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Der Becher des Elias.

 

I.

Aaron Ben Amram nahm das gebratene Lammviertel und das Ei (Symbole des Passahfestes und der alten Festopfer in dem Tempel) von der großen rituellen Schüssel, und während seine Frau und die Kinder die Platte, auf der jetzt nur noch bittere Kräuter und ungesäuertes Brot lagen, hochhielten, begann er die Chaldäische Einleitung zu der Seder – dem langen Hausgottesdienste des Passahabends.

»Dies ist das Brot der Trübsal, das unsere Väter in dem Lande Ägypten gegessen haben. Mögen alle, die hungrig sind, hereinkommen und davon essen; mögen alle, die sich danach sehnen, kommen und das Passahfest mit uns feiern. Dieses Jahr hier, nächstes Jahr in dem Lande Israels! In diesem Jahre Sklaven, aber im nächsten Jahre Söhne der Freiheit!«

Der polnische Arzt hatte übrigens durchaus keine Ähnlichkeit mit einem Sklaven. Mit seinem weißen Barte, einem weißen Mützchen auf dem Kopfe und in einen weißen Kaftan gehüllt, machte er, auf weißen Kissen thronend, vielmehr den Eindruck einer königlichen Gestalt, und in der Tat betrachtete er sich selbst an diesem höchsten Festabende wie einen »König« und seine Frau wie eine »Königin«.

Aber »Königin Golda« teilte trotz ihres schweren Seidenkleides und der mit Blumen geschmückten Haube keineswegs die behagliche Festesstimmung und die Ruhe ihres Eheherrn, noch viel weniger die strahlende Fröhlichkeit der rosigen Kinder, die um den festlich hergerichteten Sabbattisch saßen. Ihr Herz wurde von einer bangen Ahnung bedrückt, die sich weder durch die Hymnen des Vaters noch durch die eigentümlichen, im Chore von der Familie abgeleierten Gebete beschwichtigen ließ. Es war ja auch wirklich ein Glück, daß die unschuldigen Kinder nichts von der Furcht wußten, die sie erfüllte – aber wie war es möglich, daß ihr Mann die Schrecken der » Blutanklage« vergaß, die schon einmal an diesem Orte gegen die Juden erhoben worden, und zwar gerade in dem Jahre, als er sie unter den Traubaldachin geführt hatte. Gewiß, er wußte so gut wie sie, daß man diese gräfliche Legende wieder aufgefrischt hatte, da der unabläßlich wachsende Judenhaß nach einem Ausdruck suchte. Waren doch die Pritzcim (Edelleute) in ihren großen Häusern und die Bauern hinter ihren hohen Zäunen gleichverschuldet und in den Händen jüdischer Wucherer. Hatte man sich nicht auf dem Passahmarkte überall die alte, alte Geschichte von einem verlorenen Christenkinde zugeraunt? Es war noch nicht ermordet, Gott sei Dank, man hatte seine Leiche nicht gefunden. Aber doch, wenn der Zufall es wollte, daß man einen Knaben fände, dem auf irgendeine Weise von irgendwem eine Verletzung beigebracht worden, gerade jetzt zur Zeit des Passahfestes, wo die griechische Kirche den Tag der Kreuzigung feierte! O Gott Abrahams! Schütze uns vor der entfesselten Wut unserer Feinde!

Aber der erste Teil der rituellen Festfeier, der in angenehmer Weise durch Schalen süßen Rosinenweins, die man einander zutrank, unterbrochen wurde, ging friedlich vorüber, und zur großen Befriedigung der Kinder wurde nun die Abendmahlzeit auf den Tisch gesetzt.

Sie begannen lustig zu plaudern und die jährlich wiederholten kleinen Scherze zu machen. Der Meerrettich war ein Symbol der Bitterkeit der Ägyptischen Knechtschaft und die köstliche Mischung von Mandeln, Rosinen, Äpfeln und Zimt eine allerdings etwas gewagte Erinnerung an den Mörtel, den die Kinder Israels zu ihrer Sklavenarbeit verwendeten; sie freuten sich über die in Salzwasser eingelegten Eierscheibchen, und als alle Symbole pflichtschuldigst verspeist waren, machten sie sich mit etwas prosaischerer Befriedigung über die Fisch- und Fleischgerichte, die aber, weil sie auf den nur zum Passahfeste benutzten Schüsseln und Tellern hergerichtet waren und mit den ebenfalls nur an diesem Tage benutzten Messern und Gabeln gegessen wurden, einen erhöhten Reiz ausübten.

Um diese Zeit hatte sich Golda etwas beruhigt, und sie dachte daran, wie sie am besten ihren jährlichen Diebstahl des Afkuman ausführen könne, jenes Kreisabschnittes des Passahkuchens unter Aarons Kissen, von dem, als letztem an diesem Abend genossenen Bissen, sie später kleine Bröckchen verteilen würde, ein Symbol des zum Schlusse des alten palästinischen Festmahles genossenen letzten Stückchens des Osterlammes. –

 

II.

Aber Elias' Becher stand immer noch unberührt auf der Mitte des Tisches. Jedesmal, wenn, wie das Rituell es forderte, man einander zutrank, hatten die Kinder erwartungsvoll auf den großen silbernen Becher geschaut, der für den Propheten der Erlösung bestimmt war. Ach, der bis zum Rande eingefüllte Rosinenwein wollte nicht weniger werden.

Sie trösteten sich mit dem Gedanken, daß der große Augenblick noch kommen würde – der Augenblick, wo man zum dritten Male einander zutrinken würde; dann würde die Mutter die Tür weit öffnen, der Vater würde aufstehen, den Becher hochhalten und mit feierlicher Stimme den unsichtbaren Gast begrüßen.

Freilich, auch in den früheren Jahren, wo sie in ihrer erwartungsvollen Erregung manchmal geglaubt hatten, das Rauschen von Engelsschwingen zu empfinden, war der große leuchtende Becher bis zum Rande gefüllt geblieben, und wenn der Vater ihn dann auf das weiße Tischtuch zurücksetzte, erfüllte ein gewisses gekränktes Ehrgefühl die jungen Herzen, weil der Prophet die ihm dargebotene Gastfreundschaft verschmäht hatte. Es ließen sich allerdings viele Gründe zur Entschuldigung Elias' finden – man brauchte nur der eigenen Sündhaftigkeit zu gedenken – aber als jetzt Ben Amram seiner Frau zunickte, die Tür zu öffnen, da schlugen die leichtgläubigen jungen Herzen in fieberhafter Erwartung dessen, was der nächste Augenblick bringen würde. –

Aber auch das Herz der Mutter klopfte heftig, wenn auch aus einem anderen Grunde.

Als sie den Samovar in die nach dem Polnischen Viertel gelegene Küche zurückgebracht, hatte sie von dorther das Geräusch eines näherkommenden Tumultes gehört, das all ihre Befürchtungen neu erweckte und sie veranlaßte, nur die Tür des Zimmers zu öffnen. Aber Ben Amram war nicht zerstreut genug, um sich durch ihren scheinbaren Gehorsam irreführen zu lassen. Außerdem konnte er durch die geöffnete Zimmertür auf die geschlossene Haustür sehen. Er winkte ihr zu.

Aber sie tat, als ob sie müde sei. »O das tut ja nichts«, sagte sie.

»David, öffne die Straßentür.«

Der älteste Knabe sprang fröhlich auf. Es würde zu schlimm gewesen sein, wenn Mutter den Elias draußen warten ließe.

»Nein, nein, David!« Golda hielt ihn zurück. »Es ist zu schwer, du kannst die Riegel und die Eisenstange nicht zurückschieben.«

»Wie, du hast die Tür verriegelt?« fragte Ben Amram.

»Warum nicht? Du weißt doch, daß in dieser Jahreszeit die Heiden toll wie Hunde werden.«

»Puh! Sie werden uns nicht beißen.«

»Aber, Aaron! Hast du nicht von dem verlorenen Christenkinde gehört!«

»Ich habe vielen christlichen Kindern das Leben gerettet, Golda.«

»Dessen werden sie sich nicht erinnern.«

»Aber ich darf den Ritus nicht vergessen«, er machte eine Bewegung nach der Tür.

»Nein, nein, Aaron! horch! was ist das?«

Ein seltsamer Lärm, das Geräusch schriller Stimmen schien sich jetzt vorn vor der Front des Hauses zu nähern. Er zuckte die Achseln.

»Ich höre nur das Meckern von Ziegen.«

Er stand auf, um zur Tür zu gehen, aber sie hing sich an ihn. »Um unserer Kinder willen!«

»Sei doch nicht selbst kindisch, meine Krone.«

»Ich bin nicht kindisch. So höre doch!«

Er lächelte ruhig: »Die Türe muß geöffnet werden.«

Die Furcht machte sie skeptisch: »Du bist es, der kindisch ist. Du weißt es recht gut, daß der erlösende Prophet nicht durch die Tür kommen wird.«

Er streichelte seinen ehrwürdigen Bart, »Wer weiß?«

»Ich weiß es. Es ist der Zerstörer, nicht der Erlöser Israels, der kommen wird! So höre doch nur? Ach, Gott Abrahams! Hörst du denn nicht?«

Es war unverkennbar, daß das Heulen einer aufrührerischen Volksmenge rasch näher kam; dazwischen tönten die Klänge einer Ziehharmonika.

»Nieder mit den Juden! In den Tod mit den schmutzigen Juden.«

»Gott im Himmel!« – Sie ließ ihren Mann los und lief auf die Kinder zu, mit einer Bewegung, als wolle sie alle mit ihren Armen umfassen. Als sie dann hörte, wie ihr Mann die Riegel zurückzog, wandte sie sich mit einem Schrei zurück. »Bist du verrückt, Aaron?«

Er aber wies sie mit einem ernsten Blicke zurück, riß mit seiner Linken die Tür weit auf, während die Rechte Elias' Becher erhob, und über das Lärmen des noch unsichtbaren, aber immer näherkommenden Menschenhaufens weg tönte laut sein hebräischer Willkommsgruß: »Baruch habaa!«

Kaum hatte er den Gruß gesprochen, als eine in wilder Flucht dahineilende Gestalt in reich mit Pelz verbrämtem Rocke um die Straßenecke herum und dann ihm entgegenlief und ihm beinahe in die Arme fiel, so daß der Wein halb verschüttet wurde.

»In Gottes Namen, Reb Aaron«, keuchte der Flüchtling und fiel halbtot auf der Schwelle nieder.

Der Arzt zog ihn schnell herein und schlug die Tür zu, während zwei Muschiks, betrunkene Führer der Hetze, daran vorbeistürmten. Die Mutter sprang sofort hinzu und legte in größter Hast die Riegel vor; im nächsten Augenblicke schon war der tobende, nachstürmende Haufen an dem Hause vorbeigerast, und sein Geschrei verlor sich in der Entfernung.

Ben Amram richtete das bleiche mit Blut befleckte Antlitz des Flüchtlings auf und hielt Elias' Becher an seine Lippen. Der fremde Gast trank ihn bis zum letzten Tropfen begierig aus, während die ängstlich aneinandergedrückten Kinder erstaunt zusahen. Das Licht der auf dem Passahtische stehenden festlichen Kerzen fiel auf das bleiche Antlitz des Fremden; es war glattrasiert, und er trug sogar keine Seitenlocken.

»Maimon, der Meschummad!« (der Abtrünnige) rief die Mutter zurückschaudernd. »Du hast den Apostaten gerettet!«

»Sagte ich nicht, daß die Tür geöffnet werden müsse«, erwiderte Ben Amram freundlich. Dann glitt ein humoristisches feines Lächeln um seine Lippen, und er streichelte seinen weißen Bart. »Maimon ist der einzige Jude, der an dem heutigen Abende draußen ist, und wie sollen die armen betrunkenen Bauern es wissen, daß gerade er sich taufen ließ?«

Obwohl ihnen vor einem Ketzer graute, so waren doch David und seine Geschwister im Grunde sehr froh, daß Elias' Becher nun endlich leer geworden war.

 

III.

Am nächsten Morgen wurde in der großen überfüllten Synagoge der Passah-Gottesdienst gefeiert. Trotz des lärmenden Pöbels, der sich am Abend vorher durch die Straßen getrieben, war doch keinerlei Gewalttätigkeit verübt worden. Das Ghetto sollte also nicht mit Feuer und Schwert verwüstet werden; die Gläubigen in ihrem von moosbewachsenen Türmchen behüteten Synagogenplatze atmeten befreit auf, und ihre befransten Gebetschals hin und her schwingend, erhoben sie die Hände, um dem Allerhöchsten in rhythmischen Gebeten für ihre Rettung von Egypten zu danken. Die Bundeslade, die am oberen Ende des großen Gebäudes stand, über der die zehn Gebote hingen und eine ewige Lampe brannte, war enthüllt worden, um die Feier dieser Andacht zu erhöhen. Ben Amram hatte die Ehre gehabt, den Vorhang von dem heiligen Schrein zu ziehen, dessen reichgeschmückte Rollen in allen Größen mit ihren silbernen Glöckchen und Senkeln nun in ihrer ganzen Herrlichkeit sichtbar waren.

Die festlich gekleideten Frauen blickten durch das kunstvolle Gitter ihrer Galerie auf die sich im Gebete hin und her wiegenden Männer herab, während der Kontor von der in der Mitte der Synagoge befindlichen hohen Estrade assistiert von seinen männlichen Ministranten seine Loblieder erschallen ließ. Plötzlich mischte sich in den Gesang des Kantors, in das Gebetemurmeln der Gemeinde von außenher ein anderes wunderliches Geräusch. Es war als ob Kavallerie sich nahe, man vernahm das Stampfen von Pferdehufen, hörte deutlich kurze militärische Kommandos. Die sich hin und her wiegenden Gestalten wandten sich alle plötzlich nach einer Seite, die Augen der Frauen erstarrten vor Schrecken, alles blickte dem Eingange zu, dann aber, o des unerhörten schrecklichen Anblickes! flog plötzlich die große Eingangspforte weit auf, und zwei zu zweien ritt langsam eine Schwadron Kosacken herein. Der geheiligte Boden der Synagoge dröhnte unter den schweren Huftritten ihrer Pferde. Ihre schwarzen kegelförmigen Mützen, ihre langen Bärte, ihre großen an der Seite zugeknöpften Waffenröcke, deren Taschen mit Patronen vollgestopft waren, ihre rasselnden Säbel, die sich bäumenden Pferde und ihre mit Blei beschwerten Knuten verbreiteten einen panischen Schrecken unter den betenden in weiße Tücher gehüllten Gestalten. Die ganze Gemeinde verstummte plötzlich, für einen Augenblick noch vernahm man die Stimme des Vorsängers, dann aber wandte auch dieser befremdet den Blick dem Eingange zu, und sein Gesang brach jäh ab.

»Halt!« kommandierte der Offizier. Die Kosacken zügelten sofort ihre Pferde. Sie erfüllten den ganzen zwischen dem Eingang und der Mitte befindlichen Raum und blockierten das Seitenschiff der Synagoge. Aus dem Hofe ertönte der Widerhall der Huftritte der Nachhut, die das Armenhaus und die Schule besetzt hielten. Der Schames (Küster) trat den verwegenen Eindringlingen entgegen.

»Warum stört Eure Exzellenz uns in unseren Gebeten zu Gott,« sagte er mit Würde.

Die Gemeinde faßte sich plötzlich wieder.

Wer hätte den roten Judas einer solchen Sprache, eines solchen Mutes für fähig gehalten? Selbst der Rabbi war wie versteinert, und die Ältesten standen sprachlos da. Auch Ben Amram, der die Gemeinde bei der Regierung vertrat, er, der ein seidenes Gewand trug und dessen Gebetsschal mit einem silbernen Bande gestickt war, stand still zwischen den Pfeilern der Bundeslade und blickte mit unbewegtem Antlitz auf den tapferen Küster.

»Zuerst kommen wir, um euch zur Rechenschaft zu ziehen für das vergossene Blut des Knaben.«

Die Worte wurden mit militärischer Kürze gesprochen, und das Roß des Redners scharrte mit den Hufen, als ob es ungeduldig der Entwicklung des Dramas entgegensähe Die Männer wurden leichenblaß, die Frauen rangen verzweifelt die Hände.

»Au weih geschrien,« stöhnten sie. »Wehe, wehe!«

»Welcher Knabe? Wessen Blut ist vergossen worden?« sagte der Schames, ohne sich einschüchtern zu lassen.

»Mach keine hinterlistige Ausrede du Schuft. Du weißt es wohl, daß ein Christenkind verschwunden ist.«

Der alte Rabbi, der durch das Vorgehen des Schames nun ebenfalls Mut gewonnen hatte, erhob seine zitternde Stimme.

»Das Kind wird ganz gewiß gefunden werden – wenn es überhaupt verloren ist,« fügte er mit bitterem Sarkasmus hinzu. »Ganz gewiß wird Eure Exzellenz das Blut des Knaben nicht von uns fordern, ehe Eure Exzellenz sich davon überzeugt haben, daß es wirklich vergossen worden.«

»Du mißverstehst mich, alter Hund – oder vielmehr du gibts vor, mich mißzuverstehen, alter Fuchs! Das Blut des Knaben ist hier – es ist in dieser Synagoge, um zu rituellen Zwecken benutzt zu werden, und ich bin gekommen, es zu holen.«

Der Schames lachte laut: »O Exzellenz!«

In der ganzen Synagoge atmete man auf, und alles lachte.

»In dieser Synagoge, Exzellenz, gibt es kein anderes Blut als das, was durch die Adern der Lebenden fließt.«

»Wir werden sehen. Bringt die Flasche her, die dort neben der Bundeslade steht.«

Der Schames grinste. »Herr, darin ist der Opferwein – roter Wein – so rot wie mein Bart.«

»Haha! roter Opferwein«, wiederholte die Synagoge leise lachend, und selbst von der Galerie der Frauen herab tönte ein schüchternes, befriedigtes Kichern.

»Wir werden sehen«, wiederholte der Offizier mit eiserner Ruhe und einer Zuversicht, die eine geradezu erschreckende Wirkung ausübte, denn unter der ganzen Gemeinde verbreitete sich plötzlich die Furcht, das Opfer eines teuflischen Verrates geworden zu sein, eines Verrates, der das Ghetto der Wut seiner fanatischen Schuldner, ja sogar der Rache des Gesetzes überantworten würde.

Der Offizier ergriff wieder das Wort: »Keiner wage es, die Synagoge zu verlassen – weder Mann, Weib noch Kind. Tötet jeden, der einen Fluchtversuch wagt.«

Von der Galerie herab tönte ein Klagegeschrei, viele Frauen wurden ohnmächtig, aber der Offizier lenkte kaltblütig, und ohne Notiz davon zu nehmen, sein Pferd der Bundeslade zu. Dort angekommen, sprang er aus dem Sattel, öffnete den kleinen neben den Gesetzesrollen befindlichen Schrein und nahm eine darin befindliche, mit häßlicher roter Flüssigkeit gefüllte Flasche heraus.

»Das ist der Opferwein, was?« sagte er grimmig.

»Was denn sonst?« erwiderte ruhig der Schames, der ihm gefolgt war.

Ein wildes Lachen tönte von den Lippen des Offiziers. »So trink mir einen Schluck daraus zu.«

Mit einem verächtlichen Achselzucken ergriff der Schames die Flasche. Die Augen der ganzen Gemeinde waren auf ihn gerichtet; nur die Frauen auf ihrer Galerie verhüllten angstvoll das Gesicht. Alle hielten den Atem an.

Seine ungläubig amüsierte Miene bewahrend, ergriff der rote Judas die Flasche und tat einen herzhaften Schluck daraus. Kaum aber hatte die darin enthaltene Flüssigkeit seine Lippen berührt, als sein Lächeln schwand und sein Gesicht sich förmlich verzerrte. Er ließ die Flasche fallen, streckte die Arme verzweifelt himmelwärts, und mit dem heiseren Schrei: »Gnade, o Gott!« fiel er bewußtlos vor der Bundeslade nieder. Schaum stand vor seinem Munde. Die aus der zerbrochenen Flasche entströmende Flüssigkeit verbreitete sich in einer roten Lache über den Fußboden.

»Höre, o Israel!« Ein Schrei des Entsetzens ging durch die Gemeindemitglieder und tönte schrill von der Galerie herab. Allmächtiger Vater! So hatten die Judenfeinde wirklich einen teuflischen Streich ausgeführt. Die Männer wehklagten wie die Weiber, sie schrien, rangen die Hände und riefen: »Au waih! Ai! Gewalt!« Der Rabbi zitterte wie Espenlaub: »Satan, Satan!« rang es sich von seinen bleichen bebenden Lippen.

Jetzt erst schien Leben in die Gestalt Ben Amrams. des Arztes, zu kommen. Er trat einen Schritt voran, neigte sich über die rote Flüssigkeit und sagte dann ruhig: »Aber, Exzellenz! Ein Soldat muß doch wissen, wie Blut aussieht.«

Ein halbes Lächeln flog über die Züge des Offiziers. »Jedenfalls weiß ein Soldat, wie Wein aussieht,« sagte er, sich herabneigend und die Flüssigkeit beschnüffelnd.

In der Tat, der stark gewürzte Duft des Opferweines verwirrte die Nächststehenden.

»Eure Exzellenz haben den armen Judas so erschreckt, daß er einen Anfall bekommen hat,« sagte der Arzt, das Haupt des Küsters an seinem langen roten Barte in die Höhe ziehend.

Seine Exzellenz zuckte die Achseln, sprang in den Sattel und befahl den Rückmarsch. Die Kosacken, die in dem engen Kirchengange ihre Pferde nicht wenden konnten, verließen rückwärts reitend unter Hufgetrampel und Säbelklirren die Synagoge, und ehe die Versammlung die Augen getrocknet hatte, war die letzte Kosackenmütze und mit Blei beschwerte Knute aus der Synagoge verschwunden, und nur der Teergeruch ihrer Stiefel legte Zeugnis dafür ab, daß sie überhaupt den Frieden der Gemeinde gestört hatten. Für einen Augenblick herrschte tiefe Stille, dann aber brach ein Sturm von Ausrufen und Reden los. Alle sprachen durcheinander.

Aber Ben Amrams helle Stimme übertönte alles. »Brüder,« rief er laut. Er hatte die schäumenden Lippen des immer noch wie tot Daliegenden mit sanfter Hand abgewischt; nun erhob er sich in seiner ganzen Größe, und die Hände wie beschwörend erhebend, mit dem begeisterten feurigen Ausdrucke eines Sehers um sich blickend, rief er laut: »Brüder, der Herr hat uns errettet!« Alle schwiegen und horchten seinen Worten.

»Gesegnet sei der Name des Herrn, von Ewigkeit zu Ewigkeit,« begann der Rabbi, und die ganze Versammlung wiederholte laut diese Worte.

»Nun aber hört mich,« begann Ben Amram wieder. »Als ich gestern abend bei der Sederfeier die Tür meines Hauses weit öffnete, um dem Propheten Elias Einlaß zu gewähren, da flüchtete Maimon, der Meschummad (der Apostat), sich in mein Haus. Er war es, der den Becher Elias' trank.«

Wieder erhob sich ein Sturm von Verwünschungen. »Ein netter Elias,« rief der Rabbi.

»Aber so begreift doch, daß Gott uns den Propheten der Erlösung unter seltsamer Verkleidung sendet,« sagte der Arzt, »Hört meinen Worten. Maimon wurde von dem betrunkenen Haufen verfolgt, der nicht wußte, daß er ein Abtrünniger unserer Religion ist. Als er erfuhr, wie es gekommen, daß ich ihn gerettet hatte und nachdem ich sein blutendes Gesicht gewaschen und verbunden hatte, da fiel sein Blick auf den Passahtisch; die Erinnerung an die Kinderzeit erwachte in ihm, und unter glühenden Tränen gestand er mir den teuflischen Plan, den einige unserer Schuldner gegen die Juden ausgeheckt und der durch seine Hilfe zur Ausführung gebracht werden sollte. Zuerst hatte man überall ausgestreut, daß ein Christenkind vermißt werde, und dann verbreitete man ebenso geschickt das Gerücht, daß die Juden dieses Kind getötet hatten, weil sie seines Blutes zu rituellen Zwecken bedürften, und daß dieses Blut neben unserer Bundeslade zu geheimnisvollem Kultus aufbewahrt werde, während wir nun alle fröhlich um den Sedertisch saßen, hatte man geschickt die den Opferwein enthaltende Flasche entleert und sie statt des Weins mit Blut gefüllt – es war wie eine Bombe, die explodieren und uns alle zerstören sollte.«

Ein Schauer durchrieselte die in der Synagoge Versammelten.

»Aber der Wächter Israels, der uns gestattet, am Passahabende ohne Abendgebet einzuschlafen, schlummert und schläft nicht. Maimon hatte den Schames bestochen, damit er ihn in die Synagoge einlasse, um den Wein mit Blut zu vertauschen.«

»Der rote Judas!« rief alles in wilder Wut. Einige schienen sich sogar auf den noch immer in Zuckungen sich windenden Elenden werfen zu wollen.

»Zurück, zurück!« rief Ben Amram. »Der Allmächtige hat ihn geschlagen.«

»Die Rache ist mein, sagt der Herr«, zitierte der Rabbi feierlich.

»Der rote Judas hatte nicht den rechten Glauben an den Gott Israels,« fuhr der Arzt fort.

»Möge er uns allen als Sühnopfer dienen!« rief der Vorsänger.

»Amen,« heulte die Versammlung.

»Für 100 Rubel und das Versprechen persönlicher Sicherheit gestattete der rote Judas Maimon, dem Meschummad, die Flaschen zu vertauschen, während Israel bei der Seder saß. Da nun der Pöbel sah, daß der Meschummad sich aus der Synagoge schlich, hielt man ihn für einen besonders frommen Juden und verfolgte ihn deshalb. Beachtet es wohl, meine Brüder, wie seltsam der Herr die Fäden durcheinanderwebt. Nachdem der reuige Sünder mir alles gebeichtet und erklärt hatte, wie die Kosacken in die Synagoge eindringen und alle hilflos darin Versammelten niedermachen sollten, hielt ich es für am einfachsten, die Flaschen noch einmal zu vertauschen. Die falsche Flasche enthielt nur Ochsenblut, aber das würde vollständig hingereicht haben, um die Wut der Christen gegen uns zu entfesseln. Da ich es bin, der des gesegneten Vorrechtes genießt, den Opferwein spenden zu dürfen, so war es leicht genug, Maimon mit einer anderen Flasche zu versorgen, und mit dieser bewaffnet, weckte er den Schames in der Dämmerung und sagte ihm, daß es ihm gelungen sei, nun wirkliches Menschenblut aufzutreiben. Mit Hilfe einiger Rubel gelang es ihm, sich abermals die Schlüssel zu verschaffen, und als er dann die Flasche mit Ochsenblut hierhin brachte, sah ich in größter Ruhe den kommenden Dingen entgegen.«

»Lobet den Herren, denn er ist freundlich«, sang der Vorsänger.

»Und seine Güte währet ewiglich«, stimmte gewohnheitsmäßig die Versammlung ein.

»Ich konnte es nicht voraussehen, daß der Schames sich, seine Schuld zu verbergen, mit so frecher Stirne vordrängen oder daß man ihn zum Trinken auffordern würde. Aber als der Epikuräer die Flasche in der festen Voraussetzung, Blut darin zu finden, an die Lippen setzte und nun guter roter Wein darin war, da wurde er sich plötzlich mit Grauen bewußt, daß der Gott Israels über seinem Volke wacht, und daß er ein Wunder vollbrachte, indem er das Blut in Wein verwandelte?«

»Und der Herr hat wirklich ein Wunder vollbracht, du aber bist das Werkzeug, dessen er sich dabei bediente«, rief der Rabbi, die Hand des Arztes drückend, und die Synagoge widerhallte von dem Rufe: »Möge deine Kraft wachsen!« und von der Galerie tönten Segens- und Glückwünsche herab.

»Kein Wunder,« fuhr der Arzt fort und beugte sich noch einmal über das geisterhaft blasse Antlitz, das von den langen Gebetlocken wie von roten Schlangen umringelt erschien, »kein Wunder, daß der Schrecken vor dem Zorne des Allmächtigen ihn überwältigte und er vom Schlage getroffen wurde.«

Während man die krampfhaft zuckende Gestalt hinaustrug, fing der Vorsänger an, das auf die Erlösung folgende Dankesgebet zu sprechen. Dann wurden die üblichen Freudenhymnen angestimmt, die Chorsänger riefen »Pom!« und es ging wie die schöne Hoffnung eines besseren Lebens durch die Synagoge. Der ausgestreckte Arm und die mächtige Hand dessen, der Israel einst aus der ägyptischen Knechtschaft geführt, wachte immer noch über seinem Volke, und der Prophet Elias würde nicht zögern, wenn die Stunde gekommen war, die Ankunft des verheißenen Messias zu verkünden.


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