.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du wirst exkommuniziert werden. Die Rabbis von Palästina exkommunizieren alles und jeden.«
Er lachte, »Was weißt du von Palästina?«
»Mehr als du denkst. Mein Vater bekommt endlose Briefe und unzählige kleine Sendungen von dort, in denen getrocknete Blumen, Zitronen, Dosen aus Olivenholz, Papiermesser und andere Dinge enthalten sind, es ist eine fortwährende Überschüttung. Dabei sind die Briefe, die er von dort erhält, meistens in schlechtestem Englisch geschrieben, und er will nicht mal erlauben, daß ich darüber lache, weil er ein gewisses Gefühl hat, als ob selbst die aus Palästina kommenden Sprachschnitzer und orthographischen Fehler heilig wären.«
Bartstein lachte wieder, »wir wollen alle Rabbis nach Jericho schicken.«
Sie lächelte. »Dahin wird man dich senden, du Schöpfer steinerner Bilder. Dein ganzes Handwerk ist ein verbotenes.«
»Ich werde sie mit dem von Bezalel handelnden Bibeltexte schlagen. Gott sagt, daß es gerade die Kunst des Bildhauers sei, die er selbst Bezalel gelehrt habe, vergiß übrigens nicht den Erfolg meiner Statue auf dem Baseler Kongresse.«
»Basel ist nicht Palästina. Da ist alles ganz voller Aberglauben und schmutziger Dinge! Es tut mir ordentlich leid, daß Vater den dort getriebenen Unfug durch all das Geld, das er hinschickt, immer noch mehr fördert.«
»Bravo, Sir Ascher! Er trägt dadurch zu der Renaissance unseres Volkes bei. Dein Vater und seinesgleichen sind es, die die Saat ausgesät haben; wir aber werden sie zur Blüte bringen.«
Seine prophetischen Worte warfen wieder einen Schatten über die schöne, marmorkühle Stirn des jungen Mädchens. Aber ein plötzlicher Gedanke verjagte die trüben Wolken, die sie umdüsterten.
»Nun, dann wird es vielleicht gar nicht nötig sein für uns, zu entfliehen.«
»Ich dachte keinen Augenblick daran, daß wir es tun müßten,« antwortete er fröhlich. »Aber wir können ja die Flitterwochen trotzdem in Palästina verleben!«
»O! Dagegen habe ich nichts einzuwenden,« sagte Mabel. »Selbst viele Christen tun das. Vorige Ostern ist erst eine von Cook geführte Reisegesellschaft von Middleton dahin abgegangen.«
Bartstein war sehr glücklich darüber, daß sie überhaupt einwilligte, die Hochzeitsreise nach Palästina zu machen, um über die Weise, in der sie sich dazu bereit erklärte, weiter nachzudenken. Er blickte in ihre Augen und glaubte darin die Schechinah – den Abglanz des göttlichen Ruhmes, der einst auf Zion ruhte, leuchten zu sehen.
In dieser glücklicheren Stimmung fuhr Bartstein nach Middleton, um offiziell bei Sir Ascher Aaronsberg um die Hand seiner Tochter zu werben. Mabel hatte nicht gewünscht, daß dies schriftlich geschehen solle. Gegen ein geschriebenes › Nein‹ ließ sich so schlecht ankämpfen. In einer persönlichen Begegnung hatte man Gelegenheit, sich auszusprechen und Hindernisse zu beseitigen. Es war daher besser, daß die Angelegenheit mündlich geordnet würde.
Nicht daß Bartstein erwartet hätte, daß nun gleich die Hochzeitsglocken läuten würden. Er war froh, daß, während er früher Sir Ascher ziemlich niedrig eingeschätzt hatte, er jetzt aufrichtige Achtung vor ihm empfand und daß der freimütige Brite nur eine Maske war. Es war der Patriarch aus Palästina, den er suchte, und dem er seine Wünsche und sein Hoffen enthüllen wollte.
Ach, er fand nur den freimütigen Briten, und zwar nicht in liebenswürdiger, sondern in grober Stimmung.
»Es ist vollkommen unmöglich.«
Bartstein, der ganz bestürzt über diese kurze Abweisung war, bat, ihm zu sagen, welches seine Gründe dafür seien. War er nicht fromm, nicht reich, nicht vornehm genug? Oder verweigerte Sir Ascher ihm die Hand der Geliebten, weil er Künstler war? Hielt Sir Ascher das freie Künstlerleben, das er geführt, für kompromittierend, oder zweifelte er an seiner zukünftigen soliden Lebensführung? Sir Ascher möge es ihm offen sagen.
Aber das wollte Sir Ascher eben nicht. »Ich bin nicht dazu verpflichtet, Ihnen meine Gründe zu sagen. Wir sind alle stolz auf Ihr künstlerisches Schaffen, es erhöht das Ansehen unserer Gemeinde. Der Bürgermeister hat erst gestern darauf angespielt.« – Er sprach in gewählter Redeweise und so, als ob er auf der Rednertribüne stände. »Ich erkenne das sehr an. Aber Sie in meine Familie aufnehmen – das ist eine ganz andere Sache.«
Was Bartstein auch redete, er kam nicht weiter mit dem alten Herrn.
»Es würde eine durchaus unpassende Partie sein.« Sir Ascher streichelte seinen langen Bart mit einer Miene, die deutlich verriet, daß er die Angelegenheit hiermit für erledigt halte.
Mit der Ungeduld eines Liebenden hatte Bartstein den Fehler begangen, Sir Ascher in seinem Geschäft aufzusuchen, wo er wie ein Magnat unter seinen Vasallen thronte. Die Altmahagonieinrichtungen, die eisernen Geldschränke, die Arbeitspulte mit den großen Kontobüchern und das Heer der schweigend davorstehenden, mit feierlichem Ernste arbeitenden Kommis und Angestellten, durch die Bartstein zu dringen hatte, dazu die großen Fabrikgebäude mit ihren vielen Maschinen und disziplinierten Arbeitern, all das gab dem freimütigen Briten einen Hintergrund, gegen den des Künstlers Visionen und Träume verblaßten, wie Geister bei der Beleuchtung des Gaslichtes. Der Künstler hatte ein Gefühl, als umgäben ihn die sich immer näher an ihn herandrückenden Mauern einer Folterkammer, und als ob sein Vertrauen, seine Hoffnung und sein ganzes Streben ausgequetscht würden.
»Dann wollen Sie also das Herz ihrer Tochter brechen,« rief er verzweifelt.
»Das Herz meiner Tochter brechen?« wiederholte Sir Ascher erstaunt. Er hatte offenbar die Sache nie von diesem Standpunkte aus angesehen.
Bartstein fuhr, seinen Vorteil wahrnehmend, fort:
»Sie werden doch selbst einsehen, wie schrecklich sie leiden würde –«
»Ihr Herz brechen,« wiederholte Sir Ascher noch einmal aus seiner diskreten Zurückhaltung herausgerissen. »Nun, ich werde eher ihr Herz brechen, als daß ich sie mit einem Zionisten verheiraten würde.«
Jetzt war es der Bildhauer, der überrascht auffuhr.
»Mit wem?« rief er.
»Mit einem Zionisten. Sie werden es doch nicht leugnen wollen, daß Sie ein Zionist sind?«
Bartstein blickte ihn sprachlos an.
»Nun, Sie werden doch nicht glauben, daß ich die jüdischen Zeitungen nicht lese? Ich kenne Ihr Vorgehen ganz genau.«
Der Künstler hatte die Sprache wiedergefunden.
»Aber – aber,« stotterte er, »Sie selbst verlangen doch die Wiederherstellung Zions – –«
»Natürlich; aber es fällt mir darum nicht ein, der Hand der Vorsehung zuvorkommen zu wollen.«
»Wie könnte einer von uns die Vorsehung zwingen, etwas zu tun, was sie nicht zu tun beabsichtigt? Dennoch ist es gewiß, daß sich die Vorsehung der Kraft der Menschen bedient, um ihre Pläne zur Ausführung zu bringen. Gott hilft nur denen, die sich selbst helfen.«
»Sparen Sie sich solche Gotteslästerungen. Vielleicht halten Sie sich selbst für den Messias?«
»Auch ich kann ein Atom des Erlösers sein. Das ganze jüdische Volk ist sein eigener Messias. Gott erlöst uns durch unsere eigene Kraft.«
»Nehmen Sie sich in acht, junger Mann; es fehlt nur noch, daß Sie die Dreieinigkeit anerkennen. Mit solch heidnischen Begriffen glauben Sie, meine Tochter heiraten zu dürfen? Entschuldigen Sie mich, aber ich möchte wirklich nichts mehr davon hören.« Seine Hand suchte nach dem Knopfe einer der auf seinem Schreibtische befindlichen elektrischen Schellen.
»Dann glauben Sie nicht, daß wir jemals zurück nach Palästina gelangen werden?« frug der gereizte Künstler.
Sir Ascher schlug die Augen himmelwärts.
»Doch, sobald es Gott gefällt,« sagte er.
»Wann aber wird das sein?«
»Wenn wir entweder zu gut oder zu schlecht für unsere jetzige Umgebung sein werden. Jetzt sind wir noch zu neutral. Außerdem wird der Herr uns Zeichen geben.«
»Was für Zeichen?«
»Lesen Sie Ihre Bibel. Der Berg Zion wird durch ein Erdbeben zerspaltet werden, wie der Prophet –«
Bartstein unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung.
»Aber warum sollten wir nicht vorher nach Jerusalem gehen und dort das Erdbeben erwarten?« sagte er.
»Weil wir unter allen anderen Nationen dazu berufen sind, eine Mission zu erfüllen. Wir müssen unter allen Völkern zerstreut leben. Wir müssen ihnen einen einigen Gott predigen.«
»Ich habe bisher noch nicht gehört, daß Sie ihn predigen! Sie senkten Ihre Stimme, als Sie die Dreieinigkeit nicht anerkannten, damit die Christen Ihre Worte nicht vernähmen.«
»Unsere Aufgabe ist es, schweigend und nur durch unser Beispiel den Herrn zu predigen. Schon dadurch, daß wir treu an unserer Religion halten, bekehren wir die Welt.«
»Aber wer bleibt seiner Religion getreu? Schon der Umstand, daß wir unter einem Volke leben, das den Sonntag feiert, macht die Heilighaltung des Sabbaths zu einer ökonomischen Unmöglichkeit.«
»Ich habe das nicht gefunden,« sagte Sir Ascher gepreßt. »Ich meine, daß der jetzt überall eingeführte freie Samstagnachmittag, den man in meiner Jugendzeit nicht kannte, nur auf die Einwirkung des Judentums zurückzuführen ist.«
»So glauben Sie, daß wir zerstreut unter den anderen Völkern leben sollen, nur um Propaganda für den freien Samstagnachmittag zu machen?«
»Um internationale Wahrheit zu predigen, nicht enge Stammesbegriffe,« korrigierte Sir Ascher mit scharfer Stimme.
»Aber nicht alle Juden leben unter den Nationen verstreut, wie wir dies hier tun. In Rußland, um damit anzufangen, haben sich volle fünf Millionen Juden niedergelassen.«
»Die Hand Gottes hat sie jetzt wieder zerstreut und nach Newyork gesandt.«
»Ja, vierhunderttausend auf eine Quadratmeile! Eine nette Zerstreuung.«
Sir Ascher wurde ärgerlich. »Sie gehen auch nach Argentinien. Wie ich höre, wird sich sogar in Paraguay eine Kolonie niederlassen.«
»Wo sie den Indianern den einigen Gott predigen können.«
»Ich kann mich wirklich mit einem Spötter nicht über religiöse Angelegenheiten unterhalten. Es ist Gottes Wille, daß wir im Exil leben – wir sind zu leiden berufen.«
»Leiden?« Der Blick des Künstlers schweifte über die solide Einrichtung, in der Sir Ascher die Leiden des Exils ertrug. »Nun wohl, aber wenn wir zu leiden bestimmt sind, warum haben Sie dann einen so großen Beitrag zur Unterstützung der russischen Juden gegeben?«
Es schien Herrn Ascher milder zu stimmen, daß Bartstein wußte, wie großmütig er gehandelt. Er antwortete humoristisch: »Nun, um mit ihnen zu leiden.«
»Sie sind also ein jüdischer Patriot?«
Das Antlitz des treuherzigen Briten verfinsterte sich wieder.
»Gott bewahre! Ich kenne nur einen britischen Patriotismus! Was Sie da reden, junger Mann, ist Hochverrat an Ihrem Vaterlande.«
»Hochverrat?« Der junge Künstler lachte spöttisch.
»Ihr Zionisten seid es, die ihr uns der so mühsam errungenen Rechte im Westen Europas verlustig machen werdet.«
»O, dann sind Sie doch kein rechter britischer Patriot –«
»Ich bitte Sie, sich daran zu erinnern, mein Herr, daß ich ein Korps Freiwilliger für Transvaal equipiert habe.«
»Ich weiß es. Aber wie wäre es damit, ein Korps Freiwilliger für Zion auszurüsten? Nicht wahr, Sie würden das für Gotteslästerung, für kleinherzige Stammesanhänglichkeit halten?«
»Der Boden Zions ist heilig; wir brauchen dort keine Soldaten, wir müssen dort Prediger und Heilige haben. Was sollen denn Ihre Freiwilligen überhaupt in Zion machen? Sollten sie vielleicht gegen den Sultan und seine Million Soldaten kämpfen? Die Juden könnten selbst als einfache Bürger in Palästina nicht leben. Es gibt dort weder Kohlen noch Eisen, infolgedessen keine Fabriken. Ackerbau? Das Land ist entweder steinig und unfruchtbar oder sumpfig. Außerdem ist es dort viel zu heiß, als daß die Juden auf dem Felde arbeiten könnten. Sie würden dort einfach verhungern. Sie haben kein Recht, rücksichtslos mit menschlichem Leben zu spielen. Überdies könnten die Juden, selbst wenn Palästina so fruchtbar wie England wäre, nicht einer vom anderen leben. Bedenken Sie nur, wie sie sich untereinander zanken würden.«
Als Sir Ascher endete, hatte er seine gute Laune beinahe wiedergefunden. Ihm erschienen seine Argumente unwiderlegbar und gewichtig wie Hammerschläge zu sein.
»Wir könnten der eine vom anderen leben, ebensogut wie jedes andere Volk. Was das Zanken betrifft – nun, waren Sie nicht selbst Mitglied des Parlaments? Der Zank der Parteien ist die Basis der Konstitution.«
Sir Ascher fuhr auf. Er war so lange Zeit maßgebend, daß er auf irgendwelchen Angriff nicht vorbereitet war.
»Wir würden eine schöne Regierung abgeben!« zischte er.
»Warum? In den Kabinetten der ganzen Welt hat es jüdische Minister gegeben.«
»Ja – das geht, solange wir uns den anderen unterordnen!«
Sir Ascher gewann seine Ruhe wieder.
»Es geht, solange wir uns den anderen unterordnen?« fragte der Künstler empört. »Sind Sie sich über den Sinn Ihrer Worte ganz klar, Sir Ascher? Die Boeren, gegen die Sie ein Korps Freiwilliger equipiert haben, haben volle drei Jahre verzweifelt gekämpft, um sich nicht unterordnen zu müssen! Und wir! Der bloße Gedanke an eine jüdische Selbstherrschaft erregt schon unseren Grimm. Wir drehen uns im Grabe, das wir unser Vaterland nennen, bei der leisesten Idee um, die Unabhängigkeit unseres Volkes zu erringen.«
Sir Ascher ließ das Gesprächsthema mit einer abwehrenden Handbewegung fallen. »Das ist Wortverschwendung. Glücklicherweise ist die Erwerbung Palästinas unmöglich.«
»Weshalb beten Sie denn dafür: ›rasch und zu unseren Tagen‹?«
Sir Ascher starrte den kecken Fragesteller an.
»Das scheint mir unbedingt größere Wortverschwendung zu sein,« fügte Bartstein trocken hinzu.
»Ich sagte es ja, daß Sie ein Spötter sind,« meinte Sir Ascher sehr ernst. »Ich bete für ein göttliches Ereignis – nicht für die Errichtung eines neuen Ghettos.«
»Eines Ghettos!« Bartstein seufzte tief, er begriff, daß jede Hoffnung auf Verständigung ausgeschlossen sei. »Ja, Sie sind auch ein Antisemit, wie Ihre Tochter, wie Ihr Sohn, wie wir alle! wir sind alle Antisemiten.«
»Ich ein Antisemit? Ha, ha, ha!« Sir Aschers Ärger verwandelte sich in ausgelassene Fröhlichkeit. Nach einer Weile jedoch schlug er wieder einen magisterartigen Ton an und meinte:
»Ich habe der Erregung, in der Sie sich offenbar befinden, die weitgehendsten Konzessionen gemacht, ich bin doch selbst einmal verliebt gewesen. Wenn Sie aber so weit gehen, mich einen Antisemiten zu nennen, so ist es offenbar die höchste Zeit, daß wir unser Gespräch beendigen. In der Tat, mich wundert es nicht, wenn Sie sich selbst für den Messias halten.«
»Selbst wenn ich es täte, wäre es nicht gegen unsere Tradition, die auch in dem Messias nur einen Menschen sieht, also müssen Sie eines Tages an einen Mann glauben. Was ich übrigens behauptete, war nur, daß Gott sich durch den Menschen offenbare.«
»Ach ja,« sagte Sir Ascher lustig. »Drei in einem und einer in drei.«
»Warum denn nicht,« antwortete Bartstein mit einem plötzlichen Einfalle. »Repräsentieren Sie nicht selbst eine Dreieinigkeit?«
»Ich selbst?« Sir Ascher zweifelte nun nicht mehr daran, daß es nicht ganz richtig mit dem Verstande des Bildhauers sei.
»Ja – der Brite, der Jude und der Antisemit, drei in einem und einer in drei.«
Sir Ascher drückte rasch auf den Knopf der elektrischen Schelle. Er war ernstlich beunruhigt.
Bartstein wurde blaß vor Wut über die Art der Entlassung. Nein, er würde niemals in diese dreieinigen Stämme hineinheiraten. »Es ist dasselbe in allen Ländern, wo wir uns, wie Sie das so nennen, emanzipiert haben,« fuhr er zornig fort. »Wo immer er sein mag, der Jude ist überall Patriot, Jude und Antisemit. Er ist ein leidenschaftlicher Ungar und Italiener, ein adlerschwingender Amerikaner und loyaler Franzose, ein kaisertreuer Deutscher und echter Holländer. Wir sind in alle Welt verstreut, um den einigen Gott zu predigen, und dabei illustrieren wir die jüdische Dreieinigkeit. O, des köstlichen Spottes, drei in einem und einer in drei!« – Er lachte laut; Sir Ascher schien es, als ob es das Lachen eines Wahnsinnigen sei. Der alte Herr beruhigte sich erst, als er seinen handfesten Türhüter eintreten sah.
Bartstein drehte ihm verächtlich den Rücken. »Ohne die Personen zu verwechseln oder die Substanz zu teilen,« endete er grimmig.