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Die folgenden Blätter sollen keine Lebensbeschreibung im gewohnten Sinne des Wortes sein. Ein Gelehrtenleben, wie das des Verfassers, bietet keinerlei Motive, die in ihm selbst gelegen besondere Anlässe zur Schilderung ihres Verlaufs bilden könnten. Die Motive, die es bieten möchte, um sie für die Nachkommen festzuhalten, sind teils äußere Ereignisse, die er miterlebt hat, teils die Ergebnisse der Arbeit, um die er sich bemüht hat. Ein solches Leben zu schildern erweckt aber nur insofern ein allgemeineres Interesse, als der Geist der Zeit irgendwie in dasselbe eingegriffen hat, und auf diese Eigenschaft kann der Verlauf meines Lebens wohl Anspruch machen, wenn ich aus demselben die Vorgänge, die ich erlebt habe, und die Ereignisse, in die es mir einzugreifen vergönnt war, in Betracht ziehe. Unter diesem Gesichtspunkte würde es aber ohne besonderen Wert sein, wenn ich im folgenden den so oft gemachten Versuch, Tag für Tag oder Jahr für Jahr zu schildern, wiederholt hätte. Vielmehr ordnen sich hier von selbst die Inhalte dieses Lebens in einzelne Folgen, die verschiedenen Lebensgebieten angehören. Mag es auch an einem inneren Zusammenhang, der solche Lebensausschnitte verbindet, nicht fehlen, so bieten diese doch keineswegs selbst eine äußerlich erkennbare Verbindung, sondern diese ergibt sich erst aus dem Totaleindruck des Ganzen für den Leser, der sich selbst dieses Ganze zusammenfügt. Es ist, wenn ich hier Ausdrücke gebrauchen darf, die ich in den folgenden Blättern des öfteren angewandt habe, eine Resultante oder eine Kollektiveinheit, die dem aufmerksamen Leser nicht entgehen wird, auf die ihn aber der Verfasser nicht erst hinzuweisen braucht, und die in dem "Erlebten und Erkannten" ihren Ausdruck finden soll. Das Erlebte ist das nächste, was ihm die Götter beschieden, das Erkannte das Bessere, was sie ihm vergönnt haben. Will der Leser beurteilen, was der Autor aus seinem Leben gemacht hat, so mag er als das Material, aus dem er seine Schlüsse zieht, das Verhältnis in Betracht ziehen, in welchem das Erkannte zu dem Erlebten steht. Er wird dann zugleich den richtigen Standpunkt finden, um auch die Irrtümer und Mängel zu verstehen, von denen dieses Leben nicht frei ist. Sollte er selbst das Motiv in den Vordergrund stellen, das für ihn sein Leben lang das wirksamste war, so ist es nicht zu jeder Zeit, aber doch auf den Höhepunkten dieses Lebens das politische, die Teilnahme an den Interessen von Staat und Gesellschaft gewesen, die den Schreiber dieser Zeilen gefesselt hat. Sie hat den Verfasser in das Leben geleitet. Sie hat zu wiederholten Malen wirkungsvoll in dieses eingegriffen, und sie ist ihm wiederum nahegetreten, als Sich dieses Leben dem Ende näherte.
Leipzig, im August 1920.
W. Wundt.
Der bekannte Maler Wilhelm Tischbein berichtet in seiner Selbstbiographie, das früheste Ereignis, das sich seinem Gedächtnis unzerstörbar eingeprägt habe, sei ein Fall zur Erde gewesen, den er getan, als man ihm das aufrechte Stehen und Gehen lehren wollte. Man habe ihn an eine zufällig anwesende Ziege angelehnt, und in dem Augenblick, wo die Ziege davonlief, sei er zur Erde gefallen. Wer sich überhaupt auf früheste Lebensereignisse besinnen kann, wird wahrscheinlich auf eine ähnliche Begebenheit stoßen, die als ein isoliertes Ereignis in seinem Gedächtnis haften geblieben ist. Ein solches Ereignis pflegt dann aber zugleich mit allen den Nebenumständen, von denen es begleitet war, ähnlich der davonlaufenden Ziege bei Tischbein, mit merkwürdiger Deutlichkeit in der Erinnerung festzuhalten, und wenn man sich darauf besinnt, welche Merkmale es eigentlich sind, die einem solchen einzelnen Vorgang den Vorzug vor andern verleihen als das früheste Erlebnis angesehen zu werden, so sind es wohl solche begleitende Nebenumstände. In der Regel ist es irgendeine Situation, in der man sich vorfindet, und die sich keineswegs als eine völlig unbestimmte, sondern ausgestattet mit der Mannigfaltigkeit eines wirklichen Ereignisses erneuert. So bleibe denn auch ich, wenn ich über mein frühestes Erlebnis Rechenschaft geben soll, bei einer äußerst peinvollen Situation stehen. Ich finde mich eine Kellertreppe herabrollend und glaube noch heute die Stöße zu fühlen, die mein Kopf von den Stufen der Treppe empfängt, ich finde mich von dem Halbdunkel des Kellers umfangen und es mischt sich damit die Vorstellung, daß ich meinem in den Keller gegangenen Vater nachgelaufen bin.
Neben dem so markierten Ereignisse tauchen dann bei näherem Besinnen noch vereinzelte Erinnerungen in mir auf, die aber offenbar einem späteren Stadium angehören. Besonders sind es früheste Schulerlebnisse, und dabei ist es dann wieder das umgebende Medium, einzelne Mitschüler, eine Schulszene, die eine begünstigte Rolle spielen, und bei denen immer zugleich die Bedingung obwaltet, daß ich selbst an dieser Szene beteiligt bin. So schwebt mir aus der Fülle solcher Schulerlebnisse in der Zeit meines Besuchs der untersten Klasse der Volksschule vornehmlich eine Szene noch deutlich vor. Mein Vater wohnte als Schulinspektor einer Unterrichtsstunde bei, ohne sich übrigens selbst in den Unterricht einzumischen. Davon machte er nur in einem einzigen Fall eine Ausnahme. Ich war zerstreut und hatte, statt auf den Unterricht aufzupassen, meinen eigenen Gedanken nachgehangen, wie das bis in viel spätere Zeiten meine regelmäßige Eigenschaft gewesen ist. Da wurde ich durch eine Ohrfeige, die mir ungewohnterweise mein Vater applizierte, diesem Zustand der Zerstreutheit plötzlich entrissen. Noch sehe ich das strafende Gesicht des Vaters vor mir, der hier augenscheinlich aus der Rolle des aufmerksamen Zuhörers unwillkürlich in die des häuslichen Erziehers gefallen war. Wie in diesem Fall, so mag auch sonst ein Affekt des Schrecks, ein Schmerz das Festhaften in der Erinnerung begünstigen; doch hat dieses Unlustmotiv neben jener isolierenden Macht begleitender Vorstellungen nach den mir gewordenen Eindrücken im ganzen nur eine nebensächliche Bedeutung. So gilt denn, psychologisch betrachtet, für diese frühesten Lebenserinnerungen allem Anscheine nach schon die Regel, daß es überhaupt keinen isolierten Vorgang in unserem Bewußtsein gibt, sondern nur Verbindungen von Vorgängen, die einen Zusammenhang bilden und sich durch diesen wechselseitig in der Erinnerung befestigen. Es ist die Regel der Kontinuität des Bewußtseins, die sich so bereits für das erste Dämmern eines solchen bestätigt. Darum läßt sich nun aber auch nicht mit absoluter Sicherheit behaupten, daß irgend eine Erinnerung, die man geneigt ist für die früheste zu halten, dies wirklich sei, sondern man wird immer nur sagen können, daß sie durch ihre Verbindung mit den begleitenden Vorstellungen die hierzu geeignete Beschaffenheit annimmt.
Es gibt heute wenige mehr, die sich der Zeit erinnern, da das Land Baden schon einmal ein halbes Jahr lang eine selbständige Republik war. Aber noch beschränkter ist wohl die Zahl derer, die die vorangegangenen Jahrzehnte wenigstens teilweise mit deutlichem Bewußtsein erlebt haben. Ich gehöre zu diesen wenigen, und mir ist eine Szene in Erinnerung, die auf die politische Stimmung dieser Zeit ein merkwürdiges Licht wirft.
Meine Eltern wohnten damals in einem Städtchen oder vielmehr großen Dorf im mittleren Baden mit Namen Heidelsheim. Ich saß an dem Tage, an dem ich gerade mein erstes Jahr der Volksschule glücklich zurückgelegt hatte, etwa um die Zeit zwischen 1838 und 1840, auf der Treppe meines Vaterhauses, da bewegte sich über den vor mir liegenden Marktplatz ein bunter Zug von Menschen, deren Anführer einen riesigen Baum herbeischleppten, den Sie inmitten des Platzes aufrichteten und von dem man mir sagte, er sei ein »Freiheitsbaum«. Konnte ich auch keinen deutlichen Begriff mit diesem Wort verbinden, so tagte mir doch allmählich von ungefähr seine Bedeutung, als sich bei Einbruch der Dunkelheit eine große Menge vor dem Hause des gegenüber wohnenden Bürgermeisters unter vielem Geschrei ansammelte und plötzlich ein helles Feuer von dem Gebäude aufflammte. Ich sehe dann noch vor mir die ernste Gestalt des Amtmanns aus der Nachbarschaft im Zimmer meiner Eltern auf und ab wandeln und hierauf eine Schwadron Dragoner über den Platz reiten, vor der sich die Menge nach allen Winden zerstreute.
Das war eine richtige Dorfrevolution, und in derselben Gegend, in der sich später hauptsächlich die badische Revolution des Sommers 1849 abspielte, ereignete sich dieses seltsame Vorspiel. Es handelte sich freilich bei ihm nicht um politische Fragen, sondern um Parteien ziemlich gleichgültiger Art, die sich um die Person des regierenden Dorfbürgermeisters gebildet hatten. Was diese Szene später mir besonders lebhaft wieder ins Gedächtnis zurückrief, war aber auch nicht ihr unbekannter Anlaß, sondern die Beziehung, in die sie von den Beteiligten zu den damaligen Zeitereignissen gebracht wurde. In Heidelsheim hatte sich nämlich die Bürgerschaft in zwei einander heftig befehdende Parteien geschieden, von denen sich die eine, die Anhänger des Bürgermeisters, als die Russen, die andere, seine Gegner, als die Polen bezeichnete, offenbar in Erinnerung an den mehrere Jahre vorausgegangenen polnischen Aufstand von 1830. Um diese lange Nachwirkung eines ziemlich abliegenden politischen Ereignisses zu begreifen, muß man der Teilnahme gedenken, die nach jener polnischen Revolution lange in den deutschen Gemütern nachzitterte. Um die Zeit, von der ich rede, hörte man noch immer in den Gassen deutscher Kleinstädte das berühmte Lied »Noch ist Polen nicht verloren«, und ich selbst erinnere mich, noch um das Jahr 1851 aus einem deutschen Kommersbuch das rührende Duett zwischen Kosziusko und Lagienka gesungen zu haben, in welchem diese berühmten Heerführer ihre Niederlage beklagen. Und noch einmal ist mir in viel späterer Zeit, als mitten in dem letzten Krieg Kongreßpolen durch die Mittelmächte zum Selbständigen Staat erklärt wurde, jene Dorfszene meiner frühesten Jugend lebendig vor die Seele getreten. Die Zeiten waren freilich andere geworden, seit die Bürger eines kleinen Landstädtchens, die sich aus völlig interessenloser Begeisterung Polen genannt hatten, zur Strafe für ihren Putsch ins Gefängnis wanderten, und jetzt, wo das Deutsche Reich als einen der ersten Erfolge seiner Siege die Befreiung Polens von der russischen Herrschaft in Szene setzte. Immerhin ist ein charakteristischer Zug, der vielleicht diese weit entlegenen Ereignisse in meinem Gedächtnis verknüpft hat, beiden gemeinsam: das ist die Teilnahme, mit welcher der Deutsche unter Umständen die Interessen fremder Nationen zu den Seinigen macht, während er vergißt, an die eigenen zu denken. Wie dem aber auch sei, das Band, das in meiner Erinnerung jene Dorfrevolution mit den späteren Ereignissen von 1848, 1849 und schließlich in ihren schattenhaften Nachwirkungen mit Vorgängen der letzten Jahre verknüpft hat, ist wiederum ein Beispiel jenes inneren Zusammenhangs, der in uns einander verwandte Erlebnisse durch weite Strecken und über völlig abweichende Inhalte miteinander verbindet. Mögen diese Verbindungen schließlich selbst in der Erinnerung zurücktreten. Sie pflegen in den geistigen Interessen fortzuleben, die in unser späteres Schicksal bestimmend eingreifen.
Als ich daran ging, mir das Vergangene zu vergegenwärtigen, war es dieser Gesichtspunkt, der sich mir schon bei der Schilderung jener Dorfrevolution aufdrängte, von der ich sagen könnte, daß sie mein erstes politisches Erlebnis gewesen ist. Für denjenigen, der das Wagnis unternimmt, eine Selbstbiographie zu schreiben, liegt es natürlich am nächsten, die Ereignisse in der Reihenfolge zu schildern, in der er sie tatsächlich erlebt hat. Denkt man sich nun aber diese Methode auf die Geschichtsschreibung überhaupt übertragen, so würde daraus unverkennbar eine unleidliche Konfusion entstehen, die die Geschichte in eine Häufung zusammenhangloser Tatsachen verwandeln müßte. Was für das Leben eines Volkes gilt, das gilt jedoch bis zu einem gewissen Grade auch für das Leben des einzelnen. Jeder Mensch lebt eigentlich mehrere Leben nebeneinander, die zwar alle zusammenhängen, und von denen gleichwohl jedes einzelne seinen besonderen Verlauf nimmt. Dennoch kann im Gebiet des individuellen Lebens die Mannigfaltigkeit eines solchen Nebeneinander schließlich ebenso groß sein wie in dem des Zusammenlebens. Ja es kann vorkommen, daß gerade diejenige Seite, die man für eine allgemeingültige halten sollte, die politische, ganz zurücktritt, was um so auffallender ist, da die Beziehungen zu der uns umgebenden Gemeinschaft wiederum die einzigen allen Menschen gemeinsamen sind. Um so mehr glaube ich, daß sie, wo das nicht zutrifft, wo sie vielmehr begünstigt durch das Eingreifen der Zeitereignisse in die Lebensschicksale, eine irgend erhebliche Rolle gespielt haben, von Rechts wegen allen anderen vorangestellt werden sollten. Geht doch überall das Individuum aus der Gemeinschaft hervor. Die Anschauungen, die persönlichen Bestrebungen und Handlungen des einzelnen sind doch im letzten Grunde Erzeugnisse des gemeinschaftlichen Lebens, aus dem sich das persönliche Leben nach seinen besonderen Richtungen entwickelt.
War mein frühestens politisches Erlebnis die Dorfrevolution von Heidelsheim gewesen, so ist diese nun aber keineswegs die einzige Revolution geblieben, die ich in unmittelbarer Nähe erlebt und von der ich eine Reihe eindrucksvoller Bilder in der Erinnerung bewahrt habe. Noch sehe ich vor mir die Tafelrunde deutscher und österreichischer Politiker, die sich auf der Reise zum Frankfurter Vorparlament im Museumssaale zu Heidelberg zusammengefunden hatten, unter ihnen Anastasius Grün, den gefeierten Wiener Poeten, neben anderen führenden Geistern der Zeit, die ich hier von der Galerie des Festsaales aus mit staunender Bewunderung erblickte. Ebenso steht vor mir der mit rauschenden schwarzrot-goldenen Fahnen und Efeugewinden geschmückte Schloßhof und die Tribüne mit den Abgeordneten der Frankfurter Linken, unter denen Robert Blum mit seiner hinreißenden Beredsamkeit die aus der Stadt und der Umgebung herbeigeströmten Zuhörer zu Tränen bewegte. Neben solchen von der Begeisterung der Massen getragenen Szenen fehlen unter den Bildern meiner Erinnerung freilich auch andere nicht, in denen die großen Straßenkämpfe von Berlin und Wien in kleinerem Maßstabe sich widerspiegelten. Noch steht mir hier ein Zug von Odenwälder Bauern vor Augen, die mit ihren Sensen bewaffnet in die Stadt einzogen, um den Städtern den Überfluß ihres Besitzes abzunehmen, aber vor der mit Flinten bewaffneten Bürgerwehr die Flucht ergriffen -- eine Szene, in der sich der bekannter gewordene Putsch wiederholte, den schon im März Hecker und Struve, vereint mit einer Schar französischer Freischärler unter Georg Herwegh, dem Verfasser der von mir und meinen Altersgenossen damals mit Begeisterung gelesenen »Gedichte eines Lebendigen« im badischen Oberland veranstaltet hatten.
Waren diese der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche vorangegangenen Ereignisse rasch vergängliche Putsche gewesen, so hinterließ die der Auflösung des ersten deutschen Parlaments folgende badische Revolution vom Sommer 1849 einen ungleich tieferen Eindruck, obgleich ich auch hier beobachtet habe, daß Revolutionen verhältnismäßig wenig im Gedächtnis derer haften, die sie nicht miterlebten, namentlich dann nicht, wenn ihnen nicht dauernde politische Umwälzungen gefolgt sind. So habe ich mehrfach bemerkt, daß in Baden selbst bei Personen, die an den gegenwärtigen politischen Zeitläuften einen regen Anteil nehmen, nur noch eine sehr geringe Kenntnis der in mancher Beziehung vorbildlichen politischen Vergangenheit dieses Landes vorhanden ist. Wie hier die bis in die zwanziger Jahre zurückreichenden Verfassungskämpfe gänzlich aus dem Gedächtnis der lebenden Generation verschwunden sind, so ist sogar von der badischen Republik des Jahres 1849, so ähnlich die damals auf engerem Raum sich abspielenden Ereignisse in mancher Beziehung den heutigen Zuständen waren, bei den meisten meiner Landsleute doch nur eine dunkle Erinnerung zurückgeblieben. Das wird aber auch hier schwerlich von den wenigen gelten, die gleich mir selbst in dieser Republik gelebt haben. Noch sehe ich die glänzende Gestalt Mieroslawskis, des polnischen Generals, durch die Straßen reiten. Er war mit Legionären seiner Heimat herbeigekommen, um der Berufung der provisorischen Regierung zum Oberbefehlshaber der republikanischen Armee Folge zu leisten, die neben dem fast vollzähligen badischen Bundeskontingent aus einer nicht geringen Anzahl angeworbener Landeskinder und aus aller Herren Länder zugezogener Freischaren bestand. Den General begleitete in seltsamem Kontrast ein Jüngling mit blondem herabwallendem Haupthaar: es war der republikanische Kriegsminister Franz Sigel, der sich später, nachdem er, ähnlich den meisten anderen Funktionären der Republik, nach Amerika ausgewandert war, dort in dem Bürgerkrieg als tüchtiger Offizier ausgezeichnet hat. In Baden war er direkt vom Kadetten zum Kriegsminister befördert worden. Ähnlich hatte ein Kandidat der Kameralwissenschaft das Departement der Finanzen, ein Volksschullehrer Kultus und Unterricht übernommen, und ein Rechtsanwalt aus dem dem früheren Wohnort meiner Eltern benachbarten Bruchsal war zum leitenden Minister emporgestiegen.
Auch das tragische Ende dieser kurzen Republik habe ich, noch dazu fast in unmittelbarer Nähe miterlebt, als ich von der Höhe des Gaisbergs bei Heidelberg aus die Kanonen der Schlacht bei Waghäusel blitzen sah, in der die preußische Armee unter der Führung des damaligen Prinzen von Preußen, des späteren Kaiser Wilhelm, die republikanischen Truppen zu Paaren trieb. Der Eindruck ist mir unvergeßlich, den die am Abend dieses Tages in der Stadt veranstaltete Illumination hervorrief, die nach der Verkündung des republikanischen Bürgermeisters den Sieg des badischen Heeres feiern sollte, die aber in Wirklichkeit dazu bestimmt war, den in den Odenwald fliehenden Freischaren den Weg zu zeigen. Nach Amerika und der Schweiz, zu einem kleinen Teil nach Frankreich hatten auch die Führer der Revolution sich gerettet, soweit sie nicht gefangen oder als blutige Opfer des Rastatter Kriegsgerichts gefallen waren. Am Tag nach der Schlacht hielt ein preußisches Regiment seinen Einzug, mit dem sich nach dem ersten Schrecken, den es eingejagt, die weibliche und die jugendliche Bevölkerung der Stadt sehr bald befreundete. So habe ich selbst meinen ersten Musikunterricht bei einem biederen Pommerschen Grenadier genossen, der mir die Anfangsgründe der Klarinette beibrachte.
Mehr als andere Menschen hat wohl derjenige, der sich anschickt, seine Lebenserinnerungen niederzuschreiben, den Eindruck, jeder Mensch führe nicht ein einziges Leben, sondern mehrere nebeneinander, die unter Umständen weit auseinander gehen. Inwieweit dies geschieht, das ist aber, wie ich bemerkt zu haben glaube, in hohem Grad von Zeitumständen abhängig. Im Jahre 1848 und wohl auch wieder bei Beginn des letzten Krieges politisierte bei uns jedermann; in der langen Friedenspause, die vorangegangen war, hatte sich eine große Zahl der Deutschen der Teilnahme an den politischen Angelegenheiten so sehr entfremdet, daß für sie diese Seiten des öffentlichen Lebens eigentlich nicht existierten. So erinnere ich mich, daß mir einmal ein in seiner Wissenschaft hoch angesehener und durch die Vielseitigkeit seiner Studien berühmter physiologischer Fachgenosse sagte, er habe seit vielen Jahren keine Zeitung mehr angesehen, weil man aus dieser Art der Literatur doch nichts lernen könne. Wer sich die Zusammensetzung der deutschen Parlamente von 1848 und von 1914 vergegenwärtigt, der kann darin wohl eine indirekte Bestätigung dieser individuellen Erfahrung erblicken. Das Parlament der Paulskirche ist ohne Zweifel übertrieben, aber für den allgemeinen Charakter dieser bedeutsamen Versammlung wohl zutreffend von manchen das Professorenparlament genannt worden; für den deutschen Reichstag von 1914 würde sicherlich niemand auf diesen Namen verfallen, eher würde man ihn vielleicht das Parlament der konfessionellen und sozialen Parteien, hinsichtlich der allgemeinen vaterländischen Angelegenheiten aber ein relativ unpolitisches Parlament nennen können. Wenn heute der Ruf nach einer staatsbürgerlichen Erziehung für die Zukunft in Deutschland allgemein geworden ist, so darf man darum hierin wohl ein Zeichen für die allmählich unter den Gebildeten ziemlich allgemein gewordene Überzeugung erblicken, daß wir in den letzten Krieg mit einer parlamentarischen Volksvertretung eingetreten sind, die nach einer anderen Seite wie das Frankfurter Professorenparlament, aber an sich nicht minder eine ungünstige für die politische Lage gewesen ist. Für andere Länder gilt das wohl nicht in gleichem Maße, und besonders die französische Deputiertenkammer repräsentiert in dieser Beziehung einen unverkennbaren Kontrast gegenüber dem verflossenen deutschen Reichstag. Aber es ist, wie ich glaube, nicht bloß eine nationale Eigentümlichkeit, die neben dem überhandnehmenden Spezialistentum die deutsche Gelehrtenwelt und einen nicht unbeträchtlichen Teil der Gebildeten überhaupt der Teilnahme an dem politischen Leben entfremdet hatte, sondern wie in anderen Dingen. So hängt auch diese Schattenseite des deutschen Charakters mit einer Lichtseite zusammen. Sie besteht in jener anerkannten Vortrefflichkeit des deutschen Beamtenstandes, die ihren glänzendsten Ausdruck in der Stellung fand, die ihm Hegel in seiner Rechtsphilosophie als dem das gesamte öffentliche Leben führenden und organisierenden anweist. In anderen Ländern empfängt die Volksvertretung einen nicht geringen Teil der von ihr ausgehenden politischen Impulse durch ihr Verhältnis zu der Regierung und ihren Organen. In den deutschen Kleinstaaten der Vergangenheit bildeten die Beamten einen wesentlichen Teil der Landtagsdeputierten, unter denen z. B. in Baden früher die Verwaltungsbeamten neben einigen Gutsbesitzern die konservative, die richterlichen neben einigen Rechtsanwälten, Landwirten und Weinhändlern die liberale Partei konstituierten. Dabei muß ich übrigens bemerken, daß die meisten Weinhändler, zu denen ich später während einiger Jahre selber gehörte, nicht solche von Beruf waren, sondern daß dieser Name eine Kategorie bürgerlicher Berufe deckte, die nach dem alten badischen Wahlgesetz zur Wählbarkeit in den Landtag berechtigt waren. Für diesen Beruf genügte nämlich die Erwerbung eines Weinpatents, von dem aber niemand Gebrauch zu machen gezwungen war. Fast alle offiziellen Weinhändler der Ständekammer waren daher überhaupt keine Weinhändler.
Diese Verhältnisse des Verfassungslebens der deutschen Kleinstaaten sind mit unbedeutenden Abänderungen in älterer Zeit wohl überall die nämlichen gewesen, und, was für die allgemeinen Kulturzustände vielleicht das wichtigere ist, sie bereiteten sich bereits auf Schule und Universität vor. Auf den Universitäten herrschte als eine Tradition aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts das Verbindungswesen mit seiner Spaltung in Landsmannschaften oder Korps und Burschenschaften, von denen die Korps zu einem nicht geringen Teil das künftige Beamtentum, die Burschenschaften mit den in ihnen nachwirkenden Überlieferungen der Freiheitskriege das liberale Bürgertum repräsentierten, und es geschah nicht selten, daß die Zugehörigkeit zu einer dieser Klassen vom Vater auf den Sohn sich vererbte, was denn auch eine gewisse Erblichkeit der Berufe mit sich führte. Repräsentierte dabei das Korps die konservative, die Burschenschaft die fortschrittliche Richtung, so war es übrigens selbstverständlich, daß diese Unterschiede nicht sonderlich tief gingen und daß sie mit der allgemeinen Gleichgültigkeit der Gebildeten gegenüber dem politischen Leben ziemlich gleichen Schritt hielten. Immerhin herrschte in Baden als dem ältesten der deutschen konstitutionellen Staaten im ganzen eine etwas größere politische Regsamkeit als anderwärts, und sie belebte sich namentlich in den revolutionären Bewegungen der Jahre 1848 und 1849, die überhaupt einen Wendepunkt bezeichnen, mit dem die Herrschaft der Korps im akademischen Leben allmählich an die Burschenschaften überzugehen anfing. Charakteristisch für diesen Übergang war es, daß in Heidelberg einige Mitglieder des Korps der Schwaben im Jahre 1848 aus dieser Stammschule des badischen Beamtentums unter der Führung des späteren berühmten Klinikers Adolf Kußmaul austraten, um eine von da an einflußreiche und politisch zum erstenmal wieder rührige Burschenschaft zu gründen.
Anderwärts hat sich diese Zusammengehörigkeit von Korpsverband und politischer Laufbahn noch länger erhalten, und besonders in Preußen ist bis in die letzten Jahre die Tradition lebendig geblieben, für die staatsmännische Laufbahn sei die ehemalige Zugehörigkeit zu gewissen Korpsverbindungen ein notwendiges Erfordernis, weshalb denn auch von den deutschen Diplomaten an auswärtigen Höfen die Rede ging, viele von ihnen seien ebenso durch ihre hervorragenden Saloneigenschaften wie durch ihre politische Minderwertigkeit ausgezeichnet. Das Grenzland Baden machte hier immerhin eine gewisse Ausnahme. Es hatte in Männern wie Nebenius, dem Erfinder des Zollvereins, Idstein, Mathy, Bassermann, Welcker u. a. eine nicht geringe Zahl bedeutender Politiker hervorgebracht, und noch in anderen Beziehungen bewies die Bevölkerung des Landes eine politische Reife, die vielleicht anderwärts nicht zu finden ist. Dahin gehört noch aus den letzten Jahren ein durch das ganze Land sich erstreckendes Wahlkartell zwischen der konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Partei, das den während der vorangegangenen Zeit zur Vorherrschaft gelangten Ultramontanen ihre Majorität entzog. Man darf wohl kühnlich sagen, daß eine solche Handlung politischer Wahltaktik weder im deutschen Reichstag noch wahrscheinlich in irgendeinem der anderen deutschen Sonderparlamente möglich gewesen wäre.
Wenn für die meisten Menschen die Regel gilt, daß ihr Leben mehrere unabhängig nebeneinander hergehende Lebensläufe umfaßt, so gibt es wohl kein Gebiet, für das diese Regel in ausgesprochenerem Maße zutrifft als für das gleichzeitig auf wissenschaftlicher Arbeit gegründete Berufsleben und das in Gemeinde-, Vereins- und politischen Interessen sich bewegende öffentliche Leben. Man ist geneigt, private, Berufs- und öffentliche Beschäftigungen im allgemeineren Sinne als solche nebeneinander bestehende Lebenskreise zu unterscheiden; aber ich möchte glauben, daß die Beziehungen zwischen ihnen doch im allgemeinen engere sind als die sonst zwischen individuellem Beruf und gemeinschaftlichem Interesse bestehenden. Das beweist schon der Umstand, daß es keinen Menschen gibt, der nicht mit seinen persönlichen Angelegenheiten zugleich inmitten gesellschaftlicher Beziehungen im allgemeineren Sinne steht, während es, wie schon oben bemerkt, zahlreiche Menschen gibt, die öffentliche Interessen, insondere politische, überhaupt nicht besitzen. Um so mehr können sie, wo solche vorhanden sind, unabhängig nebeneinander bestehen. Für dieses Nebeneinander bietet vielleicht das Land Baden unter den kleineren deutschen Staaten die zahlreichsten Beispiele, und die politische Vergangenheit des Landes dürfte an diesen gegenüber dem übrigen Deutschland zweifellos etwas regsameren politischen Interessen wesentlich beteiligt sein. Wer, wie es mir begegnet ist, von Kind auf eine Reihe von Umwälzungen mitgemacht hat, von der Dorfrevolution bis zur Gründung des neuen Deutschen Reichs und darüber hinaus, dem werden die Erinnerungen an diese Ereignisse nicht so leicht aus dem Gedächtnis verschwinden, und sie haben die natürliche Tendenz, sich zu verbinden. So würde jene Dorfrevolution schwerlich in meinem Gedächtnisse haften geblieben sein, wenn mich nicht die Revolutionen von 1848 und 1849 und schließlich mit ihnen die politischen Wandlungen der späteren Tage immer wieder daran erinnert hätten. Infolge dieser inneren Verwandtschaft der sonst noch so weit abliegenden Ereignisse ist es aber doch das politische Leben, das eine solche Kontinuität vor anderen zustande bringt, so daß dieses in der eigenen Erinnerung als eine Art Sonderleben sich ausscheidet. Darum würde meine politische Vergangenheit vielleicht mir selbst als eine Irregularität erscheinen, wenn ich mir nicht bewußt wäre, daß sie einen für sich bestehenden Zusammenhang bildet. Mag es daher manchem Leser dieser Lebenserinnerungen sonderbar vorkommen, daß ich mit Dingen beginne, die mit meinem sonstigen Leben scheinbar sehr wenig zu tun haben, und daß ich sie zunächst als einen für sich bestehenden Inhalt herausgreife, so wüßte ich mir doch nicht anders zu helfen, wenn ich nicht eine Seite dieser Erinnerungen verschweigen sollte, die mir lebendiger als vieles andere im Gedächtnis erhalten geblieben ist. War mir doch das Schicksal beschieden, daß mich das gewohnte Nebeneinander verschiedener Leben-sinteressen für mehrere Jahre zu einem Berufswechsel führte, an dem, wie ich vermute, meine politischen Jugendeindrücke nicht unbeteiligt gewesen sind.
Es war keine sonderlich hervorragende Rolle, die mir in dem öffentlichen Leben meiner Heimat beschieden war. Aber es war eine Zeit, in der nach einem fast ein Jahrzehnt dauernden politischen Stillstand eine neue Bewegung sich der Geister bemächtigte. Diese Zeit begann für das Land Baden nach der Reaktion der fünfziger Jahre mit einer das ganze Land ergreifenden, durch ein von der damaligen Regierung mit der Kurie abgeschlossenes Konkordat hervorgerufenen liberalen Strömung, die für mich mit den ersten Jahren meines akademischen Dozententums zusammenfiel und an die mich in mancher Beziehung die heutigen Volkshochschulbestrebungen zurückerinnern. Ich war damals zum Vorsitzenden des Heidelberger Arbeiterbildungsvereins gewählt worden. Auch hatte ich mich außer zu Lehr- und allgemeinen Bildungsvorträgen in diesem Verein mit einer Anzahl gleichaltriger Kollegen zu Vorträgen vereinigt, die von uns vor der Bürgerschaft verschiedener Städte gehalten wurden mit der Bestimmung, den Ertrag für den Bau eines Arbeiterhauses zusammenzubringen. Unter meinen Kollegen waren es hauptsächlich Moritz Kantor, der Mathematiker, August Thorbecke und Wilhelm Wattenbach, die beiden Historiker, die sich an diesen Wintervorträgen beteiligten. Die planmäßigere Organisation der Wandervorträge in Deutschland gehört wohl erst einer etwas späteren Zeit an, aber ein bescheidener Vorläufer in dieser Richtung war immerhin unser Unternehmen. Ich erinnere mich namentlich zweier dieser Vorträge, von denen ich den einen in Pforzheim, den anderen in Baden-Baden gehalten habe. Sie sind mir im Gedächtnis geblieben, weil sie mich belehrten, daß bei solchen Vorträgen vor den gebildeten Kreisen kleinerer Städte die Interessen, die diese Kreise beschäftigen, nicht immer mit denjenigen zusammenfallen, die in der Wissenschaft die gerade vorherrschenden sind. In Pforzheim redete ich »Über die Erhaltung der Kraft«. Als ich in das Auditorium kam, war ich erstaunt, vor meinem Katheder eine Menge alter Leute, Männlein und Weiblein, versammelt zu sehen. Als ich dann nach dem Vortrag von einem mir bekannten Herrn angeredet wurde, der mir seine Zweifel darüber aussprach, ob die Sonne, wie nach meiner Behauptung Herr Robert Mayer meine, eine so große Quelle der Kraft sei, denn er selbst sitze sehr gern in der Sonne, habe aber von einer Zunahme seiner Kraft noch nicht viel gefühlt, da merkte ich, daß er erwartet hatte, Ratschläge zu hören, wie man es am besten anfange, jung zu bleiben, und daher, so gut es ging, das physikalische Thema in eine praktische Lebensregel umzudeuten versuchte.
In der Stadt Baden, die, nachdem die Badegesellschaft vorübergeflutet war, im Winter zum Anhören von Vorträgen über neueste Entdeckungen gerne bereit war, hielt ich einen Vortrag über die Darwinsche Theorie. Sie beschäftigte damals unter dem ersten Eindruck der Schriften Häckels sehr lebhaft die Gelehrtenwelt. Aber in die gebildete Gesellschaft Badens, die im Winter ein ziemlich stilles Dasein führte, war davon noch kaum etwas gedrungen. Als ich daher in dem Hörsaal, der mir zur Verfügung gestellt wurde, verschiedene Bilder von Embryonen, namentlich auch solcher früher Lebenszustände von Affen und Menschen auspackte, um sie als Demonstrationsobjekte an der Wand aufzuhängen, fuhr der mich begleitende Leiter der Badener Wintervergnügungen entsetzt zurück. Solche Bilder, meinte er, verbiete der Anstand, namentlich in der Anwesenheit von Damen. Dagegen half nichts, ich mußte meine Figuren wieder einpacken und mich damit begnügen, ihren Inhalt mündlich im Vortrag anzudeuten.
Aus dem Plan, den Ertrag dieser Vorträge zum Bau eines Arbeiterhauses zu verwenden, ist freilich nichts geworden, weil sich die Mitglieder des Arbeiterbildungsvereins im Lauf der Jahre nach allen Winden zerstreuten und die später an die Stelle solcher Vereine getretenen Arbeitergenossenschaften neue Wege einschlugen, auf denen sie von ihren anfänglichen bürgerlichen Führern nichts mehr wissen wollten. Dieser Übergang von den Bildungs- zu den Arbeitervereinen vollzog sich mit dem Auftreten der großen Agitatoren Ferdinand Lassalle und Karl Marx. Er vollzog sich so schnell, daß die Arbeiterversammlungen dieser verschiedenen Richtungen gelegentlich noch nebeneinander tagten, um freilich bald in einen allmählich erbitterter werdenden Kampf zu geraten. Manche meiner Freunde haben den Anfang dieses Übergangs als einen Zustand des Friedens, nicht zwischen Arbeitern und Arbeitgebern, wohl aber im Sinne der Ausgleichung der Klassengegensätze gepriesen. Als ein solcher konnte er um so mehr vom Standpunkt des späteren Gegensatzes aus erscheinen. Besonders als die Tagungen der Bildungsvereine unter Beteiligung Hunderter von Mitgliedern des Arbeiterstandes, von Akademikern und von weiteren Kreisen der gebildeten Klassen stattfanden, und vollends als solche Arbeiterversammlungen gelegentlich aus einer großen Zahl deutscher Städte besucht wurden, schien eine glänzende Zeit für den Zustand deutscher Bildung angebrochen zu sein. Dabei war es ein charakteristischer Zug dieser Vereinigung, daß anfänglich politische Gegensätze gar keine Rolle spielten. So entsinne ich mich einer Zusammenkunft von Vorständen über ganz Baden zerstreuter Arbeiterbildungsvereine, der aus einem Freiburger Landesgerichtsrat, einem Pforzheimer Gymnasialdirektor, einem späteren Mannheimer Sozialdemokraten und mir selber bestand, während ihr außerdem der auf der Durchreise befindliche Begründer der Frankfurter Zeitung angehörte. Eine ungleich größere Zahl von Mitgliedern aus Bürger- und Arbeiterkreisen vereinigte etwa um das Jahr 1863 eine große, hauptsächlich aus Württemberg und Baden gekommene Versammlung, deren Mitglieder teils dem Bürger- teils dem Arbeiterstand angehörten und auf der ich das einzige Mal in meinem Leben den damals als Professor der »Induktiven Philosophie« in Zürich lebenden Albert Lange, den Verfasser der Geschichte des Materialismus, kennen gelernt habe. Es war vielleicht der einzige Fall, in welchem diese Bestrebungen meiner Jugend auf mein späteres wissenschaftliches Leben eingewirkt haben. Denn ich habe Grund, zu vermuten, daß meine mehrere Jahre später erfolgte Berufung nach Zürich nicht der dortigen Fakultät, sondern dem zuvor nach Marburg berufenen Albert Lange, der bei der Schweizer demokratischen Regierung ein großes Ansehen genoß, ihren Ursprung verdankt. Noch entstammt endlich dem Verkehr dieser Arbeiterbildungsvereine in einem besonders wichtigen Fall, der einen großen Teil dieser Vereine nach Leipzig rief, lange ehe ich selbst diese meine jetzige Wohnstätte gesehen hatte, ein Briefwechsel, der den Kontrast dieser Anfänge mit ihren späteren sozialen und politischen Abwandlungen in ein helles Licht setzt. Ich hatte die Vertretung einer Anzahl badischer Vereine bei einer Versammlung in Leipzig übernommen, war aber dann verhindert, die Reise zu unternehmen, und ich wandte mich darum an den Vorsitzenden des Leipziger Vereins, der damals als Drechslermeister hier lebte, August Bebel. Darauf nannte mir Bebel als einen geeigneten Vertreter den Professor Karl Biedermann, der den Auftrag gern übernehmen und sich dazu besonders eignen werde. Die Zeit dieses Friedens war freilich kurz. In dem Augenblick, wo Ferdinand Lassalles Agitationsreden begannen, führten die Bildungsvereine in den meisten Städten nur ein dürftiges Leben weiter oder die Arbeiter zogen es vor, sich selbständig zu machen. An die Stelle der Spaziergänge auf den Heidelberger Königsstuhl, den der Arbeiterbildungsverein in der Nacht des l. Mai unternommen hatte, traten im Lauf der Zeit die großen Tagesumzüge am l. Mai, zu denen sich bald die Proklamierung dieses Tages zum allgemeinen Arbeiterfeiertag gesellte.
Vom Vorsitzenden des Bildungsvereins zum Mitglied der Ständekammer war in jenen Tagen der beginnenden sechziger Jahre kein allzu großer Schritt. Es war eine Zeit, in der unter dem Einfluß des Streites um das badische Konkordat Volksversammlungen stattfanden. Aus Anlaß einer Rede, die ich bei einer solchen in Offenburg gehalten hatte, stellte mich eine Anzahl von Freunden und Bekannten als Kandidaten der zweiten badischen Kammer für die Stadt Heidelberg auf, während die bekannte Pfälzer Leichtherzigkeit es fertig brachte, daß ein bereits sicher zum Deputierten ausersehener Mitbürger unerwarteterweise nachträglich durchfiel. Ich brachte von nun an etwa 4 Jahre in Karlsruhe zu, wo ich großenteils im Kreise der allen möglichen Ständen vom Landmann bis zum Beamten und Advokaten angehörenden Landtagsabgeordneten verkehrte. Ein größerer Kreis, dem der Minister August Lamey und die beiden Führer der damals sogenannten Fortschrittspartei, Karl Eckhart und Friedrich Kiefer, angehörten, versammelte sich täglich mit etwa einem Dutzend weiterer Deputierter an der Mittagstafel des Darmstädter Hofs, während die Abende meist zu Kommissionssitzungen oder anderen Arbeiten beistimmt waren. Das badische Gesetzgebungswerk war in ein beschleunigtes Tempo geraten. Es war in jenen Jahren inspiriert von dem genialen Lamey, der soeben von der Stellung eines Freiburger Professors zum leitenden Staatsmann berufen war und ein gewaltiges Reformwerk während weniger Jahre bewältigte. Eine neue Verwaltungsorganisation, ein Polizeistrafgesetzbuch, ein Gesetz über die bürgerliche Gleichstellung aller Staatsbürger ohne Unterschied der Religion, ein Niederlassungsgesetz, später ein Gesetz über die Aufhebung der akademischen Gerichtsbarkeit, mit dessen Kommissionsbericht ich selber beauftragt war, wurden geschaffen. Die Beratung über dies letztere Gesetz bot ein Kuriosum, das vielleicht mit der wahrscheinlich in die Anfänge der badischen Verfassung zurückreichenden akademischen Sitte des zwischen allen Abgeordneten geltenden vertraulichen Du und Du zusammenhing. Es bestand darin, daß bei der Beratung dieses Gesetzes die sonst bestehenden Parteien völlig aufgehoben und durch neue ersetzt waren: die Kammermitglieder, die dereinst Korpsburschen gewesen waren, bildeten nämlich eine kleine, gegen das Gesetz stimmende Minorität, während alle anderen selbstverständlich ihm zustimmten. Schließlich entstand als das wichtigste ein Gesetz, das die Verhältnisse zwischen Staat und Kirche regelte, und ein umfassendes Schulgesetz, das die Volksschulen auf einen neuen Boden stellte, indem es den ganzen Organismus derselben in den Kreisschulräten der Schule selbst entnahm und der geistlichen Schulaufsicht ein Ende machte. An den lang dauernden Kommissionsberatungen über dieses letztere hatte ich ebenfalls teilzunehmen. Dieses neue Schulgesetz hat es bewirkt, daß im Lauf der nächsten Jahre in einzelnen Städten die Volksschule von selbst zur Einheitsschule wurde, indem viele Eltern ihre Kinder wenigstens in den niederen Klassen in die Volksschule schickten, ein Brauch, der übrigens, wie mein eigenes Beispiel zeigt, für die Einwohner der ländlichen Bezirke lange schon vorher bestand. Aber hatte in früherer Zeit dies nur ausnahmsweise gegolten, so war es immerhin die städtische Schule, die dies jetzt zum erstenmal Da und Dort erlebte, und ich halte es nicht für unmöglich, daß sich diese Gewohnheit fortgesetzt und befestigt haben würde, wenn nicht in der Folgezeit die in diesen Gegenden in ihren Anfängen erst um 1870 sich regende und vollends erst 1875 endgültig konstituierte sozialdemokratische Partei diesen Frieden gestört und damit auch die Schule wieder in ihren früheren Zustand zurückgeworfen hätte. Welche Umstände in Süddeutschland gegenüber den Wandlungen jenseits der Mainlinie den Übergang der alten harmlosen Bildungsvereine in sozialdemokratische Arbeitervereine verzögert haben, steht dahin. Die im ganzen bessere Lage der Arbeiter sowie die in den unteren und mittleren Teilen Badens nicht seltene Erscheinung, daß der auf einem kleinen Acker sitzende Bauer zugleich in der benachbarten Fabrik oder Stadt als Industriearbeiter tätig ist, mag das meiste dazu beigetragen haben. Auch wird wohl die größere Blüte, die sie in Süddeutschland erlebt haben, immerhin die Bildungsvereine hier etwas längere Zeit in dem Stadium festgehalten haben, das die Vereine der nördlichen Länder schon längst überschritten hatten. Ebenso mag der demokratischere und darum zur Ignorierung der Klassenunterschiede geneigtere Charakter des Süddeutschen dabei eine gewisse Rolle spielen.
Mehr als ein ausgeprägtes Standesbewußtsein fehlte aber dem Süddeutschen von damals ein fest bestimmtes Nationalbewußtsein. Als Deutscher fühlte sich jeder, aber ob Preußen oder Österreich als die deutsche Vormacht anzusehen sei, darüber herrschte große Unsicherheit, und die Mehrzahl der Bevölkerung stand wohl auf österreichischer Seite. Auch gingen die Sympathien naher Freunde und Verwandter manchmal weit auseinander. In dieser zweifelhaften Lage hatte die Kammer der Landstände durch die Rückwirkung, die sie auf weitere Kreise übte, eine nicht geringe Bedeutung, und vom Tag von Königgrätz an standen die führenden Mitglieder der Landstände, in der ersten Kammer Bluntschli, in der zweiten Eckhart und Kiefer, entschieden auf preußischer Seite. Diese feste Haltung der Volksvertretung trug aber wesentlich dazu bei, der übrigen Bevölkerung die gleiche Haltung mitzuteilen, soweit nicht konfessionelle Gegensätze entgegenwirkten. Das war jedoch in den beginnenden sechsiger Jahren verhältnismäßig wenig der Fall, da hier die liberale Gesetzgebung Lameys alle Kreise mitgerissen hatte. Charakteristisch dafür ist der gewaltige Wandel der Parteiverhältnisse, der sich in der badischen Kammer in den Jahren von 1860 bis 1870 und nach 1870 vollzog. In dem ersten dieser Jahrzehnte zählte die katholische Partei in der zweiten badischen Ständekammer zwei Mitglieder unter im ganzen 65. Der eine war ein Kaufmann, der andere ein Mitglied des obersten Gerichts. Beide repräsentierten charakteristisch verschiedene Typen der sogenannten ultramontanen Partei. Der Kaufmann verkündete seine Gesinnung in tunlichst schwarzer Färbung. Von dem Richter, der sehr lange Reden hielt, behauptete man, er rede gemäßigt bis zu dem Moment, wo die Kammerkollegen vor dem Strom seiner Rede in die Vorhalle geflüchtet waren. Diese Situation, die den Kampf gegen die Ultramontanen zu einer harmlosen Beschäftigung gemacht hatte, veränderte sich gewaltig nach dem Jahre 1870: jetzt hatte sich das Verhältnis derart gewandelt, daß die ultramontane Partei so lange die absolute Majorität hatte, bis das oben erwähnte Wahlkartell der Liberalen und Sozialdemokraten zustande gekommen war.
Anders standen die Dinge im Anfang des ereignisreichen Sommers 1866. Hier war die allgemeine Stimmung gegen Bismarck und außerhalb Preußens gegen Preußen gerichtet, die man als die Urheber der schleswig-holsteinischen Verwicklungen und der aus ihnen entsprungenen Kriegsgefahr ansah. Selbst die preußischen Städte mit einziger Ausnahme Breslaus und das preußische Abgeordnetenhaus erhoben laute Proteste gegen einen deutschen Bruderkrieg, und in den nichtpreußischen Staaten entstand eine lebhafte Bewegung für strenge Neutralität, falls der Krieg zwischen den beiden Großstaaten wirklich ausbrechen sollte. Vor allem im Monat Mai hatte sich diese antipreußische Bewegung auf das äußerste zugespitzt. Auch bestand in der Süddeutschen Bevölkerung von Anfang an aus Anlaß der nahen verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Großherzog und dem preußischen Königshaus ein Verdacht gegen Baden, nach welchem sich dieses in einer schwankenden Lage zwischen seiner Pflicht als Bundesstaat und seiner Hinneigung zu Preußen befinden sollte. Dieser Verdacht, der gelegentlich auch in der Presse seinen Ausdruck fand, war jedoch zweifellos unbegründet. Vielmehr ließ der Großherzog vollkommen frei seine Minister walten, und diese hatte er genau, wie sie der Konflikt der beiden Großstaaten vorgefunden, in ihren Stellungen belassen. Ihre Wahl aber war durch die inneren Verhältnisse des Landes bestimmt gewesen. In dieser Beziehung stand in Baden alles unter dem Einfluß der im Jahr 1860 vorangegangenen Volksbewegung, die durch das mit der Kurie geschlossene Konkordat veranlaßt worden war. Gegen dieses Konkordat waren aus dem ganzen Lande zahlreiche Petitionen eingegangen, die den Großherzog veranlaßten, den leitenden Minister Stengel zu entlassen und den der liberalen Partei angehörigen August Lamey zum Minister des Innern zu ernennen. In der gleichen Zeit konstituierte sich dann die liberale Partei der badischen Kammer nach dem Vorbild der führenden Mehrheitspartei des preußischen Abgeordnetenhauses als »Badische Fortschrittspartei«. Hier kam nun die gegen den Krieg gerichtete Bewegung in einer vertraulichen Beratung zum Ausdruck, zu der das gesamte Ministerium in dieser Zeit eine Anzahl Abgeordneter, zu denen auch ich gehörte, einlud. Dabei bot das Ministerium selbst in seiner Zusammensetzung ein treues Bild der in dieser seit überall in Deutschland herrschenden Ratlosigkeit, aber auch im ganzen einer gegen Preußen gerichteten Stimmung. Das Wort führte der Minister des Auswärtigen Freiherr von Edelsheim. Seine Reden bildeten eine Fortsetzung der Polemik, die er seit vielen Tagen in der solcher Dinge sehr ungewohnten offiziellen Karlsruher Zeitung gegen Bismarck richtete. Diesem Baron von Edelsheim, einem Herrn von überwältigender Körpergröße, dem Bruder eines österreichischen Dragonergenerals, sprach die Überzeugung von dem Recht Österreichs und von der bevorstehenden Niederlage Preußens aus jedem seiner Worte. Um so stiller hielt sich Lamey, der Minister des Innern. Er spiegelte in seinem ganzen Wesen die Verwirrung dieser Stunden; und von ganzem Herzen, in seinem Tun und Wesen ein echter Süddeutscher, hatte er seine großdeutsche Gesinnung in den vorangegangenen Kammerverhandlungen nicht verleugnet. Eine besonders charakteristische Figur war sodann der Finanzminister Vogelsang, der in einem fort versicherte, er könne noch immer nicht glauben, daß es wirklich zum Kriege kommen werde, und der allerdings, als ein an eine lange Friedenszeit gewöhnter Bürokrat ohne politische Neigungen, sich in seinen finanziellen Maßregeln allzu wenig um die bedrohliche Lage gekümmert hatte. Dazu kam als ein weiterer schlechthin bürokratischer Bestandteil der Regierung der Justizminister Stabel, ein bedeutender Jurist, aber spezifisch badischer Politiker, der den sich vorbereitenden Weltereignissen fremd und ängstlich gegenüberstand. Das weitaus hervorragendste Mitglied dieses Ministeriums war endlich Karl Mathy als damaliger Handelsminister, der die Reden Edelsheims und die finanzpolitischen Entschuldigungen seines Kollegen Vogelsang nur durch wenige, meist ironische Bemerkungen unterbrach, im übrigen aber dem Redestrom des österreichisch gesinnten Außenministers freien Lauf ließ.
In den gleichen Tagen spielte sich in der ersten Kammer der Landstände zwischen den beiden ihr angehörigen Staatsmännern, Robert von Mohl, der seinen Posten als Bundestagsgesandter in Frankfurt verlassen hatte, um dieser politischen Aktion beizuwohnen, und Bluntschli, dem Abgesandten der Universität Heidelberg, eine inhaltsreiche Debatte ab, der beide ihre weit voneinander abweichenden Ansichten über die Zukunft aussprachen. Mohl blickte düster in diese. Ein langer, vielleicht jahrelanger Krieg werde die deutschen Staaten in zwei feindliche Lager zwingen, um als wahrscheinlich letzten Erfolg die bleibende Spaltung des deutschen Bundes in zwei feindliche Staatengruppen herbeizuführen. Aus völlig entgegengesetzter Tonart klang Bluntschlis Rede. Mit einer merkwürdigen Voraussicht der Wirklichkeit prophezeite er, dieser Krieg werde der kürzeste sein, den die Welt seit langem gesehen, denn Bismarck sei ebenso den österreichischen Staatsmännern wie die preußische Armee in ihrer musterhaften Disziplin dem buntscheckigen österreichischen Heer überlegen.
Wenige Tage Später, am 20. Mai, trat endlich in Frankfurt a. M. ein deutscher Abgeordnetentag zusammen, um eine laute Kundgebung des gesamten deutschen Volkes gegen den bevorstehenden Krieg zu veranstalten. Im großen Saal des Frankfurter Saalbaues fand sich eine Versammlung von Mitgliedern der Abgeordnetenkammern zusammen, wie sie Deutschland seit den Tagen der Paulskirche nicht wieder gesehen hatte. Die Süddeutschen waren vollzählig, die Mitteldeutschen sehr zahlreich vertreten, und aus Preußen und Norddeutschland waren mehrere Abgeordnete erschienen. Diese Kundgebung gegen den Krieg konnte daher als die eindrucksvollste gelten, die überhaupt stattfand, um so mehr als die Resolution, nach der der drohende Krieg als ein nur »dynastischen Zwecken dienender Kabinettskrieg« verurteilt wurde, noch die mildeste Fassung war, die schließlich Annahme fand, nachdem eine schärfere, die den Eintritt in den Krieg für Österreich und gegen Preußen als eine patriotische Pflicht verlangte, abgelehnt worden. Verstärkt wurde der Eindruck durch den Verlauf der Versammlung. Er ist unter allen parlamentarischen Versammlungen ein so tumultarischer gewesen, wie ich ihn sonst niemals gesehen habe, und wie er zu jener Zeit überhaupt deutschen Gewohnheiten fremd war. Als nach erregter Debatte zwischen den Vertretern der beiden Anträge der bayrische Abgeordnete Völk den Majoritätsantrag begründete, erklangen plötzlich von der Galerie aus mehrere Kanonenschläge. Alles erhob sich, Völk trat vom Podium zurück. Im Parterre erhob sich Blumschli mit dem Ausruf: »Fort nach Heidelberg zur Fortsetzung der Debatte!« Da sprang Schultze-Delitzsch auf das Podium und rief mit Stentorstimme in den Saal hinaus: »Hierbleiben, niemand rühre sich von der Stelle!« Das Wort wirkte momentan. Die Debatte wurde wirklich zu Ende geführt und die vom Ausschuß vorgeschlagene Resolution mit großer Majorität angenommen. Die Kanonenschläge stellten sich als harmlose Pedarten heraus, die außer dem beabsichtigten Schrecken kein Unglück herbeiführten. Aber unmittelbar nach der Versammlung wurde von den Demokraten der Galerie, denen sich eine große zusammengelaufene Menge anschloß, eine Volksversammlung abgehalten, die eine den Minoritätsantrag noch übertrumpfende Resolution annahm. Sie erklärte die preußische Politik für eine verbrecherische, der gegenüber Neutralität Feigheit oder Verrat sei!
Mit dieser dreifachen Demonstration hatte die antipreußische Bewegung in Deutschland ihren Kulminationspunkt erreicht. Dennoch, als wenig über einen Monat später die Schlacht von Königgrätz die Niederlage der österreichischen Armee besiegelt und jene Voraussage Bluntschlis in der Sitzung der ersten badischen Kammer glänzend bestätigt hatte, da trat nicht minder eine beinahe ganz Deutschland ergreifende Umwälzung der Volksstimmung ein, wie sie in so kurzer Zeit wohl niemals gewaltiger erfolgt ist. Nun war plötzlich Preußen der Hort der Zukunft, Bismarck, der vorher bestgehaßte deutsche Staatsmann, der Wiederhersteller des alten deutschen Reichs in neuer, verheißungsvoller Form geworden! Und jetzt vollzog sich allerdings diese Wendung verhältnismäßig am schnellsten in Baden. Das badische Bundeskontigent war getreu seiner Bundespflicht unter dem Kommando des Markgrafen Wilhelm, des Bruders des Großherzogs, gegen Preußen ins Feld gezogen. Immerhin hatte schon der Anfang des Feldzugs, wie es schien, eine retardierende Wirkung auf die kriegerischen Bewegungen dieser Armeeabteilung ausgeübt. Wenigstens die Süddeutsche Presse war geneigt, als ein Telegramm des Prinzen mit den lakonischen Worten »Staubwolken, daher Rückzug« einlief, diesen Armeebericht auf ein Scheinmanöver zu deuten, das darauf berechnet sei, kriegerische Verwicklungen zu vermeiden. Dieser Verdacht war vielleicht unbegründet. Jedenfalls trat die öffentliche Wendung der Dinge auch in Baden erst nach dem Friedensschluß ein. Das Ministerium, das uns Abgeordnete durch den Mund des Herrn von Edelsheim über die Zukunft des Landes belehrt hatte, löste sich auf. Zum leitenden Minister wurde Mathy, der während des Krieges entlassen worden war, zum Minister des Auswärtigen von Freydorf ernannt, die von da an der Regierung ihren in erster Linie den Anschluß an den norddeutschen Bund erstrebenden Charakter gaben und zu diesem behalf, wo immer es möglich war, die Einführung übereinstimmender Einrichtungen, vor allem in der Wehrverfassung, erstrebten.
Die Lage des badischen Landes in der dem Jahre 1866 folgenden Zeit war keine beneidenswerte. Napoleon III. verfolgte den Plan, aus den Süddeutschen Staaten unter dem Vorsitz Bayerns eine Art Pufferstaat herzustellen, der eine bis zu einem gewissen Grad neutrale Zone zwischen Preußen und seinen Alliierten und Frankreich bilden sollte. Bayern war nicht abgeneigt, diese Stellung zu übernehmen, wie dies noch ein Jahr später, im Oktober 1867, eine von dem bayrischen Minister Hohenlohe, dem späteren Reichskanzler, in der bayrischen Kammer gehaltene Rede deutlich erkennen ließ. Die badische zweite Kammer reagierte auf diese Rede sofort mit einer Interpellation, in der sie dieses Programm weit von sich wies, und durch die sie eine natürlich in gleichem Sinne lautende Äußerung des Ministers von Freydorf provozierte. Da ich selbst diese Interpellation einbrachte, so weiß ich, daß sie, wie die meisten Interpellationen ähnlicher Art, mit dem Ministerium verabredet war, um jenem Projekt ein für allemal ein Ende zu machen. Übrigens ließ der Norddeutsche Bund, soviel ich mich erinnere, die offizielle Bitte Badens um Aufnahme unbeantwortet. Auch als später Mathy noch einmal persönlich sich an Bismarck mit der gleichen Bitte wandte, antwortete dieser bedauernd, aber ablehnend.
Es war eine trübe Zeit, die nun folgte, und in der das Land Baden jahrelang die Rolle eines verstoßenen Kindes spielte, anscheinend ein selbständiger Staat und doch in allem dem Vorbild des norddeutschen Bundes folgend, jeden Augenblick bereit, diesem Bund beizutreten und doch immer wieder ablehnend beschieden. Nirgends ist wohl die Unhaltbarkeit dieser deutschen Zustände bis zum Ausbruch des Krieges von 1870 so fühlbar gewesen wie in Baden, und am drückendsten machte sich dieser Zustand in der Ständekammer geltend, die mehr und mehr die eigene Tätigkeit, soweit sie sich auf die allgemeineren deutschen Verhältnisse bezog, als eine überflüssige empfand. Mir persönlich wurde diese Lage schließlich unerträglich, und im Jahre 1868 legte ich mein Mandat nieder, um wieder ganz zu meinem akademischen Beruf zurückzukehren. Eines der letzten Ereignisse, die ich in Karlsruhe erlebte, war die Trauerfeier für Karl Mathy. Er hatte trotz einer heftigen Erkältung keine der täglichen Kammersitzungen versäumt, da erlag er am 3. Februar 1868 in wenigen Tagen einer Lungenentzündung. Der Zug, der seinem Sarg durch die Straßen Karlsruhes folgte, war eines der größten Leichenbegängnisse, die ich je gesehen habe. An der Spitze ging der Großherzog Friedrich, ihm folgten die Minister, die Landstände beider Kammern, die höheren Offiziere und Beamten der Stadt und zuletzt eine große Zahl von Karlsruher Bürgern und auswärtigen Verehrern und Freunden. Das Gefühl war in allen lebendig, daß in Mathy ein Mann geschieden sei, in welchem die politische Zukunft des Deutschen Reichs einen ihrer Besten verloren habe. Sein Gedächtnis ist uns in zwei Dokumenten aufbewahrt, die der Freundschaft ihren Ursprung verdanken, welche er, als er während mehrerer Jahre die Direktion der Leipziger Allgemeinen Kreditanstalt führte, mit Gustav Freytag geschlossen hatte. Das eine dieser Dokumente ist die im letzten Band der »Bilder aus der deutschen Vergangenheit« enthaltene, von Mathy selbst verfaßte Schilderung seines Lebens als Volks- schullehrer, das er, vor der trüben Reaktionszeit der dreißiger Jahre fliehend, in einem Dorf des Kantons Solothurn zubrachte. Das zweite Dokument ist die lesenswerte Biographie, die Freytag dem Andenken Mathys gewidmet hat.
Von der Totenfeier Karl Mathys, die ich in gewissem Sinn als den Abschluß meines politischen Lebens betrachten darf, kehre ich zu meinen Anfängen zurück. Wenn es etwas gab, was mich innerhalb meiner politischen Laufbahn an diese Anfänge manchmal erinnerte, so waren es die Beratungen über das badische Schulgesetz, an denen es mir vergönnt war, teilzunehmen. Nicht als ob ich bei diesen Beratungen meinen eigenen pädagogischen Erfahrungen etwas hätte entnehmen können. Denn mir war das Schicksal beschieden, abgesehen von jenen beiden frühesten Jahren der Volksschule, die wohl mancherlei Erinnerungen, aber kaum irgend erhebliche Erziehungsresultate in der Seele des Kindes zurückließen, meine Jugend im Elternhause ohne Geschwister und ohne Mitschüler zu verleben. Von meinen drei älteren Geschwistern waren zwei vor meiner Erinnerung gestorben, und der einzige überlebende Bruder hatte, acht Jahre älter als ich, das Elternhaus in meiner frühesten Jugend verlassen, um bei einer Schwester meiner Mutter in Heidelberg untergebracht zu werden, wo er von der untersten Klasse an das Gymnasium besuchte und zusammen mit deren beiden Kindern, einem Sohn und einer Tochter, erzogen wurde. Ich selbst blieb dagegen im Elternhause, um vom zweiten Schuljahr an von einem neuen Vikar unterrichtet zu werden, der sein Zimmer mit mir teilte. Dieser noch ziemlich jugendliche Hilfsgeistliche meines Vaters mit Namen Friedrich Müller war nun mein eigentlicher Erzieher. Mich verband mit ihm eine Liebe, wie sie selten zwischen einem Lehrer und seinem Zögling vorkommt. Er stand mir näher als Vater und Mutter, und als er nach mehreren Jahren auf eine eigene in der Nähe liegende Pfarre in dem Orte Münzesheim berufen war, wurde ich von so unnennbarem Heimweh ergriffen, daß meine Eltern auf seine Bitte sich entschlossen, das Jahr, das ich noch dem Gymnasium ferngehalten werden sollte, mich zu ihm übersiedeln zu lassen. So verlebte ich denn schon die Jahre in Heideisheim fast ohne Gefährten. Denn der allerdings beinahe tägliche Gefährte, den ich vor meinem Elternhaus anzutreffen pflegte, war ein Blödsinniger, etwas älter als ich, kaum der Sprache mächtig, aber unendlich gutmütig und sichtlich ebenso mir wie ich ihm zugetan. Außerdem verkehrte ich mit einigen Erwachsenen, die ich in ihren Wohnungen häufig besuchte. Da waren zunächst zwei ältere Frauen, die Töchter eines vormaligen Geistlichen des Ortes, mit ihrem etwas jüngeren Bruder, der den ihn nur wenig beschäftigenden Beruf der Buchbinderei betrieb. Er hinkte und war eine höchst originelle, in seiner Weise geistreiche Persönlichkeit. Er steckte voll abenteuerlicher Geschichten, die er dem Knaben erzählte und die er alle selbst erlebt haben wollte. Daneben war er jederzeit zu Scherzen, Verkleidungen und Komödienspielen bereit, so daß der Verkehr mit ihm um so mehr eine Quelle unaufhörlicher Unterhaltung war, als ich seine Geschichten doch immer halb und halb glaubte und er überdies in seinen bald erheiternden, bald staunenerregenden Bemühungen auch von den beiden Schwestern in etwas gemäßigterer Weise unterstützt wurde. Waren nach dem Hause dieses trefflichen Geschwistertrifoliums, das dem unseren gerade gegenüber lag, fast täglich einmal meine Schritte gerichtet, trotz der Gefahren, die mir auf dem Wege dahin über den Marktplatz von den verfolgenden Dorfgänsen drohten, so gab es noch einige andere Freundschaften, die ich zuweilen pflegte. Da war es besonders eine Judenfamilie, die nicht nur mit mir, sondern auch mit meiner Mutter einigen Verkehr hatte. Die Großmutter dieser Familie handelte mit allerlei Waren und verfehlte nicht, um die jüdische Osterzeit einige Osterbrote als Geschenk zu überbringen; der Vater wanderte Tag für Tag als Hausierer in der Umgegend herum. Für mich aber war es ein besonderes Fest, wenn ich ihn gelegentlich einmal in die Synagoge begleiten durfte oder wenn ich von ihm zu dem Laubhüttenfest in seine Wohnung geladen wurde. Noch stehe ich unter dem erhebenden Eindruck, den es auf mich machte, wenn der Mann, den ich sonst nur gebückt unter seinem über die Schulter gehängten Sack durch die Straßen gehen sah, aufrecht und feierlich, von schmückendem Laub umgeben, die Festgebete rezitierte.
Gegenüber solchem regelmäßigeren Verkehr bildete die Teilnahme an dem Spiel, namentlich dem Ballspiel, einer größeren Zahl zufällig auf dem Marktplatz zusammengelaufener Straßenjungen eine seltene Ausnahme, das mir übrigens auch wenig Freude bereitete, da meine Mitspieler mir an körperlicher Gewandtheit beträchtlich überlegen fühlten. Nur ein einziges alljährlich am Ostertag unter der Teilnahme der gesamten Dorfjugend stattfindendes Fest blieb auch mir nicht erspart: das war das Wettspiel der Ostereier am Ostermontag nach der Kirche. Vor dem Gottesdienst waren den Kindern die Ostereier, meist unter Blumen und Büschen versteckt, beschert worden; dann fand sich mit auserlesenen Eiern bewaffnet die Jugend in einem dichten Haufen auf dem Marktplatze ein, wo das Eierpicken begann. Der Junge, dessen Eispitze die des anderen zertrümmerte, erhielt dieses als Gewinn. Es pflegte aber unter den Wettenden niemals an solchen zu fehlen, die künstliche Eier hergestellt hatten, welche ihres Eiinhalts entleert und mit Pech gefüllt waren. Zwar entging dieses Verbrechen, wenn es entdeckt wurde, nicht einer tüchtigen Prügelstrafe. Aber es wurde doch oft genug nicht entdeckt, und namentlich der Pastorensohn ging in der Regel betrübt, weil eines beträchtlichen Teils seiner Eier auf diesem Wege beraubt, wieder nach Hause.
Meine früheste Erziehung lag hauptsächlich in den Händen meiner Mutter, die mich mit unendlicher Güte behandelte, es aber dabei doch auch nötigenfalls an einer empfindlichen körperlichen Strafe nicht fehlen ließ, wogegen ich mich von Seiten meines Vaters, abgesehen von der früher erzählten Schulstrafe, im Hause selbst an nicht seltene Liebkosungen erinnere, bei denen er sich manchmal der seltsamsten Kosenamen bediente. In der Familie waren meine Eltern wegen ihrer Neigung, Geselligkeit zu pflegen, berühmt, während sie doch beide wegen ihrer sonst sehr entgegengesetzten Eigenschaften, die Mutter wegen ihrer strengen Sparsamkeit, der Vater wegen seines Mangels an dieser bekannt waren. Von mir wurde infolgedessen schon in meiner frühen Jugend behauptet, die Neigung zur Geselligkeit sei auf mich von beiden Eltern, der Mangel an Wirtschaftlichkeit aber bloß vom Vater übergegangen.
Übrigens ist mir die Eigenart meines Vaters aus vielen einzelnen Zügen in lebhafter Erinnerung. Er war jederzeit zu Scherzen und zum Erzählen heiterer Anekdoten aufgelegt, Freigebig aber war er im Übermaß. Noch bestand zu jener Zeit die Einrichtung, daß das Gehalt des Geistlichen zu einem großen Teil in den Naturalien bezahlt wurde, die von dem Ertrag der verpachteten Pfarräcker entfielen. Keiner der Bäuerlein, die einen Teil dieses Ertrags zu liefern hatten, tat aber eine Fehlbitte, wenn er wegen der schlechten Zeiten um Erlaß seiner Jahresschuld bat, bis endlich wegen der bedenklichen Folgen dieser Freigebigkeit die Verwandten es durchsetzten, daß meine Mutter die Verwaltung übernahm.
Zuweilen wurde ich mitgenommen, wenn meine Eltern in der benachbarten Stadt ihre Einkäufe machten. Bei solchen Geschäften bestand nun die allgemeine Sitte, daß der Käufer an dem Preis etwas herunter handelte, und meine Mutter machte von dieser Sitte ziemlich reichlichen Gebrauch. Dabei geschah es denn, daß sich mein Vater in diesem Streit auf die Seite des Kaufmanns stellte, so daß dieser, der ein ehrlicher Mann war, gelegentlich wieder umgekehrt die Partei der Mutter nahm und ihm entgegnete: »Es geht schon an, Herr Pfarrer, daß ich den Preis etwas herabsetze!«
Dagegen reichte beider Teilnahme an meinem Unterricht nur in meine früheste Lebenszeit zurück, wo mein Vater zuweilen des Abends mir etwas Geographie beibrachte und meine Mutter mich mit französischen Wörtern oder Sätzen bekannt machte. Es mag sein, daß in beiden Fällen der eigene Jugendunterricht der Eltern nachwirkte. Mein Großvater väterlicherseits, den ich nicht mehr gekannt habe, war Pfarrer in dem Ort Wieblingen und daneben Professor der Landeskunde und Volkswirtschaft an der Universität Heidelberg gewesen; meine Mutter war in der späteren bayrischen Pfalz geboren und war dort unter der Leitung einer französischen Erzieherin des Französischen so mächtig geworden, daß sie, obgleich sie es später nicht mehr übte, doch noch als 40 jährige Frau mit einem gelegentlich das Dorf passierenden französischen Hausierer sich zu meinem Erstaunen trefflich zu unterhalten wußte.
Bei unserem jährlichen, meist einige Wochen dauernden Besuch bei meinem Großvater mütterlicherseits in Heidelberg griff übrigens dieser, der ein sehr strenges häusliches Regiment führte, in meine Erziehung ein. Er war Güterverwalter des ansehnlichen Besitztums gewesen, das die Universität vor der französischen Revolution jenseits des Rheins besessen, und war dann, als dieser Besitz an Frankreich verloren gegangen war, nach Heidelberg gezogen, wo er nun im emeritierten Zustand seinen Tag zwischen zwei Beschäftigungen teilte. Die eine Hälfte war einer mehrere Zimmer füllenden Blumenzucht, die andere dem Klavierspiel gewidmet. Seine musikalische Hinterlassenschaft, aus einem großen Teil der Werke Mozarts bestehend, erinnere ich mich noch in meiner Jugend gesehen zu haben. Er war ein Mann der größten Präzision und nahm es sehr übel, wenn die tägliche Ordnung nicht auf das genaueste festgehalten wurde. Seine Kinder, zwei Söhne, der eine der spätere bekannte Gehirnanatom Friedrich Arnold, der andere ein vielbeschäftigter Arzt und Titularprofessor Wilhelm Arnold, und drei Töchter, von denen die jüngste, unverheiratet geblieben, seinen Haushalt führte, redeten ihn nach der Sitte der Zeit mit dem ehrerbietigen »Sie« an, während er sie zeitlebens als Kinder behandelte. In den Wochen, die ich als Knabe bei ihm in Heidelberg zubrachte, in der Zeit meiner Erinnerung in dem Hause Ecke der Schiffgasse gegenüber dem Gasthof zum badischen Hof, pflegte er sich gründlich mit meiner Erziehung zu beschäftigen. Namentlich geschah das auf täglichen Spaziergängen in der Umgebung der Stadt. Unter diesen Spaziergängen spielte der »Pariser Weg«, eine schmale Gasse außerhalb der Stadt an der Stelle der jetzigen Anlage oder Leopoldstraße eine besondere Rolle. Denn dieser Weg führte zu dem Bahnhof, den mein Großvater und ich von seiner ersten Entstehung bis zu seiner Vollendung verfolgten. Noch entsinne ich mich deutlich des ersten Aktes dieser Entstehungsgeschichte. Er bestand in der Ausrottung eines größeren Weinberges, der hier vor der Stadt gelegen war, die von mehreren Frauen unter empörtem Weinen und Zanken über diese ihnen zugemutete Enteignung ausgeführt wurde. Dann, als der erste kleine Bahnhof errichtet war, sehe ich uns beide unter einer großen Zahl von Menschen, die sich hier angesammelt, um den ersten Bahnzug von Heidelberg nach Mannheim abgehen zu sehen. Noch sehe ich auf der kleinen Lokomotive den Lokomotivführer, von dem mir mein Großvater sagte, er sei ein Engländer und unterrichte die Deutschen in der Lokomotivführung. Eine längere Zeit wiederholten sich diese Spaziergänge täglich. Auch gab es eine große Zahl anderer Bewohner, die keinen Zug abgehen ließen, ohne ihn anzusehen. Ein zweiter Spaziergang war nach dem ebenfalls vor der Stadt gelegenen sogenannten »Arboretum«, dem jetzigen »Wredeplatz« gerichtet. Doch geschah dies häufiger nicht in Begleitung des Großvaters, sondern eines älteren Dienstmädchens, und in Zeiten, in denen die älteste Tochter meines Oheims zu Besuch war, die, etwas älter als ich, als Vorzugsperson behandelt wurde, und zu der ich selbst mit großem Respekt emporblickte. Weniger erfreulich als diese Spaziergänge war die häusliche Erziehung des Großvaters. Hier war er sehr streng und ließ es an empfindlichen Strafen nicht fehlen. So erinnere ich mich, von ihm wegen irgendeines Vergehens eines Tages in den vom Hausgang aus zugänglichen dunklen Ofenraum zu meinem Entsetzen eingesperrt worden zu sein, eine Strafe, die sogar das tiefste Mitleid meiner Mutter erregte.
Einen wesentlich anderen Charakter nahm meine Erziehung an, als etwa mit meinem achten Lebensjahre der Vikarius Friedrich Müller diese und mit ihr einen regelmäßigen Unterricht übernahm, bei dem das Lateinische zu den Gegenständen der Volksschule hinzutrat. Diese Erziehung bildete den vollen Gegensatz zu jener allerdings nur zeitweise mir zuteil werdenden des Großvaters. Ich erinnere mich nicht, von diesem meinem geliebten und bewunderten Lehrer Müller jemals eine Strafe erlitten zu haben. Der Unterricht fand alltäglich außer Sonntags auf seinem Zimmer statt, das zugleich Tag und Nacht mein eigenes Zimmer war. Da aber mein Lehrer außerdem seinem Pfarrberuf nachzugehen hatte, so war er genötigt, mich während eines großen Teils der Zeit mir selbst zu überlassen, nachdem er mir meine Aufgaben gestellt hatte. So kam es, daß ich mich sehr bald an einsames Arbeiten gewöhnte, und noch mehr, daß ich während der meisten Zeit, während deren ich meine Aufgaben erledigen sollte, mich mit diesen überhaupt nicht beschäftigte, sondern mit freiem Phantasieren zubrachte. Ich wartete gelegentlich mit Sehnsucht darauf, daß mich mein Lehrer verließ, um mich dann sofort allerlei erdichteten Erlebnissen hinzugeben, die nicht selten von einem auf den anderen Tag sich fortsetzten. Gewöhnlich nahm ich die neben mir liegende Feder zur Hand, bewegte sie rhythmisch auf und ab, während ich starr in das vor mir liegende Buch blickte, ohne irgend etwas darin zu lesen. Diese Phantasiespiele wurden allmählich zur Leidenschaft, und ich zog mir damit eine immer größer werdende gewohnheitsmäßige Unaufmerksamkeit auf alles, was um mich her vorging, zu. Sie hat mich dann noch in meine spätere Schulzeit und durch diese hindurch in die große Mehrzahl meiner Universitätsvorlesungen begleitet, so daß ich mich eigentlich nur weniger unter diesen erinnern kann, die ich mit Ausdauer infolge des besonderen Interesses, das in mir der Vortragende erregte, verfolgt habe. Hauptsächlich stehen mir als solche Ausnahmen zwei Vorlesungen in lebendiger Erinnerung, die übrigens sehr verschiedene Gegenstände behandelten: die eine war ein Kolleg des Physikers Jolly, eines Dozenten, der als Forscher unbedeutend war, aber eine eminente Lehrgabe besaß, die zweite ein solches meines Lehrers Ewald Hasse über pathologische Anatomie. Andere von meinen Mitzuhörern viel bewunderte Vorlesungen gingen an mir spurlos vorüber. Besonders begegnete mir das auch bei dem einzigen philosophischen Kolleg, das ich während meiner Studienzeit gehört habe: bei der Vorlesung über Ästhetik von Friedrich Theodor Vischer, die dieser als damaliger Professor in Tübingen während meines ersten Semesters hielt, ausgenommen die wenigen Stunden, in denen Vischer den eben erschienenen und von mir mit großem Interesse gelesenen Roman von Karl Gutzkow »Die Ritter vom Geist« besprach.
Dagegen ging im gemeinsamen Unterricht das einsame Phantasieren im allgemeinen in gewöhnliche, regellos hin und her schweifende Zerstreutheit über. Natürlich ist das nicht eine individuelle Eigenschaft, sondern sie kommt gewiß manchen Kindern zu; aber sie tut es, wie man an den begleitenden Gebärden beobachten kann, vorzugsweise bei dem einsamen, nicht dem gemeinsamen Spiel, und von ihm aus überträgt sie sich auf die einsame Arbeit, während sie durch das Zusammenspiel und ebenso durch Zusammenarbeiten in der Schule verdrängt wird. Immerhin mag es sein, daß derartige reine Phantasiespiele des einsamen Kindes ihrerseits als Übungen der Phantasie einen gewissen Wert haben. Wenn man aus den diese Spiele begleitenden Gebärden schließen darf, so ist übrigens die Neigung und Anlage zu diesen einsamen ebenso wie zu den gemeinsamen Spielen wieder eine sehr verschiedenartige bei verschiedenen Kindern. Jedenfalls ist aber die einsame Erziehung durch die Begünstigung dieser Eigenschaft in besonderem Grade dazu angetan, den Unterricht zu erschweren.
Daß mein guter Lehrer Müller nicht imstande war, die hieraus entspringenden Hemmnisse zu überwinden, erwies sich nun freilich, als ich in meinem 13. Lebensjahre in die 4. Klasse des Gymnasiums zu Bruchsal aufgenommen wurde. Die Aufnahmeprüfung war eine übertrieben milde, so daß ich dadurch ebenso wie durch die Umgewöhnung an gemeinsamen Unterricht hinter meinen Mitschülern zurückblieb und so von Anfang an dazu verurteilt war, in der Klasse sitzen zu bleiben. Dazu kamen die besonderen Verhältnisse des nur sieben, nicht die normalen neun Klassen umfassenden Gymnasiums. Dieses war nämlich im wesentlichen, in Erinnerung daran, daß Bruchsal dereinst eine bischöfliche Residenz gewesen, eine katholische, nur von wenigen protestantischen Schülern besuchte Anstalt. Einige Lehrer, darunter namentlich einer der an meiner Klasse unterrichtenden, waren Priester, und ein unverhältnismäßig großer Teil der Schüler bestand aus Bauernjungen der Umgebung, die auf den künftigen Kaplan studierten, und von denen die paar Protestanten, die der Klasse angehörten, sich erzählten, sie besuchten regelmäßig diesen Lehrer, und berichteten ihm über alles, was in seiner Abwesenheit in der Klasse vorkomme. Darin spiegelten sich die Nachwirkungen der alten Bischofsstadt, die noch immer eine große konfessionelle Mannigfaltigkeit dieser Gegend zurückgelassen hatte, so daß z. B. Bruchsal selbst in seiner Majorität katholisch, das nur eine Wegstunde entfernte Heidelsheim aber protestantisch und außerdem mit sehr vielen Juden bevölkert war, von denen sich die reicheren mit Pferdehandel, die ärmeren mit Hausierhandel beschäftigten. Sie sollen seitdem ganz aus diesem Ort verschwunden und nach den größeren Städten verzogen sein. Nun hatten mich zwar meine Eltern in Bruchsal bei einem protestantischen Diakonus untergebracht, bei dem ich im ehemaligen bischöflichen Schloß wohnte, aber jene für den Pfarrersohn unerfreulichen konfessionellen Gegensätze der Schule neben dem Gefühl der Unzulänglichkeit gegenüber meinen Mitschülern machten mir namentlich den Winter dieses Gymnasiums zu einer Schule des Leidens, und eines Tages ergriff ich die Flucht, um zu meinen Eltern heimzukehren, was mir freilich nichts half, da ich von meiner Mutter wieder zurückgebracht wurde. Auch empfand ich in Erinnerung an die Liebe, mit der ich an meinem Lehrer Müller gehangen, die Geringschätzung doch im ganzen tief, mit der ich von den Lehrern behandelt wurde, obgleich ich wohl das Bewußtsein hatte, diese Behandlung zu verdienen. Sie selbst war übrigens je nach dem Charakter dieser Lehrer eine verschiedene. Unser Klassenlehrer, der an eine etwas massive Bestrafung der Schüler gewöhnt war, regalierte mich mit Vorliebe mit Ohrfeigen, von denen mir manchmal stundenlang die Wange brannte.
Ein mir im ganzen recht wohlwollender Geschichtslehrer behandelte mich mehr mit Mitleid. Noch erinnere ich mich einer Rede, die er mir vor versammelter Klasse hielt, und in der er mir versicherte, daß nicht jeder Sohn eines studierten Herrn ebenfalls studieren müsse. Es gäbe Berufe genug, die ganz ehrenhaft seien, aber die Mühe des Studiums nicht voraussetzten. Insbesondere riet er mir als einen solchen das Postfach an. Dazu ist zu bemerken, daß dieses zu jener Zeit allerdings besondere Ansprüche nicht stellte, sondern daß die Stellen in ihm entweder an durchgefallene Kandidaten oder an solche vergeben zu werden pflegten, die auf der Schule zurückgeblieben waren.
So entschlossen sich denn meine Eltern nach Ablauf eines Jahres, mich auf das Gymnasium nach Heidelberg zu bringen, um dort noch einmal und hoffentlich mit besserem Erfolg den Kursus eines Quartaners nach damaliger Zählung, die mit der untersten Klasse als der prima anfing, durchzumachen. Diese Hoffnung erfüllte sich denn auch, wenngleich ich vorläufig noch für längere Zeit nach meinen Leistungen nur etwa in der Mitte der Klasse verweilte. Um so größer war im übrigen der Wechsel, den ich erlebte. Ich erledigte nun meine Aufgaben zusammen im gleichen Zimmer wie mein Bruder und mein Vetter, die beide sehr fleißige Studenten waren und eine gewisse Kontrolle über mich ausübten, so daß die übermäßigen Phantasiespiele ein Ende nahmen. Wichtiger noch war aber der Wechsel meiner sonstigen Lebensführung. Ich hörte auf, der schüchterne und verängstigte Knabe zu sein, der ich in Bruchsal gewesen. Ich gewann zahlreiche Schulfreunde, mit denen ich mich in Stadt und Umgebung herumtrieb. Ich selbst fühlte mich wie neugeboren, und als ein früherer Mitschüler aus Bruchsal später an das Heidelberger Gymnasium übersiedelte, versicherte er mir erstaunt, ich sei ein völlig anderer geworden als ehedem.
Das alte Heidelberger Gymnasium war keineswegs eine Musteranstalt. Es litt vor allem an dem Übelstand, daß die Lehrer eigentlich keine Lehrer von Beruf und demnach, wie dies heute zu sein pflegt, für bestimmte Fächer speziell vorbereitet, sondern, wie einer dieser Lehrer selbst das rühmend hervorzuheben pflegte, »für alle Sättel gerecht waren«. Es konnte vorkommen, daß derjenige, der bis dahin in philologischen Fächern unterrichtet hatte, plötzlich Naturwissenschaften übernahm, ohne sich mit diesen irgendwie eingehender beschäftigt zu haben. Besonders für die Klassenlehrer bestand noch die Einrichtung, daß sie einen großen Teil der Lehrfächer der betreffenden Klasse verwalteten, gleichgültig ob diese ihrem eigenen Studienfach entsprachen oder nicht, und dabei konnte es denn natürlich auch leicht geschehen, daß sie selbst eigentlich in keinem Gebiet gründlich zu Hause waren. Ich habe den Eindruck, als wenn dieser Übelstand sogar an dem protestantischen Gymnasium fühlbarer gewesen wäre als an dem katholischen. Dies mochte wohl damit zusammenhängen, daß namentlich in Süddeutschland das Beispiel Friedrich August Wolfs, der sich selbst als der erste schon auf der Universität einen Studiosus philologiae genannt, noch weit weniger als im Norden Nachfolge gefunden hatte, sondern daß die Gymnasiallehrer im allgemeinen aus der Theologie zum Lehrerberuf übergetreten waren und nur für die Realfächer, wie Mathematik oder auch Naturwissenschaften gelegentlich tüchtigere Schul- oder Seminarlehrer ergänzend zur Seite hatten. Dabei fügte es sich nun leicht, daß die aus der Theologie zum Gymnasium übergegangenen Lehrer sich nicht durch besondere pädagogische Talente, sondern eher durch die Abwesenheit solcher auszeichneten. Inwiefern dies mit dem Fachwechsel zusammenhing, vermag ich um so weniger zu sagen, als die Seltsamkeiten dieser Lehrer nach den verschiedensten Richtungen gingen. So sind mir namentlich drei jetzt längst verstorbene und im ganzen damals schon einer älteren Generation angehörige Lehrer in Erinnerung, von denen jeder ein Original war. Der eine dieser trefflichen Männer hatte die Gewohnheit, die Schule regelmäßig über seine eigenen häuslichen Angelegenheiten zu unterhalten, mochten es nun kleine häusliche Zwiste sein oder Äußerungen über die Mitglieder seiner Familie, die den Inhalt solcher Mitteilungen bildeten. Ein zweiter blieb die ganze Stunde auf dem Katheder sitzen, so daß nun den Schülern überlassen blieb, wo immer der Sehbereich des Katheders nicht zureichte, zu tun, was ihnen beliebte. Ein dritter litt an abnormer Zerstreutheit und hatte daher die Gewohnheit angenommen, Aufgaben abzuhören, während er selbst ganz in seine eigenen Gedanken vertieft war, so daß der Schüler statt der fünfzig Homerverse, die er aus dem Gedächtnis rezitieren sollte, sich etwa mit fünf begnügen konnte, die er unaufhörlich nacheinander wiederholte, usw.. Daß ein derartiger Unterricht für eine nicht geringe Zahl von Schülern einer Erziehung zum Nichtstun gleichkam, ist einleuchtend.
Natürlich hat es auch in diesen, wie man sie wohl nennen kann, verwilderten Zuständen des Gymnasiums nicht an Lehrern gefehlt, die auf die fähigeren Schüler fördernd zu wirken wußten, und auch nicht an Schülern, die aus eigenem Interesse vorwärtsstrebten. Ich darf mich leider nicht zu den letzteren rechnen. Denn als eine vollgültige Probe darf man es nach meiner Beobachtung eigentlich nur ansehen, wenn der Schüler auch bei einem untauglichen Lehrer etwas lernt, und ich erinnere mich einiger Mitschüler, für die das unbedingt zutraf. Vielleicht war es meine eigene Neigung zur Zerstreutheit, die mich von vornherein von dem Kreis dieser Auserlesenen schied. Dagegen entsinne ich mich zweier Männer, die von dem Augenblick an, wo ich mit ihnen bekannt wurde, mein Interesse erregten, und die ich denn auch zeitlebens als Lehrer zu schätzen wußte. Der eine war ein jetzt aus der Literatur verschwundener Philologe, Sebastian Feldbausch, der zwei zu seiner Zeit brauchbare grammatische Lehrbücher, eine griechische und eine lateinische Grammatik, geschrieben hat, und an dessen Stunden über Homer und Herodot ich mich noch heute mit Genuß erinnere. Der zweite war ein später wegen seiner umfassenden Gelehrsamkeit berühmt gewordener Orientalist, Bernhard Jülg, dem ich, wie ich wohl sagen kann, die erste Anregung zu sprachlichen und philologischen Studien, so weit ich mich solcher rühmen darf, zu verdanken habe. Er ist im badischen Schwarzwald 1825 geboren, und war in den Jahren 1848 bis 51, gerade in den letzten Jahren meiner Gymnasialzeit am Heidelberger Gymnasium als beginnender Lehrer angestellt. Neben dem Mongolischen und verwandten Sprachen hat er besonders vergleichend linguistische Studien gepflegt, unter denen seine Vergleichung der mongolischen und der griechischen Heldensage sowie seine Sammlung mongolischer Märchen bekannt sind. Diesen Arbeiten verdankte er schon im selben Jahr 1851, in dem ich zur Universität abging, eine Berufung an die Universität Lemberg, der dann solche nach Krakau und Innsbruck gefolgt sind. Den Wert seiner Arbeiten bezeugt die Tatsache, daß die Berliner Königliche Bibliothek nach seinem im Jahre 1886 erfolgten Tod seinen literarischen Nachlaß erworben hat. Von diesen Arbeiten Jülgs wußte ich natürlich noch nichts, als ich seinen Unterricht genoß, auch sind sie zumeist später erschienen. Vielmehr waren es die seinen eigenen Forschungsgebieten ferner liegenden Stunden über die deutsche Literatur, denen ich wohl meine dauerndste Anregung verdanke. Gerade diese Stunden waren so ganz anders als alles was sonst das Gymnasium zu bieten hatte, daß ich sie vor anderen bleibend im Gedächtnis bewahrt habe. Zum Teil lag es vielleicht auch daran, daß in diesem Fall Lehrer und Schüler gewissermaßen gemeinsam gearbeitet haben. Wenn mich jener mit Gebieten unserer Literatur bekannt machte, die mir trotz eifrig gepflegter Lektüre bis dahin fremd geblieben waren, oder deren Wert ich nur unvollkommen zu schätzen gewußt hatte, so ließ er unter meinen Arbeiten die deutschen Aufsätze, die er gelegentlich als Musterbeispiele der Klasse vorlas, am meisten gelten, wogegen die Mängel meines vorangegangenen Unterrichts in den klassischen Sprachen auch in seinem Urteil noch längere Zeit fühlbar blieben.
So habe ich denn schon aus diesen Erfahrungen den Eindruck gewonnen, daß der Satz, der wohl als allgemein zugestanden für den Universitätslehrer gelten darf, seine Aufgabe sei es, Lehrer und Forscher zugleich zu sein, bis zu einem gewissen Grade für den Lehrer überhaupt und besonders auch für den Gymnasiallehrer gilt. Er bedarf des lebendigen, durch seine aktive Teilnahme an der wissenschaftlichen Arbeit fortwährend erneuten Interesses an dem Gegenstand, um dieses hin wiederum auf seine Schüler übertragen zu können. Dabei kommt es nicht unbedingt darauf an, daß es die Gegenstände seiner eigenen selbständigen Arbeit sind, deren Mitteilung ihm obliegt, sondern dieses Interesse überträgt sich bis zu einem gewissen Grade von selbst von einem Gegenstand auf den anderen. Freilich gehört dazu, daß der Lehrer ein über sein eigenes Fach hinausreichendes Interesse besitzt, und es läßt sich nicht leugnen, daß dies nicht nur von der allgemeinen Bildung des Lehrers, sondern wohl auch von dem Gebiet abhängt, dem seine wissenschaftliche Arbeit und demzufolge in vielen, wenn auch nicht in allen Fällen sein Talent vorzugsweise zugewandt ist. Hier stehen eben eigenes Talent und Fähigkeit der Lehre in Korrelation zu einander.
Die Fähigkeit in einer Wissenschaft oder Kunst Tüchtiges zu leisten, erweckt stets zugleich die Neigung, sich in ihr zu betätigen, und sie tut dies trotz obwaltender Hindernisse. Umgekehrt pflegt die Unfähigkeit der Leistung wohl allzu leicht die Meinung zu erwecken, jede tatsächliche Unfähigkeit beruhe auf einem Mangel an Talent, während sie häufiger als man meint, auf äußere Hemmungen oder auf einen Mangel an äußerer Anregung zurückgeht. Besonders der Mangel an mathematischer Begabung pflegt auf eine solche Abwesenheit des natürlichen Talentes sowohl von denen, die sich desselben anklagen, wie von andern zurückgeführt zu werden. Wahrscheinlich bedarf es aber nur eines ungewöhnlich hohen Grades natürlicher Begabung, um diese entgegen äußeren Hindernissen, wie dies gerade von hervorragenden Mathematikern bekannt ist, durch eine in diesem Fall einsetzende Selbsterziehung und einen damit sich verbindenden Selbstunterricht zu hohen Leistungen zu befähigen. Ich erinnere mich, daß Helmholtz, gewiß in dieser Frage ein Sachverständiger ersten Ranges, in einer Unterredung über diesen Gegenstand später einmal bemerkt hat, ein zureichender mathematischer Unterricht vermöge jeden Schüler zu mathematischen Leistungen heranzubilden, aber an einem solchen durch Seminarübungen unterstützten Unterricht fehle es häufig. Ich kann dies aus eigener Erfahrung nicht in vollem Umfang bestätigen, weil ich einen eigentlichen Seminarunterricht niemals genossen habe; aber daß man einigermaßen selbst bei mäßiger mathematischer Begabung auch auf diesem Gebiet Versäumtes ohne solche äußere Hilfe nachholen kann, glaube ich allerdings aus meiner persönlichen Erfahrung behaupten zu können. Daß es verhältnismäßig selten geschieht, das beruht aber, wie ich glaube, darauf, daß gewohnheitsmäßig der Unterricht in der Mathematik von frühe an in den Händen von Lehrern liegt, denen es an mathematischer Begabung nicht fehlt, weil in dieser Beziehung die Schule selbst in höherem Grade als in anderen Fächern einen Schutz gegen die Talentlosigkeit gewährt. Selten nur wird jemand, der nicht über einen gewissen Grad mathematischer Begabung verfügt, es wagen, als Lehrer in diesem Fach aufzutreten, während sich von einem Lehrer der Philologie, Geschichte, Jurisprudenz und anderer Wissenschaften, besonders solcher, zu denen das Gymnasium gar keine Vorbereitung liefert, nicht das gleiche sagen läßt. Hier geht der Studierende bei der Wahl seines Faches meist ebenso einer ihm unbekannten Zukunft der Leistungen entgegen, wie die Gesellschaft oder der Staat, für die er künftig zu wirken hat, in ihm eine unbekannte und möglicherweise untaugliche künftige Kraft empfängt. Das ist natürlich auch bei den auf Antrieb eines bestimmten Talentes gewählten Fächern nicht ausgeschlossen; immerhin bietet das Talent eine relative, wenn auch keine absolute Gewähr gegen eine völlig mißglückende Wahl.
Diese Verhältnisse bringen es nun aber auch leicht mit sich, daß die Regel, nach der Forscher und Lehrer Fähigkeiten sind, die insofern zusammengehören, als in irgendeinem Grade die Eigenschaft des Forschers dem tüchtigen Lehrer nicht fehlen darf, doch selbstverständlich von der andern durchkreuzt werden kann, nach der die Hingabe an ein bestimmtes Arbeitsgebiet Leistungen, die nach einer anderen Richtung liegen, hindert oder auch ganz verkümmern läßt. Insbesondere geschieht das naturgemäß da, wo es an Beziehungen fehlt, die die verschiedenen Gebiete aufeinander hinweisen. Das trifft aber vor allem für viele sogenannte Geisteswissenschaften zu, während der Naturforscher meist von Hause aus einer gewissen mathematischen Beihilfe nicht entraten kann, mag diese nur beschränkten Umfangs sein, wie in den deskriptiven Gebieten, oder relativ hohe Anforderungen stellen, wie in der theoretischen Physik. Damit hängt es offenbar zusammen, daß jene Gattung von Lehrern, bei denen im Gegensatz zu der obigen Regel die Fähigkeit der eigenen Forschung derjenigen der Mitteilung an andere im Wege steht am häufigsten, wie ich beobachtet zu haben glaube, bei Mathematikern vorkommt, wobei dann noch als begünstigendes Motiv dieses hinzutritt und noch mehr in älterer Zeit hinzutrat, daß die Gegenstände des mathematischen Schulunterrichts weit unter dem Niveau der Gegenstände der gegenwärtigen mathematischen Forschung zu liegen pflegen. So kann es kommen, daß hier bei dem künftigen Juristen, Theologen, Historiker usw. ein Minimum des Interesses für die Mathematik den Lehrer gleichgültig läßt, und daß sich sein Interesse auf die wenigen Schüler konzentriert, die durch eine besondere mathematische Begabung sich auszeichnen. So gehörte denn auch ich auf der Schule zu den vom Mathematiklehrer Vernachlässigten, die auf dem philologischen Gymnasium älteren Stils durchweg die Majorität bildeten, und ich kann das Urteil von Helmholtz, daß die Schuld dieses Mißerfolgs viel mehr auf der Seite der Lehrer wie der Schüler liege, bestätigen, insofern ich später, nachdem ich auf der Universität die Notwendigkeit eines einigermaßen zureichenden mathematischen Wissens für meine künftigen Studien eingesehen hatte, ungefähr innerhalb eines Jahres das Versäumte nachholte. Allerdings mußte ich dabei zugleich zu meinem Bedauern beobachten, daß solche zu spät erworbene Kenntnisse auch meist zu früh wieder vergessen werden, so daß Sie nicht selten einer mehrmaligen Wiederholung bedürfen.
War meine Vorbereitung zu der Gelehrtenschule nach jeder Richtung eine unzulängliche. So würde es nun aber trotzdem undankbar sein, wenn ich jenen einsamen Unterricht, den ich bei meinem geliebten Lehrer Müller genoß, und der mehr als wünschenswert in einem verträumten oder höchstens in einem als Übung der Phantasie zu schätzenden Spiel bestand, als eine verlorene Zeit betrachten wollte. Mir selbst tagte beim Abschluß des Gymnasiums schon die Erkenntnis, daß eben diese Zeit nicht ganz ohne Früchte geblieben war. Auf dem Gymnasium war das Motiv, das den Gefahren des einsamen Phantasierens in den Weg trat, die gemeinsame Arbeit der Schule, die zugleich eine Vermittlung zwischen Spiel und ernsthafter Arbeit herstellte. Was das gemeinsame Spiel, welches Nachahmung und Vorbild ernster Arbeit zugleich ist, unter günstigen Umständen unmittelbar zu bewirken vermag, das ist nun natürlich dem reinen Phantasiespiel, weil dieses der Einheit von eigener und gemeinsamer Tätigkeit entbehrt, notwendig versagt; doch das Bedürfnis nach seiner Befriedigung schafft sich einen Ersatz, der allerdings mehr oder weniger vollkommen sein kann, der jedoch unter allen Umständen eine Freiheit der Wahl bietet, die manchen Gefahren entgeht, vor denen die Zerstreuung des Verkehrs nicht bewahrt. Dieser Ersatz ist die Lektüre. Eine so unentbehrliche Übung der geistigen Kräfte das gemeinsame Spiel ist, das die Schule als Ergänzung zur gemeinsamen Arbeit hinzufügt, so verbinden sich doch mit ihm, genau so wie mit der Berufsarbeit und der bürgerlichen Tätigkeit des späteren Lebens, die Wirkungen des bösen mit denen des guten Beispiels. Die Lektüre dagegen bietet der Phantasie ein geordnetes Material, das, wenn es glücklich gewählt ist, vorbildlich und, wenn es schließlich in die Bahnen einer planmäßigen Tätigkeit einlenkt, erzieherisch wirken kann und darum zwar nicht allen Richtungen des künftigen Lebens, aber doch gerade denjenigen, die die Wirkungen des gesellschaftlichen Lebens ergänzen, zu Hilfe kommt.
So glaube ich denn jener einsamen Erziehung, die mir beschieden war, eine Erscheinung zuschreiben zu müssen, über deren Ursachen ich später manchmal nachgedacht habe. Diese Erscheinung bestand in einem Lesetrieb, der sich meiner zu einer Zeit zu bemächtigen begann, wo andere meines Alters entweder von einem solchen überhaupt nichts wissen oder ihm nur in beschränkterem Umfang huldigen. Beschränkt nicht bloß quantitativ, sondern vor allem nach dem qualitativen Inhalt der gewählten Lektüre. Jakob Burckhardt klagt in seinen »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« über die unnütze und zeitraubende Romanlektüre, gegenüber der die Vertiefung in die wirkliche Geschichte viel zu kurz komme. Darin hat er gewiß im allgemeinen recht. Aber es ist dabei doch nicht zu übersehen, daß der moderne Roman immerhin ein Surrogat der Geschichte sein kann, das selbst für den Historiker durch die phantasievolle Vergegenwärtigung der Zustände und Ereignisse einen gewissen Wert hat, eine Eigenschaft, vermöge deren das Werk des Historikers selbst teilweise einen romanhaften Charakter annimmt oder durch diesen auf einen Romandichter wirkt, wie z. B. Thomas Carlyles »Geschichte der französischen Revolution« auf Dickens' bekannten Roman »Zwei Städte«. Nun ist es der gewöhnliche Verlauf, daß eine aus eigener Wahl entspringende Jugendlektüre, wie die meinige war, zunächst mit einem ungeordneten Durcheinander beginnt, das dann aber doch allmählich infolge der Wirkungen der Neigung und Abneigung eine gewisse Ordnung gewinnt. Diese Ordnung wird wahrscheinlich bei verschiedenen von einem solchen Lesetrieb geleiteten Kindern individuell sehr verschieden sein. Erziehung und Bildung, möglicherweise auch eine gewisse natürliche Anlage oder der Zufall mögen auf diese Wahl und sogar auf ihre weiteren Folgen von Einfluß sein. So halte ich es nicht für unmöglich, daß einige Bände der alten Wielandschen Shakespeare-Übersetzung, die ich als etwa 10jähriger Knabe in der Bibliothek meines Vaters fand, teilweise mit der Tatsache im Zusammenhange stehen, daß Shakespeare wohl in der poetischen Literatur der Dichter ist, den ich am häufigsten gelesen habe, wenn auch in jenem Zufall höchstens ein begünstigendes Motiv dafür liegen mag, daß ich in einer viel späteren Zeit meines Lebens kaum eine Reise antrat, auf der mich nicht ein paar Bände Shakespeare als Lektüre begleiteten. Was jedoch die gewöhnliche Romanlektüre früh aus meinem Interesse verdrängte, das war die Beziehung zu den eigenen Zeiterlebnissen und zu Ereignissen, die mit diesen in irgendeiner Verbindung standen. Das ließ mich mit Vorliebe zu historischen Romanen und dann allmählich zu historischen Werken greifen. Daran schloß sich erst in einer etwas Späteren Gymnasialzeit die im übrigen ziemlich wahllose, fast, wie es schien, nur von dem Trieb womöglich die gesamte deutsche Literatur zu bewältigen, beherrschte poetische Lektüre. An die schöne Literatur schlossen sich die Werke über Literaturgeschichte, an die Dichter der Revolutionszeit, Freiligrath, Anastasius Grün, Herwegh, Heine und andere, dann Klopstock, Wieland, die Dichter von Sturm und Drang in so bunter Reihenfolge, daß mir eine Lokalisation in der Zeit nicht geblieben ist.
Nur ein einziges Erlebnis steht festgewurzelt in meinem Gedächtnis, das freilich nicht meiner Lektüre, sondern, fast könnte ich sagen, meiner eigenen Schriftstellerei angehört, und das seine zeitliche Orientierung in sich selbst trägt: das ist das Unternehmen, ein Tagebuch zu Schreiben, das die Ereignisse der deutschen Märzrevolution von 1848 begleitete. Noch glaube ich das längst untergegangene Manuskript vor mir zu sehen, in welchem ich den Wiener Aufruhr, den Tod von Robert Blum und seinen Genossen in gewaltiger Aufregung niederschrieb. Etwa in dieselbe Zeit fallen einige Auszüge aus Werken, von denen die Lektüre des einen nach der Verwandtschaft des Themas hierher gehört: Zimmermanns Geschichte des Bauernkriegs; und ungefähr gleichzeitig, nach seinem Inhalt weit abliegend, ein Exzerpt aus Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, bei dem ich freilich über die allgemeinen, mehr naturphilosophischen Teile nicht hinausgelangte. Von allen diesen Dingen ist ebensowenig wie von mancherlei poetischen Versuchen irgend etwas erhalten geblieben. Das meiste ist durch Zufall spurlos verschwunden, manches hat wohl auch seinen Untergang im Feuer gefunden, um später der Kontrolle neugieriger Augen zu entgehen, obgleich diese Dinge an sich höchst harmloser Natur waren.
Die Leihbibliotheken, mit denen damals Heidelberg namentlich in der älteren Literatur vielleicht besser als jetzt ausgestattet war, boten dem Lesetrieb in vielen Gebieten der Vergangenheit, von denen in den neueren in der Regel nichts zu finden ist, reiche Nahrung. In ihnen, namentlich in der ältesten derselben, hatten sich zu jener Zeit noch viele aus der Literatur des 18. Jahrhunderts von dem größeren Leserpublikum meist unbenutzt bleibende Schätze erhalten, die weit über die gewöhnliche Romanlektüre hinausgingen. Hier machte sich, eben die alte Gelehrtenschule geltend, die manche ansehnliche Reste aus ihrer Vergangenheit in die Gegenwart gerettet hatte. Dies war ein Punkt, der übrigens neben vielen sonstigen Eigentümlichkeiten bei den Gymnasien der Universitätsstädte überhaupt eine bedeutsame Stellung einnahm.
Als ich das Gymnasium besuchte, spielte in den kleineren Städten die Frage, ob sich in der gleichen Stadt eine Universität befand oder nicht, eine wichtige Rolle. War das Gymnasium, wie in Bruchsal, selbst die oberste Gelehrtenschule, so galt, wie das vielleicht heute noch der Fall ist, der Gymnasiast als Student; in der Universitätsstadt blieb er Schüler bis zu seinem Abiturium. Um so mehr strebte er der Universität zu und suchte, soweit es ging, die Gewohnheiten des Studenten vorauszunehmen. Gegen das Verbot des Direktors, Wirtshäuser zu besuchen, rauchend über die Straße zu gehen oder, wie unser Direktor sich ausdrückte, den Gesetzen des Gymnasiums Hohn zu rauchen, galt als ein besonderer Genuß. Dem Streben zum Akademiker kam aber wiederum dieser wohlwollend entgegen. Wie der Korpsstudent zu Anfang des Semesters bei jedem Zug zum Bahnhof strömte, um die neu ankommenden Füchse abzufangen, so sah er sich unter den Gymnasiasten des Ortes bereits nach geeigneten künftigen Genossen seiner Verbindung um. So war denn jene Ferienzeit, die zwischen Abiturium und Immatrikulation liegt, für den künftigen Verbindungsstudenten eigentlich die glücklichste seines akademischen Lebens. Ledig aller Pflichten behandelten ihn seine künftigen Korpsgenossen mit bestechender Liebenswürdigkeit. In dem Augenblick freilich, wo er in die Verbindung eingetreten war, veränderte sich seine Lage beträchtlich. Nun wurde er als Fuchs einem der älteren Burschen zugeordnet, dessen Befehle er pünktlich zu befolgen hatte, um in dem Jahr, während dessen diese Sklaverei andauerte, selbst nach diesem Vorbild zur vollen Burschenherrlichkeit erzogen zu werden, bis endlich, wenn die akademischen Semester sich ihrem Ende nahten, der ältere Bursche sich wieder von dem Geräusch des Tages mehr zurückzog, um den Sorgen des Examens entgegenzusehen und in der Verbindung etwa noch den Füchsen seinen wohlwollenden Schutz angedeihen zu lassen.
War dies der normale Verlauf, so konnte derselbe freilich auch manche Abänderungen erfahren, und ich selbst bin gewissermaßen das Opfer einer solchen geworden. Ich gehörte auf der Schule zu einem Trifolium von Freunden, die sich einigen ihnen angefreundeten Studenten und sich selbst verpflichtet hatten, künftig in deren Korps eintreten zu wollen. Von ihnen hat aber schließlich nur ein einziger seine Absicht wirklich erreicht, indem er am Ende seiner akademischen Laufbahn in das Beamtentum einmündete, zu welchem das betreffende Korps vorzubereiten pflegte. Der zweite wurde schon vor der Immatrikulation seinem Versprechen untreu, da er sich in der bedenklichen Zeit der vielumworbenen Mauleselferien von einem anderen Korps anwerben ließ. Er hat aber auch in diesem seine Laufbahn nicht zu Ende geführt, sondern ist zunächst in die militärische übergegangen und auch aus ihr schließlich wegen finanzieller Schwierigkeiten ausgeschieden, um in den holländischen Kolonialdienst zu treten. Aus ihm ist er nach vielen Jahren wieder zurückgekehrt, um in Heidelberg Medizin zu studieren. Hier, wo ich mittlerweile Privatdozent der Physiologie geworden war, hat er noch bei mir Kolleg gehört und mich gelegentlich nach diesem auf Spaziergängen begleitet, um mir von seinen Schicksalen auf Java und Sumatra zu erzählen. Nach gut bestandener Prüfung hat er sein Leben als tüchtiger Arzt beschlossen.
Der dritte war ich selbst. Ich hielt mein Versprechen, aber da ich mein Studium auf einer andern Hochschule begann, so konnte ich nicht bei dem verabredeten, sondern mußte bei dem dort bestehenden, ihm verbündeten Korps anderen Namens eintreten. Da ereignete sich das Mißgeschick, daß sich dieses Korps bald nach Beginn des Semesters wegen mangelnden Zuzugs auflöste. Es fügte sich jedoch, daß ich dieses Mißgeschick keineswegs als solches empfand. Ich hatte sehr bald erkannt, daß mir die Gesellschaft meiner zuvor unbekannten Korpsgenossen wenig behagte, so daß ich froh war, meiner Pflicht ledig geworden zu sein. Ich hospitierte dann noch einige Zeit bei einer anderen Verbindung, schied aber bald auch aus dieser aus, um mich nun einem einsamen Leben hinzugeben und in diesem leidenschaftlich auf das Studium der Anatomie zu werfen. Dabei war es die Anatomie des Gehirns, bei der mein eigener damals die anatomisch-physiologischen Fächer in Tübingen vortragender Oheim Arnold mich vor allem anregte. So erwarb ich, indem ich in jenem Sommersemester 1852 von früh bis spät mich ausschließlich in gehirnanatomische Werke und Präparate vertiefte, wie ich wohl sagen darf, eine Kenntnis in diesem speziellen Gebiet, die mir leider in späterer Zeit zu einem guten Teil wieder verloren gegangen ist und von der ich nur in einer Reihe selbstgezeichneter Abbildungen ein Gedächtnis bewahrt habe.
Dauernder als diese schon vor ihrem Entstehen gescheiterte Korpsgenossenschaft hat sich ein zweites Trifolium von Freunden bewährt, dem nur durch den frühen Tod des einen unter ihnen ein Ziel gesetzt worden ist. Diese Freundschaft war aus der Stellung entsprungen, die der älteste unter uns, der zugleich dem älteren Jahreskursus angehörte, als Verwalter der Schülerbibliothek des Heidelberger Gymnasiums einnahm, und der als solcher der literarische Berater des ganzen Gymnasiums und namentlich der oberen Klassen geworden war. Dieser mein ältester Freund war Heinrich Holtzmann, in dessen Charakter nach der Seite des freundschaftlichen Verkehrs schon diese Freundschaft mit Schülern einer jüngeren Klasse, die damals eine seltene Erscheinung war und vielleicht noch ist, einen bezeichnenden Zug bildet, um so mehr, da er sich unmittelbar auf die Universität fortsetzte. Als Holtzmann bereits zum Studium der Theologie übergegangen war und wir beiden anderen noch dem Gymnasium angehörten, fanden wir uns noch längere Zeit wöchentlich einmal an einem Abend zusammen, um unseren Verkehr weiterzuführen, obgleich das Studium, das jeder von uns gewählt hatte, ein verschiedenes war, indem unser Trifolium aus einem Theologen, einem Philologen und einem Mediziner bestand. Ich bin mit Holtzmann, nachdem uns unsere Berufe längere Zeit auseinander geführt hatten, später wieder in Heidelberg zusammengetroffen, wo wir beide als Privatdozenten, Holtzmann in der theologischen, ich in der medizinischen Fakultät habilitiert waren, und wir beide jahrelang mit einem kleinen Kreis anderer Dozenten, darunter namentlich mit Adolf Hausrath verkehrten. Dieser, anfänglich ein Schüler Holtzmanns, war später ebenfalls in der theologischen Fakultät habilitiert. Holtzmann selbst, der in den ersten Jahren des Jahrhunderts in den Ruhestand getreten ist und in diesem in Baden-Baden lebte, habe ich zum letzten Mal im Jahre 1908 gesehen, als ich, von einer Erholungsreise auf die Badener Höhe zurückkehrend, ihn besuchte und ihn körperlich gealtert aber in voller geistiger Frische antraf.
Der dritte aus jenem Trifolium, der Philologe, war Karl Hofacker. Ich stand in unserer Gymnasialzeit den beiden anderen eigentlich als der unwürdigste gegenüber. Denn sie waren in unserer ganzen Schulzeit die Primi ihrer Klassen gewesen, während ich mich stets in den unteren oder höchstens mittleren Regionen herumtrieb. Hofacker war durch sein vielseitiges Interesse und durch seine frühe Gelehrsamkeit im Griechischen und Lateinischen zum klassischen Philologen vorausbestimmt. Er war darum auf den Rat seines väterlichen Freundes, des bekannten Geschichtsschreibers Georg Weber, der sich des früh Verwaisten schon auf der Schule angenommen hatte, auf die Universität Bonn gewandert, um dort unter dem die hohe Schule der klassischen Philologie repräsentierenden Friedrich Ritschl seine Studien zu vollenden. Auf Ritschls Empfehlung folgte er unmittelbar nach seinem Doktorexamen einer Berufung des Fürsten Wied nach Neuwied, um die Erziehung von dessen Sohn, dem Bruder der späteren Königin von Rumänien, zu übernehmen. Von dort ist er nach mehreren Jahren nach Heidelberg zurückgekehrt, bereits mit dem Keim der tötlichen Krankheit, die ihn nach wenigen Jahren dahinraffte. Hier durfte ich in beinahe täglichem Verkehr noch einmal die alte Freundschaft mit ihm erneuern, aus der mir vor allem die Winterabende erinnerlich sind, an denen wir beide zusammen Kants Kritik der reinen Vernunft lasen. Es war für uns beide die erstmalige Lektüre dieses Werkes, und für mich war es, wie ich wohl sagen kann, die erstmalige eines strengeren philosophischen Werkes überhaupt. Doch hat es gerade damals einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Denn es ist, wie ich glaube, gewissermaßen ein Vorbeugungsmittel gegen gewisse besonders in naturwissenschaftlichen Kreisen verbreitete, dem gegenwärtigen Positivismus verwandte Richtungen für mich gewesen. So erinnere ich mich, daß, als mir später der erste Übersetzer der Logik von John Stuart Mill, mit dem ich freundschaftlich verkehrte, dieses Werk als die auf der Höhe der Zeit stehende Philosophie empfahl, ich bereits damals an den Ausführungen Mills über die Logik der Mathematik beträchtlichen Anstoß nahm.
Bekanntlich gibt es Menschen, denen durch eine sei es angeborene, sei es durch äußere Erziehung erweckte Anlage, ihr künftiger Beruf von früher Jugend an vor Augen steht.
Das sind die Glücklichen, die unbekümmert ihre Straße wandern können, auch wenn sie sonst mancherlei Hindernissen begegnen. Als Justus Liebig unter der Schulbank chemische Experimente machte, ließ es ihn, wie man sagt, völlig gleichgültig, wenn ihn der Lehrer einen faulen Schüler nannte. Er hatte unentwegt sein Ziel vor Augen, das er, so vollkommen er es nur immer wünschen mochte, erreichte. Ich gehöre nicht zu diesen Glücklichen. Ich und, wie ich glaube, viele andere gerade unter denen, die zur Gelehrtenlaufbahn bestimmt waren oder sie gewählt haben, sind nicht durch ihre freie Neigung, sondern durch ein äußeres Motiv, das mit dieser nichts zu tun hatte, zu ihrer Wahl geführt worden. In vielen Fällen veranlaßte namentlich in früheren Zeiten der Zwang der Eltern oder das Herkommen den einzelnen, den väterlichen Beruf zu ergreifen. So war in der Familie meines Vaters, dessen Voreltern im 17. Jahrhundert wegen ihres Übertritts zum Protestantismus aus Steiermark eingewandert waren, bei dem in den rheinischen Gegenden angesiedelten Teil die Theologie der vorwiegende Beruf gewesen, wenn auch in manchen Fällen, wie z. B. bei meinem Großvater die Volkswirtschaft, noch ein zweites Fach, wahrscheinlich als das selbstgewählte Lieblingsgebiet, hinzutrat. Nachdem jedoch ein Bruder meines Vaters der Theologie untreu geworden war, wurde dieser zu ihr bestimmt, ohne daß er um seine Einwilligung gefragt worden wäre. Einen solchen Zwang habe ich nicht erfahren. Mein Vater war schon in meinem 14. Lebensjahr gestorben, würde übrigens einen Zwang schwerlich ausgeübt haben, und meine Mutter ließ mir vollkommen freie Wahl. Aber ich müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, die Medizin, die ich nach einigem Schwanken schließlich wählte, sei der Gegenstand meiner besonderen Vorliebe gewesen. Jedenfalls war sie das nicht, wenn man etwa die Beschäftigung in der dem Abgang zur Universität unmittelbar vorangehenden Zeit als das Merkmal einer solchen Wahl aus Neigung betrachten darf. Wäre die Medizin der erste Gegenstand meiner Sehnsucht gewesen, so würde ich wahrscheinlich dem Beispiel meines älteren als Student mit mir zusammenlebenden Vetters gefolgt sein, der schon während der Schulferien vor seinem Abiturium mit dem größten Eifer anatomische Abbildungen nachgezeichnet hatte. Derartige Vorübungen in meinem künftigen Fache lagen mir völlig fern, und gerade die Dinge, die mich in meinen Abituriumsferien beschäftigten, waren nicht einmal solche, die mir etwa auf der Schule besonders am Herzen gelegen hatten. Eher gebärdete ich mich, als wenn die klassische Philologie das Ziel meines künftigen Lebens werden sollte. Ich las mit Begeisterung Homer und Herodot; und besonders Horaz, dessen schönste Oden ich sehr bald auswendig wußte, zog mich um seiner Formvollendung willen an. Freilich würde ich mich auch zum Studium der Philologie schwerlich entschlossen haben. Denn hier war es wieder der lebenslängliche Schulberuf, der mich abstieß, nachdem ich das Verlassen der Schule als ein besonders glückliches Ereignis empfunden hatte.
So war es denn der reinste Zufall, den ich über meine künftigen Geschicke entscheiden ließ. Nicht nur die Schule, sondern auch die Stadt, das elterliche Haus, an die ich bis dahin gefesselt gewesen, endlich einmal als ein völlig freier Mensch zu verlassen, in neuer Umgebung mein eigenes Leben führen zu können, das wurde, wenn ich es auch kaum meinen Angehörigen offen eingestand, das höchste Ziel meiner Wünsche. Und da bot sich nun ein äußerer Anlaß, der diesen Wünschen glücklich entgegenkam. In Tübingen wirkte als angesehener Anatom mein Oheim, bei dem in den Anfangssemestern des Mediziners in die Schule zu gehen, für mich als eine selbstverständliche Sache galt. Nicht als ob es mir um diese Sache selbst eigentlich zu tun gewesen wäre, aber sie war ein Mittel meiner Befreiung, wie es sich günstiger nicht finden konnte. Unter anderen Umständen würde schwerlich ein auswärtiges Studium möglich gewesen sein. Meine Mutter als kümmerlich gestellte Pastorenwitwe hatte eigentlich kaum die Mittel aufzubringen, um mich auf einer auswärtigen Universität studieren zu lassen. Ich begrüßte es daher im geheimen sogar als einen günstigen Zufall, daß ich auf ein Stipendium, auf das ich sonst als der Angehörige einer alten pfälzischen Kirchenratsfamilie wahrscheinlich hätte Anspruch erheben können, wegen meines geringen auf der Schule bewiesenen Fleißes verzichten mußte, auch wenn ich in Heidelberg blieb. So wanderte ich denn wohlgemut nach der schwäbischen Universitätsstadt. Von Appenweier aus ging es zu Fuß in den ersten Tagen des Oktober über Oppenau nach dem freundlichen Freudenstadt und dann während der Nacht im Eilwagen über Nagold nach Tübingen, wo ich sofort einen Vorgeschmack der hohen Achtung bekam, deren sich der Student hier erfreute, als ich von dem Hausknecht des Gasthofes zur Rose mit der ehrerbietigen Anrede »Herr Baron« empfangen wurde.
Die deutschen Universitäten, besonders die kleineren Süddeutschen, wie Heidelberg, Freiburg, hatten schon vor einem halben Jahrhundert einen gesamtdeutschen Charakter. Studenten wie Dozenten boten eine gemischte, aus Angehörigen aller deutschen Lande zusammengesetzte Bevölkerung, und dieser Charakter der Rassenmischung hatte sich nicht ganz, aber doch bis zu einem gewissen Grade auf die übrige Einwohnerschaft dieser Städte übertragen. Vor allem gilt das für Heidelberg, das bereits um die Mitte des Jahrhunderts mehr auswärtige als im Land geborene Studenten zählte, und wo noch in höherem Grade die Anzahl der außerhalb Badens geborenen Professoren die der Inländer übertraf. Das rührte wohl daher, daß schon seit den Tagen des für die Wissenschaften besonders interessierten Großherzogs Karl Friedrich, des Regenerators der Universität zu Anfang des Jahrhunderts, Heidelberg namentlich durch die Berufung bedeutender Rechtslehrer, wie Thibaut, Vangerow, und durch die Beziehungen zur Romantik eine hochangesehene Universität geworden war. Das war in Tübingen anders, als ich im Herbst 1851 dahin wanderte. Es war noch vorwiegend Landesuniversität geblieben. Namentlich gilt das von den Studierenden, unter denen es nur wenige außerhalb der württembergischen Grenzen geborene gab, aber auch von den Dozenten, unter denen die Nicht-Schwaben, die, auch wenn sie aus dem übrigen Süddeutschland stammten, mit dem Kollektivnamen »Norddeutsche« bezeichnet wurden, eine kleine Minderheit bildeten. Die Universität spiegelte weit mehr, als es heute der Fall ist, die Eigenart des württembergischen Landes, einer Bevölkerung, wie sie vielleicht mehr als in Sprache und Sitte in einem Gefühl der Stammesgemeinschaft der Menschen sich kundgab. Es ließ den Nichtschwaben, auch wenn er übrigens ein guter Deutscher war, als einen Fremden ansehen, den der Schwabe darum im Gegensatz zu seinen Landsleuten als einen Ausländer betrachtete. In der Tat findet man dieses Stammesgefühl vielleicht heute noch so spezifisch wie bei den Schwaben kaum bei einem anderen Deutschen ausgeprägt. Es spricht sich darin aus, daß der Schwabe eigentlich immer Dialekt spricht, während der wirkliche Dialektdeutsche, etwa der Plattdeutsche oder Alemanne, zwischen Dialekt und Hochdeutsch zu wechseln pflegt. Eine unverkennbare Spur davon hat sich freilich auch bei dem Schwaben erhalten, aber er selbst scheint kaum etwas davon zu bemerken, wenn er auch unbewußt da, wo er sich etwa mit den deutschen »Ausländern« unterhält, seine Sprache ein wenig nach dem Hochdeutschen moduliert. Immerhin geschieht das so wenig, daß man auch den hochdeutschen Schwaben aus tausenden herauskennt, was bei dem Mecklenburger oder Holsteiner höchstens dann zutrifft, wenn man mit den plattdeutschen Dialekten auf das genaueste bekannt ist. Eine Annäherung bietet etwa noch der Sachse, während es bei den Gebildeten der übrigen deutschen Stämme mindestens sehr zurücktritt. Nun ist der Eindruck des Fremden, den der abweichende Dialekt hervorbringt, stets ein wechselseitiger, und wo die große Mehrheit einer Bevölkerung Dialekt spricht, da gewinnt daher jeder andere den Charakter eines Fremdlings, der sich gewissermaßen nur dem Grad, nicht der Art nach von den einer fremden Nation Angehörigen unterscheidet.
Betrachtete man um das Jahr 1850 das Tübinger Studentenleben im ganzen, so bot es Erscheinungen, in denen sich offenbar das deutsche Studentenleben früherer Jahrhunderte erhalten hatte. Die Leipziger Chronik des 17. Jahrhunderts erzählt von nächtlichen Schlägereien zwischen Studenten und Handwerksgesellen, und in den Schriften Christian Reuters, des bekannten akademischen Pasquillanten, sind uns charakteristische Bilder dieser Zustände erhalten geblieben. Streitigkeiten zwischen Studenten und Handwerkern gab es freilich in Tübingen nicht, weil dort das Handwerk überhaupt keine Rolle spielte. Tübingen war, als ich dort studierte, noch eine schwäbische Landstadt, in der die Kühe und Gänse auf der Straße herumliefen. Statt der Handwerksgesellen waren es aber Bauernburschen, zwischen denen und den Studenten noch um 1850 nächtliche Prügeleien vorkommen konnten, und die Anlässe zu solchen waren nicht so ganz selten. Sie bestanden in ländlichen Tanzvergnügungen, namentlich in bäuerlichen Hochzeiten, zu denen ein paar Studenten geladen waren oder zu denen sie sich manchmal auch selbst geladen hatten. Diese verliefen zwar gewöhnlich, wie es sich geziemt, in Frieden und Freundschaft. Aber es konnte doch auch vorkommen, wenngleich das Brautpaar es zu wehren suchte, daß Eifersuchtsszenen zwischen studentischen und ländlichen Gästen in Tätlichkeiten ausarteten. Einen anderen Anlaß zu einem Verkehr zwischen kleinbürgerlichen und studentischen Kreisen bot in selteneren Fällen wohl auch eine Gesellschaft von bürgerlichen Dilettanten, die sich »Janitscharia« nannte. Sie vergnügte sich zuweilen mit Tanzunterhaltungen, zu denen sie sich selbst die Musik machte. Studenten wurden dazu eigentlich nicht eingeladen, aber es kam wiederum vor, daß sie sich selbst einluden, und dann waren sie freundlich geduldet. Sie boten ein prächtiges Vergnügen für solche Studenten, denen es nicht gelang, zu den vornehmeren Tanzgesellschaften des hauptsächlich von den Professoren unterhaltenen Museums emporzudringen.
Bildeten jene ländlichen und bürgerlichen Beziehungen eine Spezialität von Tübingen, so war nun umgekehrt das Museum gewissermaßen als die Übertragung einer allgemeinen deutschen Universitätseinrichtung auf die schwäbische Universitätsstadt gegenüber andern Kleinstädten von ähnlicher Bedeutung eine Spezialität Tübingens. Für den Studenten war es hauptsächlich eine Stätte der Tanzvergnügungen, zu denen er von den Professoren, an die er empfohlen war, geladen wurde. Die Studentischen Gäste dieser Professorenbälle waren aber zum großen Teil Verbindungsstudenten, sowohl Korps wie Burschenschafter, je nach den gesellschaftlichen Beziehungen der einladenden Professoren. Da Korps und Burschenschaft feindliche Verbindungen bildeten, von denen der Korpsstudent den Burschenschafter verachtete, weil dieser nicht oder nur ausnahmsweise, wie der Ausdruck lautete, »losging«, auf alle Fälle eine Verpflichtung, sich zu schlagen oder eine Duellforderung anzunehmen, für ihn nicht bestand, umgekehrt aber der Burschenschafter den Korpsstudenten geringschätzte, weil dieser den patriotischen Überlieferungen der deutschen Burschenschaft fernstand, so fügte es sich, daß auch hier Streitigkeiten zwischen verschiedenen Teilen der jugendlichen Museumsgesellschaft vorkamen, die einigermaßen an die Zwiste der ländlichen Tanzvergnügungen erinnerten. Es gab zwar keine Prügelszenen, aber an gelegentlichen Duellforderungen oder, wie ihr mehr an die Prügeleien erinnernder akademischer Titel lautet, »Paukereien« fehlte es nicht. Nur bestand eine Eigenart dieser Zwiste höherer Gattung darin, daß sich die Damenwelt, einschließlich der Professorengattinnen und -töchter, an ihnen beteiligte. So erinnere ich mich lebhaft eines solchen Museumsballes, bei dem sich die feindlichen Parteien in zwei Hälften tanzender Paare geschieden hatten, deren jede eine Hälfte des nicht besonders großen Museumssaales einnahm. Auf der einen Seite tanzten die Korpsstudenten, auf der andern die Burschenschafter. Doch schloß man für künftige Fälle Frieden, weil die Bedrängnis für jeden dieser Zirkel zu groß war. Dafür griff man aber gelegentlich zu andern Aushilfen. Das Korps Suevia leistete sich z. B. einen besonderen Ball als geschlossene Gesellschaft mit zugehörigen Damen. Oder es hatte als Sonderaufführung ein Menuett eingeübt mit der berühmten Musik aus Mozarts Don Juan usw.. Eine alltägliche Erholung der Studentenschaft waren außerdem die Spaziergänge nach den benachbarten Bierdörfern: nach dem nahen Lustenau, nach Bebenhausen, nach dem Bade Niedernau oder bei weiteren Fahrten nach dem prächtig gelegenen Urach. Noch erinnere ich mich der Teilnahme an einem kühnen Unternehmen nach Stuttgart, wo ich mit ein paar Bekannten das Konzert der berühmten Violinspielerin Milanollo besuchte, um sie zu einem im Tübinger Museum abzuhaltenden Konzert einzuladen. Daß die um die Virtuosin gruppierten Studenten von einem Hochgefühl erfüllt waren, als hätten sie selbst ein Virtuosenstück vollbracht, läßt sich denken.
Einen besonderen Reiz bot in Tübingen das Schauspiel einer Paukerei oder »Bestimmungsmensur«, wie man die ohne besondere Ursachen verabredeten Duelle zwischen zwei einander an Übung ungefähr gleich geschätzten Korpsburschen verschiedener Korps nannte. Ich hatte schon als Gymnasiast der oberen Klassen manchen solchen Mensuren in Heidelberg als Zuschauer angewohnt, und es war daher für mich von hohem Interesse, diese Schaustellungen an beiden Orten zu vergleichen. Sie waren in der Tat sehr verschieden, und Tübingen hatte sich auch darin seine Eigenart bewahrt. In Heidelberg wurden die Schlägereien beinahe alltäglich vormittags in dem Wirtshaus zur Hirschgasse jenseits der Neckarbrücke abgehalten, wo sie wohl noch gegenwärtig ihren ständigen Sitz haben. Es ist und war früher wegen der mittlerweile erfolgten die Umgebung teilweise verdeckenden Bebauung der Landstraße noch in höherem Grade so gelegen, daß man schon aus weiter Ferne den Pedellen herannahen sah, der von dem akademischen Senat mit der Abfassung der Duellanten beauftragt war. Gerade wegen dieser in ziemlich weite Ferne sich erstreckenden Öffentlichkeit konnte aber dieser Zweck nur selten erreicht werden, weil der Pedell wegen der Vergeblichkeit seiner Bemühungen diese meist von selbst unterließ, so daß die Studentische Paukerei im allgemeinen als ein stillschweigend geduldetes Unternehmen gelten konnte. War doch vom ersten Anblick des Boten der Gerechtigkeit bis zu seinem Eintreffen am Tatort Zeit genug vorhanden, um die Werkzeuge der Schlägerei in einem sicheren Versteck unterzubringen. Dies verhielt sich in Tübingen ganz anders. Da gab es einen ähnlichen durch seine Öffentlichkeit gesicherten Ort durchaus nicht. Man mußte daher, um der Strafe zu entgehen, zu kostspieligeren Mittel greifen. Viele der Studentenwohnungen waren unmittelbar am Ufer des Neckars gelegen. Man mußte daher, um der Strafe zu entgehen, zu einem radikaleren, leider am Neckars gelegen Schauplatz gehen. Eine solche Privatwohnung wählte man als Schauplatz der Handlung, der in der Regel unbekannt blieb. Wurde er trotzdem einmal unglücklicherweise verraten, so konnte jedoch der Pedell erst sehr kurz vor seinem Eintreffen entdeckt werden, so daß keine Zeit mehr war, die Zeugnisse der Handlung zu verbergen. Es blieb daher nur übrig, die Waffen und alle sonstigen verräterischen Utensilien zum Fenster hinaus in den Neckar zu werfen. Mußte man zu diesem letzten Mittel greifen, so wurden aber dadurch die Schlägereien zu ziemlich kostspieligen Unternehmungen. Darum waren sie in Tübingen viel seltener als in Heidelberg. Das führte dann wiederum zu einer Art Kompensation, indem in Tübingen fast durchweg gefährlichere Waffen gewählt wurden. Der krumme Säbel spielte in dieser kleineren Neckarstadt eine viel größere Rolle als in der größeren, wo der Schläger die fast durchgehends gebrauchte Waffe blieb, die an Lebensgefahr dem zur bloßen Fechtübung gebrauchten Rapier nicht viel überlegen ist.
Wie Tübingen als schwäbische Landstadt nicht unbeträchtlich von den meisten anderen Universitätsstädten sich unterschied, so auch die Universität von anderen deutschen Universitäten zu der Zeit, als ich sie besuchte. Vor allem bot sie in ihren einzelnen Fakultäten bemerkenswerte Unterschiede. Hier waren zunächst die Mitglieder der beiden theologischen Fakultäten, der katholischen und der evangelischen, sämtlich Württemberger. Beide hatten auch noch im Unterschied von allen andern deutschen Fakultäten der Theologie ihre alten Einrichtungen, die evangelische unter dem Namen des Stifts, die katholische unter dem des Konvikts bewahrt, ebenso wie die Repetenten als eine Art Mittelstellung zwischen Student und Dozent. Die philosophische Fakultät bestand wenigstens ihrer Majorität nach aus Württembergern, die Juristen und die Mediziner dagegen zum größten Teil aus deutschen Ausländern, zu denen auch noch, wahrscheinlich als Tradition an die frühere Zugehörigkeit zur medizinischen Fakultät, die Vertreter der Naturwissenschaften gehörten. Sie repräsentierten aber offenbar eine jüngere Generation von Universitätslehrern, die wohl vor nicht allzu langer Zeit zu den Einheimischen hinzuberufen worden waren. Zu diesen Berufenen gehörte auch der Kanzler der Universität, der zugleich die vornehmste juristische Professur innehatte, und als der zu meiner Zeit Gerber, vor ihm Wächter, beide später nach Leipzig berufene Professoren, Gerber dann auch späterer als sächsischer Kultusminister fungierte. Von den in Tübingen wirkenden Professoren der Philosophie waren, ebenfalls im Anschluß an die ältere deutsche Tradition, die meisten ehemalige Theologen. Wie Schelling und Hegel, die von Tübingen ausgegangenen berühmtesten Philosophen gewesen waren. So wirkte dort in meiner Studienzeit Albert Schwegler, der, auch darin ein Repräsentant der vielseitigen Gelehrsamkeit dieser Schwäbischen von der Theologie ausgegangenen Gelehrten, gleichzeitig Theologe, Historiker und Philologe war, ebenso wie die anderen späteren Tübinger Philosophen bis herab auf Zeller Schüler des Theologen Baur, des berühmten Hauptes der Tübinger Theologenschule. Neben ihm wirkte noch Friedrich Theodor Vischer, ebenfalls ursprünglich Theologe, aber frühe schon zur Philosophie übergegangen. Seine Vorlesung über Ästhetik in ihrer Winterhälfte ist das einzige philosophische Kolleg, das ich in Tübingen hörte. Außerdem besuchte ich die drei zur naturwissenschaftlichen Abteilung der philosophischen Fakultät gehörigen Kollegia der Botanik, Chemie und Physik: die Botanik bei Hugo von Mohl, der in der neu erbauten Universität vor dem Lustenauer Tore las. Es fehlte damals noch an einem besonderen botanischen Auditorium, und Mohl brachte daher meist einige Pflanzen auf das Katheder mit, die er bei den Zuhörern zirkulieren ließ. Schloßberger, der vor kurzem ein damals sehr geschätztes Lehrbuch der Chemie verfaßt hatte, las ebenfalls in der Universität, aber bloß theoretisch, da in derselben nicht experimentiert werden konnte. Zur Ergänzung bestellte er daher einmal wöchentlich die Zuhörer in ein mit einigen anderen Instituten und der Universitätsbibliothek auf dem Schloßberg gelegenes Gebäude, um die vorher in der Universität geschilderten chemischen Experimente nachzuholen. Reusch, der in seinem im gleichen Bau gelegenen physikalischen Institut auch das Kolleg las, begleitete dagegen dieses unmittelbar mit Experimenten. Aber da er erst kurz vorher sein Amt angetreten und sein Vorgänger Nörremberg das Instrumentarium etwas vernachlässigt hatte, pflegte Reusch meist vor dem Experiment darauf aufmerksam zu machen, daß dieses wahrscheinlich mißlingen werde. So erinnerten diese drei naturwissenschaftlichen Vorlesungen noch einigermaßen an die Zustände, in denen vor etwas längerer Zeit auch an andern deutschen Universitäten die naturwissenschaftlichen Fächer hinter den schon lange bestehenden theologischen und philologischen Seminarien zurückgeblieben waren.
In alldem trug, wie man sieht, in jenen Tagen die Universität Tübingen im wesentlichen den Charakter einer Landesuniversität an sich, die jedoch in einigen Einrichtungen, Neubauten und Neuberufungen in einem Übergang zu weiterem Fortschritt begriffen war. Teils folgte sie in ihren Neuerungen dem Beispiel der anderen, namentlich der preußischen Universitäten, teils hatte sie ältere, anderwärts längst abgeschaffte Einrichtungen, wie die an die mittelalterlichen Hochschulen erinnernden Konvikte und Stifte, beibehalten, wie ihr denn diese meines Wissens noch heute eigen geblieben sind. Dabei machte sich zugleich in der Zusammensetzung sowohl des Professorenkollegiums wie der Studentenschaft die Eigenart des schwäbischen Volksstammes unverkennbar in dem Übergewicht geltend, welches in der Originalität gewisser geisteswissenschaftlicher Studien zutage trat. Wenn in der mittelalterlichen deutschen Hochschule die Theologie unbedingt den ersten und in unmittelbarem Anschluß an diese die Philosophie den nächsten Rang einnahm, so hatte sich die Erinnerung an dieses der modernen Hochschule vorangegangene Stadium in Tübingen in manchen Beziehungen am deutlichsten bewahrt. Es läßt sich aber kaum verkennen, daß hier zwischen den im Lauf des vorigen Jahrhunderts eingetretenen Entwicklungen und der schwäbischen Geistesanlage eine gewisse Affinität bestand. Findet doch der Zusammenhang, in welchem die Theologie als Grundlage der Philosophie, vor allem des deutschen Idealismus sich in der Geschichte der neueren Philosophie offenbart hat, seine individuelle Ausprägung schon in der Tatsache, daß die Theologie der Tübinger Schule, wie sie zunächst an den Namen Chr. Fr. Baurs geknüpft ist, zugleich die Schule einer Reihe hervorragender Philosophen war.
Wie unter allen Ländern des Deutschen Reichs Württemberg dasjenige ist, das am meisten einem die verschiedensten Richtungen in sich bergenden Sektenwesen zuneigt, so ist wohl der Schwabe mehr als zumeist der andere Deutsche der Spekulation zugetan. Das gilt nicht bloß für solche Gebiete, wie die Theologie und Philosophie, sondern selbst für die Naturwissenschaften. Man denke nur, um Repräsentanten aus verschiedenen Zeitaltern zu nennen, an Johann Kepler, den großen Astronomen, und an Robert Mayer, den Entdecker des Prinzips der Erhaltung der Kraft. Daß Tübingen, vermöge seiner äußeren Rückständigkeit, wie z. B. der Trennung von mündlichem Vortrag und experimenteller Demonstration, gerade in den Naturwissenschaften keine für die vorbereitenden Semester des Mediziners günstige Stätte war, ist übrigens einleuchtend und aus dem, was es in den geisteswissenschaftlichen Fächern bot, wußte ich damals leider keinen Nutzen zu ziehen. Nichtsdestoweniger muß ich einer anderen Seite, die mehr indirekt mit dem Charakter dieser kleinen Universität zusammenhing und von der ich um so reichlicher Gebrauch machte, dankbar gedenken; das waren die Hilfsmittel der Lektüre aus der Literatur im allgemeinen, mit denen das Lesezimmer des Museums ausgestattet und in denen dieses dem mir schon bekannten, obgleich eigentlich dem Gymnasiasten versagten, Heidelberger Museum ähnlich war. In Heidelberg ist jetzt diese Anstalt untergegangen, oder sie führt doch höchstens ein Schattendasein ihrer früheren Blüte weiter. Ob sie überhaupt ein eigentümlicher Vorzug der kleinen Universitäten gewesen und darum auch Tübingen seitdem von diesem Untergang nicht verschont geblieben ist, weiß ich nicht zu sagen. Nur dies steht mir aus eigener Erfahrung fest, daß diese universell gerichteten, nicht bloß Zeitungen, sondern die allgemeine Literatur und die Wissenschaften umfassenden Leseanstalten für Professoren wie Studierende, die sie zu benutzen wußten, überaus förderliche Einrichtungen waren oder noch sind. Für mich ist das Tübinger Lesezimmer mehr gewesen als irgendeine Vorlesung. Insbesondere gilt das für den stillen Winkel, in welchem die Tübinger Sortimentsbuchhändler die Neuerscheinungen der Literatur zur Ansicht ausgelegt hatten. Hier las ich in »Ritter vom Geist« die Erstlingsdichtungen Paul Heyses, das spanische Liederbuch von Heyse in den Nachmittagsstunden neben dem in jenen Tagen viel besprochenen Roman Gutzkows »Die und Geibel«, Heines Romanzero und vieles andere, namentlich auch aus der historischen Literatur. Vor allem ist mir aber hier aus der Tübinger Zeit Richard Wagners »Oper und Drama« und die in der gleichen Zeit veröffentlichten Stücke aus dem Ring der Nibelungen in Erinnerung geblieben. Das Heidelberger Museum schloß sich diesen Tübinger literarischen Schätzen übrigens so unmittelbar an, daß ich in vielen anderen Fällen beide nicht mehr sicher auseinanderzuhalten vermag.
Als ich zu Anfang August 1852 über Echterdingen, wo man Mittagspause zu machen pflegte, über die sieben Hügel nach Stuttgart, von da aus mit der Eisenbahn nach Heilbronn und dann mit dem Neckardampfboot nach Heidelberg fuhr, befand ich mich nicht in der beneidenswertesten Gemütsverfassung. Wenn ich mir genau das durchlebte Jahr überlegte, so mußte ich mir sagen, daß ich nichts Zusammenhängendes und praktisch Brauchbares gelernt hatte. Ich hatte mir einiges angeeignet, was man etwa allgemeine Bildung nennen konnte: oberflächliche Bruchstücke der menschlichen Anatomie, auch der Physik und Chemie, in der Botanik war ich nicht einmal soweit gediehen, daß man davon hätte reden können. Denn Mohl war ein großer und berühmter Forscher, aber ein Lehrer, dem es ziemlich gleichgültig schien, ob seine Zuhörer etwas bei ihm lernten. Daneben hatte ich eine ziemlich ungeregelte Lektüre aus schöner Literatur und einzel-nen Wissenschaften betrieben, und dazu kam schließlich, wie ein eratischer Block auf freiem Felde, ein Stück tiefeindringender Gehirnanatomie, die mit meinen übrigen anatomischen Kenntnissen außer allem Verhältnis stand. So blickte ich auf ein Jahr meines Studiums zurück mit dem Gefühl, noch einmal von vorn anfangen zu müssen, wenn ich überhaupt in meinem erwählten Fach weiterkommen wollte. Hierzu trat, daß mir keineswegs eine unbegrenzte Zeit für mein weiteres Studium zur Verfügung stand. Meine Mutter als Pastorenwitwe war äußerst beschränkt in ihren Mitteln, und es war im Familienrat beschlossen, daß ich im ganzen innerhalb eines Zeitraums von 4 Jahren, damals für das Studium der Medizin noch eben ausreichend, dieses vollenden sollte. Davon war ein Jahr verflossen, in welchem der Etat, welcher dem danach bemessenen Voranschlag entsprach, bereits beträchtlich überschritten war. Es blieben also 3 Jahre, in denen bei sparsamster Einrichtung das Versäumte nachgeholt werden mußte. Das war eine schwierige Lage. Doch die wundervolle Neckarfahrt ließ mich Mut fassen. Es kam mir wie eine plötzliche Erleuchtung die Überzeugung, daß es vor allem Not tue, meiner Arbeit ein bestimmtes Ziel zu setzen und danach meine Studien auf das strengste zu ordnen. Schon in der Tübinger Zeit wurde es mir zweifelhaft, ob der Beruf des praktischen Arztes der für mich geeignete sei. Was mich vor allem anzog waren gerade diejenigen Gebiete, die eigentlich außerhalb der praktischen Fächer der Medizin lagen und ihrem ganzen Charakter nach zu den Naturwissenschaften zählten: die Anatomie und in noch höherem Grade die Physiologie, zu der mich die einzigen Studien, die ich bis dahin einigermaßen ernsthaft betrieben hatte, die gehirnanatomischen anregten.
Anatomie und Physiologie lagen damals noch fast auf allen Universitäten in der Hand eines einzigen Vertreters oder wenigstens eines Hauptvertreters, neben dem etwa noch ein Extraordinarius speziell für Physiologie angestellt war: so in Tübingen, wo Arnold im Winter die Anatomie, im Sommer die Physiologie regelmäßig las, die erstere mit Demonstrationen, die letztere mit Experimenten reichlich ausgestattet, während neben ihm Vierordt die Physiologie vortrug, aber während meiner Studienzeit dieses Kolleg bereits wieder aufgegeben hatte, da er neben dem das Fach vertretenden Ordinarius nur wenig Zuhörer fand, wie dies ähnlich an den meisten anderen deutschen Universitäten zutraf. Auch die hauptsächlich seit dem Ende der vierziger Jahre berühmt gewordenen Physiologen Ernst Brücke, Carl Ludwig und Hermann Helmholtz waren von der Anatomie oder von der Verbindung beider Professuren ausgegangen und hatten sich erst einige Jahre später ausschließlich der Physiologie zugewandt, Emil du Bois-Reymond, der vierte unter den Begründern der modernen Physiologie, hatte dieses Fach bis zum Tode von Johannes Müller (1858), der ebenfalls noch beide Hauptprofessuren vereinigte, nur als Extraordinarius vertreten. Johannes Müller hatte sogar mit jener noch die Professuren der vergleichenden und der pathologischen Anatomie verbunden. Die Trennung dieser Fächer begann daher sich gerade in der Zeit allmählich durchzusetzen, in welcher ich die Universität bezog; und in der gleichen Zeit ereignete sich nur darin eine für die Verselbständigung der Physiologie bedeutsame Wendung, daß zuvor die Anatomie als das Hauptfach, die Physiologie mehr als ein Nebenfach der gleichen Professur gegolten hatten, wogegen nun bei einigen der jüngeren Anatomen und Physiologen infolge ihrer Arbeiten eine Umkehrung dieses Verhältnisses die jetzt allgemein gewordene Verselbständigung der Physiologie einleitete. Demnach kann man die Jahre 1848 bis 1851 als die Zeit der Begründung der neueren Richtung der Physiologie und die deutsche Wissenschaft als die ausschließliche Stätte ihres Ursprungs bezeichnen, bei dem sie zunächst eine wesentlich physikalische Richtung einschlug. Ihr ist dann eine zweite, jüngere Generation in Pflüger, Heidenhain, Rosenthal u. a. nachgefolgt, die um dieselbe Zeit ihre Studien begannen, als ich auf der Rückkehr von Tübingen den Entschluß faßte, die Physiologie zu meinem Lebensberuf zu wählen. Friedrich Arnold, der mich in Tübingen in die Physiologie eingeführt hatte, gehörte, ähnlich wie Johannes Müller, die Brüder Ernst Heinrich und Eduard Weber, noch der älteren Generation an, bei der die Physiologie im wesentlichen ein Nebenfach der Anatomie gewesen war. Immerhin hat Arnold insofern in ihr eine bedeutsame Stellung eingenommen, als er eine für die künftige Physiologie besonders wichtige Methode, die Vivisektion, mit Meisterschaft handhabte. Aber es war dies eine Seite, die ihrer Natur nach auf die Vorlesung beschränkt war, während ihm die physikalische Vorbildung versagt war, die für die selbständige Begründung einer Physiologie als Wissenschaft erfordert wurde.
Damit war mir, als ich im Herbst 1852 in mein drittes Semester eintrat, deutlich der Weg vorgezeichnet, den ich von nun an in meinen Studien zu gehen hatte. Dieser Weg war freilich nicht derjenige, zu dem der Rückstand, in welchem ich bis dahin gegenüber meinen fleißigeren Kommilitonen geblieben, aufforderte, und auch nicht derjenige, den diese Kommilitonen weiterhin einschlugen, sondern der entgegengesetzte. Der normale Studiengang des Mediziners war es nämlich, daß er, nachdem im ersten Jahr von ihm die vorbereitenden Naturwissenschaften nebst der Anatomie und Physiologe erledigt waren, nun mit allem Eifer sich auf die praktischen Fächer verlegte. Er hörte in seinem zweiten Jahr innere Heilkunde, die damals noch nicht wie heute zumeist bloß am Krankenbett der Klinik gelehrt wurde, sondern in einer besonderen theoretischen Vorlesung, der dann die klinische Unterweisung im selben oder im nächsten Semester nachfolgte. Er verband damit gleichzeitig die den klinischen Unterricht ergänzenden Fächer, die sich dann zum Teil in das dritte und vierte Jahr erstreckten, in welcher Zeit Chirurgie und Geburtshilfe, ähnlich in theoretische Vorlesungen und klinische Übungen geteilt, hinzutraten. So konnte der fleißige Mediziner in vier, der etwas Saumseligere in fünf Jahren seine Studien beenden. Ich sah mich umgekehrt genötigt, in meinem zweiten Studienjahr von den praktischen Fächern der Medizin noch ganz abzusehen, um mich in dieser Zeit ausschließlich auf die vorbereitenden Gebiete zu beschränken und mit ihnen außerdem das Studium der Mathematik, das ich bis dahin ganz vernachlässigt hatte, nachzuholen, ja ihm die erste Stelle anzuweisen, da ich sofort erkannte, daß ohne dasselbe besonders in der die nächste Grundlage der Physiologie bildenden Physik ein zureichendes Verständnis nicht zu gewinnen sei. Mein erster Schritt war daher, daß ich bei einem tüchtigen Mathematiker, der zugleich ein vorzüglicher Lehrer war, dem Professor Rummer an der Heidelberger höheren Bürgerschule, ein Jahr lang Unterricht nahm, um in diesem die Mathematik von den Elementen an bis zu den Grundlagen der Differential- und Integralrechnung zu durcheilen und die Lücken dieses Unterrichts durch mathematische Privatstudien zu ergänzen.
Es war das erste Semester, das Bunsen, der soeben von Breslau berufen war, in dem alten Klostergebäude hielt, das als provisorisches chemisches Laboratorium dem später in der Akademiestraße nach Bunsens Plänen errichteten chemischen Institut vorausging. Es war eine der anregendsten Vorlesungen, die ich jemals gehört habe; aber es war keineswegs ein Bild der gesamten oder auch nur eines Teils der Chemie, das Bunsen in ihr entwarf, sondern eigentlich nur eine Wiedergabe des Gebiets, das er selbst in den vorangegangenen Jahren in so fruchtbarer Weise gefördert hatte, der Chemie der Gase und der angrenzenden Teile der sogenannten anorganischen Chemie, wobei überdies die Metalle nur sehr kurz am Schluß behandelt wurden. Diese Vorlesung hielt Bunsen damals in jedem Semester und brachte dabei die verschiedene Dauer des Winter- und Sommersemesters nur dadurch zum Ausgleich, daß er im Sommer einige unwichtigere Gegenstände hinwegließ, während im übrigen selbst die einzelnen Vorlesungen beider Semester genau dieselben Dinge behandelten. Zugleich begleitete er jedoch den Vortrag mit experimentellen Demonstrationen von wunderbarer Vollendung. So bildete dieses Kolleg einen vollen Gegensatz zu der das Ganze der Chemie umfassenden, dabei aber den mündlichen Vortrag und die experimentelle Erläuterung absolut voneinander trennenden chemischen Vorlesung, die ich in Tübingen gehört hatte. War hier das System der Chemie in zwei Teile getrennt gewesen, deren Beziehung zueinander durch diese zeitliche Zerreißung im Bewußtsein des Zuhörers nahezu verloren gegangen war, so bildete bei Bunsen, der auf eine solche Systematik keinen Wert legte, jedes chemische Element ein unabhängiges Ganzes, das er nun in allen seinen Eigenschaften und unter Vorführung seiner Beziehungen behandelte und experimentell zur Anschauung brachte. Er versetzte so den Zuhörer derart mitten in die Erforschung des Gegenstandes, als wenn dieser selbst sie ausführte. Da das alte Auditorium, in welchem diese Vorlesung stattfand, die Zuhörer kaum faßte, so stand die vorderste Bank, auf der ich mir einen Platz verschaffen konnte, dicht am Experimentiertisch, so daß diese Vorstellung, das Experiment selbst zu machen, fast zur Illusion wurde, während zugleich die Art, wie Bunsen manche Experimente vorführte, darauf berechnet schien, den Eindruck auf den Zuhörer möglichst zu steigern. So pflegte er auf gefährliche Experimente, z.B. auf die Explosion von Chlorstickstoff, dadurch vorzubereiten, daß er mit ironischem Lächeln die Gefährlichkeit eines solchen schilderte und sich selbst mit einer großen Schutzbrille bewaffnete, eine Manipulation, die manche Zuhörer veranlaßte, auf den Vorzug der ersten Bank zu verzichten.
Der Eindruck der Bunsenschen Vorlesung bestärkte mich in der Überzeugung, daß es, um sich das Gesehene ganz anzueignen, nötig sei, selbst zu experimentieren. Ich schritt daher sogleich dazu, mich noch im selben Semester als Praktikant in das Laboratorium aufnehmen zu lassen. Um so mehr war ich enttäuscht, als der Eindruck, den ich hier empfing, so stark wie möglich zu dem der Vorlesung kontrastierte. Bunsen, der noch ganz mit der ersten notdürftigen Einrichtung seines Laboratoriums und mit eigenen Arbeiten beschäftigt war, hatte kaum Zeit, sich um die Anfänger zu kümmern. Er überließ diese seinen Assistenten, die noch neu in ihren Stellungen waren. Ich merkte daher bald, daß hier nichts für mich zu lernen war, und entschloß mich sofort, um die Streichung meines Namens aus der Liste der Teilnehmer zu bitten. Statt dessen trat ich bei einem vor kurzem erst habilitierten Privatdozenten, Dr. Herth, in dessen Privatlaboratorium ein. Er hat während der wenigen Jahre seiner akademischen Tätigkeit die zumeist älteren Studierenden, die seine Übungen besuchten, durch den Eifer, mit dem er sich diesen hingab, zu dauerndem Dank verpflichtet. Die von ihm genossene Unterweisung in Verbindung mit der Bunsenschen Vorlesung regte in mir sogar eine Zeitlang den Gedanken an, selbst zur Chemie überzugehen, ein Gedanke, der freilich sehr bald hinter dem nun einmal fest gefaßten Plan, Physiologe zu werden, wieder zurücktrat.
Ja noch mehr, es schien mir möglich, diesem Plan gerade dadurch treu zu bleiben, daß ich mir ein physiologisch-chemisches Problem stellte, über das ich in den damals vorhandenen physiologischen Schriften keinen Aufschluß fand. Dieses Problem bestand in der Frage, wie sich die als regelmäßige Nahrung genossenen Mineralstoffe, namentlich das kaum als eigentliche Nahrung angesehene Kochsalz, im Organismus gegenüber den bekannten unentbehrlichen organischen Nahrungsstoffen verhielten. Ich vermutete, Aufschluß über diese Frage könne man möglicherweise durch Experimente an sich selbst gewinnen, wenn man den betreffenden mineralischen Bestandteil der Nahrung ganz aus dieser hinweglasse. Da das Kochsalz nicht bloß ein natürlicher Bestandteil der tierischen Gewebe, sondern auch vieler Nahrungsmittel ist, so war eine absolute Kochsalzentziehung natürlich nur annähernd durchzuführen; aber dies genügte, um nach wenigen Tagen neben einem lange nachdauernden gesteigerten Hunger nach Kochsalz Störungen des Stoffwechsels hervorzubringen. Mir ist diese an sich unbedeutende experimentelle Untersuchung besonders lebhaft im Gedächtnis geblieben, weil sie die erste ist, die ich in meinem Leben ausgeführt und an der ich mich vielleicht mehr als an irgendeiner späteren Arbeit erfreut habe, weil sie in die physiologische Literatur jener Tage durch die Aufnahme in das Journal für praktische Chemie (Jahrgang 1853) und durch dieses in Ludwigs Lehrbuch der Physiologie überging.
In der Physik glaubte ich einen etwas anderen Weg einschlagen zu sollen, indem ich von einer das Ganze derselben umfassenden Wiederholung absah, vielmehr dieser gewissermaßen in ähnlicher Weise, wie es in Bunsens Vorlesung tatsächlich geschah, das gründliche Studium eines besonders wichtigen Teils substituierte. Als ein solcher erschien mir aber von Anfang an die Mechanik. Sie wurde von dem damals noch in Heidelberg, später in München wirkenden Jolly in einer mehrstündigen Vorlesung vorgetragen. Es ist die vollendetste naturwissenschaftliche Vorlesung, die ich jemals in meinem Leben gehört habe. Unübertrefflich war sie namentlich in der Weise, wie sie im wesentlichen elementar, dabei aber mit tief eindringender Klarheit und in strengem logischen Zusammenhang die Grundbegriffe und ihre wichtigsten Anwendungen behandelte. Hier konnte man nicht bloß den Inhalt der Wissenschaft selbst sich aneignen, sondern man erhielt auch ein nicht zu übertreffendes Vorbild pädagogischer Methode überhaupt. So halte ich es denn für ein besonderes Glück mehr des Zufalls als der eigenen Wahl, daß es mir vergönnt war, zwei Vorlesungen zu hören, die sich in wunderbarer Weise ergänzten: die eine, bei Bunsen, eine musterhafte Vertiefung in die Einzelprobleme, die andere, bei JoIIy, das vollendete Beispiel einer planmäßigen systematischen Zusammenfassung einer Wissenschaft, die zugleich eine Stellvertreterin eines noch umfassenderen Ganzen war. Denn als eine solche konnte vor 70 Jahren die Mechanik im Hinblick auf die gesamte Physik und durch diese wieder auf die exakte Wissenschaft überhaupt mehr noch gelten als in der Gegenwart, wo sich die Physik und durch ihre Rückwirkung die Mechanik selbst in einem Übergangszustand befindet, in welchem Sie verschiedene Ausgangspunkte zuläßt. Denn wie seitdem die elektromagnetische Lichttheorie die Physik in der Vielseitigkeit der Betrachtung erweitert hat, so hat sie die vollendete Einheit derselben, deren sich die exakte Wissenschaft vor einem halben Jahrhundert unbestritten erfreute, aufgehoben, um sie durch eine Vielheit systematischer Gesichtspunkte zu ersetzen, die allerdings wieder einer höheren Einheit zustreben, dabei aber doch das Eindringen in das Ganze der exakten Wissenschaften erschweren. Denn wer in der Zeit, in der ich mir die Kenntnis der Mechanik als einer Führerin in Physik und Physiologie anzueignen suchte, sicher seinen Weg durch die Galilei-Newtonsche Mechanik zurücklegen wollte, dem konnte, wie heute noch, die Gravitationsmechanik als das bis jetzt vollkommenste Beispiel des Aufbaues einer exakten Wissenschaft erscheinen, während sie heute nicht mehr als das einzig mögliche gelten kann.
Als ich in meinem fünften Semester begann, zu den naturwissenschaftlichen und anatomisch-physiologischen Studien der vorangegangenen Jahre die praktischen Fächer hinzuzufügen, hatte ich mir für diese zur Regel gemacht, Theorie und Praxis, wo immer möglich, zu verbinden. Bei den praktischen Fächern, besonders bei der inneren Medizin, schien mir das um so mehr erforderlich, als Hilsmittel, wie sie die naturwissenschaftliche Abbildung der Objekte gewährt, hier nicht zu Gebote stehen. Die Beschreibung eines Krankheitsfalles ist kaum imstande, einen auch nur irgend zureichenden Ersatz der Wirklichkeit zu gewähren, denn sie setzt zwei Wirklichkeiten voraus: die Krankheitserscheinungen am lebenden Körper und die pathologischen Veränderungen an den durch sie affizierten Organen. Eine Vorlesung über Pathologie ist also im Grunde eine Anweisung auf Dinge, deren jedes besonderer Objekte und Hilfsmittel bedarf. In meiner Studienzeit pflegte nun meist die Pathologie zuerst in Vorlesungen behandelt zu werden, diesen ließ der Mediziner ein klinisches Semester folgen, in welchem er an das Krankenbett geführt wurde, um das ein Semester vorher Gehörte selbst zu sehen. Daran reihte sich noch ein Semester später ein Kursus an der Leiche, bei dem er Sektionen der verstorbenen Kranken ansehen durfte. Die zu diesen Sektionen gegebenen Erläuterungen bildeten zugleich eine Art Repetitorium zu den vorangegangenen Lehrkursen im Hörsaal und am Krankenbett. Das war eine zeitraubende und für die rein theoretischen Vorträge ziemlich unnütze Zerstückelung des Stoffs. So habe ich sie denn auch für mich selbst von Anfang an abgeschafft, um mindestens die zwei ersten unter diesen drei Kursen sofort zu verbinden, woran sich dann der dritte, der pathologisch-anatomische, von selbst anschloß. Hierdurch war dieselbe Verbindung hergestellt, die meines Wissens seitdem fast überall üblich geworden ist, nur daß gegenwärtig die vorbereitenden Fächer der Anatomie und der Physiologie zu kurz kommen.
Diesem Streben, durch eigene Erfahrung einen Einblick in die verschiedenen hier einander durchkreuzenden Gebiete der Pathologie zu gewinnen, kam nun zunächst ein zufälliges Ereignis zu Hilfe, das mit meinem Eintritt in die praktischen Fächer zusammenfiel. Es bestand in einer Preisaufgabe, welche die Heidelberger medizinische Fakultät für den Herbst 1854 gestellt hatte. Dies war die Zeit, in welcher ich nach dem üblichen Lehrplan eben erst den Anfang der Vorlesung über Pathologie gehört hatte, in welcher mir aber sogar die pathologische Anatomie, vollends die operativen Fächer noch fremd waren. Dennoch reizte mich die Aufgabe, die eine Untersuchung der auf die Durchschneidung der Lungen-Magennerven folgenden Veränderungen der Lungen verlangte, als eine physiologische zu ihrer Bearbeitung, obgleich sie eine gewisse operative Übung an Tieren, namentlich aber pathologisch-anatomische Kenntnisse voraussetzte. Aber ich suchte mir selber zu helfen, indem ich in den geeigneten Lehrbüchern die Schilderung der Anlegung von Luftröhrenfisteln las und dann diese Operation selbst an Kaninchen ausführte, und außerdem ein antiquarisches Exemplar von Rokitanskys pathologischer Anatomie erstand, in welcher ich das Kapitel über Lungenerkrankungen gründlich studierte, um die vortrefflichen Beschreibungen dieses Autors mit meinen Beobachtungen an den operierten Tieren zu vergleichen. Da die Ausführung der Experimente dringend einen Assistenten erforderte, der dem Operierenden beim Aufbinden und Festhalten der Tiere sowie bei den nach der Operation ausgeführten Temperaturmessungen und anderen Manipulationen bestand, so unterstützte mich meine gute Mutter an Stelle eines solchen. Noch schwebt mir in der Erinnerung vor, wie sie bei der Ausführung der Vivisektionen das Gesicht zur Seite wandte, um sich dem Anblick der Operation zu entziehen, dabei aber mit der größten Geduld sich die erforderlichen Fertigkeiten aneignete und schließlich das Manuskript der Arbeit ins Reine schrieb. Da von dem Lungenmagennerven direkte Nervenfasern zur Lunge gehen und außerdem solche weiter unten sich zu einem besonderen Nerven sammeln, der zurückläuft und sich in den Kehlkopfmuskeln ausbreitet, so zerlegte sich die gestellte Aufgabe von selbst in eine doppelte Experimentalreihe, von denen die eine in der Durchschneidung des Vagusstammes am Hals, die andere in der des eng der Luftröhre anliegenden Nervus recurrens bestand. Als Resultat ergab sich, daß die durch die Rekurrenstrennung bewirkte Kehlkopflähmung eine den Eintritt der Bronchien umgebende Lungenentzündung erzeugte, die ihre manifeste Ursache in den durch den gelähmten Kehlkopf eintretenden Speisemassen hatte, wogegen, wenn der Vagusstamm durchschnitten wurde, dazu eine zweite, namentlich bei jugendlichen Tieren über die ganze Lunge verbreitete eigenartige Affektion hinzukam, die ich nach meinem Ratgeber Rokitansky als eine »Atelectasis pulmonum« diagnostizierte, und die beim Menschen, namentlich bei neugeborenen Kindern, infolge mangelhaft zustande gekommener Atmung beobachtet wird.
Die Preisaufgaben der medizinischen Fakultät pflegten damals in der Klinik oder dem Institut des Professors gelöst zu werden, von dem die Aufgabe gestellt war. Der Preisträger war daher in der Regel schon zuvor bekannt, und meine vorschriftsmäßig anonym eingereichte Arbeit setzte deshalb die Fakultät einigermaßen in Erstaunen. War Sie doch in meiner Studierstube entstanden, ohne daß jemand außer meinem Hause davon etwas wußte. Aber da ich mit Hilfe meines Rokitansky zu genau denselben Resultaten gelangt war wie mein Konkurrent mit der Unterstützung seines Professors, so war man in einiger Verlegenheit, wer mit dem Preis zu krönen sei. Die Fakultät half sich jedoch dadurch, daß sie ausnahmsweise beiden Bewerbern den Preis erteilte. Das geschah besonders unter Befürwortung des ältesten Ordinarius, der es als ein besonderes Verdienst des unerwarteten Bewerbers ansah, daß dieser seine Schrift sowohl in deutscher wie in lateinischer Sprache eingereicht hatte. Freilich war dies nur infolge eines Mißverständnisses geschehen. Die Fakultät hatte nämlich die alte Sitte beibehalten, die Preisaufgabe in lateinischer Sprache zu stellen, wogegen die andere, sie auch lateinisch zu schreiben, längst aus der Mode gekommen war. Als ich nach Fertigstellung meiner ziemlich mühseligen Übersetzung meiner Arbeit zufällig hörte, man pflege sich schon aus Rücksicht auf die Bequemlichkeit der Fakultät mit dem deutschen Texte zu begnügen, hatte ich beschlossen, beide Versionen einzureichen, um auf alle Fälle den etwaigen Ansprüchen zu genügen.
Daß ein Autor, der in Seinem Leben mancherlei Arbeiten zum Druck befördert hat, durch keine spätere mehr in gleichem Grade erfreut wird wie durch die ersten, ist eine bekannte Erfahrung. Von meiner Arbeit über die Durchschneidung des Vagus gilt das aber in besonderem Grade, weil sie zu einem Briefwechsel mit Johannes Müller führte, dem ich mein deutsches Manuskript zur Aufnahme in das von ihm herausgegebene »Archiv für Anatomie und und Physiologie«, die angesehenste physiologische Zeitschrift, übergesandt hatte, und weil Johannes Müller sie mit einigen anerkennenden Worten in den Jahrgang 1855 dieser Zeitschrift aufnahm.
In Heidelberg trat ich nach dieser privaten vivisektorischen Vorbereitung als Schüler in den gesamten Lehrumfang des zu seiner Zeit hauptsächlich als pathologischer Anatom geschätzten Klinikers Ewald Hasse ein. Seine Vorträge zeichneten sich durch große Klarheit aus. Besonders aber seine Sektionen und Demonstrationen an der Leiche waren mustergültig, und ihr Wert erhöhte sich dadurch, daß jeder dieser Vorträge ein in sich zusammenhängendes Ganzes bildete, was die Nachteile der in dem damaligen Lehrplan liegenden Zersplitterung der Fächer wieder einigermaßen aufhob. Instruktiv für den späteren Arzt war es auch, daß er die ambulatorische Klinik selbst abhielt, so daß sein Unterricht durch die Einführung in jenen Wechsel zwischen verschiedenen Formen der Krankenbehandlung, genau wie sie im täglichen Leben vorkommt, weit mehr ein Bild der Wirklichkeit bot, als es bei der Verteilung der inneren Medizin auf mehrere Personen der Fall zu sein pflegt.
Einen vollen Gegensatz zu dieser der Wirklichkeit angepaßten vielseitigen Lehrweise Hasses bildete die gewissermaßen dem Lebensalter dieser Kliniker entsprechende des Professors der Chirurgie. Hasse gehörte zu den jüngeren Ordinarien. Ein geborener Sachse, war er ein Jahr vorher von Zürich, dieser Anfangsprofessur so vieler deutscher Gelehrter, nach Heidelberg berufen worden, und er stand besonders in der Therapie noch inmitten der jüngeren Generation. Diese war aber eine vorwiegend skeptische. Bei den inneren Krankheiten überließ man diese womöglich sich selbst oder begnügte sich mit der Anwendung von äußeren Mitteln, namentlich von Gegenreizen. Die »Moxa«, ein auf die Haut gesetzter brennender Zylinder, der sich tief bis in das Unterhautgewebe einbrannte, war ein Gegenreiz, mit dem Hasse selbst bei verschiedenen Leiden sich quälte. Die inneren Mittel, die er beim Patienten anwandte, waren großenteils bloße Scheinmittel, die er zum Zweck der Beruhigung desselben verschrieb. Ein »Decoctum Salep«, ein Aufguß der Salepwurzel, der an Heilwirkung ungefähr einer Wassersuppe gleichkommt, war bei ihm beinahe zum Universalmittel geworden. Das Wesentliche der Medizin bestand ihm aus Diagnose und pathologischer Anatomie, die eigentlich wissenschaftliche Grundlage allein aus dieser. Der Chirurg Chelius dagegen, der sich bereits den Achtzig näherte, war der älteste aktive Lehrer der Universität. Er vertrat aber nicht bloß die eigentliche Chirurgie, sondern auch die Augenheilkunde nebst den übrigen heute als Dependenzen der Chirurgie von ihr gesonderten Pathologien der Ohren, der Nase sowie der noch jetzt ein schwankendes Dasein zwischen Spezialfach und Teil der gesamten inneren Medizin führenden Sondergebieten der Haut, des Magens, der Kinderkrankheiten usw. Alles das war noch zu einem einzigen großen Gebiet verbunden, wobei dann freilich die älteren Ärzte von den damals bereits üblichen diagnostischen und zum Teil auch therapeutischen Hilfsmitteln meist keinen Gebrauch machten. Chelius nahm vielleicht sogar darin eine Ausnahmestellung ein, daß er erklärte, ein einzelner Fall würde sich zur Untersuchung mit dem Augenspiegel eignen, wenn nicht dieser eine zu gefährliche Reizung des Auges verursachte. Einen Augenspiegel zu sehen bekamen wir Schüler aber niemals. Um so reicher war der Vorrat an Arzneimitteln, teils vegetabilischer, teils mineralischer Abstammung, über den er verfügte, die übrigens meist seit alter Zeit unter einem einheitlichen Namen in den Apotheken vorrätig waren. So war ein besonders beliebtes Mittel ein gewisses »Pulvis antiscrophulosus«, das aus einigen zwanzig Stoffen, großenteils Kräutern, zusammengesetzt war, als einen wesentlichen Bestandteil aber außerdem die Asche alter verbrannter Schuhsohlen enthielt.
Auch Chelius trug die Chirurgie teils rein theoretisch in einer sechsstündigen Vorlesung vor, teils demonstrierte er sie am Krankenbett, wobei jedoch die Operationen sein ihm assistierender Sohn ausführte. Charakteristisch waren dabei die Krankenbesuche, bei denen sich ihm eine Schar Studentischer Schüler als Zuhörer anschloß. Freilich verhielt sich Chelius bei diesen in der Regel vollkommen schweigend, daher denn auch seit Jahren die chirurgische Klinik den Namen der »Stillen Klinik« bei den Studierenden führte. Etwas anders ging es allerdings in der meist von Landleuten der Heidelberger Umgebung besuchten ambulatorischen Klinik zu. Hier bot die Unterhaltung zwischen Chelius und dem ländlichen Patienten einen eigenartigen Genuß, man könnte sagen, sie war eine Abart des sokratischen Gesprächs, die auch der sokratischen Ironie nicht entbehrte. Diese ergötzlichen Bestandteile des Unterrichts zeigten, daß diese Klinik dereinst einmal bessere Tage gesehen hatte, aber sie zeigten auch deutlich die Folgen, die das Altwerden im Beruf mit sich führt, und die beim Arzt nur vielleicht auffallender zutage treten als sonst, weil der ärztliche Beruf als Nebenbestandteil eine vulgäre Konversation zwischen Arzt und Patient mit sich führt, die bei allmählich erlahmender Energie schließlich als der einzige Bestandteil übrig blieb. Dieselbe Alterserscheinung findet sich natürlich im Grunde ebenso innerhalb anderer Berufe, aber sie ist wegen der aus Wissenschaft, Kunst und Leben zusammengesetzten Beschaffenheit des ärztlichen bei ihm wohl auffälliger als bei irgendeinem anderen. Er fordert teils eine Schärfe der Sinne, teils technische Fertigkeiten, denen im allgemeinen der Mensch nur in der Jugend vollkommen gewachsen ist, und die er sich bis zu einem gewissen Alter erhalten kann, wenn er sie einmal erworben hat, aber nicht mehr erwerben kann, wenn er sie verloren hat. Dies bringt es mit sich, daß der Wandel der Wissenschaft hier im allgemeinen die ältere Generation schneller als anderwärts hinter ihrem Fortschritt zurückbleiben oder auch von ihr der Untauglichkeit der neuen Hilfsmittel zuschreiben läßt, was in dem Versagen der eigenen Kräfte seinen Grund hat. Daneben gehen dann aber noch Wandlungen der allgemein verbreiteten Anschauungen einher, an denen alt und jung teilnehmen. So ist dem skeptischen Charakter, den die innere Medizin in meiner Jugend besaß, ein Zeitalter verschwenderischer Therapie vorangegangen und, soweit ich es aus einiger Ferne beobachten kann, nicht minder nachgefolgt. Beidemal jedoch unter verschiedenen Bedingungen, zwischen denen eben die skeptische Therapie eine Art Übergang bildete. Der Arzt der alten Schule mußte sich aus den in der Natur vorkommenden Stoffen als echter Pharmazeut seine Heilmittel selbst zusammensetzen, und er griff daher zu möglichst vielen auf einmal. Nachdem die Pharmazie zu einem bloßen Anwendungsgebiet der Chemie geworden ist, bietet ihm das chemische Laboratorium Präparate dar, die in konzentrierter Form und womöglich als rationell zusammengesetzte chemische Verbindungen sofort komplizierte therapeutische Wirkungen hervorbringen, so daß der Reichtum, mit dem der pharmazeutische Markt mit neuen und immer neuen Mitteln überschwemmt wird, zu einem Experimentieren mit den Produkten dieses Marktes anspornt. So traten die beiden Perioden jenseits und diesseits jener skeptischen Zwischenzeit nach ihren Mitteln in einen scheinbaren Gegensatz zu einander, während sie in ihren Zwecken zusammengingen.
Erscheinungen dieser Art sind, wie gesagt, typisch, aber das ärztliche Gewerbe bietet sie in einer durch die Gebundenheit der Hilfsmittel und Methoden an bestimmte äußere Bedingungen besonders augenfälligen Form dar. Diese Bedingungen konzentrieren sich in der vollendeten Anpassung der Behandlung an die Persönlichkeit des Patienten, die in erster Linie in dem äußeren, von den eigentlich medizinischen Hilfsmitteln unabhängigen Verkehr mit demselben zum Ausdruck kommt. Sie sind es, die dem Arzt den Ruf des »großen Arztes« zu verschaffen pflegen und die dieser Bezeichnung ein gewisses Recht verleihen, denn es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die der Seite des sozialen Verkehrs zugehörige rein humane Behandlung, die den Menschen nach seinen persönlichen Eigenschaften abschätzt, ungefähr ebenso einen wichtigen Teil des ärztlichen Berufs bildet, wie etwa der Erziehungsberuf nicht bloß im Unterrichten des Schülers, sondern in den mannigfaltigsten Beziehungen des Zusammenlebens mit ihm seinen Ausdruck findet. In diesem Sinne konnte man von dem alten Chelius sagen: er war ein vollendeter ärztlicher Pädagoge, und wenn seine Schüler in dieser Richtung seinem Vorbild einigermaßen nahezukommen vermochten. So hatten sie mehr erreicht, als was ihnen ein noch so vortrefflicher medizinischer Unterricht zu bieten vermochte. In dieser Beziehung bildeten aber gerade Hasse als Typus des modernen Arztes, der die ländlichen Patienten durch seine rauhe, die städtischen durch seine ironische Behandlung mehr abzuschrecken als ihr Vertrauen zu erwecken wußte, und Chelius als Typus des alten welterfahrenen Arztes, der durch seine vortrefflich dem Charakter angepaßte Behandlung das Vertrauen des Patienten, welcher Klasse von Menschen dieser auch angehörte, zu gewinnen verstand, vollendete Gegensätze. Für die Nachteile und die Vorzüge, die das Alter und die Jugend, im Verhältnis zueinander bieten und die sich bis zu einem gewissen Grade ausschließen, waren sie glänzende Beispiele.
Der Vertreter des dritten medizinischen Hauptfachs war ein aus Prag berufener Dozent, der ohne besondere wissenschaftliche Verdienste, aber durch diejenige Eigenschaft sich auszeichnete, die in jenen Tagen zahlreiche Deutsche auf einige Semester als Studierende nach der deutschen Universität in Prag wandern ließ: durch die vortreffliche Schulung, die die Prager Fakultät ihren Zöglingen gewährte. Was mehr als diese im wesentlichen noch heute bestehende Teilung in diese drei Hauptfächer die medizinische Fakultät vor 70 bis 50 Jahren von der heutigen unterschied, das waren jedoch die Nebenfächer, die sich nicht bloß durch die Gebundenheit an bloße Privatdozenten oder Extraordinarien, sondern auch durch ihren Inhalt von den heutigen entfernten, obgleich leise Anfänge zu dem gegenwärtigen Zustand bereits im Entstehen begriffen waren. Damals trugen die Nebenfächer der Hauptsache nach den durch diesen Namen ausgedrückten Charakter mit Recht auch insofern, als sie jedem der drei Hauptfächer als Hilfsgebiete beigeordnet waren, die die Bildung des Arztes in ihrem ganzen Umfang vervollständigten. Das waren Geschichte der Medizin, gerichtliche Medizin, Kinderheilkunde, Tierheilkunde, medizinische Botanik und ähnliche. Der Vorrang, den sich schon in jenen Tagen die österreichische Schule errang, beruhte zu einem wesentlichen Teile darauf, daß in Prag und Wien zuerst der Übergang zu dem heutigen System in der selbständigen Abzweigung einzelner Gebiete, wie der Augen-, der Ohrenheilkunde, der Hautkrankheiten usw., hervortrat, ein System, welches in seiner konsequenten Durchführung schließlich die ganze Medizin in eine Reihe von Spezialitäten zu sondern droht, wie das in den großen amerikanischen Städten zum Teil bereits eingetreten ist. In meiner Jugend war das ältere Prinzip noch das vorwaltende, das neue ist erst allmählich hinzugekommen. Jenes hatte dazu geführt, daß die älteren Nebenfächer zu einem großen Teil in den Händen von praktischen Ärzten blieben, die eine Nebenstellung als Dozenten für die betreffenden Gebiete erhielten. Erst der Übergang der Nebenfächer aus den Allgemeingebieten in Teilgebiete hat die wichtigeren unter ihnen meist im Anschluß an gewisse spezifische Methoden, wie die Augenheilkunde an den Augenspiegel, in selbständige Ordinariate verwandelt und dadurch das alte System zum Wanken gebracht.
Bezeichnet der Übergang der drei Hauptfächer der Medizin in eine größere Zahl von Teilgebieten den eingreifendsten Wandel dieser Wissenschaft, so hat nun dieser Wandel natürlich auch auf das Studium selbst bedeutsam zurückgewirkt. Er hat mehr und mehr an die Stelle der einstigen Kultivierung der Gesamtmedizin durch den Arzt ein medizinisches Spezialistentum treten lassen, welches möglicherweise in der Zukunft die Gesamtmedizin ebenso verdrängen wird, wie in der Vergangenheit auf die Nebenfächer meist nur ein geringer Wert gelegt wurde. In meiner Jugend waren es die drei Teile der Medizin, innere Pathologie, Chirurgie und Geburtshilfe, die sich in den drei eigentlich allein als vollgültig anerkannten Professuren spiegelten. Sie wiesen einerseits zurück auf jenen noch bis in die Anfänge der neueren Medizin reichenden Zustand, in welchem die gesamte Heilkunde von jedem Arzt und so auch eventuell von jedem Lehrer der Heilkunde vertreten wurde, und sie wiesen andererseits in der bereits sich regenden Tendenz zur Ausbildung weiterer Sondergebiete auf die wesentlich abweichende Verfassung hin, wie sie die heutige Medizin neben einigen Nachwirkungen aus jener Periode der Dreiteilung zeigt. Vor 65 Jahren war im akademischen Unterricht, der darin der Praxis vorauseilte, zwar jene ursprüngliche Einheit bereits seit langer Zeit verschwunden; sie hatte den drei Hauptgebieten Platz gemacht, wobei übrigens im Gegensatz zu der primären Scheidung der Chirurgie von der inneren Pathologie die etwas zurückgebliebene Stellung der Geburtshilfe als eines bloßen Zweiges der Chirurgie immer noch nachwirkte. Die Erringung der annähernden Gleichwertigkeit spiegelte sich jedoch darin, daß das Examen des Mediziners in drei Examina zerfiel, deren jedes damals in Baden 14 Tage beanspruchte und derart unabhängig dastand, daß es selbständig abgelegt werden konnte.
In diesem Verhältnis sprach sich deutlich aus, daß auf diesem Gebiet die Universität vor allem eine Vorbereitungsanstalt für das (Staatsexamen war, das der Bevölkerung gegenüber eine Bürgschaft für die Brauchbarkeit der im Lande beschäftigten Ärzte bieten sollte. So waren es denn auch nicht wie gegenwärtig die Professoren der Medizin, vor denen als den zweifellos Sachverständigen der Mediziner seine Examina ablegte, sondern eine Anzahl von Ärzten der Haupt- und Residenzstadt, die als staatliche Examinatoren von der Regierung beauftragt waren. Den Doktortitel pflegte dann durch die Einreichung einer Dissertation und die Ablesung eines besonderen Doktorexamens bei der Fakultät der Kandidat nachzuholen, war aber dazu keineswegs verpflichtet, sondern dieser Titel war wie noch jetzt eine Zierde, die namentlich die Städtischen Ärzte unter Entrichtung eines entsprechenden Honorars zu erwerben suchten, mit der es aber an manchen Universitäten, ähnlich wie auch in anderen Fächern, nicht allzu streng genommen zu werden pflegte, um so mehr da die Doktorwürde unter den gleichen Bedingungen auch Ausländern erteilt wurde, bei denen ein Staatsexamen nicht in Betracht kommen konnte. In einer noch älteren Zeit, in Baden bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, hatte die Erwerbung des Doktortitels bei der Fakultät genügt, um zu praktizieren. Die Ernennung von besonderen Medizinalräten der Residenz zu Examinatoren war daher eine bürokratische Maßregel gewesen, um dem Lande tüchtige Ärzte zu sichern. Als den praktischen Fächern noch die Naturwissenschaften als Hilfsfächer beigefügt wurden, zog man dann erst für diese einige Professoren der Universität oder der technischen Hochschule als Hilfskräfte hinzu. Diesem Beispiel ist endlich später die Medizin und damit die Überweisung des ganzen Examens an die Professoren der Universität gefolgt.
Der Unterschied, den dieser Wechsel des Examinatorenkollegiums im Charakter des Examens herbeigeführt hat, ist nun aber ein sehr bedeutsamer. Von dem Universitätslehrer darf man im allgemeinen erwarten, daß er an Kenntnissen seine Examinanten erheblich übertrifft; von dem älteren Arzt, der mehr oder weniger lange Zeit zuvor seine Studien vollendet hat, darf man dies natürlich nicht erwarten, sondern das Kollegium der Medizinalräte repräsentierte in diesem Fall im allgemeinen verschiedene Zeitalter der dem Examen vorangehenden Heilkunde. Wenn daher die Bürokratie dieses System eingeführt hatte, um ein möglichst unparteiisches Prüfungskollegium zu gewinnen, so mochte dieser Zweck vielleicht erreicht worden sein, aber es war damit ein Nachteil verbunden, der schwerer wog als dieser Vorzug: die Examinatoren waren die Vertreter einer gegenüber dem Examinanten mehr oder weniger rückständigen Stufe der Wissenschaft, und zwar war der älteste unter ihnen, der demnach, wie es sich gebührt, das größte Ansehen genoß, natürlich der rückständigste. Er gehörte einer längst vergangenen Generation von Ärzten an. Ein charakteristisches Symptom dieses Verhältnisses bestand darin, daß die Kandidaten, die einige Aussicht auf ein gutes Examen mitbringen wollten, sich zuweilen veranlaßt sahen, einige Wochen vor dem Eintritt in dasselbe sich ein längst vergriffenes Lehrbuch der allgemeinen Pathologie, des Faches, in welchem der alte Herr examinierte, zu verschaffen, um sich einigermaßen in dem Ideenkreis des Examinators zu orientieren. Diesem ältesten Repräsentanten folgten dann die jüngeren bis zu einem schließlich nicht mehr allzu großen Abstand von der Gegenwart. Die notwendige Folge war, daß eine gewisse äußere Fertigkeit im Ausdruck verbunden mit einiger Kenntnis der Geschichte der Heilkunde die Eigenschaften waren, die für den Erfolg des Examens mehr ins Gewicht fielen als positive Kenntnisse. Ja wenn der Kandidat mit hinreichender Zuversicht an der Richtigkeit einer falschen Antwort festhielt, so konnte es vorkommen, daß er gegenüber dem Examinator seine Meinung durchsetzte. Auch das ist eine typische Erscheinung, die besonders da eine Rolle spielte, wo das Motiv der Autorität in Betracht kam. Daß die autoritative Form der Meinungsäußerung den wirklichen Inhalt nicht nur in seiner Wirkung unterstützen, sondern sogar ersetzen und darum im Kampf der Meinungen siegen kann, ist ja eine bekannte Tatsache.
Natürlich macht sich nun in dieser Beziehung die Unsicherheit der Meinungen beim mündlichen Meinungsaustausch ungleich lebhafter geltend als bei einem schriftlichen, der auf beiden Seiten der Überlegung mehr Zeit läßt. Daraus erklärt sich wohl noch eine weitere Beobachtung, die ich unter der Bedingung beiderseitiger Unsicherheit, bei der beide Teile ihre Rollen tauschen können, gemacht habe. Sie besteht in der Verlegung des Schwerpunkts des Examens in seinen schriftlichen Teil, wogegen im umgekehrten Fall der Examinator, wo er seines Gegenstandes vollkommen sicher ist, stets geneigt ist, das mündliche Verfahren vorzuziehen. Darum ist die ideale Form des Examens der Dialog, bei dem der Examinator das Gespräch so zu führen weiß, daß es ihn sowohl über das Wissen wie über das Nichtwissen des Examinanten orientiert. Hier überwiegt dann von selbst der konkrete Inhalt der Fragen, ebenso wie umgekehrt das schriftliche Verfahren leicht den positiven Inhalt hinter allgemeinen Begriffen oder als Substituten derselben hinter allgemeinen Phrasen verschwinden läßt. Den Karlsruher Medizinalräten erlaubten schon die Pflichten ihrer eigenen Praxis nicht, von den sechs Wochen des der gesamten Medizin gewidmeten Examens der mündlichen Prüfung mehr als einige Stunden zu widmen. Der übrige Teil des Tages von früh bis spät war der Anfertigung schriftlicher Arbeiten gewidmet, zu der die den beiden Landesuniversitäten entstammenden Kandidaten in dem Ständesaal der badischen Kammer unter der Aufsicht eines Bürobediensteten beisammensaßen. Ich habe leider nur ein einziges Thema im Gedächtnis behalten. Es lautete: »Über den grünen Star und den grauen Star, nebst einer Übersicht über die Augenkrankheiten überhaupt.« Entschuldigend muß dazu allerdings bemerkt werden, daß damals noch, wenigstens im Gesichtskreis des Examinators, die Augenheilkunde nur ein kleines Nebengebiet der Chirurgie war.
Zur Zeit der Karlsruher Staatsexamina für Mediziner pflegten einige Wochen nach deren Abhaltung die Namen der neu ernannten praktischen Ärzte in dem badischen Regierungsblatt in den drei Reihenfolgen, in denen sie in den Fächern der inneren Medizin, der Chirurgie und der Geburtshilfe ernannt waren, veröffentlicht zu werden. Ich hatte zwar vermutet, daß ich bestanden habe, aber ich war doch sehr überrascht, als mein Name an erster Stelle in allen drei Fächern erschien. Denn wenn ich mir gewissenhaft überlegte, was ich in jedem der drei zu leisten imstande sei, so mußte ich schon der Ausübung der inneren Heilkunde mit einiger Sorge entgegensehen; wie ich aber auf Grund des Anblicks einer größeren Anzahl chirurgischer Operationen und der Ausübung einiger weniger an der Leiche imstande sein sollte, lebendigen Menschen Arme und Beine abzuschneiden oder noch andere schwierigere Eingriffe in ihren Organismus auszuführen, oder wie ich gar durch einige Übungen an einem Gummimodell befähigt werden sollte, als Geburtshelfer zu wirken, das blieb mir einigermaßen dunkel. Auch bewunderte ich einen Studiengenossen von der Universität her, der das Staatsexamen mit mir gemacht hatte, um der fröhlichen Sicherheit willen, mit der er sich sofort in eine ländliche Praxis stürzte. Als er mir in Heidelberg auf der Straße mit einem mir unbekannten Instrument begegnete und ich ihn fragte, was für ein Mordwerkzeug er hier mit sich führe, antwortete er: »Hier habe ich mir einen Kephalotriben gekauft!« Ein Kephalotrib oder Kopfzertrümmerer ist die ultima ratio des Geburtshelfers, wenn es sich für ihn darum handelt, einen neuen Weltbürger zu opfern, um einen schon lebenden, seine Mutter, am Leben zu erhalten. Meine Zuversicht war nicht so groß. Da aber das Publikum noch immer dem Vorurteil huldigt, ein gut bestandenes Examen sei die sicherste Bürgschaft für die Tüchtigkeit eines Arztes, so durfte ich mich nicht wundern, daß eine Familie des Heidelberger Bürgerstandes nach meiner Rückkehr aus der Residenz mich aufforderte, bei ihr als Hausarzt einzutreten. Das System der Hausärzte, das gegenwärtig unter dem Einfluß der Spezialärzte für die verschiedenen Organe des menschlichen Körpers allmählich zu verschwinden scheint, war damals noch allgemein im Gebrauch und brachte in der Tat für jeden Arzt die Verpflichtung mit sich, für alle Fälle, auch für solche der Chirurgie und der Geburtshilfe, mit seiner Kunst oder wenigstens mit seinem Rat zur Stelle zu sein. Ich ließ kurz entschlossen den Leuten, die mir als dem Primus der letzten Examenernte dieses Vertrauen schenkten, sagen, ich bedauerte, ihrer Einladung nicht folgen zu können, da ich nicht beabsichtigte, städtische Praxis zu übernehmen. War ich doch durch das mir von der Sanitätsbehörde ausgestellte Zeugnis berechtigt, an jedem Ort des Großherzogtums Baden nicht nur, sondern vielleicht auch in einigen Nachbarstaaten, mit denen dieses in einem Examenkartell stand, mein Zelt aufzuschlagen, um meine Kunst auszuüben. In der Tat war ich aber fest entschlossen, dies nicht zu tun, sondern zuzusehen, wie ich mir die dazu nötigen Fertigkeiten wirklich erwerben könne.
Meine Anverwandten waren nun freilich nicht dieser Meinung, sondern sie behaupteten, nach bestandenem Examen sei für mich die Zeit da, wo es sich für einen Menschen, der sich nun einmal einem der Studierten Berufe gewidmet habe, zieme, zur Ausübung dieses Berufs allmählich überzugehen. Da tauchten nun, da ich zur gewöhnlichen Privatpraxis mich nicht entschließen konnte, zwei Projekte auf, von denen namentlich das erste, das des Militärarztes, mir einigermaßen einleuchtete. Hatte ich doch schon in meinem ersten Tübinger Semester in Vierordt einen Physiologen kennen gelernt, der zuvor Militärarzt in Karlsruhe gewesen war. Der Beruf des Militärarztes erschien aber in der Zeit eines langen Friedens, da er es im allgemeinen nur mit gesunden jungen Leuten zu tun hat, als ein verhältnismäßig leichter, der darum im Notfälle, auch wenn ein späterer Übergang zur Physiologie auf Schwierigkeiten treffen sollte, vielleicht als Vorbereitung zur ärztlichen Praxis zweckmäßig sein könne. Dazu kam, daß der Inhaber der obersten militärärztlichen Stelle als früherer Bruchsaler Arzt im Hause meiner Eltern tätig gewesen war. Leider konnte er mir aber, als ich mich bei ihm meldete, keine Hoffnung machen, daß mein Gesuch um eine solche Stelle in absehbarer Zeit Aussicht auf Erfolg habe, da bereits eine übergroße Zahl von Meldungen vorliege. So blieb denn der Badearzt übrig. Hier hatte sich ein neues Schwarzwaldbad um einen solchen in den Blättern bemüht; aber der Beruf schien mir wenig verlockend, und ich selbst schien mir zu dem Beruf wenig beanlagt zu sein, da er, wie ich aus gelegentlichen Reisebeobachtungen wußte, abgesehen von der Behandlung anämischer badischer Beamtentöchter, hauptsächlich der Pflicht gewidmet schien, für die Unterhaltung der Badegesellschaft zu sorgen. Ich verzichtete also auf die Annahme des mir angebotenen Postens.
Da eröffnete sich eine Stellung, ebensogut geeignet, die Lücken der praktischen ärztlichen Übung auszufüllen wie eigene Erfahrungen auf Gebieten zu sammeln, die mir bis dahin eigentlich nur aus der Ferne zugänglich gewesen waren. Ein Bekannter, der seit einiger Zeit als klinischer Assistent bei dem von mir besonders geschätzten Lehrer Hasse tätig gewesen, aber sein medizinisches Staatsexamen noch nicht gemacht hatte, wünschte der Vorbereitung zu diesem ein halbes Jahr zu widmen und schlug mich für diese Zeit als seinen Stellvertreter vor. Hasse nahm den Vorschlag an, und so bezog ich denn als Assistent bei der Frauenabteilung der Heidelberger Klinik meine Wohnung für die nächste Zeit. Es war ein etwas verantwortungsvoller Beruf, denn ich war der einzige Assistent auf dieser Abteilung, und ich mußte bei Tag und Nacht mit meiner Hilfeleistung bereit sein, sowie den Direktor der Klinik bei seinen täglichen Besuchen über alle Vorkommnisse orientieren.
Das war die Zeit, in der ich im Gebiet der Medizin, wenn überhaupt, wirklich etwas gelernt habe. Freilich war es eine etwas einseitige Schulung, die ich hier genoß. Denn die Frauenabteilung einer städtischen Klinik gewährt aus der Fülle der Kranken, die dem Arzt begegnen können, eine eigenartige Auslese, die sonst wohl nirgends wiederkehrt. Sie bestand damals, wo das Kontingent der Fabrikarbeiterinnen noch kaum vorkam, wesentlich aus städtischen Dienstboten, einigen Landleuten und mehreren, in einer besonderen Abteilung untergebrachten Dienerinnen der Venus vulgivaga, deren Anzahl keineswegs klein und deren Behandlung nicht die leichteste war. Da die Männerabteilung der inneren und die chirurgische Klinik in dem gleichen Gebäude, der jetzigen Infanteriekaserne von Heidelberg, untergebracht und jede von ihnen ebenfalls einem einzigen Assistenten unterstellt war, so bildete sich aber natürlich zwischen diesen drei Assistenten ein freundschaftliches Verhältnis, das jeden dieser ungefähr dem Examenalter angehörigen Mediziner auch zu einer gewissen Teilnahme an den Berufspflichten der beiden anderen aufforderte.
Dabei drängte sich mir nun sehr bald die Beobachtung auf, daß die Stellung des jungen Arztes dem weiblichen Geschlechte gegenüber die verhältnismäßig schwierigste ist. Auf der allgemeinen Frauenabteilung herrschte namentlich in den größeren Krankensälen fortwährend eine lebhafte Konversation, und diese steigerte sich in der Abteilung der öffentlichen Persönlichkeiten nicht selten zu einem Skandal, der die Disziplin des mit der Aufsicht betrauten Arztes herausforderte. Auch konnte man sicher sein, daß jeder auffallendere Vorgang, der sich am einen Ende der Klinik ereignete, nach kürzester Zeit auch am anderen bekannt war, um so mehr, da die Krankenwärterinnen, denen die nächste Pflicht der Überwachung zufiel, hier ungleich mehr in diesen sozialen Verkehr eingriffen als die Wärter und Wärterinnen der Männerabteilung. Das hing damit zusammen, daß es auf dieser überhaupt viel stiller zuging. Hier galt umgekehrt die Regel, daß zahlreiche Kranke sich vollkommen schweigsam verhielten, dadurch aber einen Verkehr auch für die anderen erschwerten. Einigermaßen wirkte hierzu freilich der Umstand mit, daß die Frauen schon bei leichteren Erkrankungen die Klinik aufsuchten als die Männer. Die schwereren Kranken, die bei diesen die Hauptrolle spielten, waren überdies vorzugsweise Typhuskranke und Tuberkulöse, von denen zu jener Zeit die ersteren als in hohem Grad ansteckend, die letzteren für völlig ungefährlich galten und selbst gegen Ansteckung geschützt sein sollten, daher man eine regelmäßig wechselnde Anordnung der Krankenbetten vorzog. Eine besondere Erschwerung lag endlich noch bei der Besorgung der Frauenabteilung darin, daß die Kranken viel geneigter waren, die nächtliche Hilfe des Arztes in Anspruch zu nehmen. Für einen jugendlichen Assistenzarzt, der eines gründlichen Schlafes bedurfte, war aber dies eine schwere Belastung, umso mehr als er sich noch dazu bei der kurzen Strecke, die er zurückzulegen hatte, wie ich von mir bekennen muß, zuweilen in einem an Hypnose grenzenden Halbschlaf befand. Dabei hatte ich bei einem solchen nächtlichen Krankenbesuch ein Erlebnis, das mir beim völligen Erwachen einen schweren Schrecken erregte. In den Krankenzimmern standen friedlich nebeneinander zwei an Wirkung sehr verschiedene Medikamente, das damals unter dem Namen Laudanum Sydenhami bekannte Opiumpräparat und die Jodtinktur. Ich reichte aber der Patientin und noch dazu mit dem Bewußtsein, daß es die Jodtinktur war, diese statt des Opiums. Hasse, dem ich am folgenden Morgen ein Sündenbekenntnis abgelegt, vermied zunächst vorsichtig das Bett der Patientin mit der kurzen Bemerkung: »Es wird ihr wohl nichts geschadet haben!« Mir aber blieb ein so tiefer Eindruck, daß ich mich wochenlang mit dem Bedenken trug, ob jemand, dem eine solche Verwechslung begegnen konnte, befähigt sei, den ärztlichen Beruf auszuüben.
Neben diesem und ähnlichem Mißgeschick, zu dem auch die auf der Frauenabteilung durch das wechselseitige Beispiel sich steigernden Hysterieanfälle gehörten, bot jedoch die Klinik manche reiche Belehrung, die auf anderem Wege kaum zu gewinnen war. In erster Linie gehörten hierher Sektionen, die Hasse zuweilen seinen Assistenten überließ und die mir nicht, wie manchem meiner Kollegen, widerstrebten, sondern die durch die reiche Anschauung, die sie boten, und durch die fortschreitende Übung mir eher zu einem fühlbaren Genuß wurden, so daß mir manchmal der Gedanke durch die Seele ging, ob nicht der Beruf des pathologischen Anatomen ein meinen Neigungen und Talenten entsprechender sei. Aber er wurde doch bald durch den alten Entschluß, mich der Physiologie zu widmen, zurückgedrängt. Denn in Wahrheit bot auch zu diesem wiederum die Klinik eine lebhafte Anregung. Sie bestand in einer Reihe damals in ihr zubringender Patienten, die an Lähmungen der Haut und der Muskeln litten und die merkwürdige Lokalisationsstörungen der Empfindungen zeigten. Diese Beobachtungen führten mich zu den alten Versuchen Ernst Heinrich Webers über die Physiologie des Tastsinns, die mir bald Zweifel an den theoretischen Vorstellungen Webers über die anatomischen Grundlagen der Tastempfindungen erweckten. Im Gegensatz zu ihnen schienen mir psychologische Auffassungen nahezuliegen, die jene fest an die anatomische Verbreitung der Sinnesnerven gebundenen Vorstellungen unmöglich machten. Ich habe diese Versuche an normalen Menschen und an Gelähmten später in meinen »Beiträgen zur Theorie der Sinneswahrnehmung« beschrieben, die in den Jahren 1858 bis 1862 in der Zeitschrift für rationelle Medizin und dann gesammelt unter jenem Titel erschienen. Sie boten zugleich die Anregung zu einem Studium der Psychologie, in welcher damals die Werke und Abhandlungen von Lotze, Fortlage, George, Volkmann u. a. neben den mehr physiologisch gerichteten Arbeiten der Physiologen, wie Ezermak, im Vordergrund standen. So war die Klinik die erste Station, die mich auf dem Wege eigener experimenteller Arbeiten zuerst zur Psychologie führte, ehe ich noch mich gründlicher mit philosophischen Studien beschäftigt hatte. Daß unter den um die Psychologie bemühten Philosophen in den Jahren 1850 bis 1860 Schopenhauers Name nicht genannt wird, ist übrigens ein bedeutsames Zeichen seiner ebenso späten wie raschen Verbreitung.
Außer diesen aus freiem Antrieb unternommenen psychologischen Versuchen war es jedoch eine Dankespflicht gegen die Klinik und meinen klinischen Lehrer, die ich zu entrichten hatte. Sie bestand in der Abfassung einer pathologisch-anatomischen Arbeit, die ich als Promotionsschrift benutzte. Wenn im Karlsruher Staatsexamen das schriftliche, so herrschte im Heidelberger Doktorexamen das mündliche Verfahren. Man legte dem Kandidaten den Gedanken nahe, es sei für diese Prüfung einfacher und bequemer, wenn er statt des schriftlichen Examens eine bestimmte Geldsumme an die Universitätsbibliothek bezahlte, und die meisten wählten diesen Weg. Ich beschloß jedoch, das Gegenteil zu tun, und ließ eine Dissertation drucken. Sie erschien, Hasse gewidmet, unter dem Titel: »Die Veränderungen der Nerven in entzündeten und degenerierten Organen« (1856). Besonders bemerkenswerte Ergebnisse hat sie nicht eingetragen, insofern die pathologischen Veränderungen der Nerven von anderen sogenannten Degenerationen derselben sich nicht unterscheiden und schließlich mit ihrer Atrophie zu endigen pflegen. Der Neigung, solche anatomische womöglich mit experimentellen physiologischen Untersuchungen zu verbinden, konnte ich aber auch hier nicht widerstehen. Indem ich die Arbeit mit Durchschneidens-, Verwachsungs- und Transplantation-Experimenten verband, versuchte ich die Durchschnittsenden zweier verschiedener Nerven miteinander zu verheilen, was in einigen Fällen bei Kaninchen glückte, aber zu brauchbaren physiologischen Ergebnissen nicht führte, da sich dabei irgendwelche merkbare Funktionsänderungen nicht ergaben. Nachdem ich mein Doktorexamen nach der Behauptung des Diploms »mit größtem Lob« bestanden hatte, waren damit zugleich meine pathologisch-anatomischen Studien beendet, und ich beschloß nun, mich endgültig der Physiologie zuzuwenden.
Während meiner Studienzeit hatte ich mich mannigfach mit Physiologie beschäftigt, aber was man damals »moderne Physiologie« nannte, war mir im wesentlichen unbekannt geblieben. Ein Blick in die in den Revolution-Jahren 1848 und 1849 erschienenen »Untersuchungen über tierische Elektrizität« von E. du Bois-Reymond und die Lektüre von Ludwigs Physiologie, dessen erster Band 1852 und der zweite 1856 erschien, hatten mich zwar durch ihren exakten Charakter mächtig angeregt, aber beide, auch das Ludwigsche Lehrbuch, boten kein Ganzes. Auch dieses mußte sich, wenn es, wie die Titel der ersten Kapitel lauteten, eine Physiologie der Atome und der Aggregatzustände geben wollte, mit Entlehnungen aus der Physik begnügen, und selbst für die im eigentlichen Sinne physiologischen Teile blieb nichts anderes übrig, als aus der bisherigen Physiologie die bekannten Tatsachen möglichst unter physikalischen Gesichtspunkten zu ordnen. Ernst Brücke, der dritte der Zuhörer Johannes Müller, dem neben du Bois-Reymond und Helmholtz Ludwig sein epochemachendes Lehrbuch widmete, hat hauptsächlich kleinere Arbeiten zur physiologischen Optik und zur allgemeinen Bewegungslehre geliefert; aber es ist überhaupt nicht der Umfang, sondern die exakte Form, die diesen Männern in allen ihren Arbeiten eigen, und durch die diese Form, wie man wohl sagen darf, zum Schulcharakter geworden ist. Wollte man ein einzelnes Instrument als besonders bezeichnend für das ganze Zeitalter der nun kommenden physiologischen Forschung hervorheben, so würde als ein solches vielleicht am treffendsten Ludwigs »Kymnographion« genannt werden können. Auch den Physiologen der älteren Schule hat es ohne Frage mehr imponiert als alles andere. Noch erinnere ich mich, daß Friedrich Arnold, der geniale Anatom, der aber selbst kaum das Kymnographion zu handhaben wußte, uns Zuhörern auseinandersetzte, dies sei das Instrument, welches berufen sei, den Physiologen auf allen seinen künftigen Wegen zu begleiten, denn es sei dazu beistimmt, das Verhältnis der physiologischen Funktionen, der Ursachen zu ihren Wirkungen im Gebiet der tierischen Lebenserscheinungen, zu verfolgen. Eben darum sei es nach der Darstellung dieser Funktionen in Kurven »Wellenzeichner« genannt. Er hatte, ohne selbst auf den Namen eines modernen Physiologen Anspruch machen zu können, die Bedeutung dieses Instrumentes richtig erkannt. Die Darstellung der funktionellen Beziehungen durch Kurven ist in der Tat der erste und nicht selten in komplizierten Fällen der einzige Weg des mathematischen Ausdrucks der Funktion auf physiologischem Gebiet. Eben darum aber ist er auch der vielseitigste, und das Kymnographion gehört daher zu den physiologischen Instrumenten, denen kein Gebiet der Lebenserscheinungen verschlossen ist. In den Arbeiten der anderen Begründer der modernen Physiologie finden sich, namentlich in denen des hervorragendsten unter ihnen, Helmholtz, zahlreiche originale Ideen und Methoden, aber keine in ähnlichem Sinne universale wie das Ludwigsche Kymnographion. Darum haben Instrumente ähnlicher Art, längst bevor die Physiologen an das Kymnographion dachten, in physikalischen und technischen Anwendungen existiert, aber in keiner Wissenschaft haben sie sofort und in so vielseitigen Verwendungen eine gleich bedeutsame Rolle gespielt wie in der modernen Physiologie, in der sie die merkwürdige Schnelligkeit, mit der diese selbst sich durchsetzte, so treffend kennzeichnen.
Als ich nach der Zurücklegung meiner kurzen medizinischen Assistentenlaufbahn mich durch eine Vereinigung glücklicher Umstände, nämlich durch das für die Schrift über die Durchschneidung des Lungenmagennerven errungene Preisstipendium und durch eine kleine Summe, die meine Mutter flüssig zu machen vermochte, in der Lage sah, noch einmal auf ein Semester eine auswärtige Universität zu besuchen, war die Frage, welche ich vorziehen sollte, ganz in meine Wahl gestellt. Doch diese Wahl schwankte zwischen zwei Möglichkeiten. Auf der einen Seite war es Karl Ludwig, der damals als beginnender Ordinarius der Anatomie und Physiologie in Zürich tätig und dessen zweibändiges Lehrbuch soeben erschienen war. Aber Ludwig stand in Zürich allein; es gab dort keinen Forscher auf gleichem oder ergänzendem Gebiete, der mich anziehen konnte. Anders in Berlin. Hier war es vor allem Johannes Müller, der noch ganz in alter Weise alle Gebiete der anatomisch-physiologischen Forschung in sich vereinigte; auch war er derjenige, der mir durch die Aufnahme meiner Preisschrift in sein damals die Literatur dieser Wissenschaften beherrschendes Archiv und durch einen ermunternden Brief, mit dem er mich beglückte, den Eintritt in diese Wissenschaft erleichtert hatte. Und neben ihm wirkte als Extraordinarius Emil du Bois-Reymond, der in den vorangegangenen Jahren durch seine »Untersuchungen über tierische Elektrizität« eine gewiß nicht endgültige, aber doch mustergültige Untersuchung von exaktem Charakter geliefert hatte. Beide hatten physiologische Übungen zusammen angekündigt. Hier konnte ich daher hoffen, meine beiden Wünsche, die Einführung in die vergleichende Physiologie und die Teilnahme an Arbeiten in experimenteller Physiologie verwirklicht zu finden. Damit waren die Würfel für Berlin gefallen.
Von dem Berlin der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hat man gesagt, es sei ein großes Dorf gewesen. Der Ausdruck ist nicht ganz zutreffend. Es glich eher einem Komplex zusammengebauter Dörfer und erinnerte darin, abgesehen von der Größe und der Zahl dieser Dörfer, mehr an die mittelalterliche Stadt, wie sie etwa Willibald Alexis im Roland von Berlin schildert, als an eine moderne Großstadt. Noch standen sogar von jener eine Anzahl alter Festungstore, die die Stadt von ihren Vororten trennten. Nur das Schloß und seine nächste Umgebung hob sich ab von der aus einem Gemisch kleiner und großer schmuckloser Häuser bestehenden übrigen Stadt, deren schlechtes Pflaster und langsam fahrende Droschken selbst den Kleinstädter, der nach Berlin kam, überraschten. Das wunderbarste Merkzeichen Berlins vor anderen Städten, wie München oder Hamburg, ist aber die Schnelligkeit, mit der es sich innerhalb ungefähr 10 Jahren von der Mitte der fünfziger Jahre, wo ich zum ersten Mal nach Berlin kam, bis nach der Mitte der sechziger, wo ich es zum zweitenmal sah, aus dem großen Dorf in die elegante imponierende Großstadt umwandelte. Das Jahr 1866 bezeichnet hier offenbar den Wendepunkt dieser rapiden Entwicklung. Im Jahr 1856 konnte man noch in der Dorotheenstraße dicht bei der Universität in einem von Handwerkern bewohnten Häuschen eine bescheidene Studentenwohnung mieten, und Schlafstellen, in denen mehrere Proletarier im gleichen Raum kampierten, waren in der gleichen Gegend reichlich zu finden. Ich wählte ein kleines Stübchen bei einer Handwerkerswitwe, weil das Häuschen, dem es zugehörte, durch einen großen Baum, der vor ihm mitten auf der Straße stand, gekennzeichnet war. Eine Schmiede war im unteren Stock, und im Hof befanden sich die für die gesamte Bewohnerschaft erforderlichen und gemeinsam benutzten Nebenräume. Meine Wirtin gab durch ihre überreiche Beredsamkeit Gelegenheit, die Sitten des Berliner Kleinbürgerstandes an der Quelle zu studieren, so daß ich die Lokale und die Gärten, in denen des Sonntags die Familien Kaffee und Weißbier tranken, am besten aus eigener Anschauung kennen lernen konnte. Unter den Vorzügen meiner Wohnung rühmte meine Wirtin vor allem, daß sie durch die Wand an Wand neben ihr liegende Küche von selbst geheizt werde, was freilich für die Sommermonate keine erfreuliche Zugabe war. Auch genoß ich als einziger Mieter den Vorzug eines Hausschlüssels, während die Inhaber anderer Quartiere den Nachtwächter herbeirufen mußten, um eingelassen zu werden. Im übrigen war diese Stadtgegend damals durch auffallende Stille ausgezeichnet. Kehrte man etwa einmal nach 10 Uhr abends aus einer Professorengesellschaft zurück, in welcher man stehend mit einem Glase Wein in der Hand einige Stunden lang zugebracht hatte, so konnte es vorkommen, daß man in einem unterwegs gelegenen Lokale seinen Hunger vergebens zu befriedigen suchte, weil man keines mehr offen fand.
Auch die Universität war nach heutigen Begriffen kaum von mittlerer Größe, obgleich sie und neben ihr die Akademie eine große Zahl hervorragender Forscher vereinigte. So sah ich noch, um nur die mich hauptsächlich interessierenden Naturforscher zu nennen, Karl Ritter den Geographen, Alexander Braun den Botaniker, Gustav Magnus den Physiker, die Brüder Heinrich und Gustav Rose u. a.. Auch Lichtenberg, den berühmten Reisenden aus dem Anfang des Jahrhunderts, lernte ich kennen, der mich mit großer Liebenswürdigkeit in die mineralogische Sammlung einführte, ebenso Ehrenberg, den Vorläufer der modernen Infusorienforschung, der das Rektorat bekleidete. Die Universität hat ebenfalls erst in dem Jahrzehnt vor und nach 1866 allmählich den Wandel aus einer kleineren in einer großen erfahren, ja dieser ist hier verhältnismäßig langsamer als in den sonstigen Attributen der Großstadt eingetreten. Fast schien es, als zögen die Süddeutschen, ehe sie die norddeutsche Universität aufsuchten, zunächst Leipzig als mitteldeutsche Zwischenstation vor, als wenn sie noch einiger Zeit bedürften, um für einen solchen dauernden Aufenthalt das alte Widerstreben gegen das Preußentum zu überwinden. Ein Berliner Professor meinte in dieser Zeit, Berlin sei gerade noch von der richtigen Größe, Leipzig aber beginne zum Wasserkopf einer Universität zu werden. Die Äußerung war etwas voreilig, denn bald überflügelte Berlin, ebenso wie durch den Strom der Norddeutschen nach München dieses, das hinter beiden allmählich zurückbleibende Leipzig. So ist dieser in Mitteldeutschland beginnende Austausch der süd- und norddeutschen Universitäten ein wichtiges, in seiner Bedeutung für den Verkehr der verschiedenen deutschen Bevölkerungen vielleicht nicht hinreichend gewürdigtes Moment für die Ausgleichung der provinziellen Gegensätze gewesen. Bei der gebildeten Jugend hat diese Ausgleichung begonnen, um allmählich in die übrigen Volksklassen einzudringen.
Als ich im Frühjahr 1856 nach Berlin kam, lag diese Zukunft noch ferne. Wenn ich nach dem Eindruck, den die neu entstandene Physiologie aus der Schule Johannes Müllers auf mich machte, erwartet hatte, hier ein großes, den chemischen oder mindestens physikalischen gleichwertiges Laboratorium mit zahlreichen Arbeitern vorzufinden, so sollte ich daher enttäuscht werden. Waren doch damals auch die chemischen Laboratorien Berlins noch von recht bescheidenem Umfang, und Gustav Magnus hatte die physikalische Sammlung, die er in seinen Vorlesungen benutzte, in seiner eigenen Wohnung untergebracht; für einen Studierenden war es daher überhaupt kaum möglich, in diesem Laboratorium zu arbeiten. Wenn die Ankündigung im Lektionskatalog für die Physiologie solche Aussichten zuließ, so blieb aber auch hier das Laboratorium hinter der Erwartung zurück, die jene erwecken konnte. Johannes Müller arbeitete im Wintersemester in der alten Anatomie, wo er zugleich die Präparierübungen leitete, im Sommer waren ihm ein paar Zimmer in einem oberen Stockwerk der Universität überwiesen, nahe bei der in dieser einen großen Raum einnehmenden zoologischen Sammlung, die unter der Direktion von W. Peters stand. Eine Treppe über den Müller eingeräumten Zimmern lag du Bois-Reymonds sogenanntes Laboratorium. Es bestand eigentlich nur aus einem Korridor, in welchem die bei du Bois arbeitenden Schüler untergebracht waren, und in einem Zimmer, in welchem er selbst arbeitete. Nahe von Müllers Laboratoriumsräumen lag das Auditorium, in welchem er in diesem Sommer Physiologie, vergleichende Anatomie und Entwicklungsgeschichte las; den Räumen du Bois-Reymonds benachbart war sein Auditorium für eine Vorlesung über allgemeine Physiologie. Beide Abteilungen des Laboratoriums waren übrigens völlig unabhängig voneinander, und in beiden zugleich arbeitete außer mir niemand. Die Zahl der Arbeitenden war klein: bei Müller waren etwa vier bis fünf Laboranten mit zootomischen Arbeiten beschäftigt, bei du Bois-Reymond war ich der einzige.
Johannes Müller war klein von Statur, aber dabei eine durch sein ausdrucksvolles Gesicht imponierende Persönlichkeit. Ein düsterer Ernst war ihm auf die Stirne geprägt, und der Eindruck der schwermütigen Falten dieser Stirn wurde durch die nie rastenden zuckenden Bewegungen seines Angesichtes noch verstärkt. Und doch konnte die Schwermut dieses Angesichts in der Unterredung für Momente dem Ausdruck der Güte und Teilnahme weichen. Dasselbe geschah, wenn er, angeregt durch den Gegenstand, aus dem Auditorium kam. Mir begegnete er mit großer Freundlichkeit und suchte sofort auf meine besonderen Interessen einzugehen, indem er mir Versuche über die Wirkungen der Exstirpation der Nervenzentren bei niederen Wirbellosen vorschlug. Ich führte diese Versuche wirklich aus, besonders in, wie ich glaube, gründlicher Weise bei der Teichmuschel, aber sie sind nicht veröffentlicht worden, denn sie blieben ergebnislos, insofern merkliche Funktionsstörungen, namentlich solche der Tätigkeit des Schließmuskels der beiden Muschelschalen, die man etwa erwarten konnte, ausblieben.
Eine ganz andere Persönlichkeit war Emil du Bois-Reymond. Von jugendlicher Beweglichkeit trug seine Rede etwas den Charakter der französischen Abstammung, den er auch in seinen späteren populären Akademiereden in dem nicht selten übertriebenen Schmuck dieser Reden nicht verleugnete. Er war ebenso mitteilsam wie Johannes Müller schweigsam und scheute sich nicht, seinen noch jugendlicheren Schülern Dinge anzuvertrauen, die höchstens für die Ohren seiner akademischen Kollegen geeignet waren. Ihn selbst experimentieren zu sehen bot einen eigenartigen Genuß, indem er die gleichgültigsten Manipulationen, wie z. B. die Magnetisierung einer Stahlnadel, mit höchst ausdrucksvollen Gebärden vornahm. Auch du Bois war sofort bereit, mir ein geeignetes experimentelles Thema vorzuschlagen. Er wählte dazu die Prüfung einer Streitfrage, die zwischen Ed. Weber in Leipzig und A. W. Volkmann in Halle über die Phänomene der Muskelkontraktion schwebte. Ich wurde bei der Ausführung dieser Arbeit freilich sogleich bei einer Vorfrage aufgehalten, die jene Forscher unbeachtet gelassen hatten, indem ich auf die Phänomene der sogenannten elastischen Nachwirkung feuchter Gewebe stieß und dadurch gezwungen wurde, deren Einfluß auf die Beobachtung der Dehnungen und Kontraktionen der Muskeln in Betracht zu ziehen. Die Arbeit ist 1857 in Müllers Archiv erschienen und weiter ausgeführt hat sie dann einen Bestandteil meiner in Heidelberg vollendeten Untersuchungen zur Lehre von der Muskelbewegung (1858) gebildet. Der wichtigere Teil, der sich auf die elektrischen Wirkungen auf Nerven und Muskeln bezieht, und bei dem merkwürdigerweise früher als auf den allgemeineren rein physikalischen Gebieten bei diesen sogenannten physiologischen Reizerscheinungen der Gegensatz der Phänomene an der positiven und negativen Elektrode eine bedeutsame Rolle spielt, ist freilich hier erst hinzugekommen.
An dritter Stelle habe ich endlich des früh verstorbenen Dr. Lehmann zu gedenken, der als zootomischer Assistent bei Johannes Müller tätig war und mich durch die Mitteilung seiner Untersuchungen an Mikrozoen wie nicht minder durch die Einführung in die gesellschaftlichen Kreise des jüngeren Berliner Gelehrtentums zu dauerndem Dank verpflichtete. Insbesondere führte er mich auch in die großenteils aus solchen jüngeren Mitgliedern bestehende naturforschende Gesellschaft ein, in der ich auch Alexander Braun kennen lernte, der mich als einen badischen Landsmann freundlich begrüßte. Du Bois-Reymond verfügte auf seiner Abteilung des physiologischen Laboratoriums über keinen Assistenten, sondern er begnügte sich mit einem Amanuensis, der aus dem Kreis seiner Zuhörer genommen war.
Nimmt man die Eindrücke zusammen, die Berlin in jenen Tagen als Zentrale deutscher Wissenschaft ausübte, so war ihr Charakter ein eigentümlicher. Er bestand in einer Vereinigung des Großartigen mit dem Bescheidenen und in mancher Beziehung Kümmerlichen. Akademie und Universität umfaßten eine Anzahl hervorragender Forscher, wie sie sich sonst nirgends in Deutschland und kaum in irgendwelchen anderen Ländern zusammenfanden. Waren doch beide Körperschaften so reich an Sternen ersten Ranges, daß damals mehr noch als heute jede von ihnen auf die Mitglieder der anderen verzichten konnte. So sind die beiden großen Philosophen Berlins, Fichte und Hegel, niemals Mitglieder der Akademie gewesen, und umgekehrt hat Schleiermacher unter den drei Hauptstätten seiner Wirksamkeit, Universität, Akademie und Predigeramt, die Akademie wissenschaftlich als die wichtigste betrachtet. Endlich die Tradition der reinen Akademiker, die nur gelegentlich von der Erlaubnis, an der Universität lesen zu dürfen, Gebrauch machen, hat sich bis zum heutigen Tage erhalten. Gegenüber dieser Verschwendung an bedeutenden Persönlichkeiten war im vorigen Jahrhundert noch über dessen Mitte hinaus, die Ausstattung mit Lehr- und Forschungsmitteln eine äußerst bescheidene; und wo sie für den Gelehrten als Hilfsmittel in Betracht kamen, wie die Königliche Bibliothek, da waren sie wieder für sich bestehende Institute. Professoren wie Akademiker waren daher weit mehr, als es heute der Fall ist, gewohnt, sich die Hilfsmittel, deren sie bedurften, selbst anzuschaffen, und um so mehr waren sie bei der Knappheit der Geldmittel, über die sie verfügten, darauf bedacht, ihr Leben auf einem möglichst sparsamen Fuß einzurichten. Darum schied sich äußerlich das Leben des Gelehrten viel weniger als heute, wo ihm Berufungen und Reisen ein besonderes Gepräge geben, von dem bürgerlichen Leben überhaupt. Der Gelehrte wie der Künstler verkehrte, mit Ausnahme etwa einiger spezifischer Berufsreisen, in einer Zeit, in der es noch kaum Sommerfrischen und Ferienreisen gab, im Kreise seiner Nachbarn. Hegel soll seine wöchentliche Erholung in einem mit Bürgern verschiedenster Berufe verbrachten Kegelabend gefunden haben, und Gesellschaften, in denen sich Professoren mit Journalisten, Künstlern und Privatgelehrten der verschiedensten Art zusammenfinden, haben sich noch heute in der Reichshauptstadt mehr als in anderen Universitätsstädten, in denen die Professoren leicht eine Art geschlossener Kaste bilden, erhalten. Bei allem dem galt aber in jener Zeit die Berufung nach Berlin in ganz Deutschland als ein Vorzug, der den akademischen Lehrer nicht leicht eine solche ablehnen ließ, was heute, wo an die Stelle dieser vielseitigen Geselligkeit mehr eine gewisse Vereinsamung in der über eine reiche Zahl von Vororten zerstreuten Großstadt getreten ist, keineswegs mehr gesagt werden kann. Dennoch ist dieser erst 1809 gestifteten, also verhältnismäßig jungen Universität eine Eigenschaft noch lange erhalten geblieben, von der man wohl sagen darf, sie habe ihre letzte Wurzel in den Traditionen ihrer Gründung. Diese Traditionen sind aber gebunden an die Bevölkerung des alten Berlin, die nur nach verschiedenen Seiten dasselbe Bild deutscher Tüchtigkeit und selbstbewußter Beschränkung in allen seinen Teilen bot, das den deutschen Charakter überhaupt kennzeichnet. Dieser Charakter ist heute nicht mehr derselbe wie in der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Er ist mit der Bevölkerung ein anderer geworden. Aber im Hintergrund lebt doch immer wieder das alte märkische Geschlecht und harrt vielleicht seiner Wiederauferstehung ebenso, wie der deutsche Geist selbst zu einer Wiederauferstehung bestimmt ist.
Als ich um die Mitte August 1856 in meine süddeutsche Heimat zurückkehrte, war es mir klar bewußt, daß ich nicht gefunden, was ich erwartet hatte. Doch, wenn auch dunkler bewußt, war in mir schon der Eindruck lebendig, daß das wirklich Gefundene eigentlich wertvoller sei als das Erwartete. Der Charakter der deutschen Wissenschaft in seiner Tiefe und Vielseitigkeit war in Berlin ein reinerer als auf den Süddeutschen Universitäten. Was mir aber mehr galt, der Charakter des deutschen Geistes trat mir hier in der gesamten Volksart und vornehmlich im gebildeten Bürgertum, wie ich glaubte, klarer ausgeprägt entgegen als in irgendeiner der mir bekannten deutschen Städte. Dabei konnte ich allerdings nicht verkennen, daß gerade im gelehrten Berlin die Süddeutschen, die in Berlin angesiedelt waren, eine bedeutsame Stellung Einnahmen. Sie waren es, die diesen Charakter deutscher Wissenschaft zumeist am reinsten repräsentierten. So unter den Philologen August Böckh, Franz Bopp, die Brüder Grimm, unter den Naturforschern Alexander Braun und nicht an letzter Stelle Johannes Müller, der vielseitigste und genialste Physiologe seines Zeitalters. Will man den Kreis dieser nach dem Norden gewanderten Süddeutschen weiter ziehen, so kann man ja auch Goethe und Schiller hierher zählen. Wenn Schiller die Spuren der Selbsterziehung in Leben und Dichtung am deutlichsten an sich trägt, so darf man doch vielleicht noch mehr fragen, ob Goethe für die Geschichte des deutschen Geistes jemals zu dem sich entwickelt hätte, was er uns geworden, wenn er es zum Ratsherrn oder Bürgermeister seiner Vaterstadt Frankfurt gebracht hätte, statt nach Weimar gewandert zu sein. Und noch eins trat mir schon damals deutlich entgegen: gerade diese nach dem Norden übergesiedelten Süddeutschen brachten den Charakter des deutschen Geistes in seiner Verbindung von Süddeutscher Unternehmungslust mit norddeutschem Tiefsinn am vollkommensten zum Ausdruck, in einer Form zugleich, in der diese Verbindung zu einer organischen Einheit verschmolzen war. Das galt ebenso für Jakob Grimm und August Böckh unter den Vertretern der Geisteswissenschaften wie für Johannes Müller und Alexander Braun unter den Naturforschern. Unter diesen, mit denen ich selbst in nähere Beziehung getreten, war es vor allen anderen Johannes Müller, der das Berliner Gelehrtentum in seiner ernsten Geschlossenheit und seiner staunenswerten Vielseitigkeit am vollkommensten repräsentierte. Sprechend trat dies zugleich in dem Gegensatz zu dem zweiten meiner physiologischen Lehrer zutage, zu Emil du Bois-Reymond, der wohl als der Repräsentant jener zweiten nationalen Mischung betrachtet werden konnte, die durch die französische Einwanderung zu Anfang des Jahrhunderts zu der deutschen Bevölkerung Berlins hinzugekommen war. Hatten sich Nord und Süd in den Akademikern der verschiedensten deutschen Länder zu einem unteilbaren Ganzen vereinigt, das den Charakter des deutschen Geistes erst recht zum Ausdruck brachte, so hatten die französischen Abkömmlinge umgekehrt fortan zum Teil selbst in Sprache und Sitte ihren Charakter als Franzosen bewahrt, so gute deutsche Patrioten und so wertvolle Elemente auch in ihrem geistigen Wesen sie meist geworden sind. Wenn daher du Bois-Reymond beim Ausbruch des deutsch-französischen Kriegs von 1870 in sein Auditorium mit der Entschuldigung trat »verzeihen sie meinen französischen Namen«, so hätte er fast diese Entschuldigung dahin erweitern können, daß er trotz seiner deutschen Gesinnung ein Franzose geblieben sei; nur war für diese unabänderliche Eigenschaft eine Entschuldigung nicht am Platze. Sie war eine solche, die in gewissem Grade jedem Mitglied der französischen Kolonie zukam und die in ihrer Art nicht ohne Wert gewesen ist.
In Heidelberg waren es zwei Aufgaben, denen ich nach meiner Rückkehr von Berlin entgegensah. Die eine war eine äußere, verhältnismäßig leichte: die Habilitation in der medizinischen Fakultät für das Fach der Physiologie. Die andere war eine schwierige und langwierige: Sie bestand zunächst in der Fortführung der in Berlin angefangenen muskelphysiologischen Arbeiten und dann in der Rückkehr zu den sinnesphysiologischen Studien, die ich als klinischer Assistent begonnen hatte. Die Habilitation erfreute sich besonderer Erleichterungen für diejenigen, die sich den Doktortitel mit Auszeichnung erworben hatten. Bei ihnen fiel das sonst geforderte Habilitationsexamen, sowohl das schriftliche wie das mündliche, überhaupt hinweg, und ebenso wurde die Promotionsarbeit gleichzeitig als Habilitationsschrift angenommen. So blieb nur die öffentliche Disputation als Bedingung für die Zulassung als Privatdozent übrig, und diese Disputation, offenbar der letzte Rest des mittelalterlichen Antritts des Baccalaureats, trug fast mehr den Charakter einer öffentlichen Schaustellung als den einer Prüfung an sich. Der Kandidat für die Privatdozentenwürde verabredete sich mit dreien seiner Freunde über die Themata, über die sie disputieren wollten, und nicht selten wurde der ganze Verlauf einer solchen Disputation vorher eingeübt, um ihr einen möglichst dramatischen Abschluß in dem Sieg des Kandidaten über seine Gegner und in seiner Beglückwünschung durch diese zu verleihen. Diese Themata ließ man mit noch einigen anderen, die bei der Disputation außer Betracht blieben, drucken und verteilen, mußte sich dann aber auch darauf gefaßt machen, daß irgendeiner aus der Zuhörerschaft unerwarteterweise ein Thema aufgriff, um es zu bestreiten. Doch waren solche Zwischenfälle seit Menschengedenken kaum mehr vorgekommen. Die gedruckten Themata erstreckten sich jedoch über alle Fächer, über die der künftige Dozent etwa einmal zu lesen beabsichtigte. Nach der Disputation vereinigten sich dann die Disputierenden zu einem feierlichen Schmause mit dem Habilitanten, und dieser pflegte nun sofort eine Vorlesung für das nächste Semester am schwarzen Brett anzukündigen.
Es war ein etwas kühnes Unternehmen, das ich wagte, als ich für dieses mein erstes Semester bereits die gesamte Physiologie in 6 wöchentlichen Stunden in meiner eigenen Wohnung mit Begleitung von Demonstrationen und Experimenten zu lesen begann. In der Tat zeigte es sich. bald, daß es ein allzu kühnes gewesen war. Ich hatte soeben den allgemeinen Teil der Physiologie glücklich vor meinen vier Zuhörern beendet und war im Begriff, zu einem speziellen Kapitel überzugehen, als ich von einem jähen Blutsturz überrascht wurde, der sich am selben Tag, immer heftiger werdend, wiederholte und mich auf viele Wochen an das Krankenlager fesselte. Auf die geplanten Vorlesungen mußte ich ebenso wie auf die Arbeiten, die ich mir für die nächsten Semester vorgenommen hatte, verzichten. Eine stille Leidenszeit begann, die erst nach reichlich Jahresfrist einer allmählichen Wiederaufnahme der nach der Rückkehr von Berlin begonnenen Arbeiten Platz machte.
Den Einfluß, den dieser, wie ich bekennen muß, durch die Überhastung und Überlastung der letzten Jahre selbstverschuldete Zusammenbruch hatte, war in der Verzögerung, die er auf meine weiteren Unternehmungen ausübte, von geringer Bedeutung, wenn ich ihn mit der tiefgreifenden Wirkung vergleiche, die er auf mein gesamtes Leben gehabt hat. Da war es freilich nicht diese ganze Leidenszeit, sondern es waren ihre ersten Stunden und Tage, von denen ich sagen darf, daß sie eine völlige Umkehrung meiner Lebensanschauung hervorgebracht haben. Die Ärzte hatten mich aufgegeben, wie ich an ihrem Verkehr mit mir bemerken konnte. Ich selbst hatte meinen auswärts bei einem Amtsgericht tätigen Bruder kommen lassen, um von ihm Abschied zu nehmen. Niemals wieder in meinem Leben habe ich aber später den Eindruck einer so vollkommenen Ruhe empfunden wie in diesen Stunden. Das Gefühl abgeschlossen zu haben mit allem was das Gemüt beunruhigen kann, mit allem Streben und Wollen, dieses Gefühl das Leben vollendet zu haben ist vielleicht dem anderen des reinsten, vollkommensten Lebensgenusses am nächsten verwandt. Es setzt allerdings voraus, daß das Ende zugleich ein schmerzloses sei, und es mag sein, daß es eben darum vielen, wenn nicht den meisten Menschen in Wirklichkeit versagt ist, wie man wohl daraus schließen darf, daß so viel vom Todeskampf, aber kaum jemals von der Ruhe des Sterbens die Rede ist. Diese Ruhe des Sterbens einmal erlebt zu haben schätze ich für einen Gewinn, dem nichts anderes gleich kommt. An ihn ist eben jenes Gefühl der Unvergleichbarkeit dieses Erlebnisses, der Unmöglichkeit, daß es sich jemals wiederholen könne, untrennbar gebunden. Eben darum mag es denen versagt sein, für die der Abschied vom Leben von Schmerzen begleitet ist. Gegen diese gibt es nur eine Hilfe, die vielleicht selten einmal einem Menschen erreichbar, den meisten aber versagt ist: diese Hilfe besteht darin, die körperliche Gebundenheit trotz der Macht, die sie ausübt, ganz zu vergessen und sich so durch Selbstüberwindung zu jener Seelenruhe durchzuringen, die dem schmerzlos Sterbenden von selbst beschieden ist. Mir ist dieser Gegensatz vor nicht langer Zeit noch einmal entgegengetreten in dem Abschied, den ich von einem mit dem Tode ringenden Freunde nahm. Er wünschte mir, dereinst einmal völlig bewußtlos aus dem Leben zu gehen, ohne von dem Augenblick des Scheidens eine Ahnung zu haben.
Bei diesem Wunsche erneute sich in mir momentan die Erinnerung an jenes Erlebnis meiner Jugend, und ich sagte mir: ich wünsche das Gegenteil, um keinen Preis möchte ich dieses Leben verlassen, außer mit vollem Bewußtsein diesen Akt selber erlebt zu haben.
Noch ein anderer Zusammenhang ist mir aber klar geworden, wenn ich mir in späteren Zeiten meines Lebens diese Momente der letzten Ruhe des Daseins zu vergegenwärtigen suchte. Das war die Verwandtschaft oder, wie ich wohl besser sagen würde, die Einheit dieser Ruhe vom Leben mit dem religiösen Gefühl. Als ich viele Jahre später zum ersten Male die Schriften des Meister Eckehart zu Gesicht bekam, da fiel mir der Gedanke dieser Einheit wie eine plötzliche Erleuchtung in die Seele. Es gibt viele dem fremd gegenüberstehende Predigten und Aussprüche dieses gewaltigen Mannes. Aber es gibt einzelne, die alle diese fremdartigen Bestandteile zurückdrängen, weil sie mit sieghafter Kraft den unzerstörbaren Gedanken zum Ausdruck bringen, daß die menschliche Seele in ihrer vollkommenen Reinheit von allem, woran sie im Leben mit innerer Notwendigkeit als ihrer sinnlichen Verkörperung gebunden ist, losgelöst gedacht vollkommen eins mit der Gottheit selbst ist, und daß es außer dieser innerlich erlebten keine andere Gottheit und noch weniger eine Unsterblichkeit gibt, die den Widersinn in sich schließen würde, dem wirklichen Leben zu entsagen und gleichzeitig das nämliche wirkliche Leben in irgendeiner von ihm verschiedenen Form noch einmal zu beginnen. Wer sich je diesen Gedanken zu eigen gemacht hat, dem wird eben gerade die Einmaligkeit und Einzigartigkeit dieses Lebens oder, was ja dasselbe bedeutet, die Einzigartigkeit des persönlichen Daseins als die wahre Unsterblichkeit sich aufdrängen, die in dieser Einheit den vollen Gegensatz zu jener vulgären Unsterblichkeit bildet, die sich für ihn nunmehr in eine täuschende Illusion verwandelt.
Wird für den irgendeinmal der unzerstörbaren Ruhe des reinen seelischen Seins teilhaft Gewordenen das eigene innere Erlebnis zum unmittelbaren Gottesbewußtsein, so führt nun aber umgekehrt der Zwiespalt beider ebenso notwendig zur Sehnsucht nach einer übersinnlichen Welt, die mit diesem Leben den Zwiespalt aufhebt und damit einer andern, zwar an sich völlig jenseits einer irgendwie vorstellbaren Wirklichkeit liegenden, jedoch um so dringender begehrten Welt Platz macht. Darum fällt für das Christentum der überlieferte Unsterblichkeitsglaube zusammen mit dem Erlösungsgedanken, der das sinnliche Leben in einen dem Untergang bestimmten Schein verwandelt. Hier eröffnet sich nun aber auch eben jener Weg zur Beseitigung dieses Zwiespalts in dem Gefühl des Erlebens der Gottheit in der eigenen Seele, das ebenso unmittelbar den Gedanken der äußeren in den der inneren, der Selbsterlösung verwandelt. Ihm gegenüber bleibt dann der Gegensatz der beiden Unsterblichkeitsgedanken, des einen als einer optimistischen, des anderen als einer pessimistischen Auffassung des wirklichen Lebens, zurück. Der Optimist in diesem durch die religiöse Nebenbedeutung ergänzten Sinne des Wortes hat das äußere Erlösungsbedürfnis überwunden, weil er der Selbsterlösung gewiß geworden ist, die ihn in dem sinnlichen Leben eine Aufgabe erblicken läßt, die er zu lösen hat, um in sich selbst die Einheit seiner eigenen Seele mit der Gottheit und mit ihr die Einheit von Gott und Welt wiederzufinden. Dem in analogem Sinne verstandenen Pessimisten bleibt dagegen das sinnliche Leben ein unüberbrückbarer Gegensatz zum göttlichen Sein, und die Einheit des göttlichen und des sinnlichen Lebens wird zu einem in dieser Wirklichkeit niemals erfüllbaren Wunsch. Damit enthüllen sich aber jene Gegensätze der Gottesidee, der unserer Seele immanenten und der ihr transzendenten, als Gegensätze zweier Weltanschauungen, die einander widerstreiten und zugleich ergänzen, weil jede eine für sich bestehende und als solche durch die andere unersetzbare Weltbetrachtung darstellt. Zwischen ihnen zu wählen, steht dem einzelnen nicht frei. Sie wird ihm durch den Inhalt seines eigenen Erlebens gegeben, denn er wählt mit innerer Notwendigkeit diejenige, in der er seine Befriedigung findet, oder, wie der Ausdruck treffender lautet, diejenige, die ihn beglückt; und hier liegt eben ihr Gegensatz darin, daß zwar möglicherweise beide nacheinander, in verschiedenen Perioden des Lebens, niemals aber beide zumal diese beglückende Macht auf ihn ausüben.
Bei diesem Verhältnis der beiden religiösen Weltanschauungen, der transzendenten und der immanenten, zu den beiden empirischen Weltbetrachtungen, der pessimistischen und der optimistischen, muß man sich freilich gegenwärtig halten, daß der Pessimismus im vulgären empirischen Sinne und der religiöse Pessimismus zwei verschiedene Dinge sind. Der empirische Pessimismus sieht seine Stärke darin, daß er nicht bloß die sinnliche Welt wie sich Schopenhauer ausdrückte, für die schlechteste aller Welten, sondern auch ihre Aufbebung durch den transzendenten Optimismus einer absolut vollkommenen jenseitigen Welt für eine Täuschung hält. Sich also zum Atheismus bekennt. So kommt es, daß innerhalb der christlichen Gemeinschaft der Optimismus, dem das sinnliche Leben eine sittliche Aufgabe ist, an deren Lösung jeder innerhalb seines eigenen Lebens zu arbeiten und damit innerhalb der allgemeinen menschlichen Aufgaben zu wirken berufen ist, dieser Aufgabe gegenüber den Standpunkt des Pessimisten zwar nicht als den seinigen, immerhin aber nicht als einen falschen, sondern höchstens als einen einseitigen und nicht als den sittlich vollkommenen ansieht. Wohl ist es noch heute eine besonders in der christlichen Gemeinschaft und noch über diese hinaus innerhalb der gesamten christlichen Kultur verbreitete Anschauung, jener religiöse Optimismus, wie ihn teilweise schon die platonische Schule, dann nach ihrem Vorbild die mittelalterliche religiöse Mystik und endlich die ihre Spuren wandelnde neuere Philosophie vertritt, sei im letzten Grunde eine naturalistische und darum atheistische Weltanschauung. In nichts spricht sich dies klarer aus als in der Tatsache, daß die große Mehrzahl der äußerlich zur christlichen Gemeinschaft zählenden und daneben von der philosophischen Kultur unserer Zeit berührten Menschen sich scheut, eben zu jener religiösen Anschauung sich zu bekennen, die für sie in Wahrheit die einzig mögliche ist. So kommt es, daß der religiöse Optimist auch den Pessimisten für einen Mitchristen gelten läßt, daß aber der religiöse Pessimist den Optimisten für einen Abtrünnigen, und daß sich dieser dies ungerechte Urteil stillschweigend gefallen läßt, wenn er es nicht vorzieht, öffentlich aus der Kultusgemeinschaft auszutreten, die sich die christliche nennt. Für diese führt das aber die Folge mit sich, daß nicht selten der vulgäre Unsterblichkeitsglaube an die Stelle des religiösen Glaubens überhaupt tritt. Das ist, wie ich glaube, ein auf die Dauer unhaltbarer Zustand. Es muß eine Zeit kommen, in der niemand einem Menschen die transzendente Gottesidee und die übersinnliche Welt streitig macht, wenn er ihrer nicht anraten kann, in der aber auch offen jeder zu einer Gottesidee sich bekennen darf, die der menschlichen Seele immanent ist.
Ich habe mich manchmal gefragt, wie es doch komme, daß zwei Menschen, die in ihren sonstigen Lebensanschauungen übereinstimmender Überzeugung sind oder, wenn sie es nicht sind, dies offen gegeneinander aussprechen, in dieser letzten Lebensfrage, die doch, wie man denken sollte, die wichtigste unter allen ist, sich wechselseitig ein Geheimnis bleiben. Das Bekenntnis eines Freundes, mit dem ich mich in Fragen der Wissenschaft wie der Kunst einer weitgehenden Übereinstimmung erfreute, hat mich endlich hierüber aufgeklärt. Er meinte, in seiner Jugend habe er, wie die meisten seines Alters und Berufs, in religiöser Beziehung an nichts geglaubt. Da sei plötzlich eines Tages ihm die unwiderstehliche Überzeugung gekommen, ein solches Leben ohne Gott und Unsterblichkeit sei auf die Dauer ein unerträgliches, und da habe er sich, nicht aus innerer Überzeugung, aber aus einem unüberwindlichen Glücksbedürfnis dazu entschlossen, den Gedanken an ein Leben nach dem Tode als eine Forderung festzuhalten, die in diesem Entschlusse ihren zureichenden Grund habe und zugleich für jeden Menschen, der seinen Aufgaben innerhalb der sinnlichen Welt gerecht werden wolle, eine bindende Kraft besitze. In diesem Bekenntnis ist das Motiv des Geheimnisses, das den transzendenten Unsterblichkeitsglauben begleitet, offen ausgesprochen. Es besteht in einem Willensentschluß, über den niemand einem anderen Rechenschaft schuldig, über den aber auch niemand einen anderen zur Rechenschaft zu ziehen befugt ist.
Hier sieht man nun aber auch deutlich, daß jene Vertauschung der Unsterblichkeitsidee mit der Gottesidee in Wahrheit diese letztere beseitigt, ohne für die erstere das geringste zu leisten. Dies beruht darauf, daß zwar die Immanenz des göttlichen Seins in der menschlichen Seele den Gedanken einer Transzendenz der Seele ausschließt, daß sie jedoch die Transzendenz Gottes keineswegs ausschließt, sondern vielmehr die einzige feste Grundlage dieser Transzendenz bleibt, nachdem sich die Gottesbeweise, die eine solche erzwingen wollten, als täuschende Trugbilder der Vernunft herausgestellt haben. Wo soll in der Tat das menschliche Bewußtsein die Gewißheit eines göttlichen Seins hernehmen, wenn nicht aus seinem eigenen Sein oder, anders ausgedrückt, woher die Gewißheit einer Transzendenz Gottes jenseits der wirklichen Welt außer aus der Immanenz Gottes in dieser Welt? wozu aber könnte umgekehrt die Immanenz Gottes in unserer Seele anders führen als zur Aufhebung des Gedankens eines erst in einer transzendenten Welt sich verwirklichenden Seins dieser Seele? Darum beruht jene Vermengung der Begriffe schließlich darauf, daß sie die Übertragung der Gottesidee in uns auf ein göttliches Sein außer uns in einen Übergang unseres inneren seelischen Lebens in ein äußeres jenseits der Wirklichkeit umwandelt, für die genau die Umkehrung dieses Verhältnisses gilt. Das göttliche Sein in uns ist das einzige lebendige Zeugnis für ein das Universum erfüllendes göttliches Sein außer uns, dagegen gibt uns die Gottesidee nur die Gewißheit einer in uns, nicht einer außer uns lebenden Wirklichkeit unseres persönlichen Daseins. Der überlieferte Unsterblichkeitsglaube, der die Transzendenz der Seele der Transzendenz der Gottheit substituiert, vertauscht also die beiden Verhältnisse miteinander: den positiven Zusammenhang der religiösen Ideen macht er zu einem negativen, den negativen zu einem positiven, um die individuelle Unsterblichkeit als die dominierende religiöse Idee zurückzubehalten, neben der die Gottheit nur die Bedeutung eines Hilfsbegriffs bewahrt. Mit diesem quid pro quo verbindet sich dann die entsprechende Umkehrung der Stellung, die man dem Verhältnis des sittlichen Lebens zu den religiösen Ideen anweist. Das Sittliche hat im Sinne der Vertauschung jener religiösen Wertbegriffe mit dem Sinnlichen Leben überhaupt nichts zu tun, sondern es stammt aus der übersinnlichen Welt, während doch alle sittlichen Handlungen dieser sinnlichen Welt angehören und außerhalb derselben ebenso unvorstellbar sind wie der Begriff eines übersinnlichen Lebens, so daß sich nun die sittlichen Ideen in die konkreten Inhalte der dem gleichen sinnlichen Bewußtsein angehörenden religiösen Ideen verwandeln sollen, eine Behauptung, die offenkundig der Erfahrung widerstreitet. Darum gibt es zwar keine Sittlichkeit ohne Religion. Ihr Zusammenhang besteht aber nicht darin, daß die sittlichen Normen uns in der Form religiöser Gebote überliefert werden, sondern darin, daß die sittliche Welt die Form ist, in die sich die Gottesidee in dem Bewußtsein der einzelnen Menschen und der Gemeinschaft, in der sie leben, offenbart. In diesem Sinne sind die sittlichen Ideen nicht deshalb zugleich religiöse Ideen, weil sie uns als göttliche Gebote erscheinen, wie Kant sich ausdrückte, sondern sie sind Lebensformen des Menschen, insofern in ihm selber die Gottheit lebendig ist.
Das klare Bewußtsein dieser Einheit lag in jenem Augenblick, in welchem ich für eine lange Zeit von allen den Aufgaben Abschied nahm, die ich meinem Leben gestellt, noch ferne, aber es hat mir zu tagen begonnen, indem ich von diesem Moment an für alle Zukunft den Ausgangspunkt gefunden hatte, nach welchem sich die äußeren Erlebnisse und die sich ihnen anreihenden Erkenntnisse zu einem innerlichen Zusammenhang ordneten. Denn von nun an begann ich zugleich meine Erlebnisse und Erkenntnisse als zugehörig zu einer in sich mehr und mehr einheitlichen Weltanschauung zu betrachten, die in der sinnlichen Welt ihr notwendiges Substrat und in der geistigen Welt die dem menschlichen Bewußtsein gegebene lebendige Form dieses Substrats finde. Von diesem Augenblick an ist es mir in fortschreitendem Maße klarer und klarer geworden, daß es keine wissenschaftliche Erkenntnis gibt, die nicht zugleich in irgendeinem Maße philosophische Erkenntnis wäre, und ebenso umgekehrt keine philosophische Erkenntnis, die nicht mit der Gesamtheit der einzelnen wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammenfiele. Von da an hat sich mir daher in fortschreitendem Maße die Nötigung aufgedrängt, die einzelne Arbeit jedesmal gleichzeitig der tatsächlichen Wirklichkeit und einer das Ganze dieser Wirklichkeit umfassenden Weltanschauung einzuordnen, und ich konnte mich endlich der Überzeugung nicht verschließen, daß die Aufgabe der Philosophie wesentlich darin bestehe, jenen Zusammenhang zwischen der empirisch-sinnlichen Wirklichkeit und ihrer geistigen Wiedererzeugung in dem menschlichen Bewußtsein wiederzugeben. Eben das schien mir in der Geschichte der Philosophie zum ersten Male in der Sprache seiner Zeit deutlich ausgesprochen zu sein in der platonischen Ideenlehre, insofern sie die Ideen als die geistigen Urbilder der Dinge auffaßte, dann in der Leibnizschen Umformung der Ideenwelt in ein den logischen Forderungen seines Zeitalters angepaßtes System seelischer Einheiten, das Monaden-System, und endlich in der kühnen, aber in seiner Durchführung einseitig logizistisch und darum in seiner Anwendung scheiternden dialektischen Methode Hegels.
Unter diesem Gesichtspunkt drängte sich mir aber je mehr ich mir dieses Zusammenhangs zwischen Welterkenntnis und Weltanschauung oder, wie man es zu nennen pflegt, zwischen empirischer Wissenschaft und philosophischer Gesamtbetrachtung bewußt zu werden begann, zugleich die Zerfahrenheit gewisser zwischen den Hauptepochen der Philosophie liegender und teilweise auf sie zurückwirkender Etappen ihrer Entwicklung auf. Keine Epoche der Philosophie des 19. Jahrhunderts hat in dieser Beziehung eine bezeichnendere Rolle gespielt als der sogenannte Neukantianismus. Er läßt sich nach seiner positiven Tendenz wie nach der Leerheit seines Inhalts durch nichts charakteristischer ausdrücken als durch das Schlagwort: »Zurück zu Kant!« Das Wort erhob sich als ein lauter Schlachtruf, indem sich um die Mitte des Jahrhunderts die Überzeugung verbreitete, daß die vorangegangenen idealistischen Systeme unhaltbar geworben seien. Da nirgends ein Antrieb sich regte, der auf eine wirkliche Weiterbildung der Philosophie von dem in diesen Systemen erreichten Punkte aus gerichtet gewesen wäre, so stellte sich die neue Philosophie auf den Standpunkt, es handle sich nun lediglich darum, unter den vorangegangenen älteren Systemen dasjenige für die neue Zeit zu wählen, das eine solche anscheinend endgültige Beseitigung noch nicht erfahren habe, ein Standpunkt, der eigentlich die Voraussetzung in sich schloß, die Weltanschauungen der verschiedenen Zeitalter seien nicht an die gesamte geistige Verfassung der jeweiligen Seiten geknüpft, sondern sie seien beliebige individuell erfundene Betrachtungsweisen, die man wählen könne, welcher Zeit auch die Philosophen, die sie erfanden, angehören mochten. Unter ihnen war dann allerdings Kant der nächstliegende. Für diese Zufallswahl, wie man sie nennen könnte, ist es kennzeichnend, daß immerhin einzelne irgendeinen älteren Philosophen, z. B. den Aristoteles oder auch Plato, vorzogen. So ist es denn höchst merkwürdig, daß diese Neukantianer, die doch durchweg zugleich Historiker der Philosophie waren, nicht einmal das aus der Geschichte gelernt hatten, daß die Philosophie einer Zeit ein Spiegelbild des Geistes der Zeit selbst ist. Gerade das hatte aber Hegel klar erkannt, und diese Erkenntnis fand ihren charakteristischen Ausdruck darin, daß er den Begriff der Moral, den Kant aus der älteren individualistischen Ethik, der er selbst noch zugetan war, entnommen hatte, dem der Sittlichkeit unterordnete, unter welchem er die gesamte empirische Welt verstand, von der die geistige Welt beherrscht wird. Daß man diesen engen Zusammenhang zwischen der neuen ethischen Weltanschauung mit dem Geist der Zeit übersah und statt dessen die wesentlich als eine Vorstufe derselben anzusehende Kantische Moral als eine jetzt wieder brauchbar gewordene wählte, ist für die philosophische Geistesarmut des Zeitalters kennzeichnend. Sie schließt die Meinung ein, in philosophischen Dingen könne man, wenn ein Fortschritt nicht zu Gebote stehe, gelegentlich einmal zu einem Rückschritt seine Zuflucht nehmen, unbekümmert darum, daß dieser zurückliegende Standpunkt schon einmal überwunden worden war.
Alle diese der Zukunft vorauseilenden Gedanken und auch manche andere, die erst in viel späterer Zeit wirksam geworden sind, traten jedoch für lange Zeit in den Hintergrund des Bewußtseins, als ich von der erzwungenen Pause wieder zur wissenschaftlichen Arbeit zurückkehren durfte. Diese setzte naturgemäß da wieder ein, wo ich sie unvollendet zuvor unterbrochen hatte. Hier waren es zwei Probleme, die zur Fortführung aufforderten. Das nächste bestand in den Fragen der Nerven- und Muskelphysiologie, mit denen ich in Berlin begonnen und die wenigstens nach einem relativen Abschlusse verlangten, der, wenn er zu günstigen Resultaten kam, eine festere Orientierung über das Verhältnis der physiologischen zur physikalischen Mechanik herbeiführen konnte. Weiter zurück lagen die Versuche über Sinneswahrnehmungen, die mich hauptsächlich während meiner Assistentenzeit in der Heidelberger Klinik beschäftigt hatten und die mein größeres Interesse in Anspruch nahmen, weil sich in ihnen bereits psychologische Fragen von allgemeinerer Bedeutung erhoben.
Die Begründung der modernen oder, wie Sie sich selbst nannte, der exakten Physiologie bildet einen bemerkenswerten Bestandteil der allgemeinen Entwicklung der Naturwissenschaften um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie wird vorbereitet durch die philosophische Bewegung, die sich um diese Zeit der Physik und der Chemie, dieser beiden in ihrer modernen Entwicklung der Physiologie vorausgehenden Gebiete, bemächtigt hatte. Besonders die chemischen Theorien, die bereits von Anfang des Jahrhunderts an die alte Atomistik auf eine neue Grundlage gestellt hatten, forderten hier zu allgemeineren Spekulationen über das Wesen der Naturvorgänge heraus. Unter den in dieser Beziehung epochemachenden Arbeiten nehmen durch ihre weitreichende Wirkung Justus Liebigs im Jahre 1844 erschienenen »Chemischen Briefe« eine hervorragende Stellung ein. Sie waren es, die insbesondere auch in der Generation der in der folgenden Zeit auftretenden Physiologen den Streit der hauptsächlich durch die mathematische Physik des vorangegangenen Jahrhunderts angeregten mechanischen Weltanschauung mit den vitalistischen Theorien der älteren Physiologie erweckten. In diesem Streit nahmen Liebigs chemische Briefe und das gegen sie gerichtete Werk Jakob Moleschotts »Der Kreislauf des Lebens«, das sein Verfasser als »physiologische Antworten auf die chemischen Briefe« bezeichnete, eine zentrale Stellung ein. Die originale Bedeutung der chemischen Briefe bestand darin, daß hier zum erstenmal ein Naturforscher das Wort ergriff, um für den alten Vitalismus eine Lanze zu brechen. Auch Liebig hatte das wesentlich als Physiologe getan, denn es waren seine Arbeiten zur Pflanzen- und Tierchemie, die hier ausnahmsweise den modernen Naturforscher das Wort zugunsten des alten Vitalismus ergreifen ließen. Anders stand es mit Moleschotts physiologischen Antworten. Er zählte sich selbst zwar zu den modernen Physiologen, aber diese nahmen ihn doch eher als einen Anhänger der materialistischen Philosophie denn als einen Physiologen von Fach, und gleich ihm fanden daher die anderen populären Schriftsteller, wie Karl Vogt und Ludwig Büchner, wenig Beachtung, sondern man berief sich mit Vorliebe auf einzelne Physiologen der vorangegangenen Zeit, wie Schwann, Schleiden, besonders aber auf die frühesten Schriften von Hermann Lotze, dessen »Allgemeine Physiologie« in besonderem Ansehen stand. Die Autorität, die er hier unter den jüngeren Physiologen genoß, war freilich von kurzer Dauer. Seiner 1851 erschienenen allgemeinen Physiologie folgte schon 1852 seine »Medizinische Psychologie«, die, so großen Einfluß sie auf einzelne Psychologen und Physiologen ausübte, die Physiologen der modernen Schule enttäuschte, weil sie die Spuren der zeitgenössischen Philosophie allzu sehr an sich trug. Meinte doch einer der Vertreter dieser Physiologie, die Wendung, die sich zwischen beiden Werken in der kurzen Frist eines Jahres vollzogen habe, aus der Übersiedlung Lotzes von Leipzig an die konservativere Universität Göttingen erklären zu dürfen. Das war freilich ein Irrtum, der aber immerhin für die mangelhafte philosophische Orientierung der sogenannten exakten Physiologen dieser Zeit ein bemerkenswertes Zeugnis ablegt, das übrigens auch darin sich aussprach, daß bereits Liebig durch seine chemischen Briefe sein naturwissenschaftliches Ansehen in diesen Kreisen einigermaßen beeinträchtigt hatte.
Darum waren es Mathematik und Mechanik, die die moderne Physiologie als ihre Vorbilder betrachtete. Immerhin ging diese im allgemeinen übereinstimmende Tendenz nach zwei charakteristisch verschiedenen Richtungen auseinander, deren eine unter den Begründern der exakten Physiologie besonders von Emil du Bois-Reymond in dem Vorwort seines Werkes über tierische Elektrizität und in sonstigen Ausführungen, die andere von Carl Ludwig in der Einleitung zu seinem Lehrbuch der Physiologie vertreten wurde. Die Bemerkungen von du Bois bewegten sich ganz im allgemeinen Gesichtspunkten. Ihm galt als ausgemacht, daß vermöge der Zurückführung aller Naturvorgänge auf Bewegungen, die nach den Gesetzen der Mechanik erfolgten, auch die Physiologie lediglich aus einer Reihe von Anwendungen der analytischen Mechanik bestehen müsse. Auf der einen Seite war daher seine Polemik gegen jene vermeintlich exakte Physiologie gerichtet, die in zahlenmäßigen empirischen Feststellungen bestand und besonders durch Valentins Lehrbücher vertreten war. Im Gegensatz zu diesen mehr statistischen als exakten Ausführungen war es vielmehr die mathematische Betrachtung, verbunden mit der Anwendung der allgemeinen Theorie der naturwissenschaftlichen Prinzipien auf die physiologischen Vorgänge, die von du Bois in erster Linie gefordert wurde, ohne daß von ihm den allezeit provisorischen numerischen Feststellungen ein besonderer Wert zugeschrieben worden wäre. Charakteristisch blieb bei ihm als ein emphatischer Ausdruck dieser Forderung die in jenen Jahren eine große Rolle spielende »Laplacesche Weltformel«, die Fiktion, nach welcher schließlich eine einzige eventuell freilich unendliche Differentialgleichung Ausdruck des gesamten kosmischen Geschehens von dem einfachen mechanischen Vorgang an bis zu irgendeinem komplexen physiologischen Prozeß sein sollte. Von dem berühmten Mathematiker und Astronomen Laplace rührte diese Idee her. Sie spiegelte einigermaßen den Charakter der naturwissenschaftlichen Weltanschauung im Zeitalter der strengen Galilei-Newtonschen Theorie oder der analytischen Mechanik des Lagrange. Sie würde im jetzigen Zustand der Wissenschaft ein ungeeignetes Bild sein, weil gegenwärtig die analytische Mechanik nicht mehr als das für alle Naturkräfte, z. B. nicht für Elektrizität und Licht, gültige Hilfsmittel angewandt werden kann. Aber zur Zeit, als sich du Bois über diese allgemeinen Fragen äußerte, war die universelle Bedeutung der Gravitationsmechanik noch unbestritten, und der berühmte Elektrophysiologe ist daher entschuldigt, wenn er diesem Gleichnis einen höheren Wert beilegte, als ihm wirklich zukommt. Immerhin waren schon für ihn die Schwierigkeiten, in die er sich infolgedessen mit dem kosmologischen Unendlichkeitsproblem verwickelte, groß genug, um diesen extremen Folgerungen der mechanischen Weltanschauung einen skeptischen Zug beizufügen, der geeignet war, solche Folgerungen in Frage zu stellen. Er versäumte nämlich nicht, zu bemerken, daß im Grunde alle Vorstellungen, die wir uns von den Atomen, ja zum Teil schon von den Molekülen und Molekularbewegungen machen, hypothetischer Art seien. So kam es, daß bei du Bois und bei anderen Vertretern der mechanischen Weltanschauung diese zwischen einer universellen Mechanik von unbeschränkter Gültigkeit und einem radikalen Skeptizismus schwankte. Auch dieses Schwanken fand übrigens in den Reden du Bois' seinen charakteristischen Ausdruck, wie dies besonders in seiner berühmten Rede auf der deutschen Naturforscherversammlung zu Leipzig von 1872 hervortrat, wo er auf die Verhältnisse der verschiedenen Naturkräfte zueinander, besonders aber auf die der physiologischen Vorgänge zu den Bewußtseinserscheinungen hinwies. Das viel besprochene »Ignorabimus«, mit dem er diese Rede schloß, wurde sogar von manchen seiner physiologischen Kollegen als ein Rückschritt gegenüber seinen früheren Äußerungen betrachtet, ähnlich wie dies vorher Lotze bei seinem Übertritt von der medizinischen in die philosophische Fakultät widerfahren war. Der Vorwurf ist natürlich ungerechtfertigt. Der Skeptizismus fehlt so wenig in den früheren Äußerungen wie die Laplacesche Weltformel in den späteren. Beide gehören zusammen, aber die Verbindung gewinnt ein etwas verschiedenes Aussehen je nachdem die eine oder die andere Seite bevorzugt wird. Um eine von beiden ganz los zu werden, muß man entweder mit dem alten Berkeley alle mechanischen Bewegungen in bloße Vorstellungen, oder man muß mit La Mettrie die Empfindungen in mechanische Bewegungen verwandeln. Das ist erst in neuester Zeit wieder annähernd möglich geworden, nachdem, wie Jaques Loeb in seiner »Dynamik der Lebenserscheinungen« gezeigt hat, die Physiologie des Pflanzen- und Tierreichs hinreichend viele sogenannte »Tropismen« bietet, um mit diesen die Bedürfnisse aller möglichen Lebenserscheinungen befriedigen zu können.
Wesentlich verschieden von diesem Programm einer allgemeinen physiologischen Mechanik lauten die Aufgaben, die Carl Ludwig in dem Eingang zu seiner Physiologie dem Experiment am Organismus und seinen Teilen stellt. Er gliedert sie im wesentlichen in drei Verfahrungsweisen. Die erste besteht darin, daß sie an der Hand der Anatomie und Chemie die Bedeutung der Organe zu ermitteln sucht. Die zweite geht von mehr oder weniger komplizierten Apparaten und Leistungen aus und sucht die Faktoren festzustellen, aus denen sich diese als ihre Resultanten zusammensetzen. Die dritte und an sich die vollkommenste, die darum womöglich von Anfang an verfolgt wird, sucht irgendeine Leistung als eine Funktion der sie erzeugenden Bedingungen darzutun. Ist diese dritte Aufgabe vollständig gelöst, so hat die Physiologie damit die an sie gestellten Forderungen endgültig erfüllt. Als Beispiele solcher Funktionsanalysen werden die künstliche Verdauung, die Nacherzeugung des Stromlaufs in elastischen Röhren, die Messung des Blutdrucks und der Geschwindigkeit des Blutlaufs an verschiedenen Stellen der Strombahn usw. angeführt.
Es ist klar, dieses Programm besteht lediglich in einer Reihe einzeln aufgezählter konkreter Aufgaben und der durch ihre Lösung zu erklärenden Erscheinungen. Der einzige Allgemeinbegriff, der dabei Verwendung findet, ist der Begriff der Resultanten, ohne daß übrigens namhaft gemacht wird, aus welchen Faktoren sich dieser zusammensetzt, oder wie er sich etwa von einer bloßen Summe einzelner Erscheinungen unterscheidet. Es ist zwar von Messen und Zählen, aber nirgends von Mathematik im allgemeinen die Rede, und vollends solche Bilder wie die Laplacesche Weltformel liegen dem Verfasser völlig fern. Auch davon, daß die Physiologie der mathematischen Mechanik und Physik sich anzuschließen habe, ist keine Rede; unter dieser Bestimmung einzelner Aufgaben könnte man daher auch eine ganz andere als die mathematisch-mechanische Methode der Funktionsanalyse verstehen. Denn es ist im Grunde nur dies ausgedrückt, daß der Physiologie die Aufgabe zukomme, die Funktionen des Organismus in ihre Teile zu zerlegen, und das ist nichts anderes als eben eine Anwendung des Begriffs der Funktion überhaupt oder, wie wir dies abstrakt logisch ausdrücken können, der Leistungen des Organismus nach ihren kausalen Verknüpfungen. Wenn man dem du Boisschen Programm vorwerfen kann, es sei einerseits eine Einkleidung in inadäquate Formen und andererseits ein unbestimmtes Bild für irgendein Gebiet der abstrakten mathematischen Mechanik, so könnte man vielleicht von dem Programm Ludwigs sagen, es wende lediglich die allgemeinen Begriffe von Ursache und Wirkung auf einzelne physiologische Erscheinungen an, ohne zu bestimmen, wie gerade diese Erscheinungen zu dem Ganzen der Lebensvorgänge erforderlich seien.
Damit soll sicherlich den beiden ausgezeichneten Physiologen, von denen diese programmatischen Ausführungen herrühren, kein Vorwurf gemacht, sondern nur hervorgehoben werden, wie groß die Schwierigkeiten sind, wenn man noch dazu für ein eben erst im Entstehen begriffenes Gebiet in irgend zureichender Weise derartige Definitionen unternehmen will. Immerhin wird man eingestehen, daß für die praktische Anwendung des Physiologen die Formulierung Ludwigs die brauchbarere ist. Auch besteht ihre größere Brauchbarkeit nicht zum wenigsten darin, daß sie allgemein und darum unbestimmt genug ist, um nicht von vornherein an gewisse Methoden, wie z. B. die der mathematischen Analyse oder der mechanischen Konstruktion, gebunden zu sein.
Als ich in Berlin meine Studien zur Nerven- und Muskelphysiologie begann, war dieses Gebiet in besonders lebhaftem Aufschwung begriffen. Den entscheidenden Einfluß hat hier du Bois-Reymond geübt, von dem man wohl sagen kann, daß er, so gering an Zahl die jüngere Generation war, die sich der Physiologie zuwandte, doch eine Art Schule gebildet hat. Ludwig stand damals in Zürich noch etwas außerhalb der deutschen Gelehrsamkeit, ebenso Brücke, der sein Leben lang an Österreich gefesselt blieb. So waren es denn auch die Fragen, die du Bois in den ausführlichen historischen Übersichten seines Werkes behandelte, die unter seinen Schülern eine Reihe von Bearbeitern fanden. Besonders der Einfluß des elektrischen Stroms auf Muskeln und Nerven, das sogenannte »Gesetz der Zuckungen« u. a., stand im Vordergrund dieser Arbeiten. Die Art, wie man dabei den Begriff des Gesetzes handhabte, ist charakteristisch für die exakte Richtung dieser Schule beim Beginn des neuen Zeitalters. Als Zuckungsgesetz pflegt man nach dem Vorbild, das hier schon die Vorläufer der Elektrophysiologen vor du Bois gegeben, die Reihenfolge zu bezeichnen, in der mit der Verstärkung des Stromes von der noch unter der Reizschwelle gelegenen Grenze aus bis zu den stärksten galvanischen Reizen die Zuckungen eines vom Nerven aus gereizten Froschschenkels auftreten. Zunächst bestand der exakte Charakter dieses sogenannten Gesetzes höchstens darin, daß diese Reihenfolge regelmäßig in der gleichen Weise eintritt, mit der Zuckung bei der Schließung schwächster Ströme bei auf- und absteigendem Strom beginnend, mit der Zuckung bei Öffnung der gleichen stärksten Ströme schließend und bei der dazwischen liegenden allmählichen Verstärkung die Zuckung in allen vier Akten durchwandernd. Nun ist eine solche Regelmäßigkeit der Aufeinanderfolge gewisser Erscheinungen noch kein Gesetz im exakten Sinne des Wortes, solange ein diese Regelmäßigkeit begründendes kausales Verhältnis unbekannt ist. Das würde aber allenfalls heute, wo wir mit den physikalischen Eigenschaften der Kathode und Anode näher vertraut sind, gesagt werden können; zur Zeit als die Untersuchungen über das Zuckungsgesetz schwebten, war das nicht im geringsten der Fall, sondern es läßt sich wohl eher sagen, daß hier die Elektrophysiologie die Vorläuferin der Elektrophysik gewesen ist. Dazu kommt, daß die oben angegebene Gesetzmäßigkeit nicht einmal unbestritten galt, da verschiedene Beobachter das Zuckungsgesetz in einer etwas abweichenden Anordnung formulierten, wahrscheinlich weil dabei die Einflüsse der Jahreszeit, der Ermüdung der Nerven oder des Absterbens der Tiere eine Rolle spielten.
Als ich in Berlin auf du Bois-Reymonds Vorschlag eine Revision der Versuche Eduard Webers über Muskelbewegung vorzunehmen begann, leuchtete mir bald ein, daß hier das Problem der elastischen Eigenschaften der Muskeln im Vordergrund stehe. Aber diese gewissermaßen vorläufige Aufgabe verwickelte mich auch sofort in Schwierigkeiten, die in den bisherigen Arbeiten über das gleiche Thema teils ganz unbeachtet geblieben, teils wenigstens nicht überwunden worden waren. Unbeachtet geblieben war zunächst die sogenannte elastische Nachwirkung, eine Eigenschaft, die in gewissem Grade allen festen Körpern zukommt, mit der aber besonders die feuchten Tier- und Pflanzengewebe und unter ihnen wieder vorzugsweise die Muskeln ausgestattet sind. Beim Anhängen eines Gewichtes erfährt der Muskel momentan eine der Größe desselben entsprechende Dehnung; an diese schließt sich aber eine allmähliche weitere Dehnung in stetigem Verlaufe an, die so lange dauert, daß ihr Ende kaum abgewartet werden kann, da sie sich offenbar nur asymptotisch einer bestimmten Grenze nähert. Nun ist es namentlich bei der Einwirkung größerer Gewichte außerordentlich schwer, die Anfänge der elastischen Nachwirkung von der augenblicklichen Formänderung zu scheiden, und da dies bald mehr, bald weniger geschieht, so können dadurch die Messungen in hohem Grade unsicher werden. Zwar besitzen wir von seiten der Physiker einige Angaben über die elastische Nachwirkung namentlich bei Metalldrähten, zum Teil auch bei Tier- und Pflanzengeweben, aber die Physiologen, die sich mit der Elastizität der Muskeln beschäftigten, haben diesem wichtigen Moment keine Aufmerksamkeit geschenkt. Zu dieser gesellen sich noch andere Schwierigkeiten, die dem Muskelgewebe speziell eigen sind und die gerade mit den Lebenseigenschaften desselben zusammenhängen. Dahin gehört in erster Linie die Totenstarre, offenbar ein Gerinnungsprozeß von Eiweißkörpern im Innern des Muskels, der dessen Gewebe in einen relativ harten Körper verwandelt, also dessen Dehnbarkeit vermindert. Löst sich die Starre, so tritt dann eine fortschreitende Erweichung des Gewebes ein, die mit der zunehmenden Fäulnis allmählich in dessen Zerfall übergeht. Geringere Schwankungen ereignen sich jedoch schon in einem noch lebensfähigen Zustand, wenn der Muskel durch seine Zusammenziehung eine Arbeit leistet, infolge der sogenannten Ermüdung und der ihr folgenden Erholung usw.. Diese Umstände bringen es mit sich, daß, wenn man, wie dies zu geschehen pflegte, dem lebenden Tier einen Muskel entnimmt und ihn auf seine Elastizitätseigenschaften etwa durch die Messung der Formänderungen prüft, welche er durch Gewichte von abgestufter Größe erfährt, die in der Richtung der Länge seiner Fasern einwirken, die gewonnenen Messungsergebnisse von sehr schwankender Beschaffenheit sind, wie das die oben erwähnten Momente begreiflich machen. Da ist es die elastische Nachwirkung, die die Dehnbarkeit scheinbar vergrößern, die Totenstarre, die sie vermindern, die Lösung der letzteren, die wieder eine größere Dehnbarkeit herbeiführen kann usw.. Handelt es sich vollends um Versuche, die ein dem normalen Lebenszustand möglichst nahestehendes Verhalten des Muskels fordern, so kommen in völlig unberechenbarer Weise die Einflüsse der Ermüdung und Erholung in Betracht, die dann im weiteren Verlauf immer wieder durch die unabwendbaren Erscheinungen des Absterbens in ihrem Wechsel zwischen der Totenstarre und ihrer Lösung gekreuzt werden. Diese Verhältnisse machen es erklärlich, daß bei diesen Versuchen die Muskeln warmblütiger Tiere zunächst überhaupt außer Betracht blieben und man sich auf den Kaltblüter, vor allem auf den Froschmuskel beschränkte, der am ehesten noch nach seiner Entfernung aus dem lebenden Körper in gewissem Grad seine Lebenseigenschaften beibehält. Immerhin zeigt sich auch bei ihm deutlich genug, daß dieser ausgeschnittene Muskel ein fortwährend wandelbares Gebilde ist, so daß von ihm kaum gesagt werden kann, es sei möglich, an einem und demselben Muskel die gleichen Bedingungen des Versuchs genau in derselben Weise zu wiederholen. Wie schon bei dem »Zuckungsgesetz« verschiedene Beobachter anfänglich zu abweichenden Resultaten gelangt waren, so, ja in noch höherem Grade, geschah dies daher auch bei den Problemen der Muskelelastizität. Insbesondere war es hier die wichtige physiologische Frage nach dem Zusammenhange der elastischen Eigenschaften mit dem Kontraktionszustand des Muskels bei seiner Reizung von dem in ihm sich verbreitenden Nerven aus oder bei seiner direkten Reizung durch elektrische Ströme, über welche entgegengesetzte Angaben vorlagen. Schwann, Harleß, A. W. Volkmann, Ed. Weber fanden bald Verminderung, bald Zunahme der Elastizität, das heißt bald geringere, bald größere Dehnbarkeit im Kontraktionszustand. Auch hatte man sich meist auf die in diesem Fall vielleicht ungünstigste Methode der Elastizitätsbestimmung, nämlich auf die der Dehnbarkeit durch angehängte Gewichte beschränkt. Sie führt nämlich nicht nur am ehesten Störungen durch die mit der Größe des Gewichtes wachsende elastische Nachwirkung mit sich, sondern größere Gewichte lösen unmittelbar die Phänomene der Totenstarre aus.
Als ich meine Untersuchungen über diese Fragen begann, schwebte daher die Antwort auf dieselben noch ganz im ungewissen. So war denn, nachdem ich in Voruntersuchungen die Einflüsse der elastischen Nachwirkung, der Totenstarre und ihrer Lösung geprüft hatte, mein Bemühen darauf gerichtet, diese störenden Nebenwirkungen überhaupt zu eliminieren. Hier erwies sich nun schließlich als einziges Mittel einer solchen Elimination die Untersuchung der Erscheinungen an dem noch lebenden Organismus angehörenden Muskel und Nerven. Der ganze lebende Frosch wurde an einem zweckmäßigen Stativ befestigt, die zu untersuchende Muskelgruppe des Oberschenkels (Adductor magnus und Semimembranosus) wurde bloßgelegt, während sie in dem Blutkreislauf eingeschlossen und mit ihren Nerven verbunden blieb. Außerdem wurde die Muskelgruppe in einen feuchten Raum eingeschlossen, so daß sie vollkommen gegen Eintrocknen geschützt war. In diesem Zustand konnte nun an ihr stundenlang experimentiert werden, ohne daß, wenn man nur die nötigen Erholungspausen zur Vermeidung der Ermüdungseinflüsse einschaltete, eine Veränderung ihres Zustandes eintrat, wie die Konstanz der Erscheinungen erwies. Dies zeigte sich zunächst bei der Prüfung der Zugelastizität durch angehängte Gewichte bei ruhendem Zustand und ebenso dann bei der Wiederholung der Wirkungen von Reizen, welche Kontraktionen des Muskels herbeiführten. Um von verschiedenen Seiten her mittels der gangbaren physikalischen Hilfsmittel eine Antwort auf die Frage der Veränderungen der Elastizität bei der Kontraktion zu gewinnen, bediente ich mich jedoch in gesonderten Untersuchungen vier verschiedener Methoden: der Überlastung, der Torsionsschwingungen, der Ablenkungen, der Erhebungshöhen. Besonders kennzeichnend waren dabei die beiden ersten Methoden. Indem die Überlastung darin bestand, daß an den Muskel ein Gewicht gehängt wurde, das er überhaupt nicht mehr zu heben vermochte, war bei einer etwaigen Abnahme der Elastizität im Moment der Erregung eine Verlängerung, bei einer Zunahme umgekehrt eine Verkürzung zu erwarten. In anderer Weise entscheidend schien die Methode der Torsionsschwingungen: die drehenden Schwingungen, in die der Muskel versetzt wurde, mußten in ihrer Geschwindigkeit zunehmen bei wachsender, abnehmen bei verringerter Elastizität. Die übrigen Methoden konnten dann diesen beiden immerhin als mehr oder weniger bestätigende hinzugefügt werden. Diese Erwartung erfüllte sich nun, dank hauptsächlich dem Experiment am lebenden Tier, in der denkbar vollkommensten Weise. Es ergab sich eine mit der Größe der Kontraktion zunehmende Verminderung der elastischen Kraft; diese Änderung trat aber nur dann ein, wenn der Muskel sich wirklich zusammenzog. Sie blieb aus, wenn er in irgendeiner Weise, z. B. bei der Zugelastizität durch Überlastung, daran verhindert wurde. Mit diesem letzteren Ergebnis war zugleich das Problem mit Rücksicht auf den kausalen Zusammenhang der Erscheinungen seiner Lösung um einen wesentlichen Schritt näher gerückt: es war nicht etwa eine unter allen Umständen eintretende Molekularänderung im Muskel, welche die Elastizitätsänderung herbeiführte, sondern diese war offenbar eine Wirkung der Zusammendrückung, die der Muskel bei der wirklichen Kontraktion auf sich ausübte.
Zu diesem allgemeinen Ergebnis trat endlich noch ein anderes, das speziell an die Wirkungen der elektrischen Reizung geknüpft war und das auf das Wesen der im Muskel tätigen Kräfte Licht zu werfen versprach. Es bestand in den eigentümlichen Verschiedenheiten, die sich bei der Reizung des Muskels und des Nerven mit dem konstanten Strom ergaben. Der Muskelnerv beantwortet, wenn er in seinem Verlauf außerhalb des Muskels durch einen konstanten Strom erregt wird, im allgemeinen bloß die Schließung und bei stärkeren Strömen auch die Öffnung der Kette mit einer Zuckung; während der dauernden Schließung beobachtet man höchstens bei starken Strömen gelegentlich schwache tetanische Erregungen. Der Sinnesnerv befindet sich stets bei irgend erheblichen Stromstärken während der ganzen Dauer der Stromeinwirkung in einer in der andauernden Empfindung sich verratenden Erregung, nur pflegt bei der Schließung und im Fall starker Ströme auch bei der Öffnung eine momentan intensivere Empfindung beobachtet zu werden. Ganz anders verhält es sich, wenn man die Reaktion des Muskels bei seiner direkten galvanischen Reizung, während die Nervenreizung ausgeschaltet ist, beobachtet. Dann erfolgt keine rasch vorübergehende Zuckung, sondern eine langsam verlaufende Zusammenziehung des Muskels, die so lange andauert, als der Strom geschlossen ist, und die, wenn man diesen einige Zeit geschlossen hält, vom Moment der Öffnung an in eine Bewegung in umgekehrter Richtung übergeht. Dabei sind die Kontraktionen während der Dauer des Stroms von der positiven zur negativen Elektrode gerichtet, und nur bei der Öffnung des Stroms pflegt ein kurzer Rückstoß zu erfolgen. Diese früher unterschiedslos zusammengeworfenen Effekte der Nerven- und Muskelreizung durch den konstanten Strom sind daher, wie ich zuerst bei der Messung durch das Mikroskop und dann bei der Aufzeichnung der Bewegungen am Kymographion beobachtete, völlig voneinander verschiedene Phänomene. Wenn wir beide mit den in der gegenwärtigen Elektrophysik die entscheidende Rolle spielenden Begriffen vergleichen, so erinnert die direkte Muskelkontraktion durch den konstanten Strom so unmittelbar an die Bewegung der Ionen bei der Leitung desselben durch eine elektrolytische Flüssigkeit, daß man das Phänomen dieser von der Anode zur Kathode gerichteten Bewegung mutmaßlich als einen Spezialfall eines elektrolytischen Stromes betrachten darf, an welchem die elektrisch geladenen Muskelmoleküle selbst als wandernde Ionen beteiligt sind. Wesentlich anders verhält sich dagegen die Reizung einer Nervenstrecke. Sie ist vor allem dadurch ausgezeichnet, daß die Reizung durch einen konstanten Strom nur eine der Formen ist, in welchen auch noch die verschiedensten anderen Einwirkungen, z. B. eine mechanische Erregung, ein kurz dauernder elektrischer Stromstoß, eine chemische Reizung, auf den Muskel übertragen, eine kurz dauernde Kontraktion auslösen können. Man würde daher vom Standpunkt der heutigen Elektrizitätstheorie vielleicht vermuten dürfen, daß, wie die Muskelphänomene dem Gebiet der Wanderung der Ionen, so die Nervenerregungen dem der Elektronenbewegung zugehören.
Als ich im Jahre 1857 meine vergleichenden Versuche über Nerven- und Muskelreizung ausführte, lagen die Elektronen noch in einer fernen Zukunft; oder die Erscheinungen, die sich hier aufdrängten, wiesen bereits auf ein Verhältnis der Funktionen von Muskel und Nerv hin, das analoge Beziehungen anzudeuten schien. Verriet sich doch die direkte Muskelkontraktion durch den konstanten Strom in analogem Sinne als ein elektrisches Massenphänomen gegenüber, der Nervenreizung als einem elektrischen Molekularphänomen; womit denn auch wohl die Tatsache zusammenhing, daß der Muskel nur auf den elektrischen Strom mit Kontraktion reagiert, während der Nerv jede beliebige Reizung zunächst in eine elektrische Molekularbewegung überzuführen schien, worauf dann diese durch ihren Kontakt mit dem elektrisch empfindlichen Muskelgewebe die Kontraktion als einen rasch vorübergehenden Vorgang, das heißt als eine Zuckung, auslöst. Das waren die freilich noch etwas unbestimmten Vorstellungen, zu denen ich durch meine Versuche geführt wurde. Immerhin erhob sich aus ihnen als ein verhältnismäßig festliegender Punkt das Ergebnis, daß Nerv und Muskel nicht im wesentlichen gleiche, sondern einander funktionell ergänzende Gebilde seien. Von ihnen konnte der Nerv als der Träger einer die mannigfachen Formen der Reize in eine elektrische Bewegung umwandelnde Vorrichtung betrachtet werden; der Muskel stellte sich ihm als ein Behälter elektrischer Kräfte gegenüber, aus dem durch die vom Nerven ausgehenden Stromstöße Teile dieses elektrischen Vorrats in mechanische Kräfte umgewandelt werden. Mag der Impuls, der auf den Nerven einwirkt, ein spezifischer Sinnesreiz, eine chemische Substanz, ein mechanischer Stoß sein, zunächst führt der Nerv ihn in einen elektrischen Stromstoß über, der dann eine der Dauer der Reizung entsprechende Ionenbewegung auslöst. Daraus ließ sich begreifen, daß die elektrische Reizung des Nerven selbst eine bevorzugte Stellung gegenüber der Mannigfaltigkeit der ihm zugänglichen Reize einnimmt, So daß sie als die allgemeinste jeder anderen substituiert werden kann. Auch im Hinblick auf die relativ verschiedene Dauer der elektrischen Vorgänge in Nerv und Muskel würde also, vom gegenwärtigen Standpunkt der Physik, der elektrische Nervenprozeß als eine Elektronenbewegung, der elektrische Muskelvorgang als eine Ionenbewegung betrachtet werden können. Die Bilder eines solchen Zusammenhangs elektrischer Vorrichtungen konnten freilich dem Auge des Beobachters bei der Ausführung dieser Versuche, wo die Elektronen noch unbekannt waren, nur in ungefähren Umrissen vorschweben, und noch heute ist vorläufig dieser Zusammenhang ein hypothetischer, der zu seiner Bestätigung oder Widerlegung die Wiederaufnahme dieser Probleme verlangen würde. Dennoch darf wohl gesagt werden, daß hier, wie bei so manchen neueren Ergebnissen, die Elektrophysiologie auf dem Gebiet der verwickelten organischen Strukturen und Funktionen zuerst Beziehungen vermuten ließ, die erst viel später in die Sphäre der allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Naturerscheinungen eingetreten sind, darum aber auch erst aus dieser ihre exakte Erklärung finden können.
Das Buch über die Lehre von der Muskelbewegung vom Jahre 1858 war das erste den Umfang einer größeren Zeitschriftabhandlung überschreitende Werk, das ich erscheinen ließ. Es war von Vieweg und Sohn mit vorzüglichen Abbildungen der Apparate und Methoden ausgestattet, und ich hatte begreiflicherweise auf den Erfolg nicht geringe Hoffnungen gesetzt. Den Leser, der von der technischen Seite der Arbeit, die sich in der obigen kurzen Beschreibung nicht wiedergeben ließ, eine genauere Kenntnis nehmen will, muß ich hier auf das Buch selbst verweisen. Wenn jemals die Erwartungen eines jungen Autors getäuscht wurden, so ist dies aber den meinigen widerfahren. Die Arbeit über die Muskelbewegung ist nicht bloß geringer geschätzt worden, als ich erwartete -- darein würde ich mich als einer selbstverständlichen Erfahrung schließlich leicht gefunden haben. -- Sie ist überhaupt nicht geschätzt, sondern sie ist totgeschwiegen worden, zunächst von den maßgebenden Gelehrten, von du Bois und der du Boisschen Schule, dann von den sonstigen Physiologen, endlich von der gelehrten Welt überhaupt. Wer hatte auch Anlaß, sich um diesen beschränkten Ausschnitt aus der Nerven- und Muskelphysiologie zu kümmern, wenn es die in ihr arbeitenden Physiologen nicht taten? Zuerst war ich etwas betrübt über dieses Schicksal, dann fand ich mich mit Resignation, später mit Humor in dasselbe, und zuletzt vergaß ich es ganz und begrub in dieses Vergessen die Arbeit selbst. Als ich jetzt nach vielen Jahren aus Anlaß dieser Erinnerungen versuchte, mir den Inhalt der damaligen Untersuchungen wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, bemerkte ich fast zu meinem Erstaunen, daß mir, während mir früher gelegene Ereignisse noch wohl erinnerlich geblieben waren, diese ganze Arbeit, die sich dereinst über viele Monate erstreckte, nur noch in höchst unsicheren Umrissen gegenwärtig war. Bloß die prägnanten Unterschiede der direkten Muskelkontraktion und der Zuckung infolge der Nervenreizung waren mir gegenwärtig geblieben. Die Apparate waren verloren gegangen, die Versuche und ihre Methoden waren aus meinem Gedächtnis verschwunden, ich hatte nur noch das unbestimmte Gefühl, daß ich in den meisten Fällen zu anderen Ergebnissen gelangt war als meine Vorgänger, und daß ich Erscheinungen neu beobachtet hatte, die jenen entgangen waren.
So galt mir denn schließlich meine Arbeit als eine ziemlich wertlose Jugendschrift, die von der Welt mit Recht ignoriert worden sei. Jetzt, wo seitdem über 60 Jahre vergangen sind, und wo mir das eigene Buch so entfremdet ist, als wenn es ein anderer geschrieben hätte, darf ich mich vielleicht für so objektiv in eigener Sache halten, daß mir ein hinreichend unbefangenes Urteil zukommt. Kann ich doch mit gutem Gewissen sagen, daß es mir ziemlich gleichgültig wäre, ob ich es bei der heutigen Lektüre als gut oder schlecht beurteilen müßte. Wohl aber darf ich sagen, daß mir die Frage, wie unter Umständen wissenschaftliche oder künstlerische Leistungen entweder berühmt oder vergessen oder endlich von Anfang an ignoriert werden können, zu einem einigermaßen interessanten Problem geworden ist. Denn dieses Problem ist zweifellos nicht ohne Bedeutung für die Verhältnisse des wissenschaftlichen Lebens und Verkehrs überhaupt und des akademischen Verkehrs insbesondere. Wie ist es nun gekommen, daß, während in jenen Tagen die kleinste, an sich höchst unbedeutende Notiz über irgendeine elektrophysiologische Tatsache sich durch den Strom der physiologischen und medizinischen Zeitschriften bewegte, eine Arbeit, in der eine Fülle von Erscheinungen erörtert, sichergestellt und zum Teil neu beschrieben war, nicht etwa bestätigt oder widerlegt oder aber als längst bereits bekanntes Ergebnis früherer Forschung nachgewiesen wurde, trotzdem aus der Literatur verschwinden konnte, als wenn sie niemals existiert hätte? Als ich vor kurzem, um mir diese Frage zu beantworten, die Arbeit wieder las, kam ich aber bei unbefangener Prüfung zu dem Ergebnis, daß sie keineswegs so wertlos sei, wie man nach diesem Erfolg glauben sollte, sondern daß sie nach Plan und Methode wie nach ihren Resultaten noch heute eigentlich der Beachtung wert ist. Schon die sorgfältig ausgearbeitete Methode des Experiments am lebenden, noch mit seinem Nervensystem und Blutlauf in Zusammenhang stehenden Tier ist in Anbetracht der ebenfalls ausführlich nachgewiesenen Veränderungen des ausgeschnittenen Muskels ein erheblicher Fortschritt. Dazu kommt die Nachweisung der bisher ganz unbeachtet gebliebenen Einflüsse der elastischen Nachwirkung. Ferner die Prüfung der Elastizitätsänderungen im Kontraktionszustand des Muskels nach den verschiedenen nebeneinander möglichen Methoden der Überlastung, Schwingung, Ablenkung usw., die sich wechselseitig bestätigend ergänzen, während man sich bisher mit wechselnden und darum durchgehends zweifelhaften Erfolgen nur der Dehnungversuche bedient hatte; dann als die Hauptsache die Nachweisung, daß die eintretende Abnahme der Elastizität eine Folge der Kontraktion ist und ohne diese ebenfalls ausbleibt. Als eine wichtige Tatsache muß endlich des völlig vom Nerven verschiedenen Verhaltens des Muskels gegenüber dem konstanten Strom gedacht werden. Diese letztere Tatsache ist freilich im völligen Widerspruch mit der Beobachtung von manchen Autoren noch lange nachher als eine »tetanische«, mit der Wirkung rasch sich folgender Induktionsstöße übereinstimmende bezeichnet worden; im allgemeinen ist aber hier immerhin in anonymer Weise, ohne daß man des Beobachters gedacht hätte, die »Dauerkontraktion des Muskels durch den konstanten Strom« als ein nicht zu bestreitendes Faktum stehen geblieben.
Wie erklärt sich nach allem dem dieser Mißerfolg? Jedem unbefangenen Leser muß sich hier die Überzeugung aufdrängen, daß diese Bearbeitung des Problems die vollständigste ist, die überhaupt existiert, daß es in ihr gelungen ist, eine Menge bisher widerspruchsvoller Ergebnisse in einen verhältnismäßig durchsichtigen Zusammenhang zu bringen, ja daß sie über den zu ihrer Zeit gegebenen Zustand hinaus möglicherweise die Grundgedanken einer Elektrophysiologie der Zukunft vorausnimmt. Auch die Form der Veröffentlichung bewegt sich ganz in den herkömmlichen Geleisen. Ich hatte das Buch du Bois-Reymond gewidmet, weil ich ihm für den Hinweis auf das, wie ich erkannte, fruchtbare Thema aufrichtig dankbar war, und ich konnte um so mehr bei ihm auf eine günstige Aufnahme hoffen, da er schon, als ich in Berlin noch mit dem bloß vorbereitenden Thema über die elastische Nachwirkung beschäftigt war, sogar in seiner Vorlesung über allgemeine Physiologie, der ich selbst beiwohnte, auf die künftig erscheinende Untersuchung hinwies. Aber als ich ihm das Buch übersandte, entschuldigte er sich, daß ihm im Augenblick zur Lektüre die Zeit fehle, und später hat er offenbar diese Zeit niemals gefunden. Ich blieb endgültig ohne Antwort. Was kann ihn verletzt haben trotz der Anerkennung seiner Leistungen und der Beziehung auf seine Arbeiten, woran es das Buch nicht fehlen läßt? Ich glaube schließlich, die Ursache entdeckt zu haben. Sie bestand weder in den angewandten Methoden noch in den gefundenen Tatsachen, sondern es war etwas ganz anderes, woran ich in meiner Harmlosigkeit nicht gedacht hatte. Die Verhältnisse von Nerv und Muskel in ihren Teilfunktionen einerseits und ihrem Zusammenwirken andererseits hatten mich zu der Überzeugung geführt, daß die schablonenhaften Ausführungen über die Mechanik der Lebensvorgänge gegenüber dem verwickelten und doch einheitlichen Ineinandergreifen dieser Vorgänge unzulänglich seien, weil sie durchweg mit bloßen unbestimmten Analogien operierten, die eines Anhaltspunktes zur Interpretation des eigentlichen Wesens dieser Erscheinungen völlig entbehrten, und ich hatte dabei zugleich an die Forderungen angeknüpft, welche die Morphologie der Organismen, so abweichend ihre eigene Aufgabe sein möge, an die physiologische Analyse zu stellen berechtigt sei. Nicht eine reine Anwendung der analytischen Mechanik auf die Lebensfunktionen könne hier in Betracht kommen, sondern eine zukünftige vitale Mechanik, die nicht aus einem bloßen Nebeneinander von Atom- oder Molekularbewegungen, sondern in den Entwicklungsgesetzen der lebenden Wesen ihre Grundlagen finde. Ich kann ja nicht leugnen, daß ich bei diesen Erörterungen, mit denen ich das Buch über die Muskelbewegungen eröffnete, an Ausführungen dachte, wie sie du Bois etwa in der Vorrede zu seinem Werk über tierische Elektrizität gegeben hatte, aber ich war doch weit entfernt, dies irgendwie anzudeuten oder ihn gar als Beispiel eines solchen Verfahrens zu nennen. Gleichwohl ist mir das Mißgeschick, das ich hier erlebte, eine heilsame Lehre für die Zukunft geblieben. Nicht als ob ich aus dieser Erfahrung gelernt hätte, in künftigen Fällen ähnlicher Art meine Überzeugungen zu verbergen. Aber zwei Vorsätze sind aus Anlaß solcher Erfahrungen in mir lebendig geblieben. Der erste dieser Vorsätze lautet: wenn du je einen Schüler hast, so lasse ihn wo immer möglich selbständig seinen Weg gehen; der zweite: hüte dich, ein Schulhaupt zu werden. Ich habe später mit manchem aus der du Bois'schen Schule freundlich verkehrt, und ich erinnere mich nicht, ihm das Unrecht vergolten zu haben, das er mir bei dieser Gelegenheit etwa angetan hat, denn ich meine, auch für diesen Fall gilt die Regel, daß für die Mängel der Schule nicht der Schüler die Schuld trägt. Was aber jene Vorsätze betrifft, so glaube ich, ihnen mein Leben lang treu geblieben zu sein, obgleich ich bekennen muß, damit nicht immer Dank geerntet zu haben.
Doch das Mißgeschick, das den Versuchen zur Lehre von der Muskelbewegung widerfahren, war es nicht allein, das mich veranlaßte, der Elektrophysiologie vorläufig und für längere Zeit ganz den Rücken zu kehren. Es war ein anderes Problem, das aus früherer Vergangenheit im Vordergrund meines Interesses stand: das Problem der Sinneswahrnehmung. Ich hatte als klinischer Assistent inmitten der berufsmäßigen Beschäftigungen mit Temperaturmessungen und Stoffwechseluntersuchungen meine ganze freie Zeit den hierher gehörigen Aufgaben zugewandt. Es drängte mich daher, die unterbrochenen Studien wieder aufzunehmen.
Die Universität Heidelberg war zur Zeit meiner Habilitation als Privatdozent der Medizin nach meinen Eindrücken eines der glücklichsten Asyle für einen beginnenden akademischen Lehrer. Nicht als ob sie eine Stätte gewesen wäre, wo sich dieser einer besonderen Liebe und Förderung hätte rühmen dürfen, sondern im Gegenteil, sie war es, weil sie wirklich ein Asyl war, eine Stätte der Zurückgezogenheit und stillen Arbeit, in der ihn niemand störte, da sich von den maßgebenden Persönlichkeiten der Universität und der Staatsverwaltung niemand um ihn kümmerte, während er doch unter seinen Genossen der gleichen und anderer Fakultäten den mannigfaltigsten anregenden Verkehr finden konnte. Das Personal der Universität zerfiel, wenn man es nicht nach Fakultäten, sondern nach dem allgemeinen Ansehen geordnet denkt, dessen sich die einzelnen erfreuten, im wesentlichen in drei Gruppen. Die erste umfaßte die Alten, die entweder ganz Ausgedienten oder zwar noch Aktiven, aber doch wenig mehr Beachteten, die ein seit langer Zeit mitgeführtes Bestandstück der Alma Mater bildeten. Es umfaßte unterschiedslos Männer von verdientem Ruf und mehr oder weniger unbedeutende oder außer Mode gekommene Persönlichkeiten, die übrigens meist der Kategorie der Ordinarien angehörten. Die zweite Gruppe wurde von den dominierenden Persönlichkeiten gebildet. Sie enthielt diejenigen, denen die Universität ihren augenblicklichen Ruhm verdankte. Das waren in erster Linie die großen Lehrer und die großen Naturforscher. Unter den Lehrern war es im Hinblick auf die Bedeutung der Juristenfakultät für den Zuzug auswärtiger Studierender der Pandektist, der seit den Tagen des berühmten Thibaut bis auf den zu meiner Zeit wirkenden Vangerow an erster Stelle stand. Neben ihm ragte unter den Historikern während vieler Jahre Ludwig Häußer hervor, der glänzendste Redner, den ich je in meinem Leben gehört habe. Sie wurden vom Ende der fünfziger Jahre an überstrahlt durch die großen Naturforscher Bunsen, Kirchhoff, Helmholtz, an die sich einige minder berühmte, aber durch den geselligen Verkehr, den sie mit jenem Dreigestirn pflegten, ausgezeichnete Professoren anschlossen. Die von Bunsen und Kirchhoff geschaffene Spektralanalyse zog in diesen Jahren zahlreiche Ausländer, namentlich englische Gelehrte und Studierende, herbei. Ein nicht zu unterschätzender Bestandteil der die herrschende Gruppe konstituierenden Professoren war endlich der Kliniker, falls er, wie dies meistens geschah, neben seinem klinischen Lehrberuf eine ausgebreitete Privatpraxis innerhalb und außerhalb der Stadt betrieb. Wo er sich, wie dies mein Lehrer Hasse tat, von der Privatpraxis zurückhielt, da führte er meist ein dem größeren Publikum verborgenes Dasein. Ein charakteristisches Zeugnis für die Rolle, die im öffentlichen Leben die zugleich als Ärzte tätigen Kliniker spielten, war es dagegen, daß eines Tages, als die Berufung eines solchen nach auswärts die Universität bedrohte, eine feierliche Deputation der Heidelberger Hotelwirte bei dem Ministerium in Karlsruhe vorstellig wurde. Die dritte Gruppe der Dozenten wurde durch die in Heidelberg sehr zahlreichen Privatdozenten und jüngeren Extraordinarien gebildet, von denen sich die letzteren meist nur des Titels erfreuten, dabei aber auch von bestimmten Lehrverpflichtungen frei waren. Ihnen konnten noch einige ältere Extraordinarien zugezählt werden, die ebenfalls außerhalb des eigentlichen Lehrkörpers standen, aber diese Stellung als ein schweres Unrecht empfanden, das sie zu bleibenden Gegnern der bestehenden akademischen Ordnung machte. Wenn es je einmal vorkam -- was sehr selten geschah -- daß sich die Privatdozenten zur Erringung etwas größerer Rechte zusammentaten, so ermangelte dieses Korps der Unzufriedenen nicht, sich ihnen anzuschließen, und die jüngere Dozentenschaft pflegte ihnen dann viel zu gemäßigt in ihren Forderungen zu sein. Besonders einige Schüler des bekannten Philosophen Christian Krause, des lebenslänglichen Privatdozenten an verschiedenen Hochschulen, die in Heidelberg hängen geblieben waren, gehörten zu diesen Radikalen.
Zwischen den meisten Mitgliedern dieser dritten Dozentenklasse herrschte eine lebhafte Geselligkeit, durch die Sie sich wieder in mehrere Untergruppen teilte. Ich selbst gehörte einem solchen zwanglosen Verein von zehn bis zwölf Mitgliedern aller Fakultäten an, der seinen gemischten Charakter schon darin bekundete, daß er besonders aus Theologen und Naturforschern zusammengesetzt war. Zu ihm gehörten jahrelang meine speziellen Freunde Holtzmann und Hausrath, außerdem Emil Erlenmeyer, der Chemiker, Wilhelm Ahles, der Botaniker, Friedlich Eisenlohr, der Physiker, August Eisenlohr, der Agyptologe, u. a.. Auch einige nicht offiziell zur Universität gehörige Privatgelehrte, die durch in Heidelberg lebende berühmte Schriftsteller hierher gezogen waren, können als sporadische Teilnehmer dazu gezählt werden: so der bekannte Orientalist Martin Haug und der spätere Bonner Semitologe Camphausen, die Josias Bunsen bei seinem damals erscheinenden Bibelwerk unterstützten, ferner Siegfried Brie, der nun seit langen Jahren der juristischen Fakultät in Breslau angehört. Er stand damals Gervinus bei der Sammlung der Materialien zu seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts zur Seite und habilitierte sich zugleich bei der Heidelberger Juristenfakultät. Natürlich hatten sich zwischen einzelnen Mitgliedern dieser Vereinigung nähere Freundschaften gebildet. Eine solche verband mich, bis in die Zeit vor meiner Habilitation zurückgehend, besonders mit Holtzmann und Hausrath, mit denen ich mich gar mancher Wanderungen in Heidelbergs Umgebung erinnere. Später, als Holtzmann während einiger Zeit eine praktische Stellung in Badenweiler angetreten hatte, gab es einen Winter, in welchem ich mit Hausrath allein fast Tag für Tag um dieselbe Nachmittagsstunde im Lesezimmer des Museums zusammentraf, um den gleichen Bergspaziergang zu machen, an den unmittelbar meine Abendvorlesung über Anthropologie sich anschloß. In der letzten Heidelberger Zeit, in der Hausrath als Oberkirchenrat in Karlsruhe lebte, war in ähnlicher Weise Brie mein täglicher Begleiter.
War es ein an geselligem Verkehr reiches und geistig angeregtes Leben, dessen sich der Heidelberger Privatdozent in diesen Jahrzehnten nach der Mitte des Jahrhunderts erfreute, so konnte er sich dagegen nicht sonderlich wegen Überlastung durch Vorlesungen beschweren, und weitere akademische Pflichten gab es für ihn überhaupt nicht. Der Heidelberger Student pflegte nur die offiziellen Kollegia der Ordinarien zu besuchen, mit Ausnahme etwa einiger Nebenfächer, die für irgendein Examen vorgeschrieben waren. Auch ich fand, abgesehen von meiner ersten, infolge meiner Erkrankung mißglückten Vorlesung über Physiologie während einiger Jahre keine Gelegenheit, durch eine nicht bloß angekündigte, sondern wirklich gehaltene Vorlesung der Welt meine Befähigung zum Dozenten darzutun. Dennoch hatte ich mich sehr bald nach meiner Habilitation einer Pflicht unterzogen, die ich im Verlauf der nächsten Jahre als eine nicht unerhebliche Last empfand. Als Helmholtz im Frühjahr 1858 als Physiologe nach Heidelberg berufen worden war, meldete ich mich für die Assistentenstelle, die bei dem für ihn eingerichteten physiologischen Institut notwendig wurde und erhielt diese Stelle. Aber mit den Pflichten, die ich als Assistent übernehmen sollte, hatte es seine eigentümliche Bewandtnis. Weder ich noch, wie ich glaube, der neue Direktor wußte eigentlich, was ich als Assistent tun sollte. Am nächsten lag es ja, an eine Assistenz bei der Vorlesung zu denken. Aber der Demonstrationen, für die ohnehin Helmholtz meist keiner Hilfe bedurfte, und vollends der Experimente gab es nur wenige; eine zureichende Beschäftigung ließ sich daher daraus nicht gewinnen. Helmholtz deutete mir an, es sei vielleicht nützlich, wenn ich mich mit mikroskopischen Arbeiten beschäftigte, die ihm ferne lagen, und in diese etwa auch die Studierenden einführte. Leider lagen sie mir aber ebenfalls fern. Es fehlte mir durchaus die notwendige Übung, die auch für dieses Gebiet unentbehrlich ist, und meine Interessen gingen nach ganz anderen Richtungen: neben der Elektrophysiologie war es die Sinnesphysiologie, die mich in jenen Tagen lebhaft in Anspruch nahm, und es war nicht gerade glücklich, daß das im wesentlichen dieselben Gebiete waren, in denen in dieser Zeit auch Helmholtz arbeitete, der nach der ganzen Art seiner Arbeiten eine Assistenz bei denselben weder bedurfte noch wünschte. Aus dieser Verlegenheit half die badische Unterrichtsverwaltung in Karlsruhe. Sie hatte jährlich große Summen für chemische Laboratorien aufzubringen, nicht minder solche für physikalische und sonstige Institute der höheren Lehranstalten, und dieser Aufwand war überall an die Vorschrift gebunden, daß die betreffenden Studierenden diese Laboratorien während einiger Semester besuchten. Man hielt es daher in Karlsruhe für unbedingt geboten, daß ein so berühmter Physiologe wie Helmholtz ebenfalls sein Laboratorium erhalte, und zu diesem Zweck wurde nun plötzlich die Vorschrift erlassen, jeder Mediziner müsse künftig, um zum Staatsexamen zugelassen zu werden, das physiologische Laboratorium mindestens ein Semester lang besucht haben. Damit war in der Tat für den Assistenten reichliche Arbeit geschaffen, denn es strömte nun die ganze medizinische Fakultät von den Ältesten bis zu den Jüngsten mit einem Male herbei, um ein Praktikum der Physiologie zu nehmen, dessen Erteilung natürlich hauptsächlich die Aufgabe des Assistenten war. Freilich hatte sich die Behörde in Karlsruhe schwerlich die Frage vorgelegt, wie ein solches Praktikum beschaffen sein solle, und noch weniger, welchen Nutzen es etwa für die künftigen praktischen Ärzte habe, wenn diese lernten, die bekannten Experimente über das Zuckungsgesetz an Froschmuskeln anzustellen, Durchschneidungen einiger oberflächlich gelesener Nerven auszuführen, ein paar künstliche Verdauungsversuche zu machen usw.. In der Tat stellte sich die Überzeugung von der Nutzlosigkeit dieser Kurse sehr bald ein, ihr Besuch ließ daher allmählich nach, und ich selbst konnte mich der Erkenntnis nicht verschließen, daß die Einübung dieser doch eigentlich nur für den Physiologen bestimmten Experimente ein ziemlich überflüssiges Bemühen sei und dafür während der langen Vormittage von 8 bis 12 Uhr eine unverhältnismäßige Zeit in Anspruch nehme. Nachdem ich diese Kurse während einiger Jahre geleitet hatte, entschloß ich mich daher, meine Assistentenstelle aufzugeben und in den Kreis der von Lehrpflichten völlig befreiten Privatdozenten zurückzukehren Vor einigen Jahren hat ein bekannter amerikanischer Pädagoge eine Biographie von mir erscheinen lassen, die von Anfang bis zu Ende erfunden ist. Eines der schönsten Stücke dieser erdichteten Biographie besteht in der Erzählung, ich sei von Helmholtz zum Assistenten gewählt worden, um ihn in seinen mathematischen Arbeiten zu unterstützen, dann aber, weil meine mathematischen Kenntnisse nicht zureichend gewesen seien, von ihm wieder entlassen worden. Als ich einem deutschen Mathematiker dies erzählte, brach er über die Vorstellung, Helmholtz habe sich einen Assistenten gehalten, um seine mathematischen Arbeiten anfertigen zu lassen, in ein homerisches Gelächter aus. Sie entspricht dem Charakter von Helmholtz genau ebenso wie der Originalität der Arbeiten dieses großen Mathematikers.. Ich richtete mir in meiner Wohnung einige Zimmer als kleines physiologisches Institut für die Ausführung meiner eigenen Arbeiten ein und entschloß mich, einige physiologische Lehrbücher zu schreiben, um den Ausfall des kleinen Gehalts zu kompensieren, dessen ich mit der Niederlegung der Assistentenstelle verlustig ging. So ist mein »Lehrbuch der Physiologie des Menschen« und mein »Handbuch der medizinischen Physik« entstanden.
Unter den Naturforschern, die den Glanz der Heidelberger Hochschule nach der Mitte des Jahrhunderts ausmachten, war Hermann Helmholtz ohne Frage der hervorragendste. Seine Laufbahn vom Regimentsarzt zum Anatomen in Königsberg und Bonn, von da zum Physiologen in Bonn und Heidelberg, zum Berliner Physiker und endlich zum Präsidenten der technischen Reichsanstalt legt davon schon ein äußeres Zeugnis ab. Noch mehr tun dies seine wissenschaftlichen Arbeiten, die sich von früher Zeit an über alle jene Gebiete gleichzeitig erstrecken, und mit denen er sich vor allem durch zwei Leistungen, die in seine früheste Zeit fallen, durch die epochemachende physikalische Abhandlung über die Erhaltung der Kraft und durch die der Heilkunde ein neues Gebiet schaffende Erfindung des Augenspiegels unsterblichen Ruhm bereitet hat. Mit einem Manne von dieser vielseitigen Genialität mehrere Jahre lang beinahe täglich verkehren zu dürfen, ist ein Vorzug, der sicherlich nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Aber in diesem besonderen Fall besteht dieser Vorzug vielleicht weniger in dem Gewinn, der aus dem unmittelbaren wissenschaftlichen Verkehr mit diesem großen Naturforscher und Mathematiker geschöpft werden konnte, als in dem Licht, das derselbe auf den eigenartigen und, wie alles was er tat, bewundernswerten Charakter dieses seltenen Mannes fallen ließ. Helmholtz sprach einmal in meiner Anwesenheit über sein Verhältnis zu Johannes Müller, dem großen Lehrer der modernen exakten Physiologie. Müller hatte ihn zuerst zu seinem anatomischen Assistenten gewählt, dann hatte er ihn zur Professur der Anatomie nach Königsberg und wenige Jahre später nach Bonn empfohlen, von wo er seine folgende glänzende Laufbahn über Heidelberg angetreten. Der Empfehlung Johannes Müllers verdanke er daher, wie er selbst meinte, alle seine Stellungen; aber nie habe er mit Müller ein anderes Wort geredet als was der notwendigste geschäftliche Verkehr mit sich gebracht. Dieser Zug ist wohl für Helmholtz selbst nicht minder bezeichnend wie für Johannes Müller, ja vielleicht für jenen mehr als für diesen. Ich selbst habe ja wenige Jahre nacheinander das Glück gehabt, zuerst Müller und dann Helmholtz kennen zu lernen; aber ich müßte lügen, wenn ich leugnen wollte, daß mir von beiden Helmholtz im ganzen als der schweigsamere erschienen ist. Die Ursache wird wohl auf beiden Seiten liegen. Bei jedem von ihnen kam es darauf an, mit wem er verkehrte, und am schweigsamsten wird dieser Verkehr natürlich da abgelaufen sein, wo die zwei Schweigsamen zusammentrafen. In der Tat habe ich beide Männer in angeregtem Verkehr beobachtet und mich sogar selbst gelegentlich eines solchen erfreut, nur waren dies Ausnahmefälle, nicht, wie bei den mitteilsamen Charakteren, die ihr Herz und ihren Verstand auf der Zunge tragen, das gewöhnliche Verhalten. Von Helmholtz kann man vielleicht sagen, für ihn habe die Lebensregel gegolten, im Reden wie Handeln alles Überflüssige zu vermeiden. Da es nun im gewöhnlichen Tagesverkehr eine überaus große Zahl überflüssiger Gesprächsstoffe gibt, so fiel damit für ihn sehr vieles hinweg, was bei andern Menschen eine beträchtliche Zeit in Anspruch nimmt. Zu dem Überflüssigen gehörten dann bei ihm auch Mitteilungen über Gegenstände, die für andere zwar nicht ohne Nutzen gewesen wären, die er selbst aber doch für überflüssig hielt. So erinnere ich mich, daß Assistenten und ältere Mitarbeiter des Instituts wochenlang darüber berieten, was für einen Zweck wohl ein großer neu angeschaffter Apparat habe, dessen Bestimmung wir uns nicht zu enträtseln vermochten; Helmholtz selbst darüber zu befragen, wagte aber niemand. Daß diese Schweigsamkeit nicht Absicht, sondern natürliche Anlage war, das ließ sich jedoch aus anderen Fällen schließen, wo der Zusammenhang eine Mitteilung eigentlich gefördert hätte. So beschrieb er in einer seiner physiologischen Vorlesungen das sogenannte »Ophthalmometer«, einen Apparat, der zur Messung der Krümmungsradien der brechenden Medien des Auges, Hornhaut und Kristallinse, dient; aber er versäumte es, diesen Zweck mitzuteilen, so daß die Zuhörer den Assistenten nach Schluß der Vorlesung mit der Frage bestürmten, wozu denn eigentlich der Apparat bestimmt sei. Vor allem vermied er es, über seine eigenen Arbeiten zu reden. Sie blieben, wie man vermuten darf, auch für die ihm näher stehenden Kollegen bis zu ihrer Veröffentlichung ein Geheimnis. Zu der Ausführung einzelner Teile der größeren Werke, wie z. B. der physiologischen Optik, entschloß er sich offenbar auch erst im Laufe der Arbeit. So hatte er mir eines Tages gesagt, er werde vielleicht die Ausarbeitung der Lehre von den Gesichtswahrnehmungen ganz unterlassen; schließlich stellte sich aber heraus, daß dieser Teil der umfangreichste des Werkes wurde. Auch war nachträglich leicht zu bemerken, daß ihn gerade hier allmählich eine Frage zu der andern geführt hatte.
Höchst bemerkenswert waren übrigens in dem Verkehr, den Helmholtz mit Kollegen wie Schülern pflegte, die Unterschiede, die er zwischen verschiedenen Nationen machte. Im Vordergrund seiner Schätzung standen sichtlich die Engländer. Wie er unter den damals lebenden Naturforschern Clerk Maxwell und William Thomson besonders hochschätzte. So war es schon der englische Student, den er rücksichtsvoller als andere seiner Schüler behandelte. Er sprach selbst ein tadelloses Englisch. Eine Probe seiner Virtuosität in der Handhabung desselben habe ich bei einer in seinem Hause stattfindenden Aufführung einer Posse mit angesehen, bei der er einen das Deutsche radebrechenden Engländer darstellte. Er spielte die Rolle mit so überwältigender Komik, daß ihn schwerlich ein Komiker von Beruf übertroffen hätte. So schmolz überhaupt das Eis seiner Schweigsamkeit in dem ganz außerhalb der fachmäßigen Gelehrsamkeit liegenden geselligen Verkehr. Darum war es ihm aber auch wenig sympathisch, in solchem Verkehr, wie es der deutsche Gelehrte zu tun pflegt, wissenschaftliche oder künstlerische Fragen zu berühren. Der beliebteste Gegenstand im Helmholtz'schen Kreise war vielmehr das Lesen klassischer Dramen mit verteilten Rollen, das überhaupt damals in der älteren Heidelberger Professorengesellschaft eine große Rolle spielte. Es kam vor, daß ein Stück wie Don Carlos, das kaum Zeit genug übrig ließ, um im Zwischenakt eine Tasse Tee zu bewältigen, lückenlos vorgelesen einen langen Abend füllte. Dabei sagte man diesen Lesezirkeln nach, bei der Verteilung der Rollen werde in erster Linie die soziale Stellung berücksichtigt. Während also der Hausherr, der die Regie zu besorgen hatte, einem Geheimen Rat erster Klasse womöglich den Hamlet anbot, mußten sich einige als Lückenbüßer eingeladene Privatdozenten damit begnügen, etwa den Rosenkranz und Guildenstern zu übernehmen.
Nicht so unbedingt wie der Angehörige der englischen Nation, sondern mit Auswahl waren der Amerikaner und der Russe geschätzt. Hier war es nur jene Elite, die namentlich unter den Russen durch französische Bildung sich auszeichnete, welche in der Gesellschaft mindestens den Abkömmlingen deutscher Adelsgeschlechter gleichgestellt wurde.
Sind das alles charakteristische Züge, so würde man nun aber diese, wie ich glaube, gründlich mißverstehen, wenn man sie als absichtliche Bevorzugungen der Ausländer als solcher deuten wollte. Daß es Deutsche gibt, denen die englische Sitte mehr zusagt als die unsere, ist begreiflich. Diese Erscheinung hängt mit Gemüts- und Charaktereigenschaften zusammen, die sich der einzelne nicht willkürlich wählen kann, sondern die in ihn gelegt sind, und deren Betätigung dann weiterhin durch äußere Umstände begünstigt zu werden pflegt. Sie ist durch Unterschiede des nationalen Charakters bedingt, die jedem, der mit Angehörigen verschiedener Nationen verkehrt, entgegentreten, und die sich besonders innerhalb sonst übereinstimmender Lebenslagen geltend machen. So liebt der Engländer die Gastfreundschaft in möglichst zwangloser Form zu üben. Er läßt den Gast frei seiner Wege gehen, ohne ihm vorzuschreiben, womit er sich zu beschäftigen habe. Der Deutsche entwirft ihm womöglich einen Stundenplan und fühlt sich verpflichtet, ihm seine eigene Zeit zu opfern. Lebensfreundschaften zwischen Männern des gelehrten Berufs oder Künstlern gibt es eigentlich bloß in Deutschland. Sie setzen eine Gemeinsamkeit der Interessen und eine Anteilnahme an den persönlichen Erlebnissen und Schicksalen des Freundes voraus, wie sie nur zwischen ganz wenigen Individuen möglich ist. Bei dem Engländer tritt an die Stelle des persönlichen Freundes der Klub, dessen Mitglieder durch ganz allgemeine Neigungen zusammengehalten werden, von denen aber doch jedes eine gegen die andern streng abgegrenzte Persönlichkeit bleibt. Wie alle solche Charakteristiken, so hat natürlich auch diese nur einen durchschnittlichen, keinen allgemeingültigen Wert; mit diesem Vorbehalt kann man aber sagen: der Deutsche der höher gebildeten Stände hat wenige, aber innige Freunde, der Franzose viele, aber oberflächliche, der Engländer keine. Daneben ist jedoch die Freundschaft stets zugleich ein Erzeugnis des individuellen Affektes, und dieser ist es, der die nationalen Eigenschaften aufheben kann oder sich kreuzen läßt, so daß der Deutsche die fremde oder -- und das ist vermöge unserer Anpassungsfähigkeit wohl das Seltenere -- der Engländer die deutsche Sitte vorzieht.
Es war ein seltsames Geschick oder, vielleicht sollte ich sagen, ein Mißgeschick, daß, als ich in dem unter Helmholtz neu gegründeten physiologischen Institut als Assistent eintrat, beide, der Leiter des Instituts und sein Assistent, ein Interesse miteinander gemein hatten: das Interesse an dem Problem der Sinneswahrnehmung. Der Beginn seiner Heidelberger Wirksamkeit fiel für Helmholtz mit seiner vielleicht bedeutendsten, jedenfalls aber fruchtbarsten Zeit zusammen, in der er die beiden großen Werke über physiologische Optik und über die Lehre von den Tonempfindungen geschaffen hat. Mir lag noch aus meiner Zeit als klinischer Assistent die Untersuchung des Tastsinnes und im Anschluß an diese die Beschäftigung mit der Sinneswahrnehmung überhaupt vor allem anderen am Herzen. Doch so verwandt diese Interessen, so verschieden waren im Grunde die Motive, von denen sie geleitet wurden. Helmholtz hat es klar ausgesprochen, die Tendenz seiner Arbeiten, namentlich der zuerst unternommenen zur physiologischen Optik, sei neben der physiologischen Untersuchung des Sehprozesses insbesondere auch dies gewesen, die Theorie der Sinneswahrnehmung aus der Beschäftigung der Psychologen in eine Aufgabe der Naturwissenschaft umzuwandeln. Mir schwebte von Anfang an die Sinneswahrnehmung als ein psychologisches Problem vor Augen, und dieses Problem erweiterte sich bald zu einer die gesamte Psychologie umfassenden Aufgabe.
Die Theorie der Sinneswahrnehmung hat in der modernen Sinnesphysiologie eine höchst interessante Entwicklung zurückgelegt, die ihr charakteristisches Gepräge dadurch empfängt, daß sie mit einer streng physiologischen Auffassung der Erscheinungen beginnt, dann Schritt für Schritt zu einer Verbindung dieser mit psychologischen Hilfsbegriffen übergeht, um schließlich den ursprünglichen rein physiologischen Standpunkt vor dem Richterstuhl einer unbefangenen Kritik als einen unmöglichen darzutun. Indem dabei von den verschiedenen Physiologen die einen mehr bei der anatomisch-physiologischen Betrachtung zu verharren suchten, die anderen freigebiger mit den hinzugefügten psychologischen Ergänzungen verfuhren, konnte es jedoch geschehen, daß beide Theorien nicht mehr als Stadien einer und derselben Entwicklung, sondern als Gegensätze erschienen. So ist es gekommen, daß Helmholtz, der annähernd am Ende dieser von der physiologischen zur psychologischen Seite übergehenden Physiologen steht, zwei einander bekämpfende Theorien unterschieden hat, die er die »nativistische« und die »empiristische« nannte. Daß diese Umwandlung der Stufen der Entwicklung in Gegensätze höchstens teilweise zutrifft, erhellt aber bei näherem Zusehen daraus, daß der Nativismus ebensowenig gewisser psychologischer Hilfshypothesen wie der Empirismus der nativistischen Zugaben in Gestalt anatomisch-physiologischer Einrichtungen der Sinneswerkzeuge entraten kann. So führen z. B. Ernst Mach und Ewald Hering, die man gegenwärtig zu den extremsten Nativisten zu zählen pflegt, die Lokalisation eines gereizten Punktes der Netzhaut auf einen Akt des Willens, also auf eine psychische Handlung zurück, und Helmholtz, der Hauptvertreter der empiristischen Theorie, betrachtet die Netzhautelemente als die notwendigen anatomischen Substrate der räumlichen Gesichtsempfindungen.
Den Ausgangspunkt dieser Geschichte der neueren Sinnesphysiologie bildet Johannes Müllers genial entworfene »Nervenphysik«. Der Ausdruck ist kennzeichnend, weil er auf die Grundvoraussetzung hinweist, auf der Müllers mit strengster Folgerichtigkeit vertretene rein physiologische Auffassung der Sinnesfunktionen beruht. Die Empfindung ist nach ihm eine allgemeine Eigenschaft des Nervensystems. In den Sinnesnerven findet sie nur ihre besondere Ausprägung als spezifische Sinnesqualität. Die Mannigfaltigkeit der Sinne ist daher eine Folge der spezifischen physiologischen Energie der Sinnesnerven, die nach den verschiedenen Körperteilen differiert, dabei aber doch ein zusammengehöriges Ganzes darstellt, dessen Einheit auf der allgemeinen Eigenschaft der Nerven beruht, sich selbst zu empfinden. Zu dieser Eigenschaft gehört die räumliche Selbstauffassung aller Körperteile, aus der unmittelbar auch die räumliche Auffassung der Körperbewegungen hervorgeht. Der objektive Raum ist darum nichts anderes als eine Projektion der räumlichen Eigenschaften des eigenen Leibes in die Außenwelt, und Raumsinne sind nicht bloß der Tast- und der Gesichts-, sondern auch alle anderen Sinne, wahrscheinlich selbst der Gehörssinn, bei dem diese räumliche Selbstempfindung nur durch die Tonqualitäten zurückgedrängt erscheint. Was für den Raum, das gilt aber auch für die Zeit, die eine ähnliche unmittelbar an die Sinneselemente und in besonders intensivem Grade an die Muskelbewegung gebundene physiologische Funktion ist.
Diese Vorstellungen der Müllerschen Nervenphysik sind ein einflußreiches Vorstadium der modernen Sinnesphysiologie. Von ihren zwei Bestandteilen, der spezifischen Energie der Sinnesnerven und der Raum- und Zeitanschauung als extensiver körperlicher Energien, ist in der Tat der erste bis zum heutigen Tag für die meisten Physiologen maßgebend geblieben, und er wird sogar in der Regel, obgleich er offenbar nur ein unbestimmter Name für eine unbekannte Sache ist, für eine Erklärung oder sogar für die einzig mögliche Erklärung der Verschiedenheit der Sinnesqualitäten gehalten. Dagegen hat allerdings frühe schon die Beziehung von Raum und Zeit auf Energien des ganzen Nervensystems eine wesentliche Einschränkung erfahren, indem man den Raum ausschließlich dem Tast- und dem Gesichtssinn, die Zeit dem Tast- und dem Gehörssinn zuteilte. Daran hat sich dann die weitere Vorstellung geknüpft, daß der Tast- oder, wie ihn Johannes Müller nannte, der Gefühlssinn gegenüber den übrigen oder sogenannten Spezialsinnen in doppelter Beziehung die Bedeutung eines allgemeinen Sinnes besitze: erstens insofern er über den ganzen Körper verbreitet, und zweitens weil er nach seiner Entwicklung der ursprünglichste Sinn ist, der schon bei den niedersten Tieren besteht, während die Spezialsinne erst einer späteren Entwicklung angehören.
In dieser Richtung hat vornehmlich Ernst Heinrich Weber die physiologische Theorie der Sinneswahrnehmung weitergebildet. Aber während Johannes Müller sein System im wesentlichen noch ganz auf anatomische Betrachtungen und die mit ihnen verbundenen Begriffe der Sinnesenergien gegründet hatte, war es Weber, der zum ersten Male das physiologische Experiment für eine solche Systematik benutzte. Dies veranlaßte ihn, den Begriff der Sinnesenergie, den Müller bloß auf die Sinnesqualitäten angewandt hatte, auf die allgemeinen Eigenschaften der Nerven, insbesondere auf die Eigenschaft der räumlichen Auffassung, die er in erster Linie dem Tastsinn zuschrieb, auszudehnen und diesem den Druck- und den Temperatursinn der Haut als weitere spezifische Sinnesenergien hinzuzufügen. Maßgebend war für ihn bei dieser Unterscheidung der Energien des allgemeinen Sinnes nicht, wie für Müller, die Qualität der Empfindungen, sondern die Feinheit ihrer Funktionen in quantitativer Beziehung. Demnach zerfiel ihm der Tastsinn in drei Spezialsinne: den Drucksinn, den Temperatursinn und den Orts- oder Raumsinn. Hier hatte er schon im Jahre 1829 den wichtigen Unterschied ermittelt, daß der an der Feinheit der Unterscheidung von Gewichten gemessene Drucksinn und ebenso der an der Unterscheidung nach Graden der Temperaturskala bestimmte Temperatursinn an der ganzen Körperoberfläche nahezu übereinstimmen, während der nach der räumlichen Unterscheidung zweier voneinander entfernter Eindrücke an verschiedenen Stellen der Haut gemessene Ortssinn sehr große Unterschiede aufweist. Damit gewannen für ihn die verschiedenen Energien des Tastsinns eine wesentlich abweichende Bedeutung. Druck und Temperatur stellten sich ihm als allgemeine, allen Gefühlsnerven gleichmäßig zukommende Qualitäten dar, wogegen der Raumsinn als ein von Ort zu Ort abgestuftes System von Raumwerten aufgefaßt werden konnte. Der berühmte Zirkelversuch Webers, bei dem nach der Distanz zweier eben noch zu unterscheidender Zirkelspitzen die Feinheit des Ortssinns von ihm geschätzt wurde, bildete den Maßstab für diese Abstufung der Raumauffassung. Damit enthüllte sich aber auch der Ortssinn als der einzige unter den dem allgemeinen Tastsinn unterzuordnenden Spezialsinnen, der gewissermaßen als eine Selbstauffassung der Ausbreitung der Nerven im Sinne der Müllerschen anatomischen Theorie festgehalten werden konnte. Druck und Temperatur verwandelten sich in Energieformen, die allen Sinnesnerven gleichförmig zukommen sollten, die Lokalisation an einem bestimmten Ort wurde dagegen zu einem äußeren Ebenbild der im Gehirn vorauszusetzenden Verteilung der Tastnervenendigungen. Je eine solche Endigung nannte Weber einen Empfindungskreis, und die wesentliche Eigentümlichkeit des Raumsinns der Haut bestand ihm daher nach der ursprünglichen anatomischen Form seiner Theorie in der ungeheuren Verschiedenheit der Größe der Empfindungskreise, wonach diese z. B. an der Fingerspitze 2 mm, an Rücken und Oberschenkel 68 mm betrage. Das Wesen eines Empfindungskreises bestand ihm daher darin, daß ein solcher genau dem Verbreitungsgebiet einer Nervenfaser entspreche oder im Gehirn durch den Ursprungspunkt dieser Faser vertreten sei. Analog dachte er sich die Endigungen der Sehnervenfasern.
Gegen diese erste Form der Weberschen Theorie erhoben sich jedoch schwere Bedenken, da sie nicht begreiflich machte, wie in der Mitte und an der Grenze eines Empfindungskreises die Raumempfindlichkeit die gleiche war, und wie zwar jeder Punkt der Haut Druck- und Temperatur-, an den meisten Stellen aber nur in ziemlich weiten Abständen Raumunterschiede empfindet. Er änderte daher später die Theorie dahin ab, daß er erklärte, zur Auffassung von Raumunterschieden sei jedesmal eine unbestimmte Vielheit zwischen den Eindrücken liegender Empfindungskreise erforderlich, und auf die Zahl dieser letzteren sei zugleich die Übung von entscheidendem Einfluß. Denn mit zunehmender Übung vermindere sich die Zahl dieser zwischenliegenden Kreise. Hier mündet, wie man sieht, die anatomische direkt in eine empiristische Theorie. Wird doch nicht bloß in der Übung ein psychologischer Faktor von Weber eingeführt, sondern es wird von ihm eigentlich schon eine Art numerischer Abschätzung der für eine isolierte Raumempfindung erforderlichen Raumelemente vorausgesetzt.
Nun ist es bemerkenswert, daß diese Umwandlung einer rein anatomischen in eine empiristische Auffassung in allen späteren Theorien der Physiologen wiederkehrt. Die Rolle eines eigentümlichen Hilfsbegriffs bei dieser Umwandlung hat dabei ein Wort gespielt, das charakteristischerweise von einem Autor zuerst eingeführt worden ist der selbst genau eine Mittelstellung zwischen den Physiologen und Psychologen einnahm, nämlich von Hermann Lotze in seiner »Medizinischen Psychologie«. Das war der Begriff des »Lokalzeichens«. Dieses wurde von Lotze als irgend ein Hilfsmittel aufgefaßt, das den physiologischen Sinnesreiz in einen Raumwert umwandle. Als ein solches wurde er aber bereits von ihm dem Zwischengebiet entnommen, das in der herrschenden Physiologie und Psychologie die Bedeutung von Begriffen besaß, denen gleichzeitig ein physischer und ein psychischer Wert zugeschrieben wurde: den Sinnesempfindungen und den meist an solche gebundenen Bewegungen. Lotze meinte daher geradezu, es könne wohl, je nach Umständen, einmal eine Sinnesempfindung, und ein anderes Mal, z. B. speziell beim Auge, eine Bewegung des Organs die Funktion des Lokalzeichens übernehmen. War somit dieses von seinem Urheber gleichzeitig als ein physischer und ein psychischer Begriff gedacht, so bot es nun auch ebenso für die physiologischen Theorien die Möglichkeit, es als ein rein physisches, wie für die empirischen dasselbe als ein psychisches Hilfsmittel zu denken. Dieser doppelseitigen Anwendbarkeit verdankt der Begriff seine Verbreitung und den Beifall, den er in der folgenden Zeit innerhalb der sonst einander widerstreitenden Theorien gefunden hat. Als später die Physiologen die nativistische Auffassung geflissentlich wieder in den Vordergrund stellten, wie das vornehmlich von Ewald Hering geschehen ist, brauchten sie daher nur den unbestimmten Begriff des Lokalzeichens durch den einer unmittelbaren physiologischen Energie zu ersetzen, und ebenso konnten die Empiristen den Ausdruck leicht für den psychischen Akt adoptieren, der den Sinnesreiz in eine psychische Qualität oder, was damit zusammenfiel, in eine objektive Tatsache umsetze. Das lag um so näher, als die Auffassung der Sinnesempfindungen als Zeichen für äußere Gegenstände der Physiologie schon bisher geläufig war.
In der Tat war der Ausdruck, die Sinnesempfindungen seien Zeichen oder Signale, die uns die Kenntnis der in dem uns umgebenden Raum befindlichen realen Objekte vermitteln, seit alter Zeit ein Bestandstück der im gewöhnlichen Leben herrschenden und der diesem entnommenen vulgären Psychologie der Physiologen. Für sie ist eben dies maßgebend, daß die Empfindung als solche überhaupt keinen Wert besitzt, sondern diesen erst insofern gewinnt, als sie auf ein äußeres Objekt hinweist. Sie ist lediglich Hilfsmittel. Zunächst für den Menschen überhaupt, dann aber auch für den Naturforscher, um die Außenwelt zu erkennen. Wo irgend einmal die Frage gestreift wird, wie denn die Empfindung zu dieser Funktion eines Zeichens für ein ganz heterogenes Objekt komme, da lautet dann die Antwort, nicht in der Empfindung selbst, sondern in demjenigen Teil der Außenwelt, der diese Zeichenrolle vermittele, in dem Sinnesorgan liege dieselbe begründet, und die sogenannten nativistischen Theorien bestehen daher durchweg darin, daß man aus fest gegebenen Einrichtungen der peripherischen und zentralen Sinnesapparate diejenigen Eigenschaften der Sinnesempfindungen abzuleiten sucht, denen sie jene Objektivierung verdanken. Als die Vorgänge, die von dem Zeichen auf das bezeichnete Objekt hinweisen, gelten aber schon in der praktischen Vulgärpsychologie das Schließen und Urteilen. Noch heute pflegt die gewöhnliche Psychologie dieses in dem Sinnesorgan selbst lokalisierte Schließen, dessen Prämissen gewissermaßen die Empfindungen sein sollen, mit den bewußten logischen Prozessen zusammenzuwerfen. Da geschieht endlich ein weiterer Fortschritt, indem für die Sinneswahrnehmung der Begriff eines unbewußten Schließens eingeführt wird. In ihm liegt eigentlich schon das Eingeständnis, daß es in Wirklichkeit kein logischer Prozeß sei, sondern sich erst, wenn er als willkürliche Transformation eines Zeichensystems aufgefaßt wird, in einen solchen verwandle. Hier sind nun aber wieder zwei Auffassungen möglich. Die eine bleibt bei dem Begriff der Sinnesempfindung als eines Zeichens von unmittelbarer objektiver Bedeutung stehen: das ist die physiologische Auffassung, die von Helmholtz in verschiedenen Wandlungen durchgeführt worden ist, und die, weil Sie dem Begriff des Zeichens fortan eine reale Bedeutung beilegt, im Grunde bis zuletzt einen Nativismus in empiristischer Gewandung festhält. Die andere ist die psychologische, die von Anfang an sowohl die Sinnesempfindung wie ihre Objektivierung als psychische Prozesse von mehr oder weniger elementarer Beschaffenheit und damit den gesamten Wahrnehmungsvorgang als ein psychologisches Problem behandelt. In ihr hat demnach die Formulierung der Wahrnehmungsprozesse als unbewußter Schlüsse einen wesentlich anderen Sinn als in ihrer nativistischen Begründung durch den Begriff des Zeichens. Ist sie in dieser ein bloßer Hilfsbegriff der Physiologie, so wird sie in jener zu einem Versuch, die einfachsten psychischen Vorgänge, als welche die Sinneswahrnehmung anzusehen sind, als psychische nachzuweisen und damit innerhalb der Psychologie ihre Stelle anzuweisen. Demgemäß haben denn auch die beiden Formen, in denen hier und dort der Begriff des unbewußten Schlusses entwickelt worden ist, nicht nur von Anfang an eine verschiedene Bedeutung, sondern auch die Konsequenzen, zu denen er beidemal geführt hat, sind wesentlich voneinander abweichende. Auf die psychologische Wendung des Begriffs, die ich in meiner ersten Arbeit über die Theorie der Sinneswahrnehmung vertrat, werde ich unten zurückkommen. Hier haben wir zunächst die Auffassung von Helmholtz zu betrachten, die eine Art Abschluß der bis dahin erörterten physiologischen Wahrnehmungstheorien bildet. Im Hinblick auf diese verschiedene Bedeutung der logischen Einkleidungen der Wahrnehmungsvorgänge besitzt aber die weitere Entwicklung der Theorien ein allgemeineres Interesse für die Psychologie überhaupt. Hier bietet die empiristische Theorie der Physiologie der Sinne unverkennbar das Schauspiel einer allmählichen Selbstauslösung der Versuche, die Sinneswahrnehmung auf physiologischem Wege zu interpretieren, während die rein psychologische Theorie als ein Versuch sich darstellt, die elementaren psychischen Prozesse dem allgemeinen Zusammenhang des geistigen Lebens einzuordnen.
Die große wissenschaftliche Bedeutung der von Helmholtz entwickelten Theorie der Gesichtswahrnehmungen besteht darin, daß sie die geschichtliche Entwicklung der physiologischen Wahrnehmungstheorien gewissermaßen zu einem einheitlichen Ganzen gestaltet, indem sie selbst drei Stadien durchläuft, welche deutlich die Spuren der oben geschilderten Entwicklungsstufen der Sinnesphysiologie an sich tragen. Dabei besitzen diese Darstellungen den großen Vorzug, daß sie das Werk eines einzigen und noch dazu desjenigen Forschers sind, der gegenüber den konkreten Problemen der physiologischen Optik eine überragende Stellung einnimmt. Ihre Bedeutung liegt darum aber auch nicht zum wenigsten darin, daß gerade Helmholtz keineswegs an den einmal gefaßten Anschauungen eigensinnig festhielt, wie das sonst so oft zu geschehen pflegt, sondern fortan bemüht war, ebenso den im Laufe der Zeit wechselnden äußeren wissenschaftlichen Einflüssen wie dem Fortschritt seiner eigenen Arbeiten Folge zu leisten. Dadurch gewinnen die hierher gehörigen Schriften dieses Forschers einen durchaus originalen Charakter, der aber daneben für die Geschichte des Übergangs der rein physiologisch fundierten Theorie der Wahrnehmung in die entschieden psychologische kennzeichnend ist. In dieser Beziehung ist die Unbefangenheit anerkennenswert, mit der dieser große Physiologe seine ursprünglichen Anschauungen teilweise aufgab und durch neue, den Zeitverhältnissen und namentlich auch den philosophischen Einflüssen derselben besser angepaßte ersetzte. Einen bemerkenswerten Unterschied bildet dabei übrigens auch der mehr oder weniger populäre oder der streng wissenschaftliche Zweck der verschiedenen Darstellungen.
Mit Rücksicht auf dieses letztere Motiv kann als die getreueste Wiedergabe des Ausgangspunktes und damit des ersten der oben erwähnten Stadien der Entwicklung die in den populären Schriften vom Jahre 1871 erschienene, aber wesentlich früher entstandene Arbeit über die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens betrachtet werden. Denn sie ist ihrem Inhalte nach offenbar eine Zusammenfassung der Anschauungen, von denen Helmholtz ursprünglich selbst ausgegangen war. Ist es doch diejenige seiner Darstellungen, deren Grundlage die beiden für ihn charakteristischen Punkte enthält: die Annahme eines unbewußten Schließens als des Motivs der Wahrnehmung und die Auffassung der Empfindungen als der Zeichen für eine objektive Existenz der Wahrnehmungsinhalte. Negativ kennzeichnend für dieses Stadium ist zugleich der Verzicht auf jede Erkenntnis des Raumes als solchen, indem dieser entweder unmittelbar mit Kant als a priori gegeben oder vom empiristischen Standpunkt aus als eine ursprünglich dem Tastsinn zukommende und dann auf den Gesichtssinn übertragene Eigenschaft angesehen wird. Dafür soll erstens die größere Einfachheit der Verhältnisse des Tastsinns gegenüber dem Gesichtssinn sprechen, vor allem aber auch die Tatsache, daß es Blindgeborene gibt, Menschen also, die niemals gesehen haben, und doch räumliche Wahrnehmungen besitzen, während das Umgekehrte, ein räumliches Sehen ohne gleichzeitige räumliche Tastwahrnehmungen niemals vorkommt. Damit bleibt der Physiologie des Sehens dem Wahrnehmungsproblem gegenüber nur die Aufgabe, die Eintragung der Gesichtsempfindungen in die durch den Tastsinn entstandene räumliche Ordnung zu vermitteln.
Gegenüber dieser einfachsten Form der empiristischen Theorie ist nun die in der ersten Auflage der physiologischen Optik vom Jahre 1866 eine viel verwickeltere. Sie bezeichnet ein zweites Stadium, in welchem neben den angegebenen Motiven, die im wesentlichen unverändert beibehalten werden, andere, aus philosophischen Einflüssen stammende mit berücksichtigt sind. Diese philosophischen Einflüsse kommen aber aus verschiedenen Ouellen und sie stehen daher eigentlich im Widerstreit miteinander. Auf der einen Seite substituiert der Verf. dem Kantischen a priori des Raumes der Anschauung das ebenfalls Kantische a priori des Begriffs der Kausalität. Daß Helmholtz hier etwas von dem Schritt gewußt habe, den im gleichen Sinne bereits Schopenhauer getan, ist ausgeschlossen; er hat bis zuletzt Schopenhauer nicht gekannt, was sich aus der späten Verbreitung der Schopenhauer'schen Philosophie überhaupt erklärt, wie schon oben bemerkt wurde. Um so bezeichnender ist die unabhängige Entstehung des gleichen Gedankens bei zwei so verschiedenen Autoren dafür, daß diese mißbräuchliche Übertragung des Kausalbegriffs auf ein ihm heterogenes Problem ein dem populären psychologischen Denken an sich naheliegender Zug ist. Auch ist es charakteristisch, daß Helmholtz diese Apriorität des Kausalbegriffs einführt, um damit eine positive Erklärung für die Objektivierung der Empfindungen zu gewinnen, was er ursprünglich als außerhalb der Physiologie liegend abgelehnt hatte. Doch neben Kant ist es noch ein zweiter Philosoph, den er herbeizieht: es ist der in der gleichen Zeit in der deutschen Naturwissenschaft zu hohem Ansehen gelangte John Stuart Mill. Er bildet freilich gerade bei diesem Problem den diametralen Gegensatz zu Kants Apriorismus, der, wenn ihn auch Kant selbst hinsichtlich dieser Verwendung des Kausalbegriffs nicht teilt, doch jedenfalls im Geiste desselben gedacht ist. Mill dagegen, der überall den logischen Begriffen psychologische Anschauungen unterschiebt, erkennt die Existenz apriorischer Begriffe überhaupt nicht an, sondern er verwandelt sie durchgängig in empirische Vorstellungen, die, wo sie von allgemeinerer Beschaffenheit sind, in der Induktion oder, was für ihn mit dieser zusammenfällt, in Analogieschlüssen ihre Ouelle haben. Demnach macht auch Helmholtz von einem solchen Analogie- oder angeblichen Induktionsschlusse Gebrauch, um die Objektivierung der Sinneseindruck zu erklären. Wenn wir, so lautet das für diese Operation charakteristische Beispiel, auf das Auge am Nasenwinkel einen Druck ausüben, so projezieren wir die entstehende Lichtempfindung nicht auf dieselbe, sondern auf die entgegengesetzte Seite, also in den auf der Schläfenseite des Auges liegenden Raum. Diese Lokalisation ist von uns unter Führung des Tastsinns hundertfältig geübt worden, und sie wird daher weiterhin in der gleichen Weise auch dann geübt, wenn ihr der Tastsinn nicht helfend zur Seite steht. So treffen hier, wie man sieht, ein aprioristisches und ein empiristisches Motiv im selben Resultat zusammen: wir verlegen den Eindruck nach außen unter der Führung des apriorischen Kausalprinzips, und wir orientieren ihn nach der entgegengesetzten Seite des Raumes infolge einer empirischen Analogie oder Induktion.
Sind es gemischte Motive, apriorische und empirische, die in dieser zweiten Periode der Theorie zusammenwirken, so ist es nun ein völlig neuer Standpunkt, den Helmholtz in der dritten, endgültigen einnimmt. Es ist die zweite Auflage der physiologischen Optik, die ihn zu dieser Neubearbeitung veranlaßt hat. Sie ist im Jahr 1885 geschrieben, aber erst 10 Jahre später nach seinem Tode erschienen. Hier kehrt er insofern zu seinem Ausgangspunkte zurück, als er die Einmengungen psychologischer Erwägungen gänzlich zurückweist, um bloß die physiologische Seite des Problems zu erörtern. Zu diesem Zweck scheidet er prinzipiell im Anschluß an Kant das ausschließlich der Psychologie überlassene Gebiet des »inneren Sinnes« von den äußeren Sinnen, mit denen es die Physiologie allein zu tun habe, und für dieses Gebiet kommt nur das experimentelle Material der physiologischen Forschung in Betracht. Demnach fallen hier die früher benutzten unbewußten Schlüsse ebenso wie der für die Projektion noch außen herangezogene Kausalbegriff hinweg. Allerdings bleibt ein Rest psychologischer oder logischer Betrachtung insofern bestehen, als die Notwendigkeit der gelegentlichen Heranziehung der Vorstellungsassoziationen anerkannt wird, die dann freilich in der wirklichen Durchführung die dominierende Rolle spielen. Immerhin ist der Physiologie jetzt dadurch die Herrschaft gesichert, daß der Verf. ausschließlich das Material seiner vorangegangenen experimentellen Arbeiten berücksichtigt. Was diese Experimente über das Zustandekommen unserer Vorstellungen von der Existenz, der Form und der Lage äußerer Objekte lehren, das allein wird als die Aufgabe der Physiologie anerkannt. Insbesondere sind es zwei Bestandteile der Gesichtsvorstellungen, die dabei in Betracht kommen: der eine soll in der Lokalisation der Eindrücke, der andere in der Richtung des Sehens bestehen. Für die erste benutzt Helmholtz jetzt ausschließlich den Begriff eines den Netzhautelementen inhärierenden Lokalzeichens, für die Richtung des Sehens nimmt er die bei den Stellungen und Bewegungen des Auges wirksamen »Innervationsgefühle« in Anspruch. Beide sind nach ihm völlig voneinander unabhängige Faktoren der Wahrnehmung, und auf dieser Unabhängigkeit beruhen wesentlich die beiden Erscheinungen, die uns über die physiologische Seite des optischen Wahrnehmungsproblems Rechenschaft geben. Die eine dieser Erscheinungen besteht in den Sinnestäuschungen, die andere in den individuellen Unterschieden der Lokalisation. Eine Sinnestäuschung tritt unabweislich dann ein, wenn zwischen der Lokalisationsvorstellung und der Richtungsvorstellung Abweichungen vom gewohnheitsmäßigen Sehen stattfinden. Dies geschieht z. B. wenn ein Schielender die Lokalempfindungen des rechten und linken Auges mit den Richtungen beider Augen verwechselt: er sieht dann statt des erhabenen ein vertieftes Relief und umgekehrt. Individuelle Abweichungen in den normalen Gesichtsbildern entstehen dann, wenn gewisse Konstanten der Wahrnehmung vermöge individuell abweichender Gewohnheiten in verschiedener Weise sich ausbilden. Dahin gehören z. B. die individuellen Verschiedenheiten der sogenannten Primärstellung der Augen, d. h. derjenigen Stellung, von der aus bei der Bewegung keine Raddrehung derselben gegeneinander eintritt, ein Verhältnis, das auf die gewohnheitsmäßige Höhenlage der Augen zurückzuführen sei. Man muß anerkennen, daß in dieser letzten Fassung der Theorie diese ganz auf den Tatsachen der physiologischen Optik selbst aufgebaut erscheint; aber es ist ebenso unverkennbar, daß dabei überall zugleich die physiologischen Faktoren als die Elemente von Assoziationen und Reproduktionen der Empfindungen verwendet werden, und zwar bilden diese nicht bloß gelegentliche Aushilfen, wie sie genannt werden, sondern beim Lichte besehen sind sie überall die im stillen herbeigezogenen psychischen Motive, ohne die ja überhaupt keine Vorstellung zustandekommt.
In diesem letzten Stadium ihrer Entwicklung hat sich nun aber offenbar die Selbstauflösung der empiristischen Theorie vollendet, nachdem die rein physiologische Interpretation unter Verzicht auf alle psychologischen oder philosophischen Hilfsbegriffe noch einmal den Versuch gemacht hat, aus den Tatsachen der Sinnesempfindung und ihren von physiologischen Gesetzen bestimmten Zusammenhängen die Gesichtsvorstellungen abzuleiten. Hatte der Ausdruck unbewußtes Schließen, von dem die Theorie ausgegangen war, im Hinblick auf den Mangel einer jeden näheren Definition dieses Schlußprozesses nur die Bedeutung einer unbestimmten Anweisung an die Psychologie, die dies zu besorgen habe, so war diese Lage durch die spezielle Übertragung dieser Pflicht an den Tastsinn nicht gebessert worden, so lange demselben nur die allgemeinere und einfachere Natur seiner Funktionen zur Seite stand. Noch weniger konnte die Berufung auf die Blindgeborenen aushelfen, da hierbei außer Betracht blieb, daß der Raumsinn der Blinden nicht nur sehr viel langsamer sich entwickelt als der Gesichtssinn, sondern daß auch die räumlichen Vorstellungen beider Sinne in den Tast- und in den Lichtempfindungen auf völlig verschiedenen Substraten sich aufbauen. Zudem fällt ins Gewicht, daß derjenige Blinde, der über Erinnerungen an räumliche Gesichtsbilder verfügt, regelmäßig seine Tasteindrücke mit den entsprechenden Gesichtsvorstellungen assoziiert, während diese keineswegs der Assoziation mit den Tasteindrücken zu ihrer Lokalisation bedürfen. Ebenso ist in der zweiten Form der Theorie die Umkehrung der Sehrichtung beim Druck auf das Auge offenbar keine Wirkung der Lokalisation des Tasteindrucks, sondern diese Interpretation ist eine Umkehrung der wirklichen Verhältnisse die optische Vertauschung der Sehrichtung folgt nicht der Lage des tastenden Fingers, sondern die Lichtempfindung, die dieser Druck erregt, folgt dem allgemeinen Gesetz der Lokalisation der Lichtreize. Und wenn die Lokalisation nach dem Tasteindruck genügte, so würde die außerdem angenommene Subsumtion unter das Kausalgesetz eine überflüssige apriorische Zugabe sein; denn, wenn der Gesichtssinn an und für sich schon die Fähigkeit hat, seine Eindrücke nach außen zu projizieren, so bedarf er der Beihilfe des Tastsinns überhaupt nicht. Endlich der Ersatz der Kausalität durch die empiristischen Begriffe der Assoziation und Reproduktion im letzten Stadium der Theorie ist wiederum eine Anleihe bei der Psychologie, wobei die Existenz räumlicher Vorstellungen bereits vorausgesetzt wird. Kann doch eine Sinnestäuschung durch verkehrte Assoziation der Eindrücke nur entstehen, wenn eine normale Sinnesvorstellung vorhanden ist, welche ihr vorausgeht; und eine Verschiedenheit bestimmter Vorstellungen infolge des Einflusses der Gewohnheit kann es nur geben, wenn irgendwelche Vorstellungen schon vorhanden sind, die diesem Einfluß Folge leisten. So führt die empiristische Theorie, welche Wege sie auch einschlagen mag, mit innerer Notwendigkeit auf einen nativistischen Ausgangspunkt zurück, indem sie eine ursprüngliche, nicht weiter abzuleitende Erfahrung voraussetzt, welche die Grundlage aller weiteren Erfahrungen bildet, die demnach nur in Verbindungen und Umwandlungen solcher ursprünglicher Inhalte bestehen. Gegenüber den unzulänglichen Hilfsmitteln, deren sich der Empirismus bedient, gibt es daher schließlich nur einen einzigen Weg, auf dem diesem Mangel abzuhelfen ist: das ist die psychologische Analyse der Raumvorstellung als solcher. Um zu erkennen, wie sich einzelne empirische Raumvorstellungen bilden, müssen wir wissen, wie der Raum überhaupt als Funktion unseres Bewußtseins entsteht. Damit enthüllt sich das Problem der Sinneswahrnehmung nach allen diesen vergeblichen Versuchen, ihm von anderen Seiten her beizukommen, als ein psychologisches, das, wie es selbst eine psychologische Analyse fordert, so mit innerer Notwendigkeit die Berücksichtigung des gesamten Inhaltes psychologischer Erfahrungen nötig macht.
Als ich im Winter 1856 in der Heidelberger Klinik Untersuchungen über die Veränderung der Tastempfindung bei Gelähmten anzustellen begann, war meine Absicht zunächst nur darauf gerichtet, den Weberschen Zirkelversuch bei Personen mit verminderter Tastempfindung der Haut zu wiederholen, und selbstverständlich erwartete ich von vornherein, überall an den anästhetischen Stellen eine entsprechende Vergrößerung der sogenannten Empfindungskreise zu finden. Dies bestätigte sich im allgemeinen; es stellte sich aber noch ein anderes Resultat heraus, das nicht in gleicher Weise mit Sicherheit zu erwarten, sondern im Gegenteil durch die Regelmäßigkeit, mit der es beobachtet wurde, nahezu überraschend war. Es bestand darin, daß stets die Reize falsch lokalisiert wurden, und zwar in dem Sinne, daß der Patient die Eindrücke an eine der wirklich betasteten benachbarte Stelle von normalerweise verminderter Empfindlichkeit verlegte. Am augenfälligsten ergab sich dieses Resultat bei der sehr häufig vorkommenden Anästhesie der unteren Extremitäten, bei denen im normalen Zustand der Fuß, der Unterschenkel und der Oberschenkel Stellen von abnehmender Empfindlichkeit sind, daß also die letztere am Oberschenkel am kleinsten ist, dann am Unterschenkel zunimmt und endlich am Fußrücken und namentlich an den Zehen den relativ höchsten Wert erreicht. Demnach stellte sich heraus, daß Eindrücke auf den Unterschenkel zur Unterscheidung eine Zirkeldistanz erforderten, die der gewöhnlich am Oberschenkel beobachteten ungefähr gleichkam, Eindrücke auf den Fuß derjenigen am Unterschenkel. Aber nicht bloß dies, sondern es wurde außerdem der Eindruck auf den Unterschenkel am Oberschenkel, der Eindruck auf den Fuß am Unterschenkel und zuweilen sogar noch höher oben am Oberschenkel lokalisiert. Neben dieser Lokalisation an einer benachbarten und zwar meist an der nächstbenachbarten unempfindlicheren Stelle ergab sich aber noch eine weitere Erscheinung, die geeignet war, Licht auf diese Beobachtung zu werfen. Sie bestand darin, daß der Eindruck bei dem Patienten mit einem Erinnerungsbild des Gesichtssinns verbunden zu sein pflegte, welches genau der falschen Lokalisation entsprach. Der Patient verlegte nicht nur den Eindruck an die falsche Hautstelle, sondern er glaubte im Erinnerungsbild des Gesichtssinns, das sich mit dem Eindruck verband, diese falsche, nicht die wirklich berührte Hautstelle zu sehen.
Aus diesen Ergebnissen ließen sich zwei Schlüsse ziehen. Erstens machte es jene Regelmäßigkeit in der Richtung der falschen Lokalisation im höchsten Grade wahrscheinlich, daß es die Qualität der Tastempfindung sei, welche die Lokalisation vermittle, da nur dann die Substitution einer benachbarten Stelle von geringerer Empfindlichkeit für die gereizte begreiflich wird, weil die benachbarten Eindrücke in ihrer Qualität immerhin einander am ähnlichsten sind, obgleich sie deutliche Gradunterschiede der Empfindlichkeit erkennen lassen. Zweitens wird durch die Assoziation des Eindrucks mit einem entsprechend veränderten Erinnerungsbild des Gesichtssinns die verbreitete Annahme der Physiologen widerlegt, nach der die Gesichtsbilder von den Tasteindrücken ihre Orientierung empfangen sollen. Vielmehr stellt sich das Umgekehrte heraus: der Tasteindruck empfängt seine deutliche Lokalisation durch das begleitende Gesichtsbild, nicht das Gesichtsbild durch den Tasteindruck. Dem entspricht es, daß auch bei normalem Verhalten in dem regelmäßigen Zusammenwirken beider Sinne der Gesichtssinn offenbar die führende Stellung einnimmt, so daß die an sich unbestimmte Qualität des Tasteindrucks erst durch die Assoziation mit dem Gesichtsbild, die von ihm wachgerufen wird, eine deutlichere Vorstellung der gereizten Stelle erweckt. Damit stimmt es überein, daß sich beim Kinde, wie man leicht beobachten kann, die Orientierung des Auges bei der Fixation der Objekte früher entwickelt als die der Tastorgane, die noch längere Zeit, nachdem das Auge fixieren gelernt hat, eine auffallende Unsicherheit bewahrt. Wenden wir den Ausdruck Lokalzeichen auf die von dem Ort des Eindrucks abhängige Qualität der Tastempfindung an, so vermittelt also dieses Lokalzeichen dadurch, daß es ein optisches Erinnerungsbild der berührten Hautstelle erweckt, die bestimmte Lokalisation des Tastendrucks, nicht aber umgekehrt dieses letztere eine ihr erst folgende Fixation und dadurch die Lokalisation des Gesichtsbildes. Hiergegen bildet die frühe Entwicklung des Tastsinns in der Tierreihe und demzufolge auch wahrscheinlich innerhalb der fötalen menschlichen Lebensperiode keinen Einwand, weil sie gänzlich außerhalb des Zusammenwirkens beider Sinne während des selbständigen Lebens liegt, bei welchem vielmehr das rapide Übergewicht in die Augen fällt, das sehr bald der Gesichts- über den Tastsinn gewinnt. Es spricht sich endlich auch darin aus, daß die stellvertretende Funktion des Tastsinns bei Blindgeborenen ein in ein weit späteres Lebensstadium fallender Vorgang ist, der, wie er aus einem qualitativ verschiedenen Empfindungsmaterial sich aufbaut, so auch dauernd einen qualitativ völlig abweichenden Inhalt bewahrt. Wie zwischen beiden disparaten Raumanschauungen, der des Sehenden und der des Blindgeborenen, gleichwohl übereinstimmende räumliche Ordnungen der abweichenden Elemente entstehen, das ist daher eine sekundäre Frage, die mit dem Problem der räumlichen Gesichtswahrnehmungen an sich nichts zu tun hat.
Hiernach ist nun aber dieses Problem auf die selbständige Funktion des Sehorgans gestellt, es kann nicht einem anderen Sinn zugewiesen werden, und sollte dieser irgendwo eine Mithilfe leisten, so würde eine solche nichts ausrichten, wenn das Auge nicht selbst schon die Macht in sich trüge, den Raum geradeso wie die Lichtempfindungen, an die er unwandelbar gebunden ist, mit diesen in die umgebende Welt hinauszutragen. Aus welchen in ihm selbst liegenden Anlagen entnimmt aber der Gesichtssinn diese Fähigkeit, die nur eine gewordene, keine ursprünglich gegebene sein kann, weil sie ein wesentlicher Bestandteil der seelischen Entwicklung überhaupt ist, für die nur die Anlage, nicht der fertige Besitz das überall maßgebende Kriterium bildet?
Dies war die Frage, die ich mir durch den Kopf gehen ließ, als ich an einem Frühlingsmorgen des Jahres 1858 auf einem Waldpfad des Gaisbergs bei Heidelberg dahinwanderte und mir die vergeblichen Bemühungen der Physiologen vergegenwärtigte, dieser Frage durch allerlei äußere Anlehen bei angeborenen Begriffen oder bei anderen Sinnesorganen näher zu kommen. Zwei Hilfsmittel waren es vor allem gewesen, die hier schon in der älteren Psychologie nebeneinander und im Kampf miteinander eine Rolle gespielt hatten. Auf der einen Seite hatte man in den Netzhautelementen oder noch früher, als diese noch unbekannt gewesen waren, in den Lichtempfindungen selbst das subjektive Substrat des Raumes gesehen, das mit allen anderen Empfindungen unmittelbar in die Außenwelt projiziert werde. Auf der andern Seite hatte man den Bewegungen des Auges gleich denen der sonstigen Körperteile die Eigenschaft zugeschrieben, aus dem Bewußtsein als ein objektives Erlebnis hinausverlegt und so als der dem Subjekt gegenüberstehende Raum angeschaut zu werden. Beide Hilfsmittel waren dann auch von den neueren physiologischen Theorien herbeigezogen worden, zunächst indem man zwischen beiden wählte, dann indem man, wie dies schließlich in der Helmholtz'schen Theorie geschah, zwei Sehfunktionen, die Ordnung des Nebeneinander und die Richtung des Sehens, unterschied, die fortan unabhängig an dem Aufbau des Raumes beteiligt sein sollten, die aber gerade wegen dieser disparaten Natur der beiden Begriffe Lage und Richtung offenbar die Vorstellung des Raumes selbst, aus dessen Analyse sie entstanden waren, bereits voraussetzten.
So erhob sich die weitere Frage: sind denn Lage und Richtung wirklich unabhängige Bestandteile der Gesichtswahrnehmung und sind sie nicht untrennbar zusammengehörige Elemente des Sehens, die in Wirklichkeit niemals gesondert voneinander existieren können, vielmehr eben als eine solche ursprüngliche synthetische Einheit den Raum selbst konstituieren, aus dessen in der Anschauung gegebener Einheit wir erst beide Begriffe gewinnen? Es ist dieselbe Verwechslung von Annschauung und Begriff, die in der Philosophie eine verhängnisvolle Rolle gespielt und auf die physiologischen Theorien ihre Schatten geworfen hat. Anschauungen werden für Begriffe, Begriffe für Anschauungen genommen. Die Anschauung ist aber immer das primäre, und Anschauungen können wir darum ebensowenig aus Begriffen wie umgekehrt Begriffe aus Anschauungen zusammensetzen. Mit Recht hat Kant den Raum eine Anschauung genannt. Doch ist er eine solche immer nur als das konkrete anschauliche Vorstellen, nicht als eine abstrakte Einheit, nicht als eine Form, die sich erst in konkrete Räume zerlegen läßt. Vielmehr sind diese konkreten Räume das allein Wirkliche, das wir dann wieder durch die Synthese des Einzelnen in ein begriffliches, niemals selbst anschauliches Ganzes verwandeln. In diesem Sinne ist der Raum anschaulich und begrifflich zugleich: aus einzelnen in der Anschauung gegebenen Räumen setzt er sich zusammen, als ein aus einer synthetischen Operation entstandenes Ganzes ist er Begriff. Wie dieser Totalbegriff des Raumes auf einer synthetischen, so beruhen dann alle die näheren Bestimmungen, die wir auf die einzelnen Raumvorstellungen oder auf den Raum als Ganzes anwenden, wiederum auf einer begrifflichen Analyse, und sie selbst sind darum Begriffe, nicht Anschauungen. In diesem Sinne sind die drei Dimensionen des Raumes und nicht minder Lage und Richtung begriffliche Faktoren der Anschauung, nicht selbst Anschauungen. Wenn wir von der Wahrnehmung der Lage eines Punktes reden, so liegt daher diesem Ausdruck, sobald wir ihn als eine Anschauung verstehen, immer auch eine Richtungsvorstellung zugrunde, und nicht minder schließt der Ausdruck Richtungsvorstellung zugleich eine Lagevorstellung oder einen Zusammenhang von Lagevorstellungen ein. Alle diese Bestandteile können erst isoliert gedacht werden, indem wir sie aus der Einheit der Anschauung begrifflich aussondern. Darum kommt nun aber auch dieser Verbindung der Begriffe in unseren Vorstellungen eine Eigenschaft zu, die allen Elementen fehlt, in die wir sie begrifflich zerlegen, und die in diesem Sinne einen schöpferischen Charakter besitzt. Sie ist in Wahrheit die Grundvoraussetzung alles psychischen Geschehens, ohne die alle weiteren Vorgänge desselben, bei denen die schöpferische Natur des geistigen Lebens immer und immer auf höheren Stufen wiederkehrt, unverständlich bleibt. Als eine Neuschöpfung, nicht bloß als eine Verbindung von Vorgängen, wie solche Verbindungen schon in der unorganischen Natur vorkommen, offenbart sich alles psychische Geschehen von Anfang an. Es entsteht nicht bloß erst in der menschlichen Seele, sondern es bereitet sich in dem tierischen und, nur mit eigenartigen Abänderungen, in dem pflanzlichen Leben vor. Darum ist die organische Welt nicht, wie die einseitig mechanistische Physiologie annimmt, eine für sich bestehende und mit einem plötzlichen Sprung die Kluft zwischen dem Organischen und dem Geistigen überschreitende Entwicklung, sondern beide zusammen bilden eine und dieselbe Entwicklung, innerhalb deren nur infolge der fortan sich wiederholenden Synthesen ihrer Bestandteile bestimmte Stufen Neuschöpfungen darstellen, die den Charakter des plötzlichen, noch nie in dem Vorangegangenen vorhanden gewesenen Geschehens annehmen. Sie verlieren aber diesen Charakter in dem Maße, als sie in die Totalität des Zusammenhangs beider Seiten, des physischen und des psychischen, eingereiht werden. Darum gibt es keine im wahren Sinn organische ohne eine mit ihr zur Einheit verbundene geistige Welt, ebensowenig wie es eine geistige ohne eine organische physische Welt gibt. Aus diesem Grunde ist nun über auch der Begriff eines »psychophysischen Parallelismus«, wenn er, wie üblich, als eine Zweiheit von Gliedern verstanden wird, deren jedes nach dem andern orientiert sein soll, völlig unhaltbar, wenn man die wirkliche Einheit des organischen und des geistigen Lebens begreifen will. Die schöpferische Natur dieses Zusammenhangs tritt dagegen klar zutage, wenn man bedenkt, daß keine jener beiden Seiten jemals in irgendeiner Anschauung für sich allein besteht, sondern daß diese Isolierung wiederum nur das Resultat der Zerlegung eines in der Anschauung Gegebenen, also des Produktes einer schöpferischen Synthese in Begriffe ist, die als solche der Anschauung entzogen sind.
Kehren wir nun von diesem Blick auf das Ganze des organisch-geistigen Lebens zum psycho-physischen Anfang desselben, zur Empfindung und zu der in der Anschauung mit allen Empfindungen verbundenen räumlichen Wahrnehmung zurück, so gibt es unter den mannigfachen Begriffen, in die sich diese Wahrnehmung gliedern läßt, wie Lage, Richtung, Dimension, einen einzigen, der den anderen gegenüber als ein fundamentaler betrachtet werden muß: das ist der Begriff der Dimension. Daß der Raum aller unserer Wahrnehmungen, mögen Sie nun nach ihrem Empfindungssubstrat dem Tast- oder dem Gesichtssinn oder infolge ihrer Assoziationen mit den anderen Sinnesempfindungen einem dieser letzteren angehören, drei Dimensionen hat, das ist eine unzerstörbare Tatsache der Anschauung. Unzerstörbar ist sie aber nicht, weil sie etwa selbst im eigentlichen Sinne in der Anschauung gegeben ist, sondern weil die Anschauung zwar als schöpferische Synthese die Unendlichkeit aller möglichen Raumdimensionen zumal enthält, dabei jedoch zwei Grenzbegriffe als allgemeine Forderungen mit sich führt, deren einer in der abstrakten Isolierung der einzelnen Dimension als eines nicht weiter zerlegbaren Begriffs, der andere in der Dreiheit der in jeder einzelnen Raumanschauung enthaltenen Dimensionen besteht. Der fundamentale Charakter der Dimension gegenüber den sonstigen Wahrnehmungsbegriffen offenbart sich aber hier darin, daß diese stets auf Dimensionsbegriffe zurückführbar sind. So der Begriff der Lage auf den dreier zusammengehöriger Dimensionen, der Begriff der Richtung auf den einer einzigen, jedoch ihrerseits erst durch ihr Verhältnis zu den anderen die Lage eindeutig bestimmenden Dimension, daher von beiden Begriffen die Lage wieder die primäre, die Richtung eine sekundäre, von der allgemeinen Lagebestimmung abhängige Bedeutung besitzt. In dieser Zurückführbarkeit der begrifflichen Elemente der Raumanschauung auf die drei Raumdimensionen kommt endlich ein Prinzip zur Geltung, das für alle konkreten räumlichen Vorstellungen entscheidend ist: es ist das Prinzip der Relativität unserer Wahrnehmungen, neben dem das sie begleitende der Relativität der Sinnesempfindungen steht.
So allgemeingültig dieses Prinzip der Relativität ist, so ist es doch eine bemerkenswerte Eigenschaft aller Wahrnehmungsgebiete von der gewöhnlichen Sinneswahrnehmung an bis zu den begrifflichen Verarbeitungen derselben in der Wissenschaft, daß der Erkenntnis der Relativität überall der Begriff eines absoluten Seins vorausgeht. Es erhellt aber deutlich, daß diese ursprünglichere absolute Wertung ihre Grundlage in der willkürlichen Isolierung der Inhalte unserer Wahrnehmung hat, die dann wiederum eine ebenso willkürliche Überschätzung der Bedeutung einzelner dieser Werte für unser Erkennen mit sich führt. Eine klare Ausprägung hat die erst in Reaktion gegen die ursprüngliche Isolierung der Inhalte der Anschauung entstehende Erkenntnis ihrer durchgängigen Relativität in demjenigen Gebiet gefunden, das diese Relativität in den verwickeltsten, die gesamte Außenwelt umfassenden Beziehungen darbietet, in dem der allgemeinen Naturerscheinungen und in der Reduktion dieser Erscheinungen auf ein beliebig vertauschbares System von Dimensionen durch die Physik. In der Physik hat die Geltendmachung des Relativitätsprinzips deshalb ein so großes Aufsehen erregt, weil hier die durch die Erkenntnis des allgemeinen Zusammenhanges der Naturerscheinungen ermöglichte willkürliche Reduktion auf ein einziges System fester Wertbegriffe die an sich willkürliche Beziehung auf das System der Gravitation zugleich als das einzig natürliche und darum absolute erscheinen ließ. Darum ist es charakteristisch, daß hier der Übergang zu dem allgemeingültigen Relativitätsprinzip durch ein vorläufiges Stadium eines ebenso willkürlichen, aber total abweichenden Systems, nämlich des eines absoluten Wertes der Lichtbewegungen erfolgt ist. Dem gegenüber bietet die Welt der am entgegengesetzten Ende zu den kosmischen Erscheinungen vermöge ihres einfachen Aufbaus stehenden elementaren Empfindungen das Beispiel einer Anwendung des Relativitätsprinzips, bei welcher dieses unmittelbar aus der Auffassung einer Fülle voneinander isolierter Werte in die andere einer allgemeinen Relativität übergehen konnte. Der naiven Anschauung gilt jede einzelne Qualität der Empfindungen als ein absoluter, an sich unveränderlicher, darum aber auch die Zusammenfassung mit anderen Empfindungen ausschließender Wert. Die Psychologie, welche die Gesamtheit der Empfindungen in eine Mannigfaltigkeit von Qualitätssystemen sondert, weist zunächst nur jeder einzelnen Qualität eine relative Stellung innerhalb ihres Systems an, sie eröffnet aber dadurch sofort die Aufgabe, die Gesamtheit der einfachen Empfindungen in ein Ganzes sich durchkreuzender Systeme zu ordnen, bei dem in jeder der Dimensionen, nach denen sich die verschiedenen Elemente dieser mehrfach ausgedehnten Mannigfaltigkeit erstrecken, das Prinzip der Relativität für jedes Element besteht. Durchgeführt ist seine Gültigkeit freilich bis dahin nur für die verschiedenen Systeme der Empfindungsintensität, wo es in dem bekannten Weber-Fechnerschen Gesetz seinen im Grunde schon von Weber in seiner psychologischen Bedeutung erkannten Ausdruck gefunden hat. Daß sich die Psychologie mit der Auffassung der Gesamtheit der psychischen Erfahrungsinhalte als einer Fülle sich durchkreuzender Systeme mit jeweils beschränkten in Relation zu einander stehenden Elementen begnügen muß, während die Physik das Postulat einer das Ganze aller physikalischen Erscheinungen umfassenden Relativität erheben kann, hängt aber sichtlich mit der doppelten Verschiedenheit ihrer Aufgaben zusammen. Danach ist die Physik die Zusammenordnung aller Wahrnehmungsinhalte zu dem Begriffssystem einer objektiven Wissenschaft, die Wahrnehmungsinhalte dagegen in ihrer unmittelbaren subjektiven Beschaffenheit als Teile der im menschlichen Bewußtsein zusammenfließenden und in Wechselwirkung tretenden geistigen Werte sind der Gegenstand der Psychologie. Jene objektive und diese subjektive Betrachtung werden jedoch vereinigt durch die Raumanschauung, die alle Wahrnehmungen in eine dreidimensionale Ordnung dergestalt gliedert, daß der objektive Raum als eine Projektion der subjektiven Raumanschauung in die Außenwelt und die subjektive Raumanschauung als ein Spiegelbild des objektiven Raumes erscheint, beide zusammen also eine Einheit bilden, in der die körperliche und die geistige Welt untrennbar aneinander gebunden sind.
In der weiteren Ordnung der Inhalte der objektiven und der subjektiven Welt scheiden sich nun aber beide voneinander, indem die erstere alle Wahrnehmungsinhalte nach dem System des dreidimensionalen Raumes ordnet, dem sie für das Ganze des äußeren Weltbegriffs die Zeit und die Bewegung, jene als eine eindimensionale Mannigfaltigkeit, diese als eine Verbindung der beiden so erhaltenen dimensionalen Gebilde hinzufügt. Auf diese Weise gewinnt der gesamte Wahrnehmungsinhalt der Außenwelt die Bedeutung einer einzigen räumlichen Mannigfaltigkeit, die überall da, wo wir innerhalb der geistigen Welt einer festen Begrenzung und Ordnung bedürfen, diesen ebenfalls ihre Gesetze vorschreibt. Denn der Raum und die ihm in seiner Objektivierung zukommenden Begriffe der Zeit und der Bewegung ergehen sich in ihrer objektiven Bedeutung als die einzigen, die das Ganze einer nach Maß und Zahl zu ordnenden körperlichen und geistigen Welt konstituieren. In dieser festen Einordnung aller objektiven Wahrnehmungsinhalte liegt die Herrschaft begründet, die die äußere Natur über die geistige Welt ausübt. Diese Herrschaft ist demnach nicht in einem Gegensatz zweier Substanzen begründet, von denen die eine, die körperliche, der Anschauung angehört, die andere, die geistige, ein transzendenter Begriff ist, sondern beide bilden eine Einheit, die lediglich darauf beruht, daß der Raum mit seinen die räumliche Ordnung in allen ihren Veränderungen ergänzenden Hilfsbegriffen von Zeit und Bewegung für die körperliche Welt der Grundbestandteil aller Wahrnehmung ist, während diese für die geistige Welt nur einen relativ zurücktretender Teil der Inhalte bildet, die neben ihr aber wegen ihrer unerschöpfbaren Mannigfaltigkeit nur in bruchstückweisen Formen den Gesamtinhalt des geistigen Seins ausmachen. Aber dasselbe Prinzip der Relativität, das sich schließlich in den Gesetzen der körperlichen Welt als ein den gesamten Zusammenhang dieser Welt beherrschendes herausstellt, nach welchem es keine Naturgesetze gibt, die nicht in Relationen zu anderen allein ihren Ausdruck finden könnten, gilt auch für die geistige Welt. Nur ist es hier nicht in den einfachen Formen gegeben, in denen die Herrschaft des Raumes und der ihn ergänzenden sekundären Dimensionsbegriffe dies fordert, sondern der Schwerpunkt seiner Geltung liegt in der Gesamtheit jener geistigen Inhalte, die infolge der Fülle ihrer sich in der mannigfaltigsten Weise durchkreuzenden Elemente des geistigen Lebens im allgemeinen nur in singulären Fällen Bruchstücke einer dimensionalen Ordnung zulassen. So tritt ein anderer Gesichtspunkt an die Stelle jenes äußeren, an die Beschränkung der sinnlichen Wahrnehmung gebundenen einer gesetzmäßigen Ordnung, nämlich der mit dem Charakter der Unmittelbarkeit des geistigen Lebens zusammenhängende der durchgängigen wechselseitigen Beziehungen seiner Inhalte. Mit anderen Worten: statt der Frage nach der Einfügung der einzelnen Erscheinungen in die Ordnung des Ganzen wird die andere nach den Verbindungen und Beziehungen der Inhalte zu einander die herrschende für die Geisteswissenschaften überhaupt und darum in erster Linie für die Psychologie als die allgemeine Wissenschaft von den Gesetzen des geistigen Lebens.
Es ist ein altes Vorurteil, das aus der populären Auffassung der psychischen Vorgänge auch in die Wissenschaft und besonders in die Philosophie übergegangen ist, der Begriff der Quantität und mit ihm die Möglichkeit der Anwendung mathematischer Betrachtung sei auf die Naturwissenschaft beschränkt. Dagegen bestehe das geistige Leben aus einer Fülle qualitativer Elemente, die, wenn man von der Naturseite der physiologisch fundierten Erfahrungsgebiete absehe, also ihrem rein geistigen Gehalt nach, nur als eine unendliche Menge von Qualitäten zu begreifen sei. Vor allem Naturwissenschaft und Psychologie sollen daher, jene ein System quantitativer, in mathematischen Gesetzen auszudrückender Beziehungen, diese ein solches rein qualitativer Begriffsinhalte sein. Diese Betrachtungsweise, die dem metaphysischen Dualismus als ein unterstützendes empirisches Motiv zu Hilfe zu kommen sucht, ist jedoch so falsch wie möglich, weil sie bereits ein Produkt dieses metaphysischen Vorurteils selbst ist. In Wahrheit ist das geistige Leben, je reiner es uns, losgelöst von konkreten sinnlichen Inhalten entgegentritt, um so mehr ein unerschöpfliches Feld sich durchdringender Gesetzmäßigkeiten, die gerade wegen ihrer unendlichen Komplikationen nur an den wenigen Stellen sich unserer Beachtung aufdrängen, wo sie sich den dimensionalen Ordnungen der körperlichen Welt als qualitative Mannigfaltigkeiten einfügen. Darum ist, wie dies Leibniz zuerst klar ausgesprochen hat, die Mathematik kein bloßes Hilfsmittel der Naturerkenntnis, sondern sie durchdringt von den aus einer reichen Zahl von Elementen bestehenden Resultanten des kosmischen Geschehens an bis zu den abstraktesten Formen der Logik alle Inhalte des Denkens überhaupt. Aber indem die an sich überall vorhandene mathematische Gesetzmäßigkeit nie weiter reichen kann als in das Gebiet der den Charakter des mathematischen Denkens bestimmenden formalen Verknüpfungen, denen sich kein Erkenntnisinhalt entzieht, schließt es gerade das aus, was den eigentlichen Wert der geistigen Inhalte ausmacht, und was nun die Psychologie als ihre letzte Aufgabe anerkennen muß, nämlich eben jene Inhalte des geistigen Lebens zu erforschen, die sich zu einem Ganzen verbinden, das seinerseits die unerschöpflichen Formen des in seiner abstrakten mathematischen Natur unbestimmt bleibenden Denkens zur Wirklichkeit der geistigen Inhalte ergänzt. Die Eigenart dieser durch die qualitativen Werte des geistigen Lebens bestimmten Gesetze zu ermitteln, das aber ist offenbar die höchste Aufgabe der Psychologie, die nur in diesem Sinne als eine Geisteswissenschaft und damit zugleich als die allgemeinste unter ihnen anerkannt werden muß.
Als im Winter 1858 und in den nächstfolgenden Jahren meine Pflichten im physiologischen Institut die ganzen Vormittage in Anspruch nahmen, benutzte ich nicht selten die frühen Morgenstunden, um die beträchtlichen Lücken auszufüllen, die mir in meiner philosophischen Bildung geblieben waren. Vor allem war es die Psychologie, die mich lebhaft beschäftigte. Seit mir bei dem Problem der Entstehung des Sehfeldes die Erkenntnis aufgegangen war, daß die Physiologen hier auf Neben- oder Irrwegen gewandelt waren, beschäftigte mich die Frage, inwieweit insbesondere da, wo von den einfachen Vorgängen der Empfindung und Wahrnehmung zu den verwickelteren Erscheinungen des Seelenlebens ein Übergang zu suchen sei, bei den Philosophen Rat geholt werden könne. Noch entsinne ich mich, wie ich mehrere Wochen lang früh um fünf meine Studierlampe anzündete, um mich in das Studium von Herbart's »Psychologie als Wissenschaft« zu vertiefen, die mir von allen Werken, die sonst die philosophische Literatur in psychologischen Dingen bot, am meisten imponierte und die zu jener Zeit am ehesten von den strengeren philosophischen Werken auf die Physiologie herübergewirkt hatte. Dabei enthielt Herbart's scharfe Polemik gegen den scholastischen Betrieb der älteren Psychologie im Hinblick auf die mannigfachen Einflüsse der scholastischen Tradition überhaupt nützliche Anregungen, die über ihr nächstes Ziel hinauswiesen und zu erneuter unbefangener Prüfung der Tatsachen aufforderten. In dem Kampf, den Herbart gegen die alte Vermögenspsychologie führte, schienen mir jedoch die Versuche, die psychologischen Tatsachen durch ihnen fremd gegenüberstehende philosophische Begriffe zu meistern, schließlich nur in ihrer extremstem Form entgegenzutreten. Die Vermögenspsychologie begnügte sich, der gemeinen Erfahrung die geläufigen Allgemeinbegriffe zu entnehmen und, ohne sich um eine nähere Analyse derselben zu kümmern, sie einem ihnen selbst fremden logischen Schematismus einzuordnen, um auf diese Weise an die Stelle des Inhalts psychologischer Erfahrung eine der formalen Logik entlehnte Begriffsgliederung zu setzen. Diese leistete schließlich ihr bestes, als sie in Hegel's Philosophie des subjektiven Geistes die alten Vermögensbegriffe der Psychologie in eine dialektische Entwicklung ordnete, die dann freilich nicht vor der Zersetzung bewahrt blieb, welche der im stillen allezeit fortwuchernde scholastische Nominalismus weiterhin in den wieder auflebenden Formen eines auf diesem Boden üppig gedeihenden psychologischen Logizismus bewirkte. Die neuesten Gestaltungen dieser jede wirkliche Psychologie zerstörenden nominalistischen Entartung hoben sich offenbar in dem dunkeln Bewußtsein, daß sie in gewissem Sinne Zersetzungsprodukte der Hegelschen Phänomenologie des Geistes sind, selbst mit dem Namen Phänomenologie getauft, freilich mit Rücksicht auf die philosophische Bedeutung des Hegelschen Originals mit Unrecht. In ihrem wirklichen Rückgang auf das Werk eines echten Nominalisten, Bernhard Bolzano, tragen sie ihre geschichtliche Deszendenz deutlich genug an der Stirne. Ich lasse diese späteren Nachwirkungen des Scholastizismus in der Psychologie hier außer Betracht, weil sie auf die Entwicklung der Psychologie als Wissenschaft keinen nennenswerten Einfluß ausgeübt haben und nach meiner Überzeugung als philosophische Strömungen für die Geschichte der Wissenschaft eine bleibende Bedeutung besitzen.
Zu diesen Abwandlungen der in der Vermögenspsychologie und in den scholastischen Begriffsgliederungen älterer und neuerer Zeit vertretenen Richtung bildet nun Herbart's wissenschaftliche Psychologie in der Tat den vollendeten Gegensatz oder, wie man vielleicht auch sagen könnte, die volle Ergänzung, weil sie die logischen Motive beiseite läßt, um sich ganz und allein der Führung des mathematischen Denkens hinzugeben. Schon der Titel einer »Statik und Mechanik der Vorstellungen«, den er seiner wissenschaftlichen Psychologie gibt, deutet aber an, daß dieser exakte Teil seines Systems von den qualitativen Inhalten des Seelenlebens ganz abstrahiert, um eigentlich nur einen formalen Mechanismus von Elementen zurückzubehalten, der auch auf eine beliebige Mannigfaltigkeit anderen Inhalts angewandt werden könnte. Daß diese Mannigfaltigkeit aus Vorstellungen besteht und also ein psychologisches System bedeuten soll, wird erst auf einem Umweg offenbar. Merkwürdigerweise ist es jedoch die in abgeänderter Form in das metaphysische System dieses realistischen Philosophen hereinragende Dialektik seines Lehrers Fichte, die jener imaginären Mechanik zu ihrem psychologischen Inhalt verhilft. Es ist nämlich das abstrakte Ich Fichtes, das als der einzig unentbehrliche Bestandteil eines sonst noch so wechselnden Bewußtseinsinhaltes von ihm anerkannt wird. Von seiner realen Seite betrachtet, löst sich nach Herbart dieses in eine unendliche Reihe von Vorstellungseinheiten auf, weil das Ich selbst als eine Vorstellung, dann als eine Vorstellung dieser Vorstellung und so fort notwendig als eine unendliche Reihe einander beliebig ablösender Vorstellungen gedacht werden müsse.
So konnte ich mich denn schon damals dem Eindruck nicht entziehen, daß diese beiden Systeme der Psychologie, die Vermögenstheorie und die Herbart'sche Mechanik der Vorstellungen, nicht nur einander wechselseitig aufheben, sondern daß sie beide die Aufgabe der Psychologie selbst ungelöst lassen, das eine, weil es lediglich die Vulgärbegriffe der Psychologie in einen ihren inneren Beziehungen fremden logischen Schematismus bringt, das andere, weil es dahingestellt läßt, ob die von ihm erfundene künstliche Mechanik mit dem wirklichen seelischen Geschehen irgend etwas zu tun hat. So schien es mir denn schließlich, daß der einzige Weg, den die Psychologie einschlagen könne, derjenige sei, der von jenen einfachsten Problemen des Seelenlebens ausgehe, die in den Erscheinungen der Sinneswahrnehmung verborgen liegen, und die überall schon von den experimentellen Methoden der Physiologie in Angriff genommen, aber von ihr bis dahin auf ein falsches Terrain geführt worden waren. Hier war es nun jenes Prinzip der schöpferischen Synthese mit dem ihm als notwendige Kehrseite beigeordneten der wechselseitigen Beziehung der an diese Synthese sich anschließenden analytischen Vorgänge, die der psychologischen Untersuchung den Weg zu weisen schienen. Sie waren es auch, die weiterhin die psychologische Untersuchung von diesen einfachsten zu den verwickelteren seelischen Vorgängen überführten. In diesem Sinne habe ich versucht, in meinen »Grundzügen der physiologischen Psychologie« vom Jahre 1874 an zunächst als Grundthema dieses Werkes und als relativ einfachste und am meisten vorbereitete Grundlage der Erscheinungen des Seelenlebens die Psychologie der Sinneswahrnehmungen und ihrer nächsten Verbindungen und Zerlegungen zu bearbeiten.
Die erste Auflage dieses Werkes war im wesentlichen nicht mehr als eine möglichst planmäßig geordnete Sammlung von Fragmenten, die zu einem großen Teil dem überkommenden Bestand der Sinnesphysiologie und der sogenannten Assoziationspsychologie entnommen werden mußten. Indem es von dem einen Band der ersten Auflage, unterstützt durch das Leipziger Institut für experimentelle Psychologie sowie mehr und mehr auch durch die Arbeiten außerhalb desselben stehender Psychologen und Physiologen zu den drei umfangreichen Bänden der sechsten Auflage vom Jahre 1908 bis 1911 fortschritt, darf ich wohl sagen, daß in ihm ein beträchtlicher Teil meiner Lebensarbeit niedergelegt ist. Seinen Charakter empfing es aber wesentlich dadurch, daß es von Anfang an nicht etwa als eine Lehre von der Sinneswahrnehmung und einigen Anhangsgebieten gedacht war, sondern darauf abzielte, die gesamte Psychologie bis zu den höheren Erscheinungen des menschlichen Bewußtseins in eine innere Verbindung zu bringen, die gleichzeitig die verwickelteren Vorgänge durch die elementareren und diese durch jene zu beleuchten suchte. So sollten, wie ich meinte, alle Inhalte des geistigen Lebens einander wechselseitig interpretieren, die einfacheren wegen ihrer der Beobachtung und dem Experiment leichter zugänglichen elementaren Form die verwickelteren, und diese wegen ihrer vor Augen liegenden psychologischen Bedeutung die einfacheren. Glaubte die Physiologie zumeist sich möglichst auf die streng abgegrenzten Gebiete der Sinne beschränken zu müssen, so wurde es daher umgekehrt mein Bestreben, womöglich überall nachzuweisen, wie in den elementaren Prozessen des Bewußtseins, den Empfindungen und Assoziationen, überall bereits das geistige Leben in der Totalität seiner Beziehungen hindurchleuchte. So hat besonders in den späteren Auflagen die Lehre von der Apperzeption und den apperzeptiven Verbindungen eine immer weiter greifende Ausarbeitung erfahren. Die Gefühle, Affekte und nicht zuletzt die Theorie des Willens sind so allmählich erst an die Stelle gerückt worden, die ihnen in dem gesamten Zusammenhang des Seelenlebens gebührt. Daß die Physiologen diese Dinge anfänglich als eine Art von Fremdkörpern ansahen, die in ihrem Gebiet nichts zu tun haben sollten, mußte ich nicht selten als ein bedauerliches Mißverständnis entgegennehmen, aber der Preis schien mir nicht zu hoch, mit diesem scheitern mancher Erwartungen schließlich doch das Ziel zu erreichen, das ich von Anfang an darin gesehen hatte, die Einheit der psychischen Vorgänge als eines Ganzen zu erweisen, dessen einzelne Teile oft in der unnatürlichsten Weise auseinandergerissen worden waren. Bedurfte es doch oft genug bloß der unbefangenen Vergegenwärtigung der Tatsachen, um von dem Gedanken erfüllt zu werden, daß es keine Gefühle gibt ohne Vorstellungen, keine Vorstellungen ohne die mannigfachsten Verknüpfungen der seelischen Inhalte, endlich kein Wollen ohne alle die anderen Bestandteile, die zumeist als voneinander isolierte seelische Erzeugnisse betrachtet wurden, wenn sie nicht gar, wie es vom psychologischen Individualismus und Intellektualismus geschah, als ein Konglomerat von Vorstellungen oder von sinnlosen Assoziationen erschienen.
In der kurzen Darstellung der Psychologie, die ich in meinem Grundriß vom Jahre 1896 (14. Auflage 1920) gegeben, habe ich versucht, die allgemeinen Gesetze des psychischen Geschehens in drei Prinzipien zu entwickeln, die vielleicht am klarsten die Bedeutung derselben übersehen lassen. Ich habe sie genannt: das Prinzip der psychischen Resultanten oder, wie es oben im Hinblick auf die grundlegenden Erscheinungen bezeichnet worden ist, der schöpferischen Synthese; das Prinzip der psychischen Relationen oder, vom Standpunkt der Methode betrachtet, der psychischen Analyse; das Prinzip der psychischen Kontraste oder, wie es im Gegensatz zu dem in den meisten Darstellungen der Psychologie noch immer herrschenden Intellektualismus mit der ihm meist beigeordneten einseitigen Lust-Unlusttheorie genannt werden darf, der Mehrdimensionalität des Gefühlslebens.
Für die fundamentaleren Teile der Psychologie ist allmählich der Name der »experimentellen Psychologie« ziemlich allgemein durchgedrungen, und man darf daher hoffen, daß ein in den Anfängen dieser Disziplin verbreitetes Mißverständnis endlich aus der Welt verschwunden sei. Unter experimenteller oder, wie sie aus Dankbarkeit für die von der Physiologie ausgegangenen Anregungen in ihren Anfängen genannt worden ist, unter physiologischer Psychologie hat man zuweilen eine Verwendung experimenteller Methoden verstanden, welche den Zweck verfolge, den Inhalt gewisser Teile der Psychologie auf physiologische Tatsachen zurückzuführen und danach womöglich die Psychologie selbst in eine bloße Anwendung der Physiologie umzuwandeln. Die experimentelle Methode sollte nicht, wie es tatsächlich unsere Absicht ist, der Psychologie ein neues fruchtbares Hilfsmittel selbständiger Untersuchung zuführen, sondern sie sollte vielmehr die Psychologie aus ihren bisherigen Gebieten verdrängen, um alles, was diese auf ihren eigenen Wegen, namentlich dem der sogenannten Selbstbeobachtung vergeblich zu leisten versucht habe, aus anatomischen und physiologischen Erfahrungen abzuleiten. In Wahrheit ist das aber eine Aufgabe, die von der reinen Physiologie niemals gelöst werden kann. Vielmehr hat das psychologische Experiment nicht nur einen anderen Zweck als das physiologische, sondern es ist auch nicht selten in seinen Methoden und in der Art seiner Ausführung von ihm wesentlich verschieden. Insbesondere ist es auch gerade die Selbstbeobachtung, welcher das Experiment meist neben den objektiven Zwecken, denen es dient, seine Hilfe leistet. Denn überhaupt ist die experimentelle Methode nicht ihrem Wesen nach an die Naturwissenschaften gebunden, sondern ihre Anwendbarkeit, hängt lediglich davon ab, ob die Erscheinungen einer Variierung der Tatsachen und ihrer Bedingungen zugänglich sind oder nicht. Ob sie das sind, das hängt aber wieder von den Aufgaben ab, die man sich gestellt hat, nicht von der Beschaffenheit der Instrumente und ihrer objektiven Anwendung. Wenn wir z. B. den Umfang des Bewußtseins, die Gliederung rhythmischer Vorstellungen, die psychischen Wirkungen der Konsonanz und Dissonanz der Töne, die Assoziation und Dissoziation der Sinnesvorstellungen und vieles andere untersuchen, so sind das alles psychologische Aufgaben, mögen auch die gleichen oder ähnliche instrumentelle Hilfsmittel zu physiologischen oder physikalischen Untersuchungen gelegentlich verwendet werden. Was gerade das psychologische Experiment vor anderen auszeichnet, ist übrigens nicht selten die Mannigfaltigkeit seiner Anwendbarkeit. Ich habe in meiner »Einführung in die Psychologie« vom Jahre 1911 den Versuch gemacht, für eine beinahe über die ganze Psychologie, soweit sie experimentellen Angriffen zugänglich ist, sich erstreckende Anzahl psychologischer Versuche ein einziges Instrument anzuwenden. Dies war das Metronom, das bekanntlich hauptsächlich in der musikalischen Metrik benutzt wird, um Taktmaße von verschiedener Geschwindigkeit und Größe hervorzubringen. Es gibt wenig Variationen, die man nicht mit diesem einfachen Instrument vornehmen könnte, um eine große Zahl von psychischen Erscheinungen verschiedener Art vorzuführen, und dies steht sichtlich nicht mit einer besonderen Befähigung dieses Instrumentes selbst, wohl aber mit der Vielseitigkeit im Zusammenhang, in der unser Bewußtsein nach seinem Vorstellungs- wie Gefühls- und Affektinhalt den mannigfaltigsten Anregungen zugänglich ist. Höchstens lassen sich physikalisch damit etwa Zirkel und Maßstab oder allenfalls die Waage vergleichen, aber die Anwendbarkeit dieser bekannten Hilfsmittel physischer Methoden ist eine sehr viel einfachere und gleichförmigere als beispielsweise die des Metronoms für alle möglichen in irgendeine akustische Mannigfaltigkeit aufzulösende Reihen von Eindrücken.
Gewiß ist es schon manchem begegnet, der sich während eines längeren Lebens als Schriftsteller betätigt hat, daß er, wenn er nicht über die Zeit der Entstehung seiner Werke selbst, sondern über die Entstehung der Pläne zu ihnen Rechenschaft geben soll, von sich sagen muß: die letzten sind eigentlich die ersten gewesen soweit ich mich noch in ganz schattenhaften Erinnerungen meiner frühesten Schriftstellerprojekte entsinnen kann, finde ich mich in der großen luftigen Diele meines Elternhauses in Heidelsheim sitzen und in ein Heft, das ich mir als ein stattliches Buch vorstellte, Schriftzüge in Gestalt gedruckter Buchstaben eintragen. Einen Zusammenhang hatten freilich, soweit ich mich ihrer entsinnen kann, diese Schriftzüge nicht; aber ich stellte mir jedesmal einen solchen unter ihnen vor. Das früheste Thema, das mir vorschwebte, war eine allgemeine Geschichte der Religionen. Herauszubringen, was an den verschiedenen Religionen gemeinsames sei, das schien mir eine Frage, deren Erforschung wohl der Mühe wert wäre. Später trat mir dann auch die andere vor Augen, wie die Weltgeschichte im allgemeinen verlaufen sei, und noch manche weitere, die in den Schatten unbestimmterer Vorstellungen zurücktreten. Wenn ich näher sagen sollte, was diese phantastischen Pläne allenfalls zusammenhielt, ohne daß ich mir dessen irgendwie deutlich bewußt wurde, so ist es der Gedanke eines vergleichenden Studiums gewesen, bei dem die geistigen Erzeugnisse des Menschen und unter ihnen die höchsten und geheimnisvollsten eine vorwiegende Rolle spielten. Daß der unreife Knabe, der diese unleserlichen Manuskripte zutage förderte, in einer pfarramtlichen Umgebung aufwuchs, mochte freilich an dieser Auswahl nicht unbeteiligt gewesen sein. Aber wenn ich solche Erzeugnisse von meinem späteren Standpunkte aus beurteilen sollte, so müßte ich sie eigentlich völkerpsychologische Versuche nennen, die freilich nichts zustande brachten, die aber doch das Bestreben verrieten, nach dieser Richtung einmal irgend etwas zu unternehmen. Wenn ich jedoch mit diesen frühesten Anwandlungen die ersten Pläne vergleiche, die in mir zur Ausarbeitung einer experimentellen Psychologie aufgetaucht sind, so liegen diese letzteren jedenfalls sehr viel später, und sie liegen dem Zeitpunkt weit näher, wo sie einige Aussicht hatten, Wirklichkeit zu werden.
Mag ich nun aber auch bald gelernt haben, solche einem unerreichbaren Wolkenkuckucksheim angehörige Gedanken zurückzustellen. So ist mir, als die Möglichkeit, sich mit völkerpsychologischen Problemen zu beschäftigen, an mich herantrat, das Schicksal beschieden gewesen, daß dies zu einer Zeit schon geschah, als ich dazu noch lange nicht befähigt war. Diese Zeit war dazu freilich verführerisch genug. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts begann eine ziemlich reichliche Literatur sich anzuhäufen, die sich teils in populärem Interesse mit den allgemeinen Fragen der Kultur- und Sittengeschichte beschäftigte, teils auch im Verein mit der damals sich ausbildenden Anthropologie direkt einer allgemeinen psychologischen Entwicklungsgeschichte der Völker zugewandt war. Um das Jahr 1860 und in den folgenden Jahren erschienen dann die beiden verdienstvollen Werke, von denen man sagen darf, daß sie in Deutschland die Völkerpsychologie vorbereitet haben: 1859 der erste Band von Theodor Waitz Anthropologie der Naturvölker, 1860 der erste Band der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft von Lazarus und Steinthal. Von diesen Werken suchte die Anthropologie von Waitz zusammen mit ihren fünf weiteren, durch Gerland ergänzten Bänden eine Kulturgeschichte der primitiveren Völker unter Bearbeitung eines reichen Quellenmaterials zu geben, während die Zeitschrift von Lazarus und Steinthal zum erstenmal der Veröffentlichung einzelner Studien aus dem Gebiete der Völkerpsychologie Unterkunft bot. Die beiden letzteren Autoren sind es auch gewesen, die zuerst der Völkerpsychologie ihren Namen gaben. Er hat seitdem eine ziemlich weite Verbreitung gefunden, wobei er dann freilich zum Teil in verschiedenen Bedeutungen gebraucht worden ist. Namentlich pflegt man mit ihm nicht selten innerhalb der politischen Literatur einen Begriff zu bezeichnen, der sich auf den geistigen Charakter der verschiedenen Kulturvölker in ihrem Verhältnis zu einander bezieht. Lazarus und Steinthal selbst haben von Anfang an dem Wort einen viel allgemeineren Inhalt gegeben, diesen aber im Eingang ihrer Zeitschrift zunächst nur als ein Problem der Zukunft hingestellt, das sie in nahe Beziehung zu der bisherigen Philosophie der Geschichte brachten, und das namentlich durch Steinthal in einzelnen sprachwissenschaftlichen und mythologischen Arbeiten behandelt wurde.
Als ich ebenfalls um das Jahr 1860 den Gedanken faßte, der experimentellen Psychologie, die sich ihrer ursprünglichen Absicht wie den ihr zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln gemäß auf die Tatsachen des individuellen Seelenlebens zu beschränken hatte, eine Art von Oberbau beizufügen, der sich, von diesen Tatsachen als unentbehrlichen Grundlagen ausgehend, die Erscheinungen des menschlichen Zusammenlebens, namentlich in ihren Anfängen, zur Aufgabe setzen müsse, da erschien mir nun bald diese Aufgabe als die höhere und in Wahrheit als die eigentlich abschließende der Psychologie. Dennoch hatte ich zunächst nicht die Absicht, auf dieses Gebiet jetzt schon überzugehen. Vielmehr gedachte ich, für jetzt die Psychologie höchstens in ihrem gewöhnlichen Umfange und auch in diesem nur in den dem Physiologen naheliegenden Gebieten der Empfindung und Sinneswahrnehmung zu behandeln. Ich hatte mir für ein solches Buch von mäßigem Umfang zuerst etwa den Titel »Sinne und Seele« gedacht. Gustav Theodor Fechner's »Elemente der Psychophysik«, die ebenfalls in dem für die Geschichte der neueren Psychologie bedeutungsvollen Jahr 1860 erschienen, erweckten in mir dann die von Fechner's eigener Auffassung abweichende, aber, wie ich glaube, mit Ernst Heinrich Weber's, des ersten Begründers der Psychophysik, im Grunde übereinstimmende Meinung, daß es sich bei dem berühmten, von Fechner mathematisch formulierten psychophysischen Gesetz um nichts anderes als um ein allgemeines Prinzip der Relativität der Sinnesempfindungen handle. Durch seine klassische Ausarbeitung der Methoden für die Untersuchung dieses Gesetzes hatte daher nach meiner Überzeugung Fechner selbst nicht das, was er beabsichtigte, wohl aber ein für die nächsten Aufgaben der Wissenschaft wichtigeres Ziel erreicht. Nicht ein Grundgesetz für das Verhältnis der körperlichen zur geistigen Welt hatte er gefunden, dagegen in jenem Prinzip der Relativität eine Gesetzmäßigkeit von hohem Wert, die sich über das gesamte geistige Leben und durch den Einfluß desselben auf die Erkenntnis der Außenwelt wahrscheinlich weit über dessen Grenzen hinaus erstreckte. Und lag es nicht nahe, vorauszusetzen, daß nach anderen Richtungen des Seelenlebens noch weitere Gesetze sich finden ließen, wie ja solche in manchen in das Gebiet der Sinnesphysiologie hereinreichenden Erscheinungen vorkommen? Ja, ich darf wohl sagen, für jeden, der in jenen Tagen der Psychologie nicht in ihrem bisherigen Lehrbetrieb von seiten der Philosophen, sondern als einem neuen großen Forschungsbereich gegenübertrat, mußte schon die Tatsache gesteigerte Hoffnungen für die Zukunft erwecken, daß hier zum erstenmal das mächtige Werkzeug der Mathematik sich nicht in einer imaginären Phantasmagorie erschöpfte, wie in Herbart's Mechanik der Vorstellungen und in ähnlichen leeren Spekulationen vergangener Tage, sondern daß sie in dieser neuen Psychologie zu einem wirklich fruchtbaren Werkzeug der Forschung geworden sei, so daß sie sich vielleicht in nicht ferner Zukunft den exakten Wissenschaften ebenbürtig an die Seite stellen könne.
Das waren wohl übertriebene Hoffnungen; aber fördern konnten sie immerhin den Anfänger auf dem begonnenen Wege, wenn er auf diesem ohne weitere Schwankung fortgeschritten wäre. Doch mit diesen Gedanken kreuzten sich andere, die unabhängig von ihnen von länger her sich an die Pläne einer künftigen Psychologie geknüpft hatten und die nun in so manchem, was in der gleichen Zeit den Blick auf sich lenkte, neue Nahrung fanden. Daß die Beziehungen des menschlichen und des tierischen Seelenlebens dazu gehörten, das braucht für die Zeit, in der die Arbeiten Darwin's eben ans Licht getreten waren, nicht erst erwähnt zu werden. Die Debatten über die Darwin'sche Theorie und der Kampf mit ihren Gegnern bewegten in jenen Tagen die wissenschaftliche Welt. Wallace, Moritz Wagner, später Weismann, schlugen zum Teil neue eigene Wege ein; allen voran aber suchte Ernst Häckel die vollen Konsequenzen aus Darwins Sätzen zu ziehen, während andererseits der Entwicklungsgedanke noch bei manchen sonst vorurteilslosen Naturforschern einem gewissen Widerstand begegnete, wie sogar das Beispiel Rudolph Virchows zeigt, den, so sehr er dem Gedanken der Entwicklung zugeneigt war, doch die Form, in der ihn Darwin mit Hilfe seines Prinzips der natürlichen Zuchtwahl verwendet hatte, zeitlebens widerstrebte. Unter diesen Umständen war es denn auch einigermaßen begreiflich, daß, einen so großen Anstoß die Darwin'sche Theorie in diesen Anfängen auf die allgemeinen Naturanschauungen und die morphologischen Studien über die Organismen ausübte, doch gerade die Tierpsychologie kaum einen erheblichen Fortschritt über den bisherigen Zustand bot. Sie hat erst in erheblich späterer Zeit ihre Impulse von dem in Darwin's Theorie zum Ausdruck gekommenen Entwicklungsgedanken empfangen. Ehrenberg's großes Infusorienwerk, die Arbeiten Johannes Müller's u. a. über die Metamorphosen und den Generationswechsel waren lange vorangegangen. Erst um die Wende des Jahrhunderts, als die unbedingte Nachfolgeschaft Darwin's bereits im Rückgang begriffen war und andere Gestirne, wie neben De Vries mit seiner Mutationslehre Mendel's Vererbungsversuche, Einfluß gewannen, begann jener neue Aufschwung der Tierpsychologie, der gegenwärtig, namentlich auch in seiner Ausdehnung auf die niedere Organismenwelt und in der psychologischen Würdigung der Erscheinungen, seinen Höhepunkt wahrscheinlich noch nicht erreicht hat. Immerhin ließ sich da und dort schon in den Anfängen der Darwin'schen Theorie der leise Nebenton einer unter der Führung des Entwicklungsgedankens notwendig gewordenen gründlichen Revision der Tierpsychologie vernehmen. Begreiflich daher, daß auch ich in jenen Tagen den Gedanken nicht abweisen konnte, womöglich den Plan einer Entwicklung des seelischen Lebens an der Hand der einfachen Vorgänge der Empfindung und Wahrnehmung zu einer allgemeineren, die Entwicklung in der Tierreihe umfassenden Untersuchung zu erweitern.
Aus diesem Gedanken heraus ist schließlich der Titel der 1863 erschienenen »Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele« entstanden. Hier zeigte sich freilich, daß der Zustand der psychologischen Forschung gerade im Gebiet der Psychologie der Tiere noch viel zu sehr vernachlässigt war, als daß ein solcher Plan mit einiger Aussicht auf Erfolg durchführbar gewesen wäre. Zwar stand die menschliche Seele auch auf dem Titel voran, gleichwohl war in dem Werk selbst die seelische Entwicklung im Tierreich. So nebensächlich behandelt, daß das Ganze auf den Wert einer vergleichenden Psychologie keinen Anspruch erheben konnte. Darum besaß jener Titel kaum eine andere Bedeutung als die eines Bekenntnisses zur Entwicklungstheorie im Sinne der innerhalb der jüngeren Generation allgemein zur Herrschaft gelangten Anschauungen Darwin's und seiner Schule.
Ganz anders lag die Sache bei einem weiteren Bestandteil, der sich im Laufe der Arbeit mehr und mehr in den Vordergrund drängte. Es war der alte Gedanke einer vergleichenden Psychologie der Rassen und Völker, der in mir wieder auftauchte und mich unversehens dazu antrieb, der ursprünglich auf der Physiologie der Sinne aufgebauten Darstellung einen zweiten Band beizufügen, der in seinen Hauptinhalt den völkerpsychologischen Fragen gewidmet war. Je mehr ich mich in diesen Gegenstand vertiefte, um so mehr bemächtigte sich jedoch meiner die Überzeugung, daß er eigentlich der Hauptzweck des Werkes sein müßte, und diese objektive Wertschätzung begann sich unwillkürlich in eine Subjektive umzusetzen. Als ich die Arbeit abschloß, war ich geneigt, diese völkerpsychologischen Erörterungen für das Beste zu halten, was ich geleistet hatte. Das war nun freilich ein großer Irrtum, wie ich im Laufe der nächsten Jahre bald genug einsah. Zu einer psychologischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit war die Zeit wahrlich nicht reif, und meine eigenen Kräfte waren zu einer solchen noch weniger zureichend. Ich begann gerade diesen Teil des Werkes schwer zu bereuen und nahm mir vor, wenn jemals eine zweite Auflage nötig werden sollte, ihn gründlich umzuarbeiten. Aber eine zweite Auflage blieb aus. Mochte in dem sonstigen Publikum das Buch einige freundlich gesinnte Leser gefunden haben, die Philosophie von Fach lehnte es einmütig ab, sie betrachtete es, wie ein strenger, aber nicht ungerechter Kritiker, nämlich mein späterer Kollege Moritz Wilhelm Drobisch, sich ausdrückte, als einen »übereilten und verfehlten Versuch«. Als dann endlich, zum Teil wohl infolge des Wechsels der Verleger, das Buch nach 30 Jahren dennoch eine zweite Auflage erlebte (1892), war ich nicht zweifelhaft, was zu tun sei: ich unterdrückte diese völkerpsychologische »Jugendsünde«, wie ich den zweiten Teil nannte, um in den nun folgenden ziemlich häufigen weiteren Auflagen das Werk möglichst zu einer einigermaßen populären Einführung in die neuere experimentelle Psychologie umzugestalten, in der zugleich einige sie berührende philosophische Fragen behandelt wurden, für die in der mittlerweile erschienenen physiologischen Psychologie wegen ihres strengeren Charakters kein geeigneter Platz war. Doch die Völkerpsychologie selbst hatte ich trotz der Unterdrückung dieses ersten Versuchs nicht aus dem Auge verloren. Ich griff zu einem Mittel, das ich auch bei anderen Arbeiten als ein nützliches erkannt hatte, um eine in Vorbereitung befindliche Arbeit allmählich auszureifen. Dieses Mittel war die Wahl zum Thema akademischer Vorlesungen. Ich betrachte es als einen großen Vorzug des akademischen Lehrberufs, daß er in der Form, in der er in Deutschland zur Ausbildung gelangt ist, nicht oder wenigstens nur teilweise an bestimmt abgegrenzte Lehrstoffe bindet, sondern eine freie Wahl möglich macht, bei welcher der Dozent ebenso auf sein eigenes Bedürfnis, zu lernen, wie auf das seiner Zuhörer Rücksicht nehmen kann. Ich habe von dieser Feuerprobe des mündlichen Vertrags bei fast allen meinen späteren philosophischen Schriften, am ausgiebigsten aber bei der Völkerpsychologie, Gebrauch gemacht. Zum erstenmal las ich über sie im Sommer 1875 in Zürich. Dann folgten in einer Reihe von Jahren im Wechsel mit anderen Themen in Leipzig kürzere Vorlesungen über einzelne Teile des Gebiets. Diese Serie fand ihren Abschluß im selben Jahr 1900, in welchem der erste Band des endgültigen Werkes erschien. Das Ganze sollte, von dem Untertitel einer »Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte« ausgehend, drei Bände umfassen. Als im Jahr 1920 der letzte Band erschien, war es auf zehn Bände angewachsen. Wenn ich es eine »Untersuchung« genannt habe, so mag darin eine zureichende Entschuldigung dafür liegen, daß die Ausführung so weit über die ursprüngliche Absicht hinausgegangen ist. Einer bevorstehenden Untersuchung bestimmte Grenzen zu setzen, ist schwer, vor allem da, wo die Probleme derart im Fluß befindlich sind, wie in den Gebieten der Völkerkunde und der Geschichte. Gleichwohl entsprechen die sechs Bücher, Sprache, Kunst, Mythus und Religion, Gesellschaft, Recht und Kultur, in die nunmehr das Werk gegliedert ist, insofern wohl immer noch der Dreiteilung in Sprache, Mythus und Sitte, als das erste Buch seine Stelle bewahrt hat, das zweite und dritte am nächsten an den Mythus, endlich das vierte bis sechste an die Sitte sich anschließen. Sie sind diejenigen Gebiete, die für die psychologische Betrachtung die Zentralprobleme enthalten.
Gegen uns Deutsche ist bekanntlich im Laufe der letzten Jahre der Vorwurf erhoben worden, wir seien nicht fähig, Kolonien zu gründen, weil wir in der Kultur zurückgebliebene Völker nicht zu regieren und also auch nicht zu kultivieren vermöchten. Es ist dagegen von deutscher Seite schon des öfteren gewiß mit Recht eingewandt worden, daß viele namentlich der afrikanischen Stämme damit, daß sie uns zum großen Teil mit rührender Ausdauer die Treue bewahrt haben, das Gegenteil beweisen. Es gibt aber noch ein anderes, wie mich dünkt, schlagenderes Argument. Das besteht, abgesehen von der hervorragenden Bedeutung der teils im allgemeinen Kultur-, teils im politischen Interesse tätigen Kolonisatoren, wie Emin Pascha, Karl Peters, Hermann von Wißmann und vielen anderen, nicht zum wenigsten in den Leistungen der auf dem Boden der Kolonien tätigen deutschen Wissenschaft. Wo sind noch aus neuerer Zeit Werke von ähnlich umfassender Gründlichkeit zu finden wie J. Spieths Kulturgeschichte der Ewestämme (1906), in welchem uns die Bevölkerung der kleinsten der deutschen Kolonien, Togo, nahegebracht worden ist? Niemand wird die Verdienste schmälern wollen, die sich englische Forschungsreisende um die Aufhellung der Sitten und sozialen Zustände der australischen Ureinwohner erworben haben. Und doch muß gesagt werden, daß die Kenntnis dieser Forscher schon deshalb eine verhältnismäßig oberflächliche und darum zum Teil widerspruchsvolle sein mußte, weil ihnen die Sprache der Eingeborenen fremd geblieben ist. Wieviel tiefer konnte hier ein Mann wie der deutsche Missionar C. Strehlow schürfen, der viele Jahre unter australischen Stämmen gewirkt hat, der ihre Sprache spricht und mit ihnen wie mit seinesgleichen jahrelang verkehrt hat! Nicht anders verhält es sich mit vielen der süd- und mittelamerikanischen Gebiete, wo noch während des letzten Jahrzehnts die Forschungen von K. Th. Preuß uns wichtige religionswissenschaftliche Aufschlüsse gebracht haben. Der deutsche Missionar oder Forschungsreisende sucht sich vor allem mit den Idiomen vertraut zu machen, in welchen er selbst mit den Völkern verkehren kann, unter denen er wirken oder die er erforschen will. Der Engländer und der Amerikaner bedienen sich entweder eines zu diesem Zweck herangebildeten Dolmetschers oder sie verlassen sich in einigen seltenen Fällen auf Eingeborene, die zur Kultur übergegangen und Ethnologen geworden sind. Daß diese letztere Quelle zuweilen durch die Neigung, die eigene Abstammung mit einer Gloriole zu umgeben, getrübt ist, begreift sich. Von besonderer Wichtigkeit ist es aber, daß zahlreiche deutsche Missionare im Interesse der Sprachwissenschaft in den Gebieten ihres Berufs tätig sind. Vor allem die afrikanische Sprachwissenschaft und im Anschluß an sie die Kulturgeschichte der primitiveren afrikanischen Völker sind auf diese Weise zu einem nicht geringen Teil von deutschen Missionaren oder aus dem von ihnen gelieferten Beobachtungsmaterial geschaffen worden. Wie hier zumeist die evangelische, so hat aber auf australischem und ozeanischem Gebiet vielfach die katholische deutsche Mission unter der Führung von P. W. Schmidt und auf Grund des in seiner Zeitschrift »Anthropos« aus den hier fließenden Quellen gesammelten Materials sich große Verdienste um Ethnologie und Kolonialwissenschaft erworben.
Damit hat sich zugleich in der Sprachwissenschaft ein bedeutsamer Umschwung vorbereitet, der besonders auf ihr Verhältnis zur Völkerpsychologie einen tief eingreifenden Einfluß auszuüben beginnt. Bis in den Anfang des vorigen Jahrhunderts und in ihrer Nachwirkung an den Universitäten noch darüber hinaus hat die klassische Philologie eine so überragende Herrschaft behauptet, daß neben ihr höchstens im Anschluß an das Hebräische die semitischen Sprachen und dann allmählich das Sanskrit als die vermeintlich älteste der indoeuropäischen Sprachen eine gewisse Beachtung fanden. Eine weitere Perspektive hat hier die Romantik eröffnet, und es ist so in Parallele mit der Geltendmachung der vergleichenden Methode auf den verschiedensten Gebieten in der »vergleichenden Sprachwissenschaft« ein erster Vorstoß auf der neuen Bahn einer allgemeinen Wissenschaft von der Sprache erfolgt. Doch für die fortdauernde Vorherrschaft der klassischen Philologie ist es charakteristisch, daß man unter dieser neuen Disziplin fast bis in die neueste Zeit nur eine vergleichende Betrachtung der indogermanischen Sprachen zu verstehen pflegt, so daß zum Teil noch heute der Indogermanist eine Berücksichtigung der übrigen Sprachgebiete, ganz besonders aber der nicht in Literaturen fixierten, bisweilen ablehnt. Diese Einseitigkeit ist gegenwärtig allerdings im Schwinden begriffen, und die umfassendere Aufgabe einer allgemeinen Sprachwissenschaft im Sinne einer auf das Ganze der menschlichen Sprachäußerungen gerichteten Disziplin, für die unter den älteren Sprachen zuerst A. F. Pott ein offenes Auge gehabt hatte, ist wenigstens im Prinzip, wenn auch noch keineswegs in der Wirklichkeit, allmählich zur allgemeineren Anerkennung gelangt. Auch ist es bezeichnend, daß es zunächst nicht ein rein wissenschaftlicher Antrieb gewesen ist, sondern das praktische Bedürfnis des Weltverkehrs, das die Bahn zu diesen neuen Wegen eröffnete. Noch tragen ja das orientalische Seminar in Berlin und das Kolonialinstitut in Hamburg diese praktische Tendenz an der Stirn, und von beiden ist es vorzugsweise das letztere gewesen, das, weil es in höherem Grade auf die Forschung und die Mission unter den primitiveren Völkern Rücksicht nimmt, die Arbeit an einer allgemeinen Sprachwissenschaft im vollen Sinne des Wortes am meisten gefördert hat. Wieder ist es aber hier die deutsche Wissenschaft, der wir vorzugsweise diesen Fortschritt verdanken, der die Vertretung der einschlagenden Sprachgebiete an unseren größeren Universitäten nur noch zu einer Frage der Zeit macht. Man würde jedoch sicherlich fehlgehen, wenn man im Hinblick auf jene von praktischen Bedürfnissen ausgehenden Anfänge meinen wollte, im allgemeinen bleibe bei diesen im ganzen außerhalb der allgemeinen Kultur stehenden Sprachen das praktische Bedürfnis des Missionars, des Forschungsreisenden und allenfalls des Kaufmanns fortan das maßgebende. Daß dieses dem theoretischen Interesse an den Gegenständen der Wissenschaft vorausgeht, ist eine fast überall gültige Regel, und sie trifft vor allem bei solchen Gebieten zu, die wie die Sprache den Charakter eines Werkzeugs besitzen. Auch die griechische Sprache haben die abendländischen Gelehrten der Renaissance nur deshalb mit heißem Begehren zu erwerben gestrebt, weil sie in ihr das Mittel sahen, sich in die geistige Welt des Griechentums zu vertiefen. Erst eine spätere Zeit hat erkannt, daß diese Sprache selbst in ihrem wunderbaren Aufbau ein Kulturgut ist, das in mancher Beziehung den mit ihm zu gewinnenden geistigen Schätzen nicht nachsteht. Nicht anders verhält es sich schließlich, wenn auch in weitem Abstand, mit den Sprachen überhaupt bis herab zu denen der Naturvölker. Sie sind Schöpfungen einer geistigen Entwicklung, innerhalb deren jede Stufe ihre Bedeutung hat und gerade die primitivsten Stufen mit Rücksicht auf die allgemeinsten Entwicklungsprobleme von hervorragendem Werte sein können.
Daß die vergleichende Sprachwissenschaft in ihrer einseitig indogermanistischen Ausbildung diesen Aufgaben nicht gerecht wurde, das ist eine selbstverständliche Folge eben der Einseitigkeit, mit der sie an der Pflege der Spracherzeugnisse der höchsten Kulturvölker festhielt. Auf hypothetische, in Wirklichkeit nirgends vorzufindende Urwörter und von diesen noch weiter auf Wurzeln zurückzugehen, die als Wörter schwerlich existiert haben, hielt man für erlaubt, aber die Sprache selbst sollte nur insoweit der Erforschung wert sein, als sie im ganzen eine durch irgendeine literarische Tradition nachweisbare Geschichte besitze. Demgegenüber gibt es, wie man wohl sagen darf, eine über diesen rein historischen Standpunkt hinausgehende Entwicklungsgeschichte der Sprache erst seit der weiteren Ausdehnung der linguistischen Studien über diese Grenzen und damit eine allgemeine Sprachwissenschaft im eigentlichen Sinne des Wortes. Diese ist aber dann auch Sprachgeschichte und Sprachpsychologie zugleich, so zwar, daß die psychologischen Probleme nicht bloß überall die geschichtlichen begleiten, sondern auch da nicht aufhören, wo es eine geschichtliche Tradition für uns nicht mehr gibt, wo dann aber immerhin auf der Grundlage der allgemeinen Gesetze der Sprache Rückschlüsse auch auf ihre Geschichte möglich bleiben. Im Hinblick auf dieses Verhältnis ist die von der neueren Wissenschaft gepflegte Verbindung der Untersuchungen weit voneinander abliegender Sprachstufen ein mächtiges Werkzeug dieser allgemeinen Sprachwissenschaft geworden. Ein mustergültiges Beispiel solcher Verbindungen sind besonders C. Meinhofs Arbeiten über die Bantusprachen der afrikanischen Völker. Nicht minder bedeutsam ist jedoch das vertieftere Studium der dereinst relativ vernachlässigten, durch ihre geschichtliche Tradition näher in die Kultursprachen hereinreichenden Sprachgebiete geworden. Friedrich Müller's umfangreicher Grundriß der Sprachwissenschaft (1876 bis 1888), der eine Übersicht über einen größeren Teil der menschlichen Sprachen zu geben versucht hat, ist zwar heute in vielen Punkten veraltet, aber das Werk behält das Verdienst, daß es zum erstenmal einen annähernden Überblick über die Hauptstufen der Sprache gibt und auf die Aufgaben hinweist, die hier der Zukunft gestellt sind. Noch mehr sind jedoch einzelne monographische Bearbeitungen der auf der Grenze zwischen Natur- und Kultursprachen stehenden Sprachgebiete für die historische und vielleicht noch mehr für die psychologische Seite der Sprachentwicklung von hervorragender Bedeutung. Besonders das weite Gebiet der sogenannten uralaltaischen Sprachen enthält hier einen wahrscheinlich noch lange nicht zureichend ausgeschöpften Stoff für die Untersuchung einer Fülle mannigfach differenzierter Entwicklungsstufen von Sprachformen, die jenseits der uns geläufigen Sprachen liegen, aber eben deshalb oft ein überraschendes Licht auf die allgemeineren Gesetze und die Mannigfaltigkeit der Sprachentwicklung überhaupt werfen. Ich bekenne, in dieser Beziehung aus Boethlinck's Buch über die Sprache der Jakuten gerade für die Psychologie der Sprache vieles gelernt zu haben. Es ist eine Sprache ohne Literatur, aus der persönlichen mündlichen Tradition geschöpft, aber sie zeigt uns einen Sprachstamm auf einer Entwicklungsstufe, die in den dem gleichen Gebiet angehörenden Kultursprachen, wie z. B. dem Magyarischen, zum Teil nur noch in einzelnen Resten erhalten geblieben ist. Was den Wert solcher uns völlig fremder Idiome in psychologischer Beziehung erhöht, das ist übrigens ebenso häufig der Unterschied wie die Übereinstimmung ihres Aufbaues gegenüber den uns geläufigen und darum manchmal fälschlicherweise für logisch notwendig gehaltenen Sprachformen.
Von den nahezu die Gesamtheit der Geisteswissenschaften umfassenden Gebieten ist es darum offenbar die Sprachwissenschaft, die auf ihrem eigenen Boden durch die heute über ihre ursprünglichen Grenzen weit hinausgeschrittene Pflege der vergleichenden Methode der Psychologie am meisten vorgearbeitet hat. Hier sind vielfach die psychologisch wichtigsten Ergebnisse geradezu mit Händen zu greifen, für welche dann der Psychologie nur die Einordnung in die Gesamtheit der psychologischen Entwicklungsgesetze als die Hauptaufgabe übrig bleibt. Um so merkwürdiger ist es, daß gerade die Sprachwissenschaft in den älteren völkerpsychologischen Untersuchungen wenig Beachtung gefunden hat. Selbst von Steinthal kann dies gesagt werden, der hier den Schwerpunkt seiner völkerpsychologischen Ausführungen durchaus auf Mythos und Religion legte. Zwar hat er das Verdienst, als einer der ersten in seinem noch heute lesenswerten Büchlein über die »Mandenegersprachen« (1867) manche Beobachtungen vorausgenommen zu haben, die wir in neuerer Zeit der zunehmenden Erforschung der Sudansprachen nur in reicherer Fülle verdanken. Aber als er daranging, die allgemeine Psychologie systematisch zu behandeln, da war es vorzugsweise die Psychologie des Kindes neben einer nach Herbart's Vorbild, wenn auch abweichend von diesem aufgebauten psychischen Mechanik, auf die er sich stützte (1871), und in seiner Schule haben diese »Steinthal'schen Formeln« eine Rolle gespielt, die kaum eine fruchtbare genannt werden kann. Man wird aber schwerlich fehlgehen, wenn man diesen Mißerfolg dem Einfluß zuschreibt, den der Anschluß an die durch und durch individualistisch geartete Psychologie Herbart's auf ihn ausübte. Hatte doch Herbart selbst schon in seinen Betrachtungen über den Staat, in denen er die Verhältnisse der Staatsbürger mit den Vorstellungen der individuellen Seele in Analogie brachte, kein brauchbares Beispiel gegeben. Wenn Steinthal, wie er selbst bezeugte, durch seinen Freund Lazarus zum Herbartianismus bekehrt worden ist, so würde er darum vielleicht besser getan haben, Hegel treu geblieben zu sein, dessen Spuren er ursprünglich gefolgt war. Auch kann ich nicht leugnen, daß ich geneigt bin, den Widerstreit zwischen Hermann Paul's neueren sprachpsychologischen Anschauungen und den meinigen zu einem wesentlichen Teil dem Umstande zuzuschreiben, daß die Herbart'sche Psychologie bei Paul immer noch nachwirkt.
Bekennt man sich nicht von vornherein zu irgendeinem psychologischen oder philosophischen System, sondern folgt man unbefangen den sprachlichen Erscheinungen selbst, so scheint es mir daher unzweifelhaft, daß es kein anderes Gebiet geistigen Lebens gibt, das in gleichem Grad ein zusammenhängendes Ganzes bildet wie die Sprache, und daß es zwar auch bei ihr an Mischungen heterogener Einflüsse, wie sie vor allem die eigentlichen Sprachmischungen erkennen lassen, nicht fehlt, daß aber diese doch gegenüber dem einheitlichen Aufbau und den wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Erscheinungen verhältnismäßig zurücktreten. Das ist um so bemerkenswerter, als sie besonders in ihrer jenseits der Literatursprachen liegenden Entwicklung nicht selten unabhängig von äußeren Einflüssen ist und gerade dann eine spezifische Eigenart an sich trägt, in der sie anderen Sprachen verwandt sein kann, immer jedoch dabei ihre Eigenart bewahrt. Man kann darum wohl sagen, jede Sprache repräsentiere eine nur ihr eigentümliche Gestaltung des menschlichen Denkens. In nichts offenbart sich dagegen die Verkehrtheit, Grammatik und Logik miteinander in eine feste innere Beziehung zu bringen, deutlicher als in dieser Tatsache. Auch würde es verfehlt sein, zu sagen, jede Sprache besitze ihre eigene Logik. Der Aufbau des menschlichen Denkens, den sie erkennen läßt, ist ein rein psychologischer. Es würde natürlich in abstracto denkbar sein, daß sich auch aus beliebigen anderen statt aus unseren indogermanischen Sprachen, die für die Entwicklung der aristotelischen und in ihrem Gefolge der gesamten neuen Logik maßgebend gewesen sind, eine Logik entwickelt habe, wie z. B. aus der chinesischen oder indischen, bei denen dies wirklich bis zu einem gewissen Grade zugetroffen ist, aber diese Logik würde doch in wesentlichen Punkten eine andere gewesen sein als die unsere, deren Bedeutung eben darin besteht, daß sie für die Wissenschaft maßgebend geworden ist.
Es ist hier nicht der Ort, die Gebiete der Völkerpsychologie, wie sie nach ihren wesentlichen psychologischen Richtungen in den sechs Büchern meines Werkes behandelt worden sind, auch nur im Umriß zu kennzeichnen. Nur einiger Hauptergebnisse mag gedacht werden, welche die Stellung, die hier der Psychologie der Sprache zukommt, ins Licht stellen. Als im März 1900 der erste die Sprache behandelnde Teil erschien, konnte ich namentlich auf zwei weitverbreitete Wortklassen hinweisen, die gegen die Ansicht vieler Indogermanisten von der allgemeinen Bedeutungslosigkeit der Sprachlaute eintreten: die Artikulationslaute und die Lautmetaphern. Die Beispiele mußten damals noch aus einer großen Zahl von Vokabularien zusammengetragen werden. Heute besitzen wir in den Schriften von Westermann über die Ewesprachen (1905 und 1907) eine Quelle, die eine solche Fülle namentlich von Lautmetaphern mit sich führt, daß diese niemand mehr für ein bloßes Werk des Zufalls halten wird. Kennzeichnender noch für den Geist der Sprache sind die verschiedenen Stufen, in denen uns die Entwicklung der Kasus-, der Verbal- und schließlich der Satzformen entgegentritt. Von den primitiven Sprachen an, die nur indifferente Nominalformen, also eigentlich nur Wörter für Gegenstände besitzen, über solche, die, wie die turanischen, zahlreiche Kasusformen mit den verschiedensten konkreten Bedeutungen entwickelt haben, bis schließlich zu den diese in ein beschränktes und relativ abstraktes System zusammenfassenden indogermanischen bietet sich uns eine fast unerschöpfliche Mannigfaltigkeit. Wie verschieden die Sprache in ihren Verbalformen die Vorstellungen von Zuständen und Tätigkeiten ausdrückt, dafür besitzen wir in dem Verhältnis der indogermanischen zu den semitischen schon altbekannte Beispiele, die sich in anderen Gebieten noch in der mannigfaltigsten Weise wiederholen usw. Jede abweichende Form der Sprache repräsentiert aber sichtlich zugleich eine eigenartige Form des Denkens. Hier bietet sich uns daher das wirkliche Material einer Psychologie des Denkens, das von einigen Psychologen auf dem gänzlich verkehrten Wege jener »Ausfrageexperimente« gesucht worden ist, bei denen man beliebige Individuen auf ihre zufälligen Selbstbeobachtungen examinierte. Man ist eben dabei an der wirklichen Quelle des menschlichen Denkens, die durchaus dem gemeinsamen Denken angehört, vorübergegangen, um sich an das zufällige individuelle Denken zu wenden. Es wiederholt sich also gewissermaßen der Irrtum jener naiven alten Sprachtheorie, die jede Sprache für die Erfindung eines einzelnen Menschen hielt. Gerade hier, auf dem Gebiet der Sprache, liegt aber, wie niemandem, der einmal den Ergebnissen einer wirklichen allgemeinen Sprachwissenschaft nähergetreten ist, zweifelhaft sein kann, der Schatz verborgen, der gehoben werden muß, wenn wir in den Besitz einer wahren psychologischen Entwicklungsgeschichte der zusammengesetzteren Vorgänge des Denkens gelangen sollen. Je mehr wir uns jedoch diesem Ziel auch nur von ferne nähern, um so deutlicher erkennen wir heute schon, daß gleichwohl jene elementareren Prozesse der Sinneswahrnehmung, wie sie sich uns in den einfachen Assoziations- und Apperzeptionsakten, den Gefühls- und Willensvorgängen des individuellen Bewußtseins darbieten, so auch in den psychischen Vorgängen des gemeinsamen Lebens wiederkehren, so daß nun nicht minder umgekehrt die Untersuchung dieser komplexen Prozesse als Führerin dienen kann, wo die herkömmliche Assoziationspsychologie zur Interpretation schon der einfacheren Wahrnehmungsvorgänge nicht ausreicht. Das eben ist der Grund, weshalb jene einfachen Erscheinungen des Seelenlebens, mit denen es die experimentelle Psychologie zu tun hat, eine schwer entbehrliche Vorbereitung zur Psychologie der höheren geistigen Vorgänge ist, während diese wiederum auf die einfacheren Erscheinungen ihr Licht werfen. Beide, Individualpsychologie und Psychologie der Gemeinschaft, gehören zusammen, und das Denken in seiner die komplexen Vorgänge des Seelenlebens umfassenden Bedeutung läßt sich ebensowenig aus den Eigenschaften des individuellen Bewußtseins allein ableiten, wie sich etwa der Staat als eine rein individuelle Erfindung begreifen läßt. Zugleich darf aber dabei, wie wiederum besonders die Psychologie der Sprache lehrt, nicht die willkürliche logische Rekonstruktion der Vorgänge an die Stelle einer wirklichen Psychologie treten. Das tatsächliche Denken, das sich uns in der Mannigfaltigkeit seiner sprachlichen Ausdrucksformen darbietet, ist eben nicht weniger unmittelbare Wirklichkeit wie die einfachste Sinneswahrnehmung. Es folgt gleich dieser trotz seiner Vielgestaltigkeit psychologischen Gesetzen, und es kümmert sich nicht um die Normen, welche die Wissenschaft in der Logik als die besonderen Gesetze des richtigen, zu Erkenntniszwecken geeigneten Denkens festgestellt hat.
Von der Kunst hegt man nicht selten die Meinung, sie stehe am entgegengesetzten Ende der Reihe menschlicher Geisteserzeugnisse, die sich von der Sprache als der ausgesprochensten Gemeinschaftsbildung an bis zu den rein individuellen Schöpfungen erstrecke. Gleichwohl ist dies nach beiden Richtungen ein Irrtum. In irgendeinem Grade greift mehr oder minder der einzelne in die Entwicklung der Sprache ein, ebenso wie die Sprache als Ganzes nur insofern existiert, als sie fortwährend in den einzelnen ihre Träger hat. Nur darin liegt allerdings ein bezeichnender Unterschied, daß das einzelne Kunstwerk von Anfang an ein zusammengesetzteres Gebilde ist als die einzelne Sprachäußerung. Dennoch entwickelt es sich nicht minder nach übereinstimmenden Gesetzen, die in oft überraschender Weise und in ihren Grundzügen sogar in viel weiterer Ausdehnung als die Sprachäußerung sich über zahlreiche Völker erstrecken, ja schließlich vielleicht der ganzen Menschheit gemeinsam sind. Bild und Ornament sind in der sogenannten bildenden Kunst die beiden letzten Bestandteile, die sich auf die Zeichnung als die einfachste künstlerische Tätigkeit zurückführen lassen, wobei freilich das Wort Ornament in seiner allgemeinsten Bedeutung falsch ist, weil man es einer Stufe der Kunst entnommen hat, die über seine ursprüngliche, bei den primitiven Völkern verbreitetste Form weit hinausgeht. Der Primitive zeichnet vorzugsweise schematische, nicht selten unseren geometrischen Ornamenten ähnliche Figuren, denen er schwerlich überall zugleich eine bildnerische Bedeutung beilegt; denn außer ihnen pflegt er auch, wenngleich spärlicher, Bilder zu zeichnen, die unverkennbar irgendwelche Gegenstände nachahmen. Beide Formen künstlerischer Produktion sind aber in den verschiedensten Regionen der Erde bei Naturvölkern von sonst weit abweichender Kultur von geradezu überraschender Ähnlichkeit. Dasselbe gilt für weit voneinander entfernte Zeiten, für Gebiete also, in denen die Sprachen die äußersten Abweichungen darbieten, abgesehen etwa von den Artikulationslauten und Lautmetaphern, die auf jener allgemeingültigen Beziehung zwischen den Ausdrucksbewegungen und den seelischen Stimmungen des Menschen beruhen, wie sie uns auch in dem Tanz und in den übereinstimmenden rhythmischen Gesetzen begegnen, die alle seine Bewegungen beherrschen.
Je mehr die Erzeugnisse und Richtungen des geistigen Lebens in seinen zunächst an die körperlichen Bedürfnisse gebundenen und dann sich allmählich über diese erhebenden Formen in das Ganze der Kultur eingreifen, um so mehr differenzieren sie sich nun natürlich innerhalb der einzelnen Völkergebiete, wie ich das in dem dieses Ganze der Kultur zusammenfassenden letzten Band meiner Völkerpsychologie zu zeigen versucht habe. Nichtsdestoweniger sind es auch hier wieder die primitiveren Zustände, die weitgehende Übereinstimmungen in den verschiedensten, aller Wahrscheinlichkeit nach auch voneinander völlig unabhängig zu ihrem heutigen Zustand entwickelten Kulturgebieten zeigen. Man denke nur an Begriffe wie Animismus, Fetischismus, Totemismus und viele andere oder an die oft wunderbaren Übereinstimmungen, die zwischen weit entlegenen religiösen Vorstellungen vorkommen, zwischen denen ethnologische oder gar genealogische Beziehungen, wie z. B. zwischen dem mexikanischen und dem babylonischen Mythus, durchaus nicht nachzuweisen sind. Um so mehr pflegen dann aber die allgemein menschlichen psychologischen Bedingungen auf der Hand zu liegen.
Gegenüber diesen Übereinstimmungen, die in den Gebieten des Mythus vorherrschen, dessen frühestes Ausdrucksmittel die Kunst ist, bietet endlich die Organisation der menschlichen Gesellschaft auf ihren verschiedenen Stufen ein Bild reicher Differenzierung. An ihm sind die während einer noch nicht lange verflossenen Zeit gemachten Versuche allgemeingültige Ausgangspunkte, wie das sogenannte Mutterrecht, die totemistische Exogamie u. a. nachzuweisen, jetzt im Hinblick auf eine gründlichere ethnologische Forschung als gescheitert zu betrachten. Um so augenfälliger tritt hier eine zweite Tatsache hervor, die in gewissem Sinn als eine nach der entgegengesetzten Seite liegende Übereinstimmung betrachtet werden kann. Sie besteht darin, daß uns weitgehende Differenzierungen in manchen Regionen der Erde oft dicht nebeneinander begegnen, die gleichwohl als Zeugnisse einer zusammenhängenden Entwicklungsreihe erscheinen. Gerade hier hat daher unsere heutige Erkenntnis nicht selten mit veralteten schematischen Vorstellungen aufgeräumt, die nicht zum geringen Teile darauf beruhten, daß man namentlich die geläufigen und bis zu einem gewissen Grade freilich überall anwendbaren Begriffe der Staatsformen schablonenhaft über die Völker verteilte. Wie z. B. der Typus des Negers vor noch nicht langer Zeit die mannigfaltigsten Mischungen und Übergänge der afrikanischen Rassen- und Völkertypen verdrängte. So ist das Bild des despotischen Neger- und Sklavenstaates noch immer für den ganzen dunklen Kontinent das vorherrschende geblieben. Dennoch zeigt gerade Afrika ein Nebeneinander politischen Lebens, in welchem sich im Grunde die ganze Geschichte des Staates in seinen mannigfaltigen Gestaltungen wiederholt. Neben der allerdings weit verbreiteten despotischen Monarchie treffen wir hier Übergangsformen zwischen ihr und oligarchischen Einrichtungen und von diesen aus wieder, wie im Togogebiet, Verfassungen, die eine gewisse Analogie mit unseren Bundesverfassungen oder konstitutionellen Monarchien nicht verleugnen. Dabei sind es sichtlich Mischungen der Völker, Wanderungen, bei denen, wie im Wagandagebiet, verschiedene Stämme von abweichender Kultur einander verdrängt haben, endlich nicht zum geringsten Teil kriegerische Verwicklungen oder umgekehrt friedliche Handelsbeziehungen, die diese verschiedenen Zustände bestimmen. Nach einer anderen Richtung tritt uns eine solche Differenzierung in den ozeanischen Gebieten entgegen, in denen sich namentlich in der Inselwelt Polynesiens die Spuren einer innerlich tiefgehenden, aber für unsere Beobachtung zumeist längst verschwundenen Geschichte der Kultur verraten. Für die Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens liefert so die Psychologie der Völker ein so überreiches und doch wieder in seinen allgemeinsten Zügen übereinstimmendes Bild, daß man wohl heute schon sagen kann, die Psychologie der Gesellschaft stehe hier der Geschichte der Kulturvölker als eine überaus reiche Quelle von vielleicht gleichem Wert gegenüber. So faßt sich in der Psychologie von Staat und Gesellschaft schließlich als in einem besonders eindrucksvollen Beispiel zusammen, was uns die Völkerpsychologie in den Erscheinungen des gemeinsamen Lebens, Sprache, Kunst, Mythus und Religion, als allgemeinstes Ergebnis vor Augen führt: Sie ist auf allen Gebieten der Kultur ein ebenso unwiderlegbares Zeugnis der Mannigfaltigkeit des geistigen Lebens, wie in den von ihr durchforschten Erscheinungen immer und immer wieder die Einheit des menschlichen Geistes in seinen allgemeinen Anlagen und Strebungen zum Ausdruck kommt.
Im Sommer 1875 hielt ich an der Universität Zürich eine Vorlesung über Logik in wöchentlich vier Stunden und eine solche über Völkerpsychologie in drei Stunden, beide zum ersten Male. Es war ein kühnes Unterfangen für einen Ordinarius, der vor kurzem erst sein Amt angetreten und zuvor als Privatdozent und Extraordinarius höchstens ein- bis zweistündige Vorlesungen über allerlei andere Gegenstände gehalten hatte. Aber ich hatte mich in meiner Lektüre gerade mit diesen Gegenständen viel beschäftigt, und es geschah nicht ohne Absicht, wenn ich diese äußerlich scheinbar so verschiedenen Aufgaben verband; auch tat ich es, wie ich bekennen muß, mindestens ebenso zu meiner eigenen Belehrung wie zu der meiner Zuhörer. Die Lage der Logik war in jenen Tagen in Deutschland zu einer höchst eigenartigen geworden. Justus Liebig hatte wenige Jahre zuvor zuerst den Naturforschern das Studium von John Stuart Mill's Logik angelegentlich empfohlen, und nachdem die Übersetzung dieses Werkes von J. Schiel, einem jüngeren Liebig befreundeten Chemiker, rasch nacheinander zwei Auflagen erlebt hatte, übte Liebig's Empfehlung eine Wirkung aus, die zum Teil weit über die Kreise der Naturforscher hinaus, namentlich in die der Juristen und Historiker sich ausbreitete. Mill's Logik wurde, was noch niemals einem deutschen Werke über den gleichen Gegenstand begegnet war, ein in den Kreisen der Einzelwissenschaften viel gelesenes und empfohlenes Buch. Daß Helmholtz in seiner physiologischen Optik sich ausdrücklich auf Mill berief, trug nicht wenig zu dieser Verbreitung bei, die später nicht nur zu einer nochmaligen Übersetzung der Logik von Gomperz, sondern auch zu einer deutschen Ausgabe der gesammelten Werke dieses Philosophen führte, woran dann eine zunehmende Beachtung desselben von seiten der dem Positivismus zuneigenden deutschen Philosophen sich anschloß.
Noch erinnere ich mich der lebhaften Dispute, die ich kurz nach der Lektüre der Logik Mill's mit seinem ersten Übersetzer Schiel führte. Dieser hatte ein etwas abenteuerndes Leben geführt. Als es ihm in Deutschland mit seinem Beruf als Chemiker nicht nach Wunsch glückte, war er nach Amerika ausgewandert und hatte dort mit einigen anderen ausgewanderten Kollegen eine Universität auf Aktien gegründet, die aber leider nicht glücken wollte. In der medizinischen Fakultät war z. B. wie er erzählte, der auf gemeinsame Kosten erstandene Kadaver das einzige Individuum gewesen, das außer den Dozenten diese Fakultät bevölkerte. In Heidelberg trieb dann Schiel eine eifrige Propaganda für englische Philosophie und ganz besonders für Stuart Mill. In der Tat ließ sich ja nicht leugnen, daß dessen Logik durch ihre lebendige Darstellungsweise eine ungleich anziehendere Lektüre bot als die irgendeines anderen Philosophen. Aber wenn Mill beispielsweise behauptete, die Eigenschaft der Dinge zählbar zu sein und also auch die Zahlen selbst seien ebenso gut empirische Qualitäten wie die Farben und Töne, so mußte das von vornherein jedem Deutschen, der sich auch nur wenig mit Kant beschäftigt oder etwas genauer in die Mathematik selbst geblickt hatte, von vornherein als eine absurde Behauptung erscheinen; und prüfte man erst, von solchen besonders augenfälligen Punkten ausgehend, den sonstigen Inhalt, so geriet unvermeidlich auch dieser in ein bedenkliches Schwanken. Mill hatte mich also nicht bekehrt. Aber auch Kant's Raum- und Zeitlehre und im Gefolge dieser seine aprioristische Erkenntnistheorie erregten, nachdem ich einmal zum Zweifler geworden war, meine schweren Bedenken.
Lag darin Anlaß genug, die Grundfragen der Logik planmäßig durchzudenken und zu diesem Zweck das Ganze zunächst einmal der Feuerprobe einer eingehenderen akademischen Vorlesung zu unterwerfen, so kam aber dazu noch ein anderes Motiv, das mich nun veranlaßte, gerade das scheinbar der Logik heterogenste Thema, die Völkerpsychologie, in dem gleichen Semester und in parallele zur Logik vorzunehmen. Als ich den Versuch machte, mich von der Theorie der Sinneswahrnehmung ausgehend mit den zusammengesetzteren Problemen der Psychologie zu beschäftigen, konnte ich mich dem Eindruck nicht entziehen, daß zwischen beiden Gebieten eine Kluft bestehe, die um so dringender der Ausfüllung bedürfe, weil die mit Hilfe der Physiologie zur experimentellen Behandlung fortgeschrittenen Gebiete vielfach auf Beziehungen des logischen Denkens zu den verwickelteren Bewußtseinsvorgängen hinwiesen. Besonders seitdem ich selbst in der ersten Auflage der physiologischen Psychologie mir bereits die Aufgabe gestellt hatte, den im Grunde die wirkliche Lösung hinter einem bloßen Wort verbergenden Begriff der »unbewußten Schlüsse« zu eliminieren und durch tatsächliche, also bewußt nachweisbare psychische Vorgänge zu ersetzen, wurde mir der Gegensatz, in den hier die verschiedenen Gebiete der Psychologie zueinander geraten waren, immer unerträglicher. Auf der einen Seite war es gelungen, eine große Zahl sinnlicher Vorgänge, wie z. B. die Lokalisation der Tastendrücke, das stereoskopische Sehen, ja vielleicht, wenn auch unter Hinzunahme hypothetischer Voraussetzungen, Probleme wie die Entstehung des Sehfeldes und die Bedingungen zahlreicher Gesichtstäuschungen auf einen klaren kausalen Zusammenhang von Empfindungselementen zurückzuführen; auf der andern Seite fiel man, sobald von da aus zu den Assoziations- und Gedächtniserscheinungen oder vollends zu den höheren psychischen Prozessen, wie den Phantasie- und Willensvorgängen, übergegangen wurde, nicht bloß dem die ganze Psychologie beherrschenden Intellektualismus, sondern geradezu einem Logizismus anheim, der Logik und Psychologie in unerträglicher Weise miteinander vermischte. Hier stand mir daher die Ausgleichung zwischen der sogenannten höheren und der niederen Psychologie als eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft vor Augen, um so mehr, seitdem ich selbst einen wenn auch vielleicht nur scheinbaren Logizismus aus der Theorie der Sinneswahrnehmung verbannt hatte. Als ich es unternahm, die Logik und die Völkerpsychologie in einem und demselben Semester nebeneinander zu behandeln, schwebte mir daher eine doppelte Aufgabe vor: auf der einen Seite wollte ich durch gründliches Durchdenken der logischen Probleme tiefer in den Sinn derselben eindringen, um die Zweifel, die hier der Widerstreit der Richtungen, der sogenannten aprioristischen oder überlieferten scholastischen Logik und der vornehmlich durch Mill neu inaugurierten empiristischen oder psychologistischen erweckte, zu beseitigen. Anderseits hatte ich schon im zweiten Band der Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele bei der in ihm versuchten populären Behandlung der Völkerpsychologie den Eindruck erhalten, daß in ihr zugleich Aufschlüsse über die komplexen Phänomene des individuellen Bewußtseins zu gewinnen seien. Als ich dann in Zürich der Bearbeitung dieser Fragen näher trat, drängte sich mir damals schon die Überzeugung auf, daß vor allen anderen Erscheinungen der Gemeinschaftspsychologie die Sprache die durch die Wissenschaft bis dahin am meisten vorbereitete sei. Es mag sein, daß diese Ideen durch das in der letzten Zeit noch in Heidelberg betriebene Studium der logischen Schriften des Aristoteles und vielleicht mehr noch seiner mich vor allem fesselnden Werke zur Ethik und Politik, in denen ich bereits eine Art Psychologie der Gesellschaft erblickte, angeregt worden sind.
Es war eine Zeit stiller Zurückgezogenheit, die meinem Ausscheiden aus dem Heidelberger physiologischen Institut folgte, eine Zeit, in der ich mich vornehmlich logischen und naturphilosophischen Studien widmete. In einer nach der Gartenseite vier Treppen hoch liegenden Dachkammer meiner Wohnung hatte ich mir einen Arbeitsraum eingerichtet, der an idealer Stille und Ungestörtheit nichts zu wünschen übrig ließ. Hier war alles zusammengetragen, was ich auf der Universitätsbibliothek an Literatur zur Geschichte der Physik und Mechanik und der in diese hereinreichenden Philosophie vorfand. So ist das Büchlein über die »physikalischen Axiome« entstanden, von dem ich in dem Vorwort zur zweiten Auflage (1910) gesagt habe, es sei meine erste philosophische Arbeit gewesen. Ich hatte mir darin die Aufgabe gestellt, unter den Voraussetzungen, die der physikalischen Forschung zugrunde liegen, diejenigen herauszufinden, die den Charakter der Apriorität, also einer ihnen beigelegten logischen Notwendigkeit an sich trügen. Es sollten aber darunter hauptsächlich solche gemeint sein, denen dieser Charakter vorzugsweise bei ihrer ersten Auffindung und Anwendung beigelegt worden war, gleichgültig ob sie sich denselben in der späteren Geschichte der mechanischen Naturlehre bewahrt hatten. Im Gegenteil, mein Bemühen war besonders auch darauf gerichtet, da, wo sich in dieser Beziehung die Auffassung der betreffenden, von mir in dieser Schrift als Axiome bezeichneten Sätze gewandelt hatte, diesen Wandel geschichtlich nachzuweisen. Ich glaubte damals sechs Axiome solcher Art aufstellen zu dürfen, die sämtlich als apriorische Attribute des physikalischen Kausalprinzips anzusehen seien, weil sie nicht etwa unmittelbar der Erfahrung entnommen, sondern mindestens bei ihrer ersten Aufstellung vor aller Erfahrung vorausgesetzt worden waren. Das war in erster Linie der Satz, daß alle Ursachen in der Natur Bewegungsursachen sind, dem der andere zur Seite stand, jede Bewegungsursache liege außerhalb des Bewegten. Zu ihnen kamen die zwei weiteren Axiome von der geradlinigen Wirkung und das von dem Beharren der Wirkung, das gewöhnlich sogenannte Trägheitsgesetz, endlich der Satz von der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung und das Prinzip von der Äquivalenz der Ursachen und Wirkungen, das bekanntlich in dem sogenannten Gesetz von der Erhaltung der Kraft eine Art Übertragung des Beharrungsgesetzes von der einzelnen Kraftwirkung auf ein System zusammenwirkender Kräfte darstellt.
Im Vordergrund steht hier vor allem das Trägheitsprinzip. Es bietet ein schlagendes Beispiel, weil seine erste Aufstellung durch Galilei unzweifelhaft ist. Es ist klar, daß er es als ein apriori gültiges Gesetz betrachtet und eine streng empirische Nachweisung desselben sogar wegen der niemals fehlenden Widerstände der Bewegung für unmöglich gehalten hat. Es scheint einfach selbstverständlich, daß ein von einer momentanen Kraft in Bewegung gesetzter Körper sich ins Unendliche geradlinig und mit konstanter Geschwindigkeit fortbewegen würde, wenn er keinen Widerstand auf seiner Bahn fände. Freilich hat Galilei dieses Gesetz nicht etwa als eine subjektive Maxime oder ausdrücklich als ein logisch notwendiges betrachtet, sondern es galt ihm als ein objektiv in der Natur selbst liegendes, und darin war bereits das Motiv vorbereitet, welches die späteren Physiker veranlaßte, es in eine empirische Eigenschaft der Körper umzuwandeln. Zuerst war es, wie es scheint, Euler, der dem Prinzip den Namen der »Vis inertiae« gegeben hat. Darin lag, daß man es nun ähnlich wie Schwere, Wärme, Licht und andere Naturkräfte lediglich als eine in der Erfahrung gegebene Eigenschaft der Körper ansah. Es war dieselbe Objektivierung, die hier die Umwandlung der Apriorität des Gesetzes in eine empirische Tatsächlichkeit bewirkte, wie sie im Grunde für die Naturgesetze überhaupt Galilei selbst schon in seinem »Principium simplicitas« vorausgenommen hatte. Denn das Postulat der Einfachheit der Naturgesetze war ein überall seine Untersuchungen leitender Grundsatz. Er faßte aber diesen Grundsatz nicht als einen logischen unseres Denkens auf, sondern als ein objektiv gültiges Naturgesetz, indem er erklärte, die Natur vollbringe alle ihre Wirkungen mit den einfachsten Mitteln. Das Schicksal des Trägheitsprinzips ist dann vorbildlich geworden für alle späteren apriorischen Formulierungen von Naturgesetzen. Ein treffendes Beispiel ist hier das letzte der oben als Axiome hingestellten Gesetze, das der Äquivalenz von Ursache und Wirkung oder, wie es gewöhnlich genannt wird, das der Erhaltung der Kraft. Die Definition, mit der Robert Mayer seine erste Arbeit über diesen Gegenstand in Liebig's Annalen der Chemie und Pharmazie vom Jahre 1842 eröffnete, und in der er die Naturkräfte als »unzerstörbare Objekte« bezeichnete, ist offenbar nichts anderes als ein Ausdruck für die selbstverständliche Wahrheit, die er der Erhaltung der Kraft beilegt. Nur geschieht das hier bereits mit Hilfe der Objektivierung dieses Satzes, zu welchem Zweck er sich des Substanzbegriffs bedient, dessen Eigenschaft zu beharren er auf die Naturkräfte überträgt.
Der wesentlich neue Gesichtspunkt, unter dem ich in der Schrift über die Axiome der Aufstellung dieser nachging, bestand nun darin, daß ich die ihre erste Aufstellung offenbar überall begleitende Idee ihrer apriorischen Notwendigkeit auf die wahren logischen Motive dieses Gedankens zurückzuführen suchte, indem ich die tatsächlich von ihren Entdeckern angeführten einer vermeintlichen Selbstverständlichkeit oder Einfachheit der Naturgesetze als bloße gefühlsmäßige Ausdrucksformen dieser verborgenen logischen Motive ansah. Da war es nun überall ein einziges Prinzip, das ich statt dieser unvollkommenen, zumeist auf einer unberechtigten Objektivierung beruhenden Scheinbaren, als das tatsächlich wirksame annehmen zu dürfen glaubte. Dies war das Prinzip, das ich allgemein als das der »Abstraktion von dem Zuschauer« bezeichnete. Es bestand in dem Gedankenexperiment, das der Entdecker eines Axioms anwende, indem er sich bei der Aufstellung eines Satzes die in demselben in Relation gebrachten Objekte ausschließlich in ihrem Verhältnis zu einander, unter Hinwegdenken von allen andern sonst möglichen räumlichen und zeitlichen Beziehungen, vorstelle. So gewinne der Satz von der Ausschließlichkeit der Bewegungsursachen seinen axiomatischen Charakter durch die logische Forderung einer Beschränkung der Betrachtung auf den einzelnen in Bewegung gedachten Punkt; so der Satz von der geradlinigen Wirkung der einfachen Bewegungsursache und derjenige von der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung durch die räumliche Isolierung zweier in Relation gedachter Punkte usw. Diese Interpretation ließ sich ohne Schwierigkeit auf die sämtlichen sechs Axiome anwenden. Zugleich konnte aber dieses Abstraktionsprinzip als ein logisch zwingendes und von den verwinkelteren Tatsachen der experimentellen Beobachtung auf die einfachsten denkbaren Fälle zurückgeführtes angesehen werden, das sich jedoch bei dem Beobachter nicht als ein logisch evidentes geltend mache, sondern sich hinter unbestimmten gefühlsmäßigen Ausdrücken, wie Selbstverständlichkeit oder Einfachheit, verberge. Natürlich sollte diese Deduktion der Axiome nicht die Wahrheit dieser selbst nach ihrem objektiven Gehalt, sondern lediglich eben jene unbestimmte Apriorität beweisen, die ihnen vor allem die Auffassung ihrer ersten Entdecker beilegte, und die daher immerhin als ein Motiv dieser Entdeckungen neben der im allgemeinen erst nachträglich sicher festzustellenden Übereinstimmung mit der objektiven Erfahrung zu betrachten sei.
Darin bestätigte sich nun zugleich eine allgemeine Folgerung, die für den Begriff der Erfahrung überhaupt von entscheidender Bedeutung ist, und zu der im Grunde jede Analyse der Erfahrung zurückführt, wenn sie auch bei den Erfahrungsinhalten, denen wir in der Wissenschaft Evidenz oder Notwendigkeit beilegen, am augenfälligsten zutage tritt. Dies will nicht bedeuten, daß in dieser Beziehung ein Wesensunterschied zwischen den beiden, an sich in vielen Fällen nur unsicher gegeneinander zu begrenzenden Arten der Erfahrung, der rein empirischen und der zugleich a priori evidenten, besteht. Indem schon die gemeine Erfahrung aus der unmittelbaren Auffassung unserer Vorstellungsinhalte, soweit ihr in der Wahrnehmung selbst Anlässe hierzu gegeben werden, die Sinnestäuschungen ausschaltet, bereitet sich in ihr die wissenschaftliche Erfahrung und damit die logische Prüfung der Erfahrung vor, doch sie bleibt fragmentarisch und geht erst durch eine methodische, logisch möglichst folgerichtige Umgestaltung in die wissenschaftliche über. Demnach sind Wahrnehmung und logisches Denken die Faktoren aller Erfahrung, Wahrnehmung und folgerichtiges logisches Denken die Faktoren der wissenschaftlichen Erfahrung. Indem aber die wissenschaftliche Erfahrung eine innere Übereinstimmung der Erfahrungsinhalte und der Resultate ihrer logischen Prüfung erstrebt, wird es begreiflich, daß von ihr nicht selten die Beteiligung des logischen Denkens an aller, auch schon der gemeinen Erfahrung mehr oder weniger vernachlässigt wird. Klassische Beispiele für diese beiden Fälle besitzen wir in den zwei originellsten neueren Werken über die Prinzipien der Mechanik von H. Hertz (1894) und von L. Boltzmann (1897), von denen das erstere nachdrücklich die Beteiligung des logischen Denkens und damit der apriorischen Konstruktion an der Aufstellung der Prinzipien betont, während das zweite sie ausschließlich auf die Erfahrung zurückführt. Dabei ist es jedoch bemerkenswert, daß beide mindestens indirekt insofern dem apriorischen Faktor sein Recht zugestehen, als sie einen notwendigen logischen Zusammenhang der verschiedenen Prinzipien untereinander voraussetzen, so daß es im Grunde gleichgültig ist, ob man mit Boltzmann nach der herrschenden Auffassung von den Begriffen der Geschwindigkeit und der Beschleunigung oder nach Hertz ausnahmsweise von dem der Masse ausgeht. Da der Begriff der Beschleunigung nur eine phänomenologische Übersetzung des Begriffs der Kraft, Kraft und Masse aber korrelate Begriffe sind, so ist die Möglichkeit, den einen oder den andern zum Grundbegriff zu nehmen, von vornherein einleuchtend. In beiden Fällen ist ein logischer Zusammenhang nicht denkbar, ohne daß an der Aufstellung eines solchen Systems von Prinzipien überhaupt das logische Denken beteiligt wäre. Wenn übrigens die Prinzipien, welche diese beiden Vertreter der klassischen Mechanik unterscheiden, an Zahl die von mir aufgestellten sechs übertreffen, so hat dies seinen Grund darin, daß es ihnen in erster Linie auf deren Vollständigkeit ankommt und sie daher auch solche aufnehmen, in denen, wie in Raum und Zeit, die logische und die empirische Notwendigkeit zusammenfallen, so daß hier von einer Entstehung- oder gar Entdeckungsgeschichte, wie bei den spezifischen Axiomen der Mechanik, nicht die Rede sein kann. Diese letzteren sind stets zugleich Hypothesen, also Voraussetzungen, die zwar innerhalb des eingeschlagenen Weges der Betrachtung, nicht aber in allgemeingültigem Sinne Notwendigkeit besitzen. In der Tat hat es nicht nur eine Zeit gegeben, in der die Wissenschaft die Axiome der klassischen Mechanik noch nicht kannte, sondern es ist auch die Möglichkeit vorhanden, daß ein anderes System an ihre Stelle gesetzt wird. Hierdurch kreuzt sich aber diese Möglichkeit, innerhalb eines und desselben Systems mechanischer Prinzipien die Ausgangspunkte zu variieren, mit dem fundamentaleren Unterschied, das System selbst durch ein anderes zu ersetzen oder, was damit zusammenfällt, den abstrakten Begriff der Mechanik in dem Sinne zu bilden, daß ihm beliebig verschiedene Systeme subsumiert werden können. Geschieht dies, so wandeln sich dann gerade die beiden Begriffe, die unter den Voraussetzungen der Mechanik selbst einen spezifisch mechanischen Charakter nicht besitzen, nämlich der Raum und die Zeit, in die beiden Faktoren um, auf deren Variation die verschiedenen möglichen mechanischen Systeme beruhen.
Nun haben sich von zwei Seiten her in der neueren Physik Gesichtspunkte eröffnet, die den Gedanken nahelegten, daß an die Stelle der Schwere, auf die die von Galilei und Newton ausgebildete Mechanik begründet ist, möglicherweise eine andere Naturkraft gesetzt werden könnte. Auf der einen Seite bereiteten die Arbeiten von Maxwell und Hertz zur elektromagnetischen Lichttheorie der Subsumtion unter die Begriffe der Gravitationsmechanik bisher nicht überwundene Schwierigkeiten. Auf der andern Seite führten von verschiedenen Richtungen her Spekulationen über den Ursprung des Trägheitsprinzips zu dem Gedanken einer Unterordnung der überlieferten Gravitationsmechanik als eines konkreten Beispiels unter einen allgemeineren Begriff, der weitere, an andere Naturkräfte, wie z. B. das Licht, gebundene Bezugssysteme nicht ausschließe. Von diesen beiden Seiten her hatte sich offenbar schon das oben bereits erwähnte sogenannte Relativitätsprinzip vorbereitet.
Als ich im Jahr 1910 zu einer zweiten Auflage der Schrift über die physikalischen Axiome schreiten mußte, waren es diese neuen Gesichtspunkte, die mich veranlaßten, den Begriff der Axiome durch den der Hypothesen oder, genauer ausgedrückt, der »axiomatischen Hypothesen der Mechanik« zu ersetzen. Es sollte damit eben gesagt werden, daß außer dem System der überlieferten klassischen Mechanik auch ein anderes denkbar sei. Aber dieser Vorbehalt bezog sich selbstverständlich nicht auf jene logischen und zugleich anschaulichen Motive, die den sechs in der Schrift behandelten Evidenzaxiomen zugrunde liegen. Da diese Motive der Raum- und Zeitanschauung, nicht den in dem gewählten Bezugssystem verwendeten Naturkräften angehören. So werden sie vielmehr als unabhängig von den letzteren anzusehen sein. Das gilt vor allem von dem Trägheitsprinzip, in ähnlichem Sinne aber auch von der Ausschließlichkeit der Bewegungsursachen, von der Konstanz der Naturkräfte, der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung usw.. Um so mehr bleibt daher für die allgemeine mechanische Betrachtung der Naturkräfte das Prinzip bestehen, daß sie auf einem untrennbaren Zusammenwirken empirischer und logischer Bedingungen beruht, die von hier aus auf die Gesamtheit der Naturerscheinungen übergeht und demnach in ihren ersten mehr instinktiven Anwendungen schon innerhalb der gemeinen Erfahrung beginnt, um darauf als festes Prinzip in der wissenschaftlichen Erfahrung zur Geltung zu kommen. Damit ist dann auch zugleich die Aufgabe einer wissenschaftlichen Logik ausgesprochen; sie kann nur darin bestehen, daß man sich in ihr über die Normen des Denkens Rechenschaft gibt, die jeder wissenschaftlichen Erfahrung zugrunde liegen.
Fast genau in dem Augenblick, als ich die Schrift über die physikalischen Axiome beendet hatte, wurde ich durch die Wahl in den badischen Landtag zu einer Tätigkeit abgerufen, die für konzentrierte Arbeiten wie diese keinen Raum ließ. Das vom September 1866 datierte Vorwort zu jener Schrift ist, wie ich mich genau erinnere, schon in dem Ständesaal zu Karlsruhe geschrieben. Nach meinem Austritt aus dem Landtag hatte mich dann die Ausarbeitung der physiologischen Psychologie so sehr in Anspruch genommen, daß die geplante weitere Beschäftigung mit der Logik zunächst zurücktrat. Außerdem hatte für mich noch in anderer Beziehung eine neue Lebensordnung begonnen. Wenn die meisten noch nicht durch eine feste Professur gebundenen Dozenten an unseren Hochschulen begreiflicherweise bemüht sind, eine solche durch die Berufung an eine auswärtige Universität zu gewinnen, so waren solche Sorgen mir jahrelang fern gelegen, derart, daß selbst entferntere Bekannte sich darüber wunderten und meine näheren Freunde es allmählich mißbilligten. Aber es mag sein, daß diese Sorglosigkeit um das was wir Deutsche ja in der Tat vollkommen zutreffend eigentlich nur mit dem französischen Wort der Carrière zu bezeichnen wissen, in den mannigfachen sozialen und politischen Interessen, die mich an Heidelberg fesselten, ihre Quelle hatte. Immerhin veränderten sich hier die Verhältnisse dadurch, daß von nun an die Vorlesungen eine viel wichtigere Stellung in meinem Leben einnahmen. Ich hatte ein physiologisches Privatlaboratorium und hielt nicht nur in diesem praktische Übungen ab, sondern pflegte auch im Sommer in sechs bis sieben wöchentlichen Stunden ein Kolleg über Physiologie zu lesen, um dann im Winter ein freilich meist nur zweistündiges über Anthropologie oder über ein allgemeineres naturwissenschaftliches Thema zu halten. Einmal habe ich auch über Psychologie gelesen, bin aber in diesem ersten Kolleg nicht über eine Einleitung in die Physiologie der Zentralorgane, ein Kapitel, das in meinen späteren Vorlesungen über diesen Gegenstand ganz hinwegfiel, hinausgekommen. Außerdem erneuerte sich der Verkehr mit alten Freunden. Zusammen mit Holtzmann und Hausrath gründete ich den allwöchentlich seine Sitzungen haltenden historisch-philosophischen Verein, dessen Statuten wohl die zwanglosesten gewesen sind, die sich denken lassen. Dieser Verein hatte keinen Vorsitzenden, sondern das Präsidium wechselte alphabetisch. Nur ein ständiger Sekretär war vorhanden, der kurze Protokolle verfaßte und für die sonstigen notwendigsten Geschäfte sorgte. Als solcher fungierte jahrelang Wilhelm Oncken, der spätere Gießener Historiker. Anfänglich gehörte nur ein Teil der jüngeren Dozentenschaft dem Verein an. Nachdem Bluntschli von München nach Heidelberg berufen war, trat aber dieser, der von Anfang an mit Vorliebe Beziehungen zu der jüngeren Generation aufsuchte, dem Verein bei, und seinem Beispiel folgten bald auch andere ältere Mitglieder besonders der geisteswissenschaftlichen Abteilung der philosophischen Fakultät: so Eduard Zeller, der aus Marburg berufene PhiIosoph, Wilhelm Wattenbach der Historiker, Goldschmidt der Jurist, zuweilen auch Helmholtz u. a.. Es wurde jedesmal ein Vortrag aus dem Fachgebiet des Redners gehalten, an den sich dann meist eine kürzere oder längere Diskussion anschloß. So entwickelte dieser Verein allmählich eine rege wissenschaftliche Tätigkeit. Er hat noch lange nach meinem Weggang von Heidelberg bestanden. Ein letztes Lebenszeichen von ihm erhielt ich bei Gelegenheit des 500jährigen Jubiläums der Universität im Jahre 1886, zu welchem er eine Festschrift herausgab, zu der ich selbst noch von Leipzig aus einen kleinen Beitrag geliefert habe. Außerdem bestand der schon aus früherer Zeit überkommene naturwissenschaftlich-medizinische Verein, in welchem Helmholtz den Vorsitz führte, und wo neben den Medizinern unter den Naturforschern namentlich Bunsen ein oft gesehener Gast war.
Neben diesen weiteren wissenschaftlichen Beziehungen hatten sich noch mannigfache persönliche Freundschaften geknüpft. So mit Henriette Feuerbach, die gerade in jenen Tagen in hingebender Treue um den Vertrieb der Werke ihres Sohnes Anselm bemüht war. Mir ist Frau Feuerbach noch durch eine andere persönliche Beziehung nahegetreten. Als mein Freund Eduard Pickford, der als Privatdozent der Nationalökonomie in Heidelberg lebte und zugleich mein Vorgänger im badischen Landtag war, in Karlsruhe schwer erkrankte, da war es die auch ihm befreundete Frau Feuerbach, die alsbald nach Karlsruhe eilte und ihn bis zu seinem Tode pflegte. Enger noch und bisweilen in beinahe täglichem Verkehr war ich mit dem Ehepaar Cornill verbunden. Adolph Cornill, der sich durch mehrere philosophische Arbeiten, namentlich durch eine Schrift über den Materialismus bekannt gemacht hat, lebte in jenen Tagen als Privatgelehrter in Heidelberg. Ich habe mit ihm manche der unser gemeinsames Interesse fesselnden philosophischen Werke gelesen oder besprochen, namentlich Hegel's, mit dem er sich eifrig beschäftigte, und der philosophierenden Naturforscher der Zeit. Frau Cornill war, wie man wohl sagen darf, die gebildetste Frau des damaligen Heidelberg. Zu ihrem Kreise gehörten außer Frau Feuerbach auch Rosalie Artaria und ihr damaliger Bräutigam, der Kunsthistoriker und Ägyptenreisende Julius Braun, endlich der durch seinen Geburtsort Frankfurt a. M. der Familie Cornill nahestehende Jurist Heinrich Strauch, mit dem auch mich eine bis zu seinem Tode dauernde Freundschaft verband.
Näher bin ich unter diesen späteren Freunden namentlich Wilhelm Wattenbach getreten. Er war aus Breslau, wo er als Archivar lebte, für die Professur der mittelalterlichen Geschichte nach Heidelberg berufen worden und hatte sich mit besonderem Interesse an den Bemühungen um den Arbeiterbildungsverein beteiligt. Das Haus Wattenbach mit den Schwestern Sophie und Cäcilie, von denen, nachdem Sophie gestorben war, Cäcilie fernerhin meine treue Freundin geblieben ist, war es, in dem ich in der letzten Heidelberger Zeit besonders verkehrte. In ihm habe ich meine spätere Lebensgefährtin und in ihr das Glück meines Lebens gefunden. So ist es denn auch der Verkehr mit dem Hause Wattenbach gewesen, der alle diese Heidelberger Beziehungen überdauert und sich in die Zeit, da Wattenbach nach Berlin und ich selbst nach Leipzig übergesiedelt waren, fortgesetzt hat. Damit schließt sich hieran ein für mein weiteres Leben bedeutsames Ereignis: das war die Beziehung zu Schleswig-Holstein, der Heimat meiner Gattin. Bis dahin war Berlin für mich die äußerste Station gewesen, bis zu der ich deutsches Wesen und deutsche Sitte kennen gelernt hatte; jetzt wurde Kiel und in mehrfachen Ausflügen der weitere Umkreis der Provinz ein oft in den Ferien gesuchter Aufenthalt. Die Insel Sylt ist mir während einer längeren Zeit eine Lieblingsstätte namentlich in den späteren Monaten, in denen der Fremdenstrom nachgelassen, für stille, einer strengen geistigen Konzentration bedürftige Arbeiten geworden. So habe ich hier noch die Vorarbeiten zu dem zweiten Band meiner Psychologie der Sprache beendet. Vor allem aber ist es mir in hohem Grade wertvoll gewesen, in den Familien meiner schleswig-holsteinischen Freunde eine noch verhältnismäßig urwüchsige Eigenart deutschen Familienlebens kennen zu lernen, das mir bis dahin fremd gewesen war, und das mich doch in vieler Beziehung namentlich in seiner mit echtem deutschem Geiste verbundenen Stammestreue sympatisch anmutete.
In meiner letzten Heidelberger Zeit hatte die Universität durch verschiedene Neuberufungen ein mannigfach verändertes Aussehen gewonnen, und auch das dortige Leben hatte sich durch die persönlichen Beziehungen zu manchen der Neuberufenen verändert. So trat ich hier zum ersten Male Ribbeck dem Philologen, Windisch dem Indologen nahe, Männern, mit denen und ihren Familien sich die hier begründeten Freundschaften später in Leipzig erneuerten. Dagegen war Holtzmann durch die Berufung nach der neugegründeten Straßburger Universität ausgeschieden. Treitschke war an die Stelle des verstorbenen Ludwig Häußer, Windscheid an die des langjährigen Pandektisten Vangerow getreten, und diese Männer in den seit langer Zeit hier dominierenden Stellungen hatten der Universität ein wesentlich verändertes Aussehen gegeben.
Dazu kam noch ein anderes Moment, das speziell für meine nächsten Interessen von großer Bedeutung geworden ist: es bestand in den Schicksalen, welche die Universität durch die Persönlichkeiten, die zu Vertretern der Philosophie berufen wurden, in den letzten Jahren erlebt hatte. Sie sind um so bemerkenswerter, als man wohl sagen kann. Sie seien für die Entwicklung der Philosophie als akademischen Lehrfachs überhaupt von typischer Bedeutung gewesen. Während meiner Studien- und noch lange nachher während meiner eigenen Dozentenzeit gab es nur einen einzigen Ordinarius der Philosophie, der daher diese in ihrem ganzen Umfang vertrat. Es war Alexander Freiherr von Reichlin-Meldegg. Er war dereinst katholischer Theologe gewesen, dann zum Protestantismus übergetreten und hatte sich der Protektion des bekannten rationalistischen Theologen Paulus zu erfreuen, der zu meiner Zeit noch in hohem Alter in Heidelberg lebte, aber längst keine Vorlesungen mehr hielt. Meldegg trug vorzugsweise systematische Fächer vor, wobei er nach Möglichkeit mehrere in eine einzige Vorlesung zusammenfaßte. Eine derselben hatte z. B. den Titel: Psychologie mit Einschluß der Somatologie und der Lehre von den Geisteskrankheiten. Es fehlte ihm trotz der Oberflächlichkeit dieser Vorlesungen nicht an Zuhörern, da für viele Studierende die Verpflichtung bestand, mindestens vier Philosophica während ihrer Studienzeit zu belegen. Sie wurden freilich meistens nur belegt, nicht gehört. Eines reicheren Zuspruchs hatte sich ein berühmtes Faustkolleg Meldeggs zu erfreuen, bei dem umgekehrt die Hörerzahl sehr groß, dafür aber die der Belegenden sehr klein war. Es existierte damals, in dem Zeitalter, da es weder Gas- noch Elektrizitätsbeleuchtung gab, die Sitte, daß der Dozent jedem seiner belegenden Zuhörer eine Unschlittkerze stiftete, die an dessen Platz aufgepflanzt wurde. Da bot nun dieses Faustkolleg einen höchst merkwürdigen Anblick. Vorn in der ersten Bank leuchteten z. B. vier Unschlittlichter, dahinter in den weiteren Bänken des geräumigen Hörsaales wogte aber im Dunkel eine viele Dutzende übersteigende Menge von Hospitanten, die sich besonders durch ihre den Vortrag begleitenden Äußerungen des Gefallens und Mißfallens bemerkbar machten. Meldegg gehörte daher, abgesehen von seinem philosophischen Lehrberuf, zugleich zu jenen auf den älteren deutschen Universitäten selten fehlenden Dozenten, die das Bedürfnis der akademischen Jugend nach dem, was man damals ein »Schindluderkolleg« nannte, befriedigten. Daß er trotzdem gelegentlich vom Senat der Universität mit einer Festrede in der Aula beauftragt wurde, brachte seine Eigenschaft als einziger offizieller Philosoph mit sich. Noch erinnere ich mich, am 19. Mai 1862 seine Festrede zur Feier von Fichte's hundertjährigem Geburtstag gehört zu haben, die mit ihren gehäuften Exklamationen und Apostrophen an die Manen des großen Denkers wohl unter allen minderwertigen Festreden, die an diesem Tage gehalten wurden, die allerminderwertigste gewesen ist.
Nach seinem Abgang trat an die Stelle Reichlin-Meldegg's Eduard Zeller, aus Marburg berufen, als sein Nachfolger. Ein Gefühl der Befriedigung bemächtigte sich aller, die an der Philosophie Interesse nahmen. Mit Zeller war ein Mann gewonnen, der in jener Zeit als der hervorragendste Vertreter des Faches in Deutschland galt. Daß Zeller's Lehrweise die an ihn geknüpften Erwartungen vollauf befriedigt habe, läßt sich freilich nicht sagen. Sein Vortrag war trocken und entbehrte, schon weil er von Anfang bis zu Ende diktierte, jeder anregenden Wirkung auf die Zuhörer. Dazu kam, daß eine solche schon durch die knappe Form, in der er den Gegenstand vortrug, kaum möglich war. So las er sein Hauptkolleg, die Geschichte der Philosophie von Thales bis Hegel einschließlich, in einem einzigen Semester in sechs wöchentlichen Stunden. Aber der Student trug immerhin ein brauchbares Heft von dannen, und die Philologen der Universität wußten Zeller's Gelehrsamkeit auf ihrem eigenen Gebiet zu schätzen. Zeller's philosophischer Standpunkt, wie er sich in seinen in größeren Abständen gehaltenen Vorlesungen über Erkenntnistheorie, Rechtsphilosophie u. dgl. offenbarte, entsprach, wie ein Kollege wohl ziemlich treffend sich äußerte, etwa den Anschauungen Christian Wolffs, wenn man sich dessen populären Rationalismus aus dem 18. in das 19. Jahrhundert übertragen und mit etwas Hegel'scher Dialektik verbrämt denkt.
Als bei dem Weggang Zeller's nach Berlin Kuno Fischer aus Jena berufen wurde, änderte sich nun aber völlig die Stellung der Philosophie an der Universität. In ihm hatte diese einen Mann gewonnen, der durch seine glänzende Lehr- und Rednergabe die akademische Jugend zu fesseln und über diese hinaus der Philosophie durch seine schriftstellerische und mehr noch durch seine rednerische Begabung in weiten Kreisen ein neu erwachendes Interesse zu schaffen vermochte. Kuno Fischer war selbst kein hervorragender Philosoph, aber er war ein unübertrefflicher Interpret der Philosophen, namentlich der deutschen idealistischen Philosophie von Kant an, und er war dies nicht zum wenigsten, weil er durch seinen Verzicht auf ein festliegendes eigenes philosophisches System sich jeweils so in die Gedankenwelt des von ihm behandelten Philosophen zu versetzen wußte, daß er sich mit diesem vorübergehend völlig eins fühlen konnte, um dann schließlich doch in seinen kritischen Rückblicken den Übergang zu der folgenden Zeit in künstlerischer Vollendung vorzubereiten. Das ist die Stellung, die Kuno Fischer in der deutschen Philosophie überhaupt eingenommen hat. Für Heidelberg hatte er durch diese Richtung seiner Lehrbegabung noch die besondere Bedeutung, daß er in einer Zeit, in welcher die Geschichtswissenschaft in ihrer bisherigen Stellung durch den Wandel der nationalen Ereignisse mehr in den Hintergrund zu treten begann, der Philosophie eine Geltung verschaffte, durch die sie geeignet wurde, jene zu ersetzen. Von Reichlin-Meldegg's Faustkolleg zu Kuno Fischer's Vorträgen über das gleiche Thema, das war ein Wandel, wie er schroffer kaum gedacht werden kann. Dennoch spiegelt sich in ihm die Lage der Philosophie selbst im Wandel der Zeiten. Von ihrem Niedergang nach Hegel's Tode ist sie durch ein Zwischenstadium respektvoller Duldung zu demjenigen Lehrgegenstand der Hochschulen geworden, der den allgemeinsten Bildungswert für sich in Anspruch nimmt.
Kuno Fischer hatte in Heidelberg manche persönliche Gegner. Man beschuldigte ihn der Überhebung und rücksichtslosen Behandlung namentlich der jüngeren Kollegen. Ich kann in dieser Beziehung durchaus nicht über ihn klagen. Er kam mir von Anfang an mit großer Freundlichkeit entgegen, und er versicherte mir später, es sei seine Absicht gewesen, mich zu einer Professur in der philosophischen Fakultät zu empfehlen. Aus dieser Empfehlung ist freilich nichts geworden. Eines Morgens trat Salomon Vögelin, Extraordinarius für Kunstgeschichte in Zürich und im Nebenamt Mitglied des dortigen Erziehungsrats, in meine Stube mit der Anfrage, ob ich geneigt sei, die durch Albert Lange's Weggang aus Zürich frei gewordene Lehrstelle zu übernehmen. Obgleich ich mich dazu bereit erklärte, dauerte es noch etwa ein Jahr, bis weiteres erfolgte. Da erhielt ich eines Tags ein Schreiben mit der wirklichen Berufung zum ordentlichen Professor für »induktive Philosophie« an der Züricher Hochschule. Es war ein bescheidener Gehalt, der mir geboten wurde, und die Anstellung erfolgte zunächst nach der in Zürich üblich gewordenen Sitte nur auf sechs Jahre. Aber der Erziehungsdirektor versicherte mir in seinem Begleitschreiben, daß es ein besonderer Vorzug sei, in einer Republik zu leben.
Zum ersten Male habe ich Zürich um das Jahr 1858 gesehen. Es war ein wundervoller Sommertag, als ich abends spät in Zürich ankam. Mein erster Weg ging nach dem See. Der Eindruck ist mir unauslöschlich im Gedächtnis geblieben. Über mir der völlig wolkenlose Sternenhimmel, zu meinen Füßen der diesen Himmel spiegelnde See, bedeckt mit zahllosen Booten, Musik und Gesang von allen Seiten. Es war ein Schauspiel, wie ich es noch niemals vorher und wie ich es eindrucksvoller niemals später erlebt habe. Und als ich am folgenden Morgen zuerst über den See nach dem malerisch am See gelegenen Horgen, von da aus hoch auf dem Dach des Eilwagens durch das obstreiche Hügelland nach Zug, von hier über den tiefblauen Zuger See nach Arth fuhr, um von Arth aus auf die Höhe des Rigi zu wandern, wo sich nun überraschend das Bild des gewaltigen Vierwaldstättersees eröffnete, da meinte ich, schöneres und größeres könne es in der Welt nicht geben. Vollends als sich unter mir, auf der Höhe angelangt, ein plötzlich die ganze Szene verhüllendes Gewitter zusammenzog, dessen nach oben gerichtete Blitze mich von allen Seiten umgaben, da vollendete dieser Kontrast die Macht der Eindrücke, die sich in diese Tageswanderung zusammendrängten. Ich bin später noch manchmal den gleichen Weg gewandert, selbst nachdem die Rigibahnen die Poesie der alten Rigiwanderungen zerstört hatten, aber so überwältigend wie dieses erste Mal ist mir nie wieder die Natur dieser schweizerischen Landschaft entgegengetreten.
Anders war es, als ich 1874 mit meinem Freunde Heinrich Weber, der einige Jahre vor mir als Mathematiker an das Züricher Polytechnikum berufen worden war, an einem heißen Sommermorgen in den Vordörfern von Zürich herumwanderte, um eine von dem Geräusch der Stadt etwas abliegende Wohnung zu finden, in der ich mich mit meiner Gattin im Herbst niederlassen könnte. Uns fiel schließlich als ein für ein stilles Gelehrtendasein geeignetes Asyl ein Häuschen ins Auge, das, zu einem größeren Anwesen gehörend, in freundlicher Umgebung gelegen war. Das aus mehreren Häusern bestehende, von ausgedehnten Höfen und Gärten umgebene Landgut, von dem es einen kleinen Teil bildete, war der Beckenhof von Unterstraß. Der Beckenhof war dereinst Eigentum des aus der Literaturgeschichte bekannten Johann Jakob Bodmer, des schweizerischen Historikers und Dichters der »Noachide« gewesen, und seine Nachkommen und Erben bewohnten noch das stattliche Hauptgebäude des Gutes. Ein letzter Sprosse des Geschlechts hörte bei mir Vorlesungen. Das Häuschen, das ich gemietet, war ein altes Erbstück, wie es als ein kleiner Anbau den größeren Herrenhöfen in der Umgebung Zürichs eigen ist. Es war in der Regel dazu bestimmt, die alten Leute aufzunehmen, die sich, wenn sie ihre Geschäfte und Ämter an ihre Söhne abgegeben, auf diesen kleinen Ruhesitz zurückzogen. Hierin wie in vielem andern boten die zahlreichen Vordörfer weit mehr als die Stadt selbst ein Bild des alten Zürich, wie es schon vor Jahrhunderten bestanden haben mag. Die Einrichtungen mancher dieser Häuser zeigten noch eine Verbindung äußerster Bedürfnislosigkeit mit naiver Offenherzigkeit, wie sie uns heute fremdartig anmutet. So traf ich auf meiner Mietwanderung ein Häuschen, dessen Erbauer offenbar unter den Innenräumen zu einer Badeeinrichtung keinen Platz mehr gefunden hatte. So befand sich denn das Bad auf dem zu dem Haus führenden Hof unter offenem Himmel und unmittelbar neben der offenen Straße. Da in der vorüberfließenden Limmat die Dorfjugend ebenso offenherzig zu baden pflegte, warum sollte man sich dieselbe Freiheit nicht auch auf seinem eigenen Besitz herausnehmen? Auch an der von mir gemieteten Wohnung hatte meine junge Frau manches auszusetzen, was immerhin, so einfach unsere Lebensgewohnheiten waren, doch mit diesen nicht recht übereinstimmen wollte. So gab es in unserer kleinen Küche nur einen einzigen Topf, in welchem die drei Ingredienzien einer gewöhnlichen bürgerlichen Mahlzeit, Suppe, Fleisch und Gemüse, zusammen bereitet und dann auch von den ehrsamen Bewohnern aus einer einzigen Schüssel in der Küche selbst verzehrt wurden. Aber das waren Dinge, bei denen wir bald die nötige Ausgleichung mit unseren eigenen, nicht allzu anspruchsvollen Gewohnheiten zu finden wußten, und die uns im ganzen ein glückliches Jahr in diesem Häuschen des alten Beckenhof durchleben ließen, namentlich im Sommer, wo wir den winterlichen Kampf mit den durch ihre riesigen Dimensionen imponierenden, aber nur spärliche Wärme spendenden Kachelöfen der Züricher Patrizierhäuser überwunden hatten.
Waren solche Reste vergangener Sitten in der Stadt Zürich selbst mit ihren zum Teil modern aufgebauten Straßen und vor dem Fremdenstrom, der sich durch diese ergoß, allmählich verschwunden, so fehlte es aber auch hier nicht an Erscheinungen, die an vergangene Zeiten erinnerten. Da fiel vor allem der Kontrast auf, der in allen Klassen der Gesellschaft zwischen der Beschränktheit und Sparsamkeit des täglichen Lebens und der Freude an dem geräuschvollen Treiben der Festtage und den üppigen Gelagen bestand, von denen diese nicht selten begleitet waren. Alt überliefert waren hier besonders die Zunftfeste, die noch immer alljährlich in den alten Zunfthäusem gefeiert wurden. Die Zünfte selbst waren in ihrer politischen und wirtschaftlichen Bedeutung verschwunden, aber an der Feier der Zunftfeste hielten die Nachkommen fest. Daneben fehlte es nicht an öffentlichen Jahresfesten, in denen sich ein buntes Leben auf den Straßen bewegte. Die in der ganzen Schweiz beliebten Schützen- und Sängertage bildeten besondere Steigerungen derselben. Maskierte Umzüge waren dabei zuweilen ein hervorstechender Festschmuck. Eine merkwürdige Probe davon habe ich auf dem Beckenhof erlebt. Der Schwiegersohn des Hauses, der die Verwaltung des Hofes leitete, war an einem solchen Festzug in der Rolle des Götz von Berlichingen beteiligt. Er starrte in der glänzenden Rüstung des Ritters, die ihm so gefiel, daß er noch Tage nachher in ihr auf seinem Hof und auf der Straße herumstolzierte.
Die prächtige Schilderung, die uns Gottfried Keller im Grünen Heinrich von einer Tellaufführung in der freien Natur hinterlassen hat, bei der die Mitspieler samt Zuschauern die zu Orten der Handlung erkorenen Landschaften durchwandern, gibt ein anschauliches Bild dieser der ganzen Bevölkerung eigenen Neigung, den einmal begonnenen Genuß einer Festfreude so lang wie möglich auszudehnen. Daneben gab es besondere Jugendfeste, die noch lange nach dem Verlassen der Schule die Genossen der gleichen Konfirmation zusammenführten, die Männer und die Frauen getrennt. So konnte es kommen, daß später die Patriziergattin mit ihrem Dienstmädchen ihr Leben lang auf diesem Fuß der Jugendfreundschaft verkehrte. Jetzt werden vermutlich unter der Macht des Weltverkehrs, der auch die Landessitten allmählich der Gleichförmigkeit der Weltmoden weichen läßt, diese Verhältnisse sich geändert haben, ihre Spuren werden schwerlich ganz verschwunden sein. Ein eigenartiges Jugendfest, das sich alljährlich wiederholte, war das sogenannte »Knabenschießen«. Die Polizei hielt im ganzen auch in Zürich streng darauf, daß der Unbefugte keine Waffen trug. Aber an diesem Tage war es anders. Da übergab der Vater seinem halbwüchsigen Sohn seine Büchse mit einer zureichenden Menge blinder Patronen, und nun ging ein betäubendes Schießen los, das den ganzen Tag andauerte. Es mag sein, daß diese Sitte ursprünglich dazu bestimmt war, die junge Generation auf ihren künftigen Waffendienst vorzubereiten, jetzt war sie jedenfalls längst zu einem bloßen Spiel geworden.
Ganz im Geist dieser unvertilgbaren Festfreude gab es aber auch Bräuche festlicher Art, die zu einer bestimmten Zeit des Jahres viele Tage lang andauerten. Eine solche Festzeit war die Weinlese. Der Wein, der an den Ufern des Zürichsees wächst, ist ein sehr saures Getränk, aber wenn er im Hochstadium der Gärung begriffen ist, gewährt er einen höchst erquickenden, freilich auch wegen seiner berauschenden Wirkung nicht ganz unbedenklichen Genuß. Da nun jeder, der seinen eigenen Weinberg hat, auch seinen eigenen Wein keltert, so hat sich die Sitte ausgebildet, daß das sonst auf die Wirtshäuser beschränkte Schankrecht zur Zeit der Weinlese auf jeden Weinbergsbesitzer übergeht, und dieser verfehlt nicht, dies den Vorübergehenden durch ein Plakat mit der Aufschrift »Suser im Stadium«, das er an seinem Fenster anbringt, kundzutun. Daß diese Einladungen fleißig benutzt werden, verraten die schwankenden Gestalten, denen man an diesen Tagen begegnet, und die allen Klassen der Gesellschaft angehören. Der Seewein ist übrigens in Zürich allgemeines Nationalgetränk und wird innerhalb aller Klassen der Bevölkerung in ziemlich reichlichen Mengen genossen. Ein Dienstmädchen erhält einen Schoppen, eine im Hause beschäftigte Wäscherin zwei Flaschen als tägliches Deputat. Der wohlhabende Bürger zieht allerdings die süßeren, aber auch schwereren Weine der Südschweiz vor, und der Kantonsrat läßt sich wohl auch um der Popularität willen den Inhalt seiner Bordeauxflasche in eine der für den Landwein bestimmten offenen Flaschen umgießen.
Die Universität Zürich glich zu meiner Zeit in ihren wesentlichen Einrichtungen unseren deutschen Hochschulen, aber es gab doch einige charakteristische Unterschiede. Ein solcher bestand hauptsächlich in der Stellung der Extraordinarien. Diese waren nicht, wie bei uns, ein im ganzen außerhalb der Fakultät stehender Teil der Lehrerschaft, sondern sie waren im Grunde bevorrechtete Mitglieder der Fakultät, hatten in ihr Sitz und Stimme und wechselten mit den Ordinarien im Dekanat. Sie bezogen allerdings einen geringeren Gehalt, hatten aber dafür auch weniger Vorlesungen zu halten. Dies erklärt sich daraus, daß sie meist Eingeborene waren, die neben ihrem Lehrberuf noch andere bürgerliche Stellungen, namentlich die von Erziehungsräten einnehmen konnten und als solche natürlich den zum Teil aus dem Ausland berufenen Ordinarien überlegen waren. So beantragte einer dieser Extraordinarien während meiner Anwesenheit für mehrere angesehene Bürger der Stadt die Doktorwürde honoris causa, obgleich er selbst nicht einmal den Doktortitel hatte. Letzteres konnte um so leichter vorkommen, als der Schweizer auf Titel, die, wie es doch auch in vielen Fällen von dem Doktortitel gilt, eine reale Bedeutung im Grunde nicht besitzen, keinen Wert legt. Doch unterscheidet sich gerade hierin Zürich von andern Schweizer Universitäten, namentlich von Basel, wo der Doktortitel ebenso wie bei uns die Vorbedingung jeder akademischen Würde ist. Auch würde man irren, wenn man etwa glauben wollte, der Schweizer lege überhaupt wenig Wert auf Titel. Wo dieser irgend eine bürgerliche Stellung bezeichnet, da schätzt er ihn mindestens ebenso hoch, als dies bei uns zu geschehen pflegt, und der Titel bleibt ihm, auch wenn er das Amt längst nicht mehr hat. Titel wie Nationalrat, Erziehungsrat, Professor bilden einen Charakter indelebilis. Wo ein anderes Amt nicht zur Verfügung steht, tritt die militärische Stellung dafür ein. Der Wirt auf Rigi-Scheidegg, mit dem ich infolge meiner häufigen Besuche auf dieser Höhe befreundet war, würde es wahrscheinlich übel genommen haben, wenn man ihn »Herr Müller« genannt hätte, er hieß der »Herr Oberst«, obgleich die Jahre längst vorbei waren, wo er als Oberst bei der Miliz tätig gewesen. Daneben gibt es freilich Hofräte und Geheimräte in der Schweiz ebensowenig wie Orden, wenn man nicht die Auszeichnungen, die jemand als Schützenkönig empfangen, hierher rechnen will. Ein gewisser Zwiespalt der Sitten war nun allerdings schon durch die Einwanderung fremdländischer Elemente namentlich an der Universität eingetreten, wo die aus Deutschland Berufenen damals bereits eine nicht geringe Zahl ausmachten.
Besonders beeinflußte dies auch die Formen des geselligen Verkehrs. Einen solchen nach dem Vorbild des in unseren akademischen Kreisen üblichen pflegten fast nur die eingewanderten Deutschen untereinander. Der Schweizer kannte in den aristokratischen Kreisen, die im übrigen zu meiner Zeit als die Beherrscher einer vergangenen Generation meist ein verborgenes Dasein führten, nur den engeren Familienverkehr. Dieser vereinigte in regelmäßigen Zusammenkünften die Mitglieder der Familie, bei welchen Zusammenkünften es ungemein langweilig herging, an denen aber mit der Treue festgehalten wurde, mit der der Schweizer die Tradition pflegt. Zu meiner Zeit hatten freilich die politischen Wandlungen hierin wie in manchem andern vieles verändert. Die Herrschaft bestimmter Geschlechter hatte infolge der Demokratisierung völlig aufgehört. Es gab nur noch eine wechselnde Herrschaft der Parteien, nicht der Stände. Das hatte auch im Verhältnis der Universität zum Staat manches verändert. Die ganze Verwaltung lag in den Händen der Bürger als solcher, nicht bestimmter Berufe, zu denen die Universität vorbereitet hatte. Die leitende Stellung in irgendeinem Gebiet konnte ebensogut jemand einnehmen, der niemals eine Universität gesehen hatte, wie der eigens zu ihr vorbereitete, und aus einem beliebigen politischen Amt konnte der einzelne in ein anderes übergehen. So habe ich es erlebt, daß einmal der Erziehungsdirektor bei einer nächsten Wahlverteilung zum Chef der Polizei wurde. Daß danach ein bei uns an eine juristische Vorbildung gebundenes Beamtentum völlig zurücktrat, versteht sich von selbst. Jeder konnte alles werden. Es kam nur auf das Vertrauen der Mitbürger oder des engeren Kreises an, die durch die Wahl über das Amt verfügten. Unter diesen Umständen war es begreiflich, daß ein in abgemessenen Kreisen sich bewegender geselliger Verkehr, wie ihn die alte aristokratische Gesellschaft gekannt hatte und noch in spärlichen Trümmern weiter pflegte, in dieser neuen Gesellschaft nicht mehr existierte. Man traf sich im Wirtshaus, am Stammtisch mit Gleichgesinnten, bei Volksfesten, besonders aber auch in Vereinen, unter denen die wissenschaftlichen keine geringe Rolle spielten. Am bemerkenswertesten war unter diesen die antiquarische Gesellschaft, in der ich ein häufiger Gast war. Hier lernte ich Gottfried Keller kennen, der freilich damals gerade jene Ruhepause zwischen seinen literarischen Schöpfungen erlebte, in der er seinem Amt als Staatsschreiber des Kantons Zürich mit bewundernswerter Pflichttreue oblag. Ebenso traf ich hier noch den bereits hochbetagten Ferdinand Keller, den Entdecker der Pfahlbauten.
Diese Verhältnisse brachten es mit sich, daß jeweils die herrschende Partei vermöge der ihr eigenen Lebensgewohnheiten der Gesellschaft ihre Physiognomie gab. Aber latent bestanden daneben immer zugleich die andern Parteien weiter, die dereinst einmal geherrscht hatten und möglicherweise in der Zukunft wieder einmal zur Herrschaft gelangen konnten. Ich selbst wurde unter der Herrschaft der Sozialdemokratie berufen, und der Erziehungsdirektor, der mich berief, war ein ehemaliger Volksschullehrer, der dieser Partei angehörte. Unter ihrer Herrschaft waren freilich infolge der Steuerschraube, die sie an die größeren Vermögen anlegte, einzelne alte Patrizierfamilien nach dem benachbarten Zug ausgewandert; aber es gab noch immer Mitglieder aller Parteien, die einen künftigen Wechsel in rückläufiger Richtung nicht unmöglich erscheinen ließen. Wie auch die Universität an diesem Wandel der Parteiherrschaft beteiligt war, zeigt das Schicksal von David Friedrich Strauß. In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts war eine kirchlich liberale Richtung zur Herrschaft gelangt, die Strauß als den berühmtesten der liberalen deutschen Theologen nach Zürich berief. Da zeigte sich aber, daß trotz des in der Stadt herrschenden Liberalismus die Zahl der in ihr und im ganzen Kanton verbreiteten streng kirchlich gesinnten Einwohner zu groß war, um diese Berufung eines Mannes hinzunehmen, der durch sein Buch über das Leben Jesu die ganze orthodoxe Welt gegen sich empört hatte. Dies benutzte die aristokratische Partei, die vor der liberalen regiert hatte, und sie veranstaltete unter der Mitwirkung jener religiösen Volkspartei einen Putsch, der nicht nur Strauß verhinderte, seinen Lehrberuf anzutreten, sondern auch die Regierung stürzte, die ihn berufen hatte. Gemäß der Treue, mit der man in der Schweiz eingegangene Verpflichtungen zu halten pflegt, bezog daher David Strauß bis zu seinem Tod eine ansehnliche Pension für ein Amt, das er niemals bekleidet hatte. Die Folge war dann freilich die Abschaffung der Pensionen, die schon vorher zumeist für die bürgerlichen Ämter nicht bestanden, auch für die Professoren und in weiterer Folge die Beschränkung der Anstellung auf sechs Jahre. Eine Wirkung solcher Vorkommnisse ist denn auch später die Einführung des Referendum gewesen, durch welches auf friedlichem Wege eine irgendwie der Gesamtbevölkerung mißfallende Maßregel der Regierung beseitigt werden kann. Es bedeutet viel weniger eine Vergewaltigung durch den Volkswillen als umgekehrt, wie das Beispiel von Strauß zeigt, eine Schutzeinrichtung, durch die der Volkswille die ihm widerstrebenden Maßregeln der Regierung unmöglich macht.
So frei nun übrigens, und nicht von irgendeiner speziellen Vorbildung bestimmt, die Besetzung der in die Regierung eingreifenden Stellen zu meiner Zeit in Zürich war, so konnte es doch nicht fehlen, daß der bisherige Beruf eines Mannes für seine Verwendung in der Staatsmaschine eine gewisse Bedeutung besaß. Eine besonders wichtige Folge dieses Verhältnisses war es, daß die Klasse der Volksschullehrer und neben ihr in einem freilich etwas zurücktretenden Grade die der emeritierten reformierten Geistlichen in dem Departement der Erziehung und Volksbildung eine hervorragende Rolle spielten. Einem dieser Berufe gehörte besonders der Erziehungsdirektor an, der ganz die Stellung eines deutschen Unterrichtsministers einnahm. Er beherrschte das gesamte Unterrichtswesen, abgesehen von dem Polytechnikum, das bekanntlich als eidgenössisches Institut unter einer eigenen Behörde und deren Kurator steht. Ich war noch nach meinem Weggang von Zürich aus Anlaß von Neuberufungen in verschiedenen Fächern mit einigen der folgenden Erziehungsräte in Beziehung und habe dabei den Eindruck empfangen, daß die amtierenden vormaligen Geistlichen die Universität im ganzen ihre eigenen Wege gehen ließen, während die ehemaligen Volksschullehrer in ähnlicher Stellung eher geneigt waren, sich in die Universitätsverwaltung einzumischen. Der Lehrer fühlt sich eben nach einer Erfahrung, die man überall machen kann, als ein Sachverständiger, wo immer es sich um irgendeine Unterrichtsfrage handelt, und gerade deshalb, weil er das ganze Erziehungswesen von der Volksschule bis zur Universität von unten her zu überblicken glaubt, ist er geneigt, sich für alle Stufen für besonders sachverständig zu halten,
Auch in Zürich hat es daher an gelegentlichen Einmischungen des aus der Volksschule hervorgegangenen Leiters der öffentlichen Erziehung in den Universitätsunterricht nicht gefehlt. Aber hier übte doch die Stetigkeit des Wechsels der Regierung und der große Respekt, den infolgedessen die Tradition genoß, eine moderierende Wirkung aus, so daß es der zu meiner Zeit amtierende Gewalthaber mit der Zeit nützlich fand, sich allzu bedenklicher Eingriffe zu enthalten. So hörte ich von einem Konflikt, der einige Zeit vor meiner Ankunft in Zürich gespielt hatte, aber schließlich zu allgemeiner Zufriedenheit vorübergegangen war. Der neu in das Amt eingetretene Erziehungsdirektor hatte einen Ukas erlassen, in welchem die sämtlichen Hochschullehrer streng dazu angehalten waren, ihre Vorlesungen pünktlich am offiziellen Semestertermin zu eröffnen. Am festgesetzten Tag begab er sich daher nach der Universität, um nachzusehen, ob die Professoren auch wirklich dieser Weisung nachgekommen seien. Da ergab sich, daß die einzelnen, wie bisher, so auch im neuen Semester einige Tage später ihre Vorlesungen eröffneten, als er befohlen hatte. Ärgerlich über diese Undisziplin riß er die sämtlichen Anschlagzettel herunter. Was war die Folge? Als die Studenten kamen, um sich nach dem Beginn ihrer Vorlesungen umzusehen, fanden sie, daß dieser Beginn überhaupt nicht angemeldet war, und infolgedessen verzögerte sich der wirkliche Anfang noch um mehrere Tage. Seitdem ließ unser Oberhaupt die Dinge gehen, wie sie bisher gegangen waren, und war von nun an sogar geneigt, besonderen Wünschen der Professoren nachzugeben. Ich selbst erlebte ein Beispiel dieser Art. Ich hatte bereits für das nächste Semester zwei größere Vorlesungen angekündigt, die voraussichtlich meine Zeit vollauf in Anspruch nahmen. Da erhielt ich von dem Erziehungsdirektor eine Zuschrift, in der er mich aufforderte, auch noch über Pädagogik zu lesen, eine Vorlesung, auf die er natürlich den größten Wert legte, zu der ich aber weder Neigung noch Zeit hatte. Als ich ihm das meldete, erhielt ich eine zweite Zuschrift, in der er mir mitteilte, er habe nun die Studierenden der Pädagogik, die unter seiner besonderen Obhut standen, angewiesen, das von mir angekündigte Kolleg über Völkerpsychologie zu hören, obgleich es mir selbst sehr zweifelhaft war, ob dies ein geeigneter Gegenstand für diese Klasse der Studierenden sei. So gingen derartige kleine Konflikte hier durchgängig ohne Störung vorüber. Ein großer Unterschied gegenüber den Verhältnissen, die eine plötzliche, mit allen bisherigen Traditionen brechende Revolution herbeiführt, bei der die neuen Machthaber immer geneigt sind, alles neu zu organisieren und dann selbstverständlich auch durchzusetzen, was sie in ihrem Organisationseifer beschlossen haben! Wo die Demokratie, wie in der Schweiz, seit vielen Generationen eingewurzelt ist, da verbietet die Macht der Tradition jede derartige Neuerung, und es macht nicht einmal einen großen Unterschied, ob die bestehende Regierung etwas mehr demokratisch oder aristokratisch gesinnt ist. Vielleicht würde es darum unseren neuen Machthabern in Deutschland zu empfehlen gewesen sein, wenn sie sich zu einem Lehrkursus nach der demokratischen Schweiz begeben hätten, um der Überstürzung zu begegnen, der wir im Lauf des letzten Jahres durch die Überfülle von Gesetzgebungen und Verordnungen ausgesetzt gewesen sind, und bei denen manchmal nicht sowohl die bisherige Erfahrung als die Neigung, etwas ganz Neues zu erproben, eine Rolle gespielt zu haben scheint.
In der Schweiz folgt man, wie ich beobachtet habe, durchaus dem Grundsatz, sich in der Schaffung neuer Einrichtungen durch neu entstandene Bedürfnisse leiten zu lassen, während man bei uns gegenwärtig nur zu oft geneigt ist, zunächst einmal neue Organisationen zu schaffen, wobei manchmal der Zweck, dem Sie dienen sollen, dahingestellt bleibt. So ist gegenwärtig in unserer Lehrerschaft die Überzeugung weit verbreitet, die Erweiterung der Universitäten zu allgemeinen Lehranstalten, die mindestens die sämtlichen Volksschullehrer Deutschlands in sich aufnehmen sollen, sei ein dringendes Bedürfnis, und bei dem Einfluß, den die Lehrer auf die Leitung des Unterrichtswesens ausüben, ist es nicht einmal ausgeschlossen, daß dieses Projekt irgendwie der Verwirklichung entgegengeht. Es steht mir aber, wie ich bekennen muß, außer Zweifel, daß damit nicht nur aus den Universitäten etwas ganz anderes würde, als was sie bisher gewesen sind, sondern daß auch die Bildung der Volksschullehrer in der ihr durch unsere großen Pädagogen gegebenen Richtung eine schwere Schädigung erleiden würde. Ich habe gerade in dieser Beziehung in der Schweiz belehrende Beobachtungen gesammelt. In Zürich war es nur eine Elite der Seminaristen, die zum Universitätsstudium zugelassen war. Ich wurde aber auch zu der Schlußprüfung derjenigen Lehramtskandidaten zugezogen, die direkt vom Seminar aus in den Lehrdienst eintraten. Dabei drängte sich mir nun die Beobachtung auf, daß gerade diese nicht auf der Universität weiter gebildeten Lehrer eine nicht selten staunenswerte pädagogische Virtuosität dokumentierten, wie denn überhaupt die Volkserziehung in den protestantischen Kantonen eine hohe Stufe erreicht hat. Dagegen hatte ich nicht selten den Eindruck, daß die auf der Universität weiter gebildeten Lehrer in dieser Beziehung eher eine minderwertigere Stellung einnahmen. Ich finde das auch psychologisch begreiflich. Ist doch gerade für den Lehrer die Konzentration der Interessen ein Faktor von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Das pädagogische und das wissenschaftliche Interesse sind aber zwei wesentlich verschiedene Dinge, und ich kann mir wohl denken, daß die gewiß nicht zu unterschätzende höhere wissenschaftliche Vorbildung einer Elite des Lehrerstandes nur durch eine gewisse Benachteiligung des eigentlich pädagogischen und als solchen für die Anfänge der Erziehung besonders schwerwiegenden Faktors erkauft werden könne. Ich glaubte diese psychologisch begreifliche, wenn nicht selbstverständliche Beobachtung auch späterhin noch in Leipzig wenigstens indirekt insofern bestätigt zu finden, als mir hier nicht selten die auf den ersten Blick vielleicht frappierende Tatsache entgegentrat, daß Kandidaten von höchst minderwertigen wissenschaftlichen Leistungen in der an das Examen sich anschließenden Lehrprobe ein glänzendes pädagogisches Talent entfalteten, während mindestens ebensooft wissenschaftlich anerkannt tüchtige Kandidaten in der Lehrprobe gänzlich versagten. Die Versenkung in die Seele des Schülers und besonders des Kindes, die das pädagogische Talent ausmacht und auf die Übung dieses Talentes einen Haupteinfluß ausübt, und die Fähigkeit, einen Wissensstoff sich anzueignen und zu verarbeiten, sind eben zwei verschiedene Aufgaben. Wenn jemand diese beiden Eigenschaften besitzt, so ist das natürlich als ein besonderer Glücksfall anzusehen, man kann aber eine solche Vereinigung höchstens ausnahmsweise erwarten.
Der berühmte Mathematiker Lagrange hat in seinen älteren Jahren das Bedürfnis empfunden, sich wieder einmal in die seinem Gedächtnis längst entschwundene Elementarmathematik zu vertiefen. Es ist so ein zweifellos originelles Büchlein entstanden; aber wenn jemand dasselbe für ein zweckmäßiges Lehrbuch für Anfänger halten sollte, so würde er sich darin gewaltig irren. Daß der Mathematiker, der sich sein Leben lang mit Problemen der höheren Mathematik befaßt hat, dadurch einigermaßen die Fähigkeit verliert, sich überhaupt auf den Standpunkt des Anfängers zurückzuversetzen, ist eine bekannte Tatsache. Der Fall ist vielleicht ein extremer, aber er wiederholt sich uns täglich auf allen Gebieten der Wissenschaft. Dem Kinde gegenüber tritt er uns am augenfälligsten entgegen, und er äußert sich auch darin, daß es eine nicht geringe Anzahl von Menschen gibt, die überhaupt mit Kindern nicht zu verkehren wissen. Was von Kindern gilt, das gilt aber bis zu einem gewissen Grade von dem naiven Menschen im allgemeinen. Unsere Volksschulpflege würde daher die nötige Anzahl geeigneter Kräfte schwerlich besitzen, wenn nicht unsere Volksschulseminare im Lauf der Zeit eine Methodik ausgebildet hätten, durch deren Anwendung der Mehrzahl ihrer Zöglinge gegenüber der Mangel der ursprünglichen Anlage durch eine geistige Dressur ausgeglichen würde, die in diesem besonderen Falle oft Bewundernswertes zu leisten vermag. Nun pflegen die Vertreter einer vom Kindergarten bis zur Universität reichenden Universalschule auf die Zukunft hinzuweisen, in der alles dies infolge der wachsenden Verbreitung allgemeiner Bildung völlig sich ändern werde, weil auf dem dann für jeden einzelnen sich eröffnenden, alles Wissen und Können umfassenden Weg die gerade für ihn geeignete Stelle unabhängig von der Gunst äußerer Glücksverhältnisse sich finden werde. Aber es pflegt dabei eben jenes psychologische Moment ganz übersehen zu werden, daß der Weg der geistigen Entwicklung nicht eine innerlich gleichartige und nur an Umfang verschiedene Mannigfaltigkeit ist, sondern daß es gerade die inneren Wesensunterschiede der Formen geistiger Bildung sind, wodurch diese sich scheiden und in vielen Fällen dank der ungeheuren Vielgestaltigkeit der menschlichen Anlagen wie der menschlichen Lebensschicksale einander ausschließen. Darum würde die geistige Kultur selbst am schwersten geschädigt sein, wenn sie sich in ein solches Chaos uniformer Lebensinhalte zurückverwandeln ließe, wie es die Phantasie mancher utopistischer Zukunftsschwärmer sich vorgaukelt. Diese utopistische Zukunft würde, wenn irgendwo in der Geschichte, so am ehesten in dem allerersten Anfang dieser, in der Kultur des primitiven, ihre Analogie finden.
Die Studierenden der Universität Zürich bildeten zu meiner Zeit eine sehr gemischte Gesellschaft. Es war die Zeit der Hochflut der russischen Einwanderung, in der es an nihilistischen Elementen nicht fehlte, deren sich die Züricher Regierung freilich bald zu entledigen suchte. Sie wanderten dann nach Bern, wo sie aber infolge der bedrohlichen Haltung und der veränderten politischen Verhältnisse Rußlands mehr ein verborgenes Dasein führten. Das Frauenstudium hatte schon zuvor an der Züricher Universität Eingang gefunden, und man führte sogar die männlichen und die weiblichen Studierenden in den Studentenverzeichnissen gesondert auf. In der medizinischen Fakultät waren beide Kategorien nahezu numerisch gleich geworden, und ein medizinischer Kollege erklärte mir eines Tages, er werde demnächst, wenn die Frauen die Majorität gewonnen hätten, seine Kollegienhefte umarbeiten, weil manche medizinische Fächer für Frauen anders als für Männer gelesen werden müßten. Durch den Abzug der Russen und der Balkanstudenten hat dann dieses Übergewicht allerdings beträchtlich abgenommen, aber es blieb doch immer noch eine ziemliche Zahl einheimischer Frauen, die sich teils zur Medizin, teils zu dem Volksschullehrerberuf vorbereiteten. Im Verhältnis zur großen Zahl der Volksschullehrer bildeten übrigens die zum Studium auserlesenen Männer und Frauen nur eine kleine Zahl, so daß hier die Verhältnisse der studierenden Pädagogen, die künftig zu Seminardirektoren oder städtischen Lehrern bestimmt waren, denen glichen, die ich nachher in Leipzig vorfand. Den eigentlichen Stamm der Züricher Studenten bildeten aber die von den Gymnasien zum Studium übergegangenen eingeborenen Schweizer. Das hat sich seitdem, so viel ich weiß, geändert. Der Austausch zwischen Deutschland und der Schweiz ist ein lebhafterer geworden, so daß wohl auch der spezifische Typus des Schweizer Studenten heute nicht mehr so ausgeprägt sich findet wie damals. Ein Vorzug des Schweizer Studenten war, ganz im Sinne des allgemeinen Charakters der Bevölkerung, der regelmäßige Fleiß, der besonders auch in dem Kollegienbesuch wohltuend hervortrat, der oder auch zumeist die großen Verschiedenheiten ausschloß, die in dieser Beziehung zwischen den deutschen Studenten der gleichen Universität zu bestehen pflegen. Daneben hinderte das frühe Interesse des Schweizers am politischen Leben den Einfluß der spezifisch studentischen Korporationen, wie er in Deutschland besteht und manchmal über das ganze Leben sich ausdehnt. Der Schweizer will unter allen Umständen auf der Universität etwas lernen, und es würde schon seiner ererbten Sparsamkeit widerstreiten, wenn er einmal eine belegte Vorlesung ungenützt vorübergehen ließe. Dazu kommt noch ein anderes Moment, welches den Typus des Schweizer Studenten dem des höheren Schülers ungleich mehr als bei uns annähert. In vielen Fächern, namentlich in den philologischen, nützt die Unterrichtsbehörde die an der Universität angestellten Professoren auch bei den Gymnasien aus, wo sie in den höheren Klassen Unterrichtsstunden zu übernehmen haben. So kommt es, daß es in dem Bewußtsein des Studenten eine so scharfe Grenze zwischen ihm und dem Schüler wie bei uns nicht gibt und so auch der Ton des Verkehrs zwischen Schüler und Lehrer ein ähnlicher bleibt. Das spezifisch studentische Leben ist deshalb in der Schweiz nicht so zur Ausbildung gelangt wie auf unseren deutschen Universitäten. Auch dies entspricht dem schweizerischen Volkscharakter. Der deutsche Student fühlt sich vermöge der Freiheit, die er genießt, leicht als Mitglied eines privilegierten Standes. Der Schweizer Student bildet ein Glied der allgemeinen bürgerlichen Gesellschaft, und indem er die akademische Zeit immer noch als eine fortgesetzte Schule betrachtet, fühlt er sich eher hinter den anderen Klassen der Gesellschaft noch einigermaßen zurückstehend.
Im Sommersemester 1875 hielt ich in Zürich zwei größere Vorlesungen nebeneinander: die Logik in vier, die Völkerpsychologie in drei wöchentlichen Stunden, beide zum ersten Male. Daß eine erstmalige akademische Vorlesung eine ungewöhnliche Sorgfalt der Vorbereitung erfordert, ist eine geläufige Erfahrung. Aber der Umstand, daß ich bisher in Heidelberg nur kürzere, meist ein- oder zweistündige Vorlesungen gehalten hatte, scheint für mich doch damals ein das gewöhnliche Maß noch erheblich überschreitendes Motiv der Sorgfalt gewesen zu sein. Ich habe mich davon erst vor kurzem wieder durch die Auffindung zweier sehr umfangreicher Kollegienhefte überzeugt, in welchen der Inhalt dieser beiden Vorlesungen wörtlich von mir ausgearbeitet ist, und die ich in der langen Zeit von ungefähr 45 Jahren, die seitdem verflossen ist, bis zu dieser ihrer Neuentdeckung vollständig vergessen hatte. Ich habe später nur noch einmal eine solche wörtliche Ausarbeitung vorgenommen; das geschah unmittelbar nachher im folgenden Winter in Leipzig bei einer einstündigen Vorlesung über die Psychologie der Sprache. Sie war aber nur eine Umarbeitung des ersten Kapitels der im Sommer zuvor gelesenen Völkerpsychologie. Alle diese Hefte waren übrigens häusliche Arbeiten, die das Auditorium niemals gesehen haben, da ich mich in diesem stets auf die Benutzung kurzer Dispositionen beschränkte. Auch machen die sämtlichen hier genannten Hefte den Eindruck, daß sie in diesem Umfang überhaupt nicht gehalten werden konnten, weil dazu die Zeit des mündlichen Vortrags nicht ausgereicht haben würde.
Nun war es mir, wie oben bemerkt, in diesem Fall nicht zum wenigsten darauf angekommen, beide Gebiete in den übereinstimmenden wie in den unterscheidenden Ergebnissen der Untersuchung miteinander zu vergleichen, um zu erproben, inwieweit psychologische Gesichtspunkte auf die Logik und ebenso logische auf die Psychologie bei den verwickelteren, in der Völkerpsychologie betrachteten Geistesfunktionen bestimmte Einflüsse ausüben könnten. Wenn ich nun nach beinahe einem halben Jahrhundert von meinem heutigen Standpunkte aus auf Grund einer neuen Lektüre dieser Niederschriften ein Urteil aussprechen darf, so ist das Ergebnis bei jedem der beiden Gebiete ein sehr verschiedenes. Die Ausarbeitung der Völkerpsychologie fiel in eine Zeit, in welcher diese und ganz besonders die schon in Zürich den größten Teil des Semesters ausfüllende Psychologie der Sprache einer tiefgreifenden Umwandlung entgegenging. Es war die Zeit, in welcher im wesentlichen noch im Gebiet der Lautgeschichte wie des Wort- und Satzbaues jetzt verlassene Anschauungen herrschend waren. Insbesondere waren es August Schleicher und Georg Curtius, die als Führer der indogermanistischen Studien betrachtet werden konnten. Neben ihnen spielten höchstens noch der von mir damals viel benutzte A. F. Pott und in der ersten Auflage seines indogermanischen Wörterbuchs August Fick eine Rolle. Unter ihnen allen war es namentlich Schleicher, der durch sein eminentes Talent systematischer Darstellung den Leser gefangen nahm. So lagen denn schon in der fast völligen Beschränkung auf das indogermanistische Sprachgebiet und noch mehr in der kritischen Lage, in der sich die Sprachwissenschaft befand, Mängel, die der psychologischen Bearbeitung Schwierigkeiten bereiteten.
Dennoch gab es einen Punkt in dieser älteren sprachwissenschaftlichen Literatur, der eine gewisse anregende Wirkung ausüben konnte. Dieser bestand in der Frage der psychologischen Methode. Zu psychologischen Interpretationen der Erscheinungen sahen sich natürlich schon damals die Sprachforscher gedrängt, und besonders die Gebiete der Laut- und der Bedeutungsgeschichte boten ein weites Feld, auf dem sich diese Interpretationen bewegten. Trat man ihnen aber näher, so mußte sich nur zu bald herausstellen, daß von einer irgendwie festgehaltenen Methode hier eigentlich nirgends die Rede war. Das fiel mir namentlich in der Leipziger Wiederholung der Vorlesung über die Sprache in zunehmendem Grade auf. Es ergab sich, wenn man die Erklärungen der Sprachforscher vom psychologischen Standpunkte aus näher prüfte, unabweislich, daß sie im ganzen völlig planlos entstanden waren, so daß es vorkommen konnte, für eine und dieselbe Erscheinung zwei entgegengesetzte Ursachen oder umgekehrt für entgegengesetzte Erscheinungen eine und dieselbe Ursache angeführt zu finden. So sollte die Bequemlichkeit der Artikulation bald die Unterdrückung, bald die Simplifikation der Laute oder abwechselnd Assimilationen und Dissimilationen herbeiführen können. Neben der Bequemlichkeit sollte dann aber auch gelegentlich das Streben nach Deutlichkeit maßgebend sein. Waren es bei den Lautveränderungen auf diese Weise Motive einer oberflächlichen Popularpsychologie, so wurden innerhalb der Bedeutungsgeschichte in der Regel die nächstliegenden logischen Kategorien, wie Verengerung und Erweiterung oder auch Verschiebung der Begriffe benutzt, um unter ihnen die verschiedenen Formen des Begriffswandels unterzubringen. Oder es wurde wohl auch geradezu eine tatsächliche Veränderung in einen in der Sprache selbst gelegenen Trieb umgesetzt. So beschäftigten sich z. B. ganze Abhandlungen mit der Herabsetzung oder umgekehrt mit der Steigerung der Begriffswerte; ja wir besitzen eine Arbeit, die in dieser Beziehung der Sprache geradezu einen ihr angeborenen Pessimismus zuschreibt und für diese Behauptung in der Tat eine Menge von Beispielen beizubringen weiß. Als ich die Vorlesungen hielt, erschien mir die ablehnende Kritik dieser Interpretationen zunächst ebenso selbstverständlich wie die Polemik gegen die Versuche der englischen Logiker, auf die ihnen geläufigen sogenannten Assoziationsgesetze der Vorstellungen die sprachlichen Erscheinungen zurückzuführen. Die umgearbeitete Wiederholung in Leipzig hat es mir vollends klar zum Bewußtsein gebracht, daß sich damit von psychologischer Seite aus Gesichtspunkte gegen den geläufigen Betrieb der Sprachwissenschaft erhoben, die mit den inneren Reformen, denen diese in derselben Zeit entgegenging, zusammentrafen. Darum ist es mir als ein besonders erfreuliches Erlebnis in Erinnerung geblieben, daß der hervorragendste Vertreter der neuen linguistischen Richtung, August Leskien, mir eines Tages aus Anlaß jenes einstündigen Publikums über die Sprache seine Befriedigung darüber ausdrückte, daß nun doch auch die Psychologie von ihrer Seite aus mit dem in die vergleichende Sprachwissenschaft herübergenommenen Schlendrian der alten Grammatiker aufzuräumen suche. Wohl war ich mir bewußt, daß hier nur von einem höchst bescheidenen Beitrag zu der umfassenden Arbeit, die der Sprachwissenschaft selbst bevorstand, die Rede sein könne; aber der ermunternde Zuspruch eines Mannes, der mir als eine erste Autorität auf diesem Gebiete galt, konnte mich immerhin zu der Hoffnung ermutigen, dereinst vielleicht noch einmal aus den neuen sprachwissenschaftlichen Ergebnissen selbst psychologische Aufschlüsse in weiterem Umfange als bisher zu gewinnen.
Anders als mit dem nur einen ersten unzulänglichen Versuch bildenden Abriß der Völkerpsychologie des Züricher Kollegienheftes verhält es sich mit dem gleichzeitig dort entstandenen umfangreicheren Heft über die Logik. Freilich nahm in ihr die Einleitung über die Geschichte der Logik einen unverhältnismäßigen Raum ein, so daß darüber der eigentliche Inhalt, den ich geplant hatte, zu kurz kam und vor allem die Ergänzung durch eine sich anschließende Methodenlehre ganz unterbleiben mußte. Dennoch darf ich wohl sagen, daß, soweit diese Darstellung überhaupt vorliegt, in ihr bereits die wesentlichen Gesichtspunkte enthalten sind, die in weiterer Ausführung den Inhalt meiner zum ersten Male 1880 in zwei Bänden erschienenen Logik bilden. Wenn ich nun aber möglichst unbefangen, so weit dies für einen Autor seinem eigenen Werk gegenüber möglich ist, den Geist dieser Logik namentlich im Vergleich mit den kurz vorher und nachher erschienenen Bearbeitungen der gleichen Wissenschaft mit dem üblichen Sprachgebrauch der Gegenwart kennzeichnen sollte, so wüßte ich dafür keinen treffenderen Ausdruck zu finden als die Behauptung: es ist die konsequenteste Absage an den in dieser Zeit herrschenden Psychologismus, die mir bekannt geworden ist. Ich darf mich hier darauf beschränken, vier Punkte herauszugreifen, in denen diese Tendenz besonders augenfällig zutage tritt.
Der erste dieser Punkte, zugleich derjenige, der eigentlich folgerichtig zu Ende gedacht alle weiteren schon in sich schließt, betrifft die allgemeine Stellung und die nach ihr erfolgte Definition des logischen Begriffs. Hier liegt der Fehler der alten Subsumtionslogik darin, daß Sie die Allgemeinheit als das fundamentale Merkmal hervorhebt. Irgendein Gedankeninhalt soll dadurch, daß er als Merkmal zahlreicher individueller Fälle angesehen wird, jeden beliebigen Begriff in einen logischen überführen, denn dieser soll, wie das schon die ursprüngliche Bedeutung des Wortes, begreifen gleich umgreifen, ausdrückt, immer eine allgemeine Kategorie bezeichnen, unter der eine Menge von Einzelbegriffen enthalten sei. Indem dieser Begriff der Allgemeinheit den neueren Logikern nicht mehr genügte, suchten sie nun weitere Merkmale ausfindig zu machen, für die sie dann zu psychologischen Motiven ihre Zuflucht nahmen. Das ist in verschiedener Weise geschehen. Stuart Mill griff zu dem äußerlichsten Merkmal, zu dem Wort, mit dem wir einen Begriff ausdrücken, andere nahmen eine angebliche Auswahl der wesentlichen Merkmale eines Gegenstandes zu Hilfe, Sigwart wies auf die psychologische Bildung unserer Vorstellungen hin, die dieser logischen Bedeutung zugrunde liege sollte, Lotze sah die Grundlage des Begriffs in dem Erinnerungsvermögen auf der einen und in der alle psychischen Akte begleitenden Einheit der Seele auf der andern Seite usw.. Nur Herbart hatte sich in gewissem Sinne von diesem Psychologismus frei gemacht, indem er den logischen Begriff als eine Vorstellung definierte, der wir Unveränderlichkeit zuschreiben sollen, eine Definition, die freilich erst recht dem Psychologismus verfiel, weil sie die allgemein das Substrat der seelischen Vorgänge bildenden Vorstellungen auch als das der Begriffe betrachtete. Immerhin hatte er dem Begriff seine Stellung als Ausgangspunkt aller logischen Funktionen gewahrt. Dagegen war es zum herrschenden Charakterzug der Logik geworden und ist es vielfach noch bis zum heutigen Tage geblieben, daß man als den Anfang alles logischen Denkens das Urteil betrachtet, aus dem erst durch seine Zerlegung der Begriff entspringen soll. Dem gegenüber bezeichnete ich von Anfang an nicht bloß diese Stellung des Urteils als eine unberechtigte Einmengung eines psychologischen Motivs in die Logik, sondern insbesondere auch die meisten Versuche, zu der altüberlieferten Allgemeinheit der Begriffe weitere Merkmale aufzufinden als in ihrem letzten Grunde psychologistische. Gegen beide, gegen die alte in dem Merkmal der Allgemeinheit festgehaltene Subsumtionslogik wie gegen ihre psychologistischen Ergänzungsversuche, richtete sich meine Polemik. Es gibt, wie ich ausführte, wenn wir die Logik in ihren Anwendungen innerhalb der heutigen Wissenschaft zum Maßstabe nehmen, ebenso gut Individual- wie Allgemeinbegriffe, vor allem aber auch völlig unbestimmt bleibende Begriffsinhalte, bei denen eben der Begriff eine bloße Forderung ist, in jedem einzelnen Fall einen Begriff als letztes Element des logischen Denkens vorauszusetzen, daher aber auch, da die Logik mit dem rein psychologischen Gesichtspunkt des Aufbaues unseres Denkens aus Urteilen nichts zu tun habe, dieser Gesichtspunkt der Logik selbst fremd bleiben müsse.
Demnach gibt es nur zwei Merkmale, die als die Grundeigenschaften des logischen Begriffs anzuerkennen sind, wobei aber freilich auch sie nicht reale Eigenschaften desselben, sondern lediglich Postulate bedeuten, die wir bei der Aufstellung der auf der Grundlage des logischen Denkens entstehenden Begriffsbildung dieser entgegenbringen:
Bestimmtheit und Allgemeingültigkeit. Bestimmtheit: denn das logische Denken fordert von jedem seiner Inhalte, daß er ein bestimmt zu definierender sei; als logisches Denken stellt es jedoch diese Forderung in völlig abstrakter Form, ihre Verwirklichung bleibt stets an die besonderen Inhalte gebunden, die dem Denken unterworfen werden. Allgemeingültigkeit: denn das logische Denken wird als allgemein bindend vorausgesetzt für jeden Denkenden; eben darum ist aber vollends die Allgemeingültigkeit wiederum nur als Forderung, nicht als Verwirklichung zu betrachten, diese muß dem Zusammenwirken des Denkens mit den tatsächlichen Inhalten desselben überlassen bleiben. Dazu kommt endlich, als eine Voraussetzung, die in dem Zusammenhang des logischen Denkens, der jeder einzelne Begriff unterworfen ist, ihre Quelle hat: diese ist die Beziehung zu anderen mit denselben allgemeinen Merkmalen ausgestatteten, aber nach ihrem spezifischen Inhalt eigenartigen Begriffen, die jedem seine Stellung in dem Zusammenhang des Denkens anweisen.
Mit dieser Definition des logischen Begriffs ist bereits die Unhaltbarkeit aller Versuche ausgesprochen, welche nicht den Begriff, sondern das Urteil als das ursprüngliche Fundament des logischen Denkens annehmen. Sie beruhen überall auf einer Verwechselung des Denkens im psychologischen mit einem solchen im logischen Sinne oder mit anderen Worten auf einer Substitution des Vorstellungsverlaufs, wie er uns in der unmittelbaren Beobachtung gegeben ist, an Stelle der Normen, welche die Wissenschaft der Logik aus der Mannigfaltigkeit der konkreten Funktionen des Denkens zu abstrahieren hat. Eben darum belasten alle diese auf das Urteil zurückgehenden Grundlegungen der Logik diese notwendig zugleich mit irgendwelchen Inhalten des Denkens, die nicht den logischen Normen selbst, sondern den zufälligen Erfahrungsinhalten angehören, mit denen diese sich im wirklichen Denken verbinden. Damit hängt dann auch durchweg die Neigung zusammen, die aus dem Urteil durch seine Zerlegung gewonnenen Begriffe nicht als reine logische Postulate, sondern als reale Eigenschaften der Gegenstände anzusehen, wenn man es nicht vorzieht, sie mit der englischen Logik überhaupt nur als an sich inhaltsleere Wortzeichen zu betrachten und danach etwa in den psychologischen Gesetzen der Assoziation des Gleichzeitigen und der Zeitfolge die Ausgangspunkte auch des logischen Denkens zu erblicken. Ein vorbeugendes Mittel gegen diese völlige Entartung der Logik zu einer Disziplin der Assoziationspsychologie schien mir von Anfang an eine psychologische Untersuchung zu sein, die vor allem dem schablonenhaften Schematismus der überlieferten Assoziationsformen gegenüber endlich einmal den wirklichen Erscheinungen der Verbindungen psychischer Inhalte nachgehe. Dabei war alles das auszuscheiden, was an diesen Inhalten den subjektiven Bestandteilen der Gemütsbewegungen angehört, also an sich außerhalb des Bereichs der logischen Funktionen liegt. Da stellte sich denn heraus, daß das gesamte bis dahin unter dem vieldeutigen Wort »Assoziationen« zusammengefaßte Material auf der einen Seite einen ohne unser Zutun, durch die dem Empfindungsinhalt selbst immanenten Kräfte entstehenden psychischen Inhalt bilde, auf der anderen Seite aber auch psychologisch ohne unser begleitendes Selbstbewußtsein unbegreiflich bleibe, daher ich diesen letzteren Inhalt in seiner rein psychologischen Bedeutung wegen dieser Beteiligung der Apperzeptionsfunktionen als das Gebiet der »apperzeptiven Verbindungen« bezeichnete. Aber auch diese betrachtete ich lediglich als psychologische Formen der unser wirkliches Denken überall konstituierenden Erscheinungen, in denen bereits die logischen Normen an einen bestimmten sinnlichen Inhalt, also an den psychologischen Vorstellungsinhalt gebunden sind. Gerade in diesem Sinne erschien mir daher die Untersuchung der Vorstellungsverbindungen im allgemeinen nicht als ein Bestandteil der Logik, wohl aber als eine nützliche Vorbereitung derselben.
Ist demnach das Urteil im logischen Sinne weder eine Assoziation noch eine apperzeptive Verbindung von Vorstellungen zu nennen, so bleibt nur übrig, aus den wirklichen Denkakten, wie sie ja allerdings zunächst in den apperzeptiven Ausdrucksformen der Sprache uns entgegentreten, den normativen, also rein logischen Gehalt zu abstrahieren und für sich isoliert zu denken. Dann ergibt sich als ein solcher das in der Tat rein logische Verhältnis, das wir in unseren indogermanischen Sprachen als das prädikative bezeichnen. Da die allseitige Verwertung dieses logischen Verhältnisses der in das Urteil eingehenden Begriffe in ihren vollkommeneren Gestaltungen nur den indogermanischen und neben ihnen in etwas abweichenden Formen den semitischen Sprachen eigen ist, so folgt daraus allerdings auch, daß es eine Logik in jenem absoluten Sinne, in welchem diese eine jenseits aller empirischen Wirklichkeit liegende apriorische Disziplin sein soll, nicht gibt. Vielmehr ist die Logik, ebensogut wie jede andere Wissenschaft, an die Bedingungen der Kultur und damit der Erfahrung nicht nur, sondern auch konkreter Eigenschaften der Erfahrung gebunden. Die grundlegende Bedeutung der prädikativen Funktion für die Logik als Wissenschaft ist aber darin ausgesprochen, daß sich alle andern Beziehungen, die sich unter dem Einfluß wechselnder empirischer Bedingungen in der Sprache ausgebildet haben, unter ihnen vor allem die attributive, dem prädikativen Verhältnisse als besondere Formen unterordnen und dadurch auch in der sprachlichen Form ihr angleichen lassen. In diesem Sinne ist die Logik als Wissenschaft eine Schöpfung der indogermanischen und teilweise der semitischen Kultur, in die sich dann freilich auch die andern, nicht zu dieser Stufe der Begriffsentwicklung gelangten Ausdrucksformen des menschlichen Denkens übertragen lassen, analog wie dies mit sonstigen wissenschaftlichen Erzeugnissen geschehen kann.
Auf dem Boden dieser Herrschaft der prädikativen Funktion haben sich dann die besonderen Formen ausgebildet, in denen die Logik ihren spezifischen Charakter als Wissenschaft der reinen Denkformen besonders augenfällig offenbart, weil sich diese hier am reinsten in ihrer Abstraktion von dem sie zur Wirklichkeit ergänzenden empirischen Inhalt gesondert haben. Dahin gehören in erster Linie die Funktion der Verneinung als einer logischen Abwehr jeder Prädizierung, und dann die in dem hypothetischen, dem disjunktiven und dem Wahrscheinlichkeitsurteil ausgedrückten Modifikationen jener Grundfunktion. Unter ihnen ist schon von den Alten besonders die Verneinung als eines der mächtigsten Vehikel des Denkens in seiner von allen Bedingungen der Anwendung befreiten logischen Gestaltung erkannt worden; zu ihr sind in der späteren Entwicklung vor allem die Hypothese und die Disjunktion als weitere Modifikationen des Denkens aus dem ursprünglichen empirischen Stoff ausgeschieden worden, und dazu sind schließlich die in den Wahrscheinlichkeitsattributen ausgedrückten subjektiven Beschränkungen der Prädizierung hinzugetreten, soweit sie zugleich einem rein logischen Bedürfnis entgegenkamen.
Noch mehr offenbart sich der jeder Vertiefung in die logische Bedeutung der Verknüpfungsformen entfremdete Psychologismus in der völlig unhistorischen Kritik des Schlußverfahrens, in der z. B. Stuart Mill die Wertlosigkeit des Syllogismus behauptete, weil er niemals etwas Neues lehre, sondern immer nur in einen einzigen Ausdruck zusammenfasse, was in seinen Prämissen bereits vollständig enthalten sei. Für unsere heutige Betrachtung ist dies in der Tat vollkommen zutreffend, aber doch nur insofern, als wir damit lediglich die psychologische Bedeutung eines Schlußverfahrens im Auge haben. Eben dieser psychologische Gesichtspunkt ist jedoch durchaus nicht derjenige der aristotelischen Syllogistik selbst. Vielmehr besteht diese eben darin, daß Sie den logischen Wert der mittelbaren Subsumtion der Begriffe zum ersten Male in einleuchtender Weise in seiner logischen Bedeutung zum Ausdruck gebracht hat. Jene psychologistische Kriti hat daher von der großen historischen Bedeutung der aristotelischen Syllogistik keine Ahnung, da sie dieselbe ganz und gar von dem Standpunkt unserer heutigen psychologischen Auffassung aus betrachtet. Dadurch verkennt sie, daß in Wahrheit das Prinzip der Syllogistik eine der größten logischen Entdeckungen aller Zeiten ist. Denn sie ist es gewesen, die tatsächlich zu der Formulierung des grundlegenden Prinzips geführt hat, auf dessen komplizierteren und wiederholten Anwendungen zum wesentlichen Teile der logische Aufbau aller Wissenschaft beruht. Nichts legt dafür ein deutlicheres Zeugnis ab als der fruchtbare Gebrauch, den die antike Geometrie von der Anwendung der Syllogistik machte und dem sie ihren Aufbau als systematische Wissenschaft verdankt. In diesem Sinne kann man geradezu die antike Geometrie als eine aus der Synthese eines an sich in den verschiedensten Formen kombinierbaren Materials geometrischer Inhalte mit der auf sie angewandten aristotelischen Syllogistik hervorgegangene Wissenschaft bezeichnen.
Ein vierter und letzter Punkt, in welchem ich die Verstrickung der modernen Logik in psychologistische Verirrungen nachgewiesen zu haben glaube, besteht endlich in der Bedeutung, die ich dem Satz des Grundes als einem rein logischen Prinzip anwies. Sie knüpft an die alte scholastische Dualität der Begriffe ratio und causa an. Diese Dualität ist bekanntlich von Spinoza in seiner oft gebrauchten Formel »ratio sive causa« in eine Identität umgewandelt worden, die der metaphysischen »Deus sive natura« durchaus entspricht. Ist bei ihm in jenem logischen Doppelbegriff die rein logische Bedeutung der ratio in ihrer Gegenüberstellung zur causa als der Verknüpfungsform der »res extensa« noch vollkommen erhalten geblieben, so hat dagegen Leibniz diese schattenhafte Dualität in eine wirkliche Identität umgewandelt, die bei ihm auf einem merkwürdigen Vorurteil beruht, das seine Quelle gleichzeitig in seiner monistischen Metaphysik und in seiner einseitigen Auffassung der logischen Axiome hat. So strenge er nämlich bei den letzteren das fortwährende Ineinanderwirken des Satzes der Identität mit dem des Widerspruchs betonte, so wenig war er imstande, dem Satz des Grundes neben beiden eine selbständige axiomatische Stellung einzuräumen. Hatten ihn dazu seine logisch-mathematischen Arbeiten zur Symbolik des logischen Denkens geführt, so blieb ihm für den Satz des Grundes nur die halb empirische halb logische Stellung übrig, der er in der Bezeichnung desselben als des »principium rationis sufficientis« Ausdruck gab. Damit war aber derselbe von vornherein als ein logisch-empirischer Hilfsbegriff der logischen Axiome gekennzeichnet oder, wie wir das nämliche ausdrücken können, er hat ihn nur noch als Prinzip der Kausalität, d. h. der Anwendung der eigentlichen logischen Axiome auf die Erfahrung anerkannt. So ist es denn merkwürdigerweise dieser hervorragende Logiker gewesen, der dem Kausalprinzip seine dominierende Stellung in der modernen Logik angewiesen, damit aber auch die bisherige allgemeinere Bedeutung des logischen Satzes vom Grunde beseitigt hat. Von Leibniz ist dann diese Auffassung mit dem entsprechenden Attribut der »causa sufficiens« auf die folgende Philosophie übergegangen, und darin hat schließlich diese spezifische Form des Psychologismus, die in der Vertauschung des an sich rein logischen Axioms vom Grunde mit dem empirischen Kausalprinzip besteht, ihre letzte Quelle. Gegen diese bin ich von der ersten Auflage meiner Logik an aufgetreten, indem ich nachzuweisen suchte, daß das rein logische Axiom in dem Aufbau der allgemeinen logischen Prinzipien nicht zu entbehren sei. Vorangegangen war in dieser Beziehung der moderne Idealismus von Fichte bis Hegel, die in ihren dialektischen Entwicklungen der logischen Axiome dem Satz des Grundes in seiner Identität und Widerspruch in einer logischen Synthese zusammenfassenden Bedeutung seine berechtigte Stellung anwiesen. So ist es denn merkwürdigerweise geschehen, daß die modernen, den Psychologismus bekämpfenden Logiker gelegentlich eben diese Einreihung des Grundes unter die logischen Axiome als ein besonderes Symptom eines Psychologismus ansahen, während sie im Gegenteil selbst in diesem Fall Vertreter eines freilich sehr verbreiteten psychologistischen Irrtums sind, indem sie sich der Verwechselung des rein logischen Prinzips mit seiner empirischen Anwendung im sogenannten Kausalgesetz schuldig machen. Sie bekämpfen den rein logischen Wert des Prinzips der Ratio, weil sie diese nur in der Form der bereits durch spezifische Erfahrungsinhalte getrübten Causa anerkennen.
In Karl Prantl's »Geschichte der Logik im Abendlande« besitzen wir ein Werk, das, mit einer kurzen Einleitung über die Eleaten und Sophisten beginnend, an die ausführliche Schilderung der aristotelischen Logik anknüpft, um die spätere Entwicklung bis zum Beginn der Neuzeit in ihren verschiedenen Verzweigungen darzustellen. Es ist ein Werk von erstaunlicher Gelehrsamkeit, dem kein zweites von ähnlicher Bedeutung über den gleichen Gegenstand zur Seite steht, und das schwerlich jemals wiederholt oder überholt wird. Aber dieses Werk hat eine Eigenschaft, die man von einer Geschichte der Logik wohl am allerwenigsten erwarten sollte. Wenn es eine Wissenschaft gibt, die sich ausschließlich an den Intellekt wendet und wenig geeignet ist, Affekte zu erregen, so ist zweifellos die Logik eine solche. Gleichwohl kenne ich kein Werk aus dem weiten Gebiet der Geschichte der Wissenschaft, das mit gleichem im Verlauf der Darstellung sich steigerndem Affekt geschrieben wäre wie diese Geschichte der Logik. Vergegenwärtigt man sich aber den Standpunkt, von dem Prantl ausgegangen ist, so begreift sich einigermaßen diese merkwürdige Eigenschaft. Das Werk ist seiner wesentlichen Tendenz nach eine Geschichte der aristotelischen Logik und der mannigfaltigen Wandlungen, die diese im Laufe der Zeiten erfahren hat. Den Grundgedanken dieser Logik erblickt aber der Verf. in dem engen Zusammenhang, in welchem bei Aristoteles die Logik mit seiner gesamten Wissenschaftslehre und insonderheit mit seiner Metaphysik steht. Eine Logik, die sich außerhalb dieser ihrer notwendigen Zugehörigkeit zur Wissenschaft oder auch innerhalb eines von diesem Ausgangspunkte wesentlich abweichenden Systems eine Stellung gewinnen will, hat nach Prantl weder das Recht, sich auf die Autorität des Aristoteles zu berufen, noch kann sie schließlich den Anspruch erheben, eine wissenschaftliche Logik zu sein. In diesem Sinne erblickt er in der ganzen folgenden Geschichte der Logik, etwa abgesehen von den ersten Bearbeitern und Komentatoren des Aristoteles, im Grunde nichts anderes als eine Geschichte der Entartung und des Verfalls der klassischen aristotelischen Logik. Dieser Prozeß beginnt ihm eigentlich schon im Stoizismus trotz der nicht abzuleugnenden Ergänzungen des aristotelischen Systems, durch die sich die Stoiker um den Weiterbau der Logik verdient gemacht haben. Denn indem sie den Schwerpunkt der Logik nicht mehr in die in der Syllogistik kulminierende Subsumtion der wissenschaftlichen Begriffsinhalte, sondern in eine von jedem konkreten Inhalt unabhängige Stufenleiter der Begriffe verlegen, bewegen sie sich bereits auf der abschüssigen Bahn einer rein formalen Begriffstechnik. Weiter entfremdet wird dann die Logik ihrem ursprünglichen Inhalt bei ihrer Aufnahme in die christliche Metaphysik, wo nun ein Apostel Paulus und ein heiliger Augustin neben den überlieferten Zeugen des aristotelischen Organon gelegentlich als logische Autoritäten verehrt werden. Ihr schließliches Ende erreicht diese Geschichte in den logischen Begriffs- und Wortklaubereien des scholastischen Nominalismus, in welchem die einstige auf den inneren Zusammenhang der Teile des logischen Systems miteinander und mit der Wissenschaft beruhende Logik zu einer leeren, in zusammenhanglose Teile zerfallenden Verstandesübung geworden ist.
Nun hat der Standpunkt, den Prantl's Geschichte der Logik einnimmt, indem sie im wesentlichen eine Geschichte der aristotelischen Logik und ihres allmählichen Verfalls ist, seine innere Berechtigung darin, daß, abgesehen von den metaphysischen Gesichtspunkten, die Aristoteles schon seinem System der Logik entgegenbringt, dieses System im wesentlichen nichts anderes ist als eine wissenschaftliche Bearbeitung der in der Sprache zum Ausdruck kommenden logischen Denkgesetze. Die allgemeine Forderung, daß die Logik als Lehre von den Normen des Denkens niemals ein für sich bestehendes Ganzes, sondern stets an einen konkreten und demzufolge empirischen Inhalt gebunden ist, findet sich daher in der aristotelischen Logik und zwar in ihr in der allgemeingültigsten Weise bereits verwirklicht. Denn dieses empirische Substrat ist eben in ihr die Sprache. Aus ihr hat Aristoteles zunächst die allgemeinen Begriffsformen oder Kategorien als Grundbestandteile des logischen Denkens, dann aus diesen die Formen der Urteile abstrahiert, um daraus endlich seine die ganze Folgezeit beherrschende Syllogistik aufzubauen. Ist so die aristotelische Logik auf der einen Seite noch heute die ursprüngliche Form einer Logik, so ist sie aber auf der andern deren bleibende Form überall da, wo sich noch nicht für ein bestimmtes Wissenschaftssystem eine spezifische Symbolik, die die sprachlichen Formen ersetzt, ausgebildet hat.
Dies ist der Gesichtspunkt, welcher nunmehr in der späteren Entwicklung der Logik der Mathematik ihre spezifische Eigenart als einer im eminenten Sinne logischen Wissenschaft verliehen hat, insofern sie in fortschreitendem Maße darauf ausgegangen ist, die ursprünglichen auch in ihr durch sprachliche Formen ausgedrückten Begriffe durch Symbole zu ersetzen, die den rein logischen Wert der Begriffe, absehend von ihrer sinnlichen Bedeutung, ausdrücken. Diesen logischen Vorzug verdankt die Mathematik dem Umstande, daß das Substrat ihrer Betrachtungen entweder unmittelbar dem Begriffsgebiet der reinen Anschauungsformen angehört oder leicht in dieses sich übertragen läßt. Nicht als ob die Mathematik von Anfang an eine solche aus Begriffssymbolen aufgebaute Wissenschaft gewesen wäre. Vielmehr hat sie ihr letztes Substrat in den zwei rein technischen Gebieten des Handelsverkehrs und der Feldmeßkunst, die heute noch in ihren Hauptteilen, der Arithmetik und der Geometrie nachwirken. Darum liegt nun aber auch der Anfang eben dieser beiden einander ergänzend zur Seite stehenden mathematischen Disziplinen nicht in jenen letzten technischen Substraten des mathematischen Denkens, sondern ihre Geburtsstunde ist einerseits der Begriff der abstrakten Zahl, wie er sich aus der empirischen Rechenkunst, und andererseits der Begriff des reinen Raumes, wie er sich aus der empirischen Meßkunst entwickelt hat. Wie nun diese beiden technischen Künste keiner Kultur ganz fehlen, so hat sich auch nirgends in der Welt die Mathematik bloß in der Form der Geometrie oder in der anderen der Arithmetik entwickelt. Wohl aber ist es augenfällig, daß das Übergewicht der mathematischen Begabung entweder auf der einen oder auf der andern seite liegen kann, und dafür ist es dann sichtlich zugleich die ursprüngliche geistige Anlage der Völker, bei der wiederum die allgemeine Richtung der Kultur von entscheidendem Einfluß ist. So ist von den Griechen die Mathematik hauptsächlich in der Form der Geometrie, von den Indern in der Form der Arithmetik ausgebildet worden, ohne daß aber dabei von einer Ausschließlichkeit die Rede sein könnte. Wenn daher behauptet worden ist, die antike und die moderne Mathematik seien überhaupt verschiedene Wissenschaften, so beruht dies auf einer Verwechselung des ursprünglichen Stoffs mit der ausgebildeten Form des mathematischen Denkens. Die Griechen haben vermöge der auf die Anschauung gerichteten Form ihres Denkens die Mathematik vorwiegend als Geometrie entwickelt, und sie haben daher auch ihren arithmetischen Sätzen mit Vorliebe eine geometrische Form gegeben, indem sie sich z. B. die Zahleinheiten als Punkte, die Quadratzahl als ebene Fläche dachten. Dies schließt aber eine Umwandlung der geometrischen in die arithmetische Form, wie sie in der hellenistischen Zeit tatsächlich eingetreten ist, keineswegs aus, und ebenso weist der Einfluß, den fortan die antike Geometrie auf die moderne Analysis ausgeübt hat, auf diesen Zusammenhang der beiden Hauptgebiete der Mathematik hin. Wie Zählen und Messen an sich verschiedene, aber überall ineinander übergehende und sich verbindende geistige Funktionen sind, so sind eben auch Arithmetik und Geometrie von Anfang an unlösbar verbundene mathematische Richtungen, die niemals einander völlig verdrängen können, sondern sich vielmehr fortan wechselseitig befruchten und dadurch im Laufe der Zeiten neue Grundformen des mathematischen Denkens hervorbringen.
Bilden hiernach Geometrie und Arithmetik nicht grundsätzlich verschiedene Formen, sondern durch ihre in beiden Fällen der reinen Anschauung angehörende Entwicklungen innerlich zusammengehörige und durch mancherlei Zwischenformen verbundene Gebiete des mathematischen Denkens, so ist es nun weiterhin dieser übereinstimmende Charakter beider, der der Mathematik ihre Eigenart gegenüber allen andern aus dem Zusammenwirken eines empirischen Substrats mit den logischen Denkgesetzen hervorgehenden Wissenschaften verleiht. Zugleich repräsentiert in dieser Beziehung die Mathematik den Endpunkt einer Entwicklung, die in der aristotelischen Logik mit der Sprache als einem unmittelbar dem natürlichen Denken entnommenen Substrate beginnt und in den abstrakten mathematischen Begriffssymbolen als einem völlig in den Dienst der Logik getretenen Substrat endet. Dies führt schließlich auf denjenigen Begriff zurück, der den empirischen Stoff an die ihn den logischen Normen unterwerfenden Formen bindet, auf den Begriff des Symbols. Die Worte der Sprache, deren sich die aristotelische Logik zum Ausdruck der Gedankenbeziehungen bedient, sind gleichzeitig Ausdrucksformen sinnlicher Inhalte und logischer Symbole. Als sinnliche Inhalte sind sie der Stoff des logischen Denkens, als logische Symbole bezeichnen sie die Gedankenbeziehungen, in die diese sinnlichen Inhalte durch das logische Denken gebracht werden. Die Eigenart des mathematischen Denkens besteht aber darin, daß bei ihm der sinnliche Inhalt völlig eliminiert wird und das logische Symbol als abstrakte Form allein übrig bleibt. In diesem Sinne ist die Mathematik eine rein logische Wissenschaft, die darum, wenn sie auf empirische Aufgaben angewandt werden soll, eine Rückverwand-lung der abstrakten logischen Symbole in empirische Begriffe fordert, um dann im Anschluß an weitere empirische Aufgaben wiederum neue symbolische Hilfsbegriffe und im Anschlusse an sie neue Methoden des mathematisch-logischen Denkens hervorzubringen.
Insofern die Entwicklung der mathematischen Methoden ein geistiger Vorgang ist, der sich, wie jede andere wissenschaftliche Entwicklung, im Laufe vieler Jahrhunderte nach den ihm immanenten logischen Gesetzen vollzogen hat, bietet so die Geschichte der Mathematik einen empirischen Stoff, der sich von dem Inhalt anderer Erfahrungswissenschaften nur dadurch unterscheidet, daß die Mathematik den empirischen Begriffen Symbole logischer Begriffe substituiert, die den Begriffsinhalt auf den in ihn enthaltenen rein logischen Wert zurückführen. In diesem Sinne kann daher die Logik von ihrem Beginn in der aristotelischen Logik der Sprachsymbole bis zur mathematischen Logik der Zahl- und Raumsymbole als eine empirische Wissenschaft im weitesten Sinne des Wortes bezeichnet werden. Sie ist in dieser Weiterbildung zur mathematischen Logik freilich eine empirische Wissenschaft höherer Ordnung, insofern sie die Entwicklungsgeschichte der logischen Symbolik selbst zu ihrem Substrate hat. Der Charakter eines empirischen Substrats bleibt ihr aber darin erhalten, daß Beobachtung und Experiment, diese letzten Grundlagen alles empirischen Wissens, auch die Entwicklung des mathematischen Denkens in allen seinen Stadien begleiten. Spielen doch Erfindung und Entdeckung auf mathematischem Gebiet keine geringere Rolle als auf irgendeinem anderen Felde empirischer Wissenschaft. So gehört es denn auch zu den gröblichsten Täuschungen wissenschaftlichen Aberglaubens, wenn man der Logik ein von der Erfahrung in dieser weitesten Bedeutung unabhängiges, in einer allezeit unveränderlichen apriorischen Gedankenwelt bestehendes Dasein zuschreibt, wie das zuerst der scholastische Nominalismus getan hat, indem er die aristotelische Logik der Sprache zertrümmerte, um eine dissolute Dialektik der Wörter zurückzubehalten. Damit verwandelt eben der scholastische Nominalismus älterer wie neuerer Zeit die wissenschaftliche Logik, deren Wesen, wie das jeder andern Wissenschaft, im Zusammenhang des logischen Denkens besteht, in eine wertlose Wortkunst, die höchstens die Bedeutung einer formalen Verstandesübung beanspruchen kann.
Bereits in der ersten nach dem in Zürich entstandenen Entwurf ausgearbeiteten Auflage meiner Logik (1880--83) habe ich die Logik der Mathematik in dem hier in allgemeinen Umrissen angedeuteten Sinne darzustellen versucht, indem ich als den Stoff derselben nicht mit den englischen Logikern und ihren deutschen Nachfolgern die sinnlichen Substrate der Zahlen und der Raumformen, sondern die abstrakten Zahl- und Raumbegriffe selbst betrachtete, die in Wahrheit die Grundlagen des mathematischen Denkens von Anfang an gebildet haben, um dann von ihnen aus die weitere Entwicklung dieser in der Geschichte der mathematischen Methodik niedergelegten logischen Gedankenentwicklung zu verfolgen. Jedem, der mit der Geschichte der Mathematik einigermaßen vertraut ist, muß einleuchten, daß hier, genau so wie bei allen anderen Wissenschaften, die Geschichte der Wissenschaft selbst und die Entwicklungsgeschichte ihrer Logik zwei verschiedene Dinge sind. Man vergleiche z. B. für die ältere Zeit Moritz Cantors Geschichte der Mathematik mit der im zweiten Kapitel meiner Logik der Mathematik beginnenden Darstellung der logischen Entwicklungsgeschichte der mathematischen Methoden. Für die ältere, vielfach an den Namen Descartes, geknüpfte Periode der neueren Analysis bietet hier allerdings dieser hervorragende Mathematiker einen glücklichen Anhaltspunkt für eine solche in vielen Punkten von der wirklichen Geschichte abweichende logische Entwicklungsgeschichte, indem er, wie in seiner Philosophie, so auch in seinem mathematischen Hauptwerk über die Geometrie alles was Vorgänger und Zeitgenossen geleistet haben, als sein eigenes Werk darstellt. Man kann daher von ihm sagen, er habe für sein eigenes Zeitalter zu einem guten Teil bereits diese Umwandlung der wirklichen Geschichte in eine Entwicklungsgeschichte des logisch-mathematischen Denkens vollzogen. Aber für die spätere, in der Ausbildung der modernen Analysis sich betätigende Periode, in der mindestens ein Leibniz und Newton neben manchen anderen Zeitgenossen, wie Fermeet, Huygens und die Brüder Bernouilli, zum Teil verschiedene Wege einschlagen, gilt dies doch keineswegs mehr, sondern hier stellt sich der Gesamtverlauf der logischen Entwicklungsgeschichte als eine Art Resultante aus einer Reihe nebeneinander verlaufender historischer Entwicklungen dar, und es ergibt sich so mehr und mehr als die Aufgabe einer Logik der Mathematik, nicht als eine Wiedergabe ihrer wirklichen Geschichte, sondern vielmehr als die einer logischen Entwicklung, welche die verschiedenen Quellen, die in der Geschichte teils einander wechselseitig ergänzen teils unabhängig nebeneinander hergehen, zu einer idealen Einheit sammelt. Das ist eben die notwendige Folge davon, daß es schließlich die gleichen Gesetze des logischen Denkens sind, die alle diese Verzweigungen des mathematischen Denkens beherrschen. Um so klarer erhellt aus der Vergleichung dieser logischen Kontinuität der Entwicklung mit ihrer geschichtlichen Grundlage, daß auch in diesem Fall das Verhältnis zu den allgemeinen logischen Motiven kein anderes ist als in der Wissenschaft überhaupt, nur daß die empirischen Substrate alles logischen Denkens hier bereits selbst den Charakter logischer Symbole besitzen, soweit nicht abkürzend und ergänzend zugleich noch die Hilfsmittel der sprachlichen Symbolik herbeigezogen werden. Auch die Mathematik ist eben im allgemeinsten Sinne des Wortes in der tatsächlichen Aufeinanderfolge ihrer Inhalte eine apriorische Wissenschaft, nicht weil sie, wie die psychologistische Logik annimmt, in sinnlichen Objekten, sondern weil sie in einer glänzenden Reihe von Entdeckungen und Erfindungen abstrakter Symbole ihr letztes Substrat hat.
Wie bereits die Mathematik neben der spezifischen Symbolik der mathematischen Begriffe die Symbolik der Sprache zu Hilfe nimmt und darin auf der aristotelischen Logik weiter baut, so geschieht nun das gleiche in dem ganzen Umkreis der in der Regel nach dieser Eigenschaft sogenannten Erfahrungswissenschaften. Nur nehmen hier die konkreten Inhalte des Denkens einen immer weiteren Raum ein. In diesem Sinne suchen sich die exakten Wissenschaften, allen voran die Physik, die mathematische Symbolik zu eigen zu machen und sich so schließlich selbst in eine angewandte Mathematik umzuwandeln. In weiterer Entfernung folgen dann diesem Beispiel diejenigen Gebiete, in denen sich ebenfalls eine spezifische Symbolik der Begriffe ausgebildet hat, die dann wieder den besonderen Bedürfnissen der einzelnen Wissenschaften angepaßt ist. Ein hervorragendes Beispiel solcher Art bietet zunächst die Chemie mit ihrer künstlichen Symbolik der chemischen Verbindungen und ihrer Wechselbeziehungen, ein weiteres die internationale Terminologie innerhalb der verschiedenen systematischen Naturwissenschaften, die heute noch auf der eminenten Erfindungsgabe eines Linné und seiner Nachfolger aufgebaut ist, endlich aber nicht minder die ebenfalls zu einer weltbeherrschenden Symbolik gewordenen Begriffe der verschiedenen Geisteswissenschaften, unter denen durch ihre reichen den beiden klassischen Sprachen, dem Griechischen und Lateinischen, entnommenen Begriffssysteme vor anderen die Theologie auf der einen und die Rechtswissenschaft auf der anderen Seite sich auszeichnen. So fließt hier in den Traditionen des christlichen Mittelalters, in denen die Universalität der gelehrten Weltsprache heute noch nachwirkt, eine Quelle der allen Kulturvölkern gemeinsamen Formen logischer Symbolik, die bei aller Zersplitterung der konkreten Inhalte des Denkens für die bleibende Einheit der Wissenschaften ein lebendiges Zeugnis ablegt. Indem die heutige Logik in der Weiterbildung zu einer allgemeinen Methodik des wissenschaftlichen Denkens ihre Hauptaufgabe sehen muß, dokumentiert sie sich aber dadurch erst selbst als eine wirkliche systematische Wissenschaft, die in der idealen Rekonstruktion der Hauptgebiete des wissenschaftlichen Denkens ihre wesentliche Aufgabe hat. So ist die Logik im Laufe ihrer Entwicklung zu einer Wissenschaft der Wissenschaften im eigentlichen Sinne des Wortes geworden. Ihr Material bildet die Geschichte der Wissenschaften; aus ihm hat sie die logischen Gesetze zu entwickeln, die in dem Aufbau der Wissenschaften und in der Erkenntnis ihrer Zusammenhänge wirksam sind. Die gemeinsame Wurzel, auf die sie in allen ihren so entstandenen Verzweigungen zurückgeht, und die sie überall, wo ihre besonderen Hilfsmittel versagen, immer wieder als ihre letzte Grundlage zu Hilfe nimmt, bleibt aber stets das in der Sprache lebende Denken, das in der aristotelischen Logik seinen ersten wissenschaftlichen Ausdruck gefunden hat.
Im Mai 1875, genau ein Jahr, nachdem die Berufung nach Zürich, die ich längst nicht mehr erwartet, an mich ergangen war, erhielt ich ein Schreiben aus Leipzig, in welchem mein späterer dortiger Kollege Friedrich Zarncke mich im Auftrag des sächsischen Kultusministers von Gerber befragte, ob ich einer Berufung an die Leipziger Universität unter den bescheidenen Bedingungen zu folgen bereit sei, die man mir dort nur zu bieten vermöge, weil Fakultät und Regierung womöglich zwei Berufungen auf einmal für das Fach der Philosophie beabsichtigten, die eine für eine mehr nach der Philologie, die andere für eine nach der Naturwissenschaft gerichtete Professur. Für die erstere Stellung sei Max Heinze in Königsberg in Aussicht genommen, für die zweite sei an mich gedacht worden. Als ich nach kurzem Bedenken meine Bereitwilligkeit, einer solchen Berufung zu folgen, erklärt hatte, erhielt ich noch im selben Monat die offizielle Anfrage des Ministers selbst und die ihr alsbald folgende Ernennung zum l. Oktober des gleichen Jahres.
Obgleich die mir angebotene Stellung zwar die eines ordentlichen Professors der Philosophie, aber dabei doch keineswegs eine glänzende war, so würde mich kaum eine andere Berufung nach der Heimat mehr überrascht haben als die nach Leipzig. Leipzig und seine Universität waren mir völlig fremd. Berlin war eigentlich die einzige Stadt jenseits der Mainlinie, die ich bisher gesehen hatte. Als ich im Jahr 1856 für mein letztes Studiensemester Berlin aufsuchte, war es mir vor allem darum zu tun, mein Ziel zu erreichen; der einzige Schnellzug, der in jenen Jahren den Süden mit dem Norden Deutschlands verband, legte aber zudem einen großen Teil seines Weges in der Nacht zurück, so daß ich, wie ich mich noch lebhaft erinnere, etwa in der Gegend von Jüterbog die ersten Windmühlen erblickte, die ich in meinem Leben gesehen habe. Von den Mitgliedern der Fakultät, die mich berufen, hatte ich nur einmal schon in Heidelberg den berühmten Nationalökonomen Roscher und dann in Zürich im Hause meines Freundes Weber den bekannten Astrophysiker Friedrich Zöllner flüchtig gesehen. Der Kreis der Kollegen, in den ich eintreten sollte, war mir also im ganzen völlig unbekannt, und in dem weiteren Kreis der Fakultät wie der Universität hatte die Berufung eines Menschen, von dem man höchstens als einem der jüngeren Physiologen gehört hatte, eine gewisse Verwunderung erregt, die aber im Grunde mehr diesem merkwürdigen Entschluß der Fakultät als mir selbst galt. Einen lebhaften Eindruck von dieser Fremdheit in meiner neuen Heimat erhielt ich, als ich wenige Tage nach meiner Übersiedelung dem einzigen Bekannten aus der Heidelberger Zeit, dem wenige Jahre zuvor hierher berufenen Juristen Binding, zufällig auf der Straße begegnete und dieser mich mit den Worten anredete: »Wie kommen denn Sie hierher?« Ich habe mich später mit Karl Binding nahe befreundet und ihn in hohem Grade schätzen gelernt, aber diese Freundschaft gehört selbst erst einer viel späteren Zeit an. Auch als ich sehr bald nach meiner Übersiedelung Carl Ludwig, den von mir hoch verehrten Physiologen, besuchte, konnte dieser nicht umhin, mir seine Verwunderung darüber auszusprechen, daß er trotz unserer nahen Fachbeziehungen von meiner Berufung nach Leipzig kein Wort gehört habe. Seltsamer noch war eine Begegnung, die ich mit einem Kollegen aus der philosophischen Fakultät erlebte. Als ich diesem, dem Direktor eines landwirtschaftlich-chemischen Laboratoriums, meinen Antrittsbesuch machte, verwunderte es mich, daß er mich in seinem Institut herumführte, um mir seine sämtlichen Apparate zu zeigen. Die Sache klärte sich auf, als er ungefähr nach Jahresfrist meinen Besuch erwiderte und diese Verspätung damit entschuldigte, daß er mich für einen durchreisenden Physiologen gehalten habe, der die Leipziger Institute besichtigen wollte; erst jetzt habe er erfahren, daß ich ein neuer Kollege sei.
Daß ich im Hinblick auf solche Begegnisse selber über meine Berufung einigermaßen verwundert war, wird man begreiflich finden. Natürlich blieb mir aber der Zusammenhang auf die Dauer nicht verborgen, und es mag hier seiner gedacht werden, weil er immerhin für das Berufungswesen an unseren Hochschulen charakteristisch ist. Schon seit Jahren war das Fach der Philosophie in Leipzig durch den Tod verschiedener Professoren auf zwei Hauptvertreter beschränkt gewesen: auf Moritz Wilhelm Drobisch, den ehrwürdigen Vertreter der Herbart'schen Schule, der hier länger als ein Menschenalter den exakten Standpunkt Herbart's gegenüber dem sonst herrschenden Idealismus eines Schelling und Hegel hochhielt, und Heinrich Ahrens, der, ein Anhänger der Kraus'eschen Schule, auf dem Umweg über die Rechtsphilosophie in den Ring der sächsischen Herbartianer eingedrungen war. Als nun im Herbst 1874 Ahrens starb, regte sich doch, um so mehr da Drobisch seines hohen Alters wegen bereits an seinen Rücktritt dachte, in der Fakultät das Bedürfnis, eine Neuberufung nicht nur für das verwaiste Gebiet der Rechtsphilosophie, sondern eine solche für die Philosophie überhaupt eintreten zu lassen. Für eine Universität von der Bedeutung Leipzigs hielt man aber eine Lehrkraft ersten Ranges für den vor allen andern geeigneten Ersatz, und die Wahl fiel daher wie selbstverständlich auf Kuno Fischer in Heidelberg. Nun war aber dieser durch ein eigentümliches Verhängnis vorläufig verhindert, nicht nur diesem Ruf, sondern auch einem zweiten nach Berlin, der ihn gleichzeitig traf, zu folgen. Er bekleidete nämlich gerade das Rektorat der Heidelberger Hochschule, und diese hatte ein Jahr zuvor das Schicksal gehabt, daß der amtierende Rektor wegberufen worden war und diesen Ruf angenommen hatte. Dies war aber von vielen der Heidelberger Professoren und vor allen von Kuno Fischer selbst lebhaft mißbilligt worden. Die Berufung nach einem größeren Wirkungskreis anzunehmen, sei, so meinte er, zwar erlaubt, ja gewissermaßen selbstverständlich; aber daß man in dem Augenblick der Verwaltung der obersten Würde der Hochschule diese im Stich lasse, sei nicht zu entschuldigen. So blieb denn Fischer nichts anderes übrig, als nach beiden Seiten hin zu erklären, daß er etwa nach Jahresfrist einer Erneuerung der Berufung folgen könne, daß ihm aber dies im Augenblick unmöglich sei. Da zeigte sich nun, daß man weder in Berlin noch in Leipzig geneigt war, eine solche Frist einzuhalten. Nicht als ob dies an sich unmöglich gewesen wäre. Aber hier wie dort regten sich widerstrebende Kräfte. In Berlin lebten noch zahlreiche Freunde Trendelenburgs, mit dem in seinen letzten Jahren Fischer eine lebhafte Polemik geführt, die von Anfang an seiner Berufung widerstrebt hatten. Sie gaben die Parole aus, das dringendste Bedürfnis der Zeit sei es, einen Vertreter der systematischen Philosophie, vor allem der Psychologie, zu gewinnen. So war es denn Hermann Lotze in Göttingen, an den der Ruf erging. Anders lagen die Dinge in Leipzig. Hier tauchte plötzlich der Plan auf, eine Teilung der Professur eintreten zu lassen, die der Teilung der philosophischen Fächer und zugleich dem neu erwachten Bedürfnis entspreche, dem Einfluß der Naturwissenschaften auf die Philosophie Geltung zu verschaffen, also statt des einen weltberühmten akademischen Lehrers zwei jüngere zu berufen, die wohl für den gleichen Aufwand wie jener eine zu haben seien. Unter diesem Gesichtspunkt forderte damals diese Zweiteilung gelegentlich den Spott einiger journalistisch tätiger philosophischer Schriftsteller heraus. Einer derselben meinte, es sei doch ein auffallendes Zeichen der Herabgekommenheit der Philosophie, daß man in Leipzig statt eines hervorragenden Philosophen zwei völlig unbekannte Leute, einen »Hinz und Kunz«, wie er unter zarter Anspielung auf unsere Namen sich ausdrückte, zu Professoren gemacht habe.
Das Rätsel dieser Berufung löste sich mir erst viel später. Hinter ihr stand nicht die Fakultät und nicht einmal ein irgend erheblicher Teil derselben, sondern eine einzige Persönlichkeit: das war kein anderer als Friedrich Zöllner, der Astrophysiker. Er war in der Tat der einzige nicht nur unter den Naturforschern, sondern, abgesehen von den Vertretern der Philosophie selbst, wahrscheinlich der einzige unter ihren Mitgliedern, der an der Sache ein wirkliches Interesse nahm. Den anderen, deren Gedankenkreis noch zumeist dem eben vergangenen Zeitalter absoluter philosophischer Gleichgültigkeit angehörte, lag die Sache ziemlich ferne, aber um so leichter ließen Sie sich durch einen einzelnen Kollegen bestimmen, der sich derselben mit einigem Interesse annahm. Für Zöllner traf dies zu. Das zeigt nicht nur sein wenige Jahre zuvor erschienenes Buch »Über die Natur der Kometen«, in welchem er lebhaft für die Philosophie Schopenhauer's eingetreten war, sondern das bekundete er auch durch seine Vorlesungen, in denen neben seinen eigentlichen Fächern ein philosophisches Thema als ein ständiges Publikum nicht zu fehlen pflegte. So bildete dieser Fall einen augenfälligen Beleg für die Tatsache, daß nicht bloß das Interesse, sondern gelegentlich wohl auch die Interesselosigkeit für den Gegenstand die Quelle einmütiger akademischer Beschlüsse sein kann.
Von diesen Dingen, die später zu meiner Kenntnis gelangten, ahnte ich natürlich noch nichts, als ich am Pfingstmontag 1875, einem glühend heißen Sommernachmittag, mich meinem künftigen Bestimmungsort näherte. Doch etwas von der Stimmung bangen Zweifels lag auch über der Landschaft, als ich die trostlose Ebene zwischen Corbetha und Leipzig zurücklegte, einer Stimmung, die ich noch in späteren Jahren bei der gleichen Fahrt niemals ganz unterdrücken konnte, und die natürlich den Ankömmling, der eben erst die herrliche Umgebung des Zürichsees verlassen hatte, ungleich mächtiger überkam. Aber da änderte sich beim Herannahen an die Stadt plötzlich das Bild, und dieser Wechsel war so überraschend und erfreuend zugleich, daß mir der Eindruck noch heute lebhaft vor der Seele steht. Überall bewegte sich hier auf den sonnenbeglänzten Wiesen und auf den dem Rosental benachbarten Waldwegen eine Unzahl von Spaziergängern in Feiertagskleidern und sichtlich zugleich in Feiertagsstimmung, die Kinder mit selbstgepflückten Blumensträußen in den Händen, ein buntes herzerfreuendes Bild, wie ich es bis dahin noch niemals gesehen hatte. In der Tat habe ich auf meinen späteren Reisen durch deutsche Länder noch oft beobachtet, daß der Sonn- und Feiertags-spaziergang rein um des Naturgenusses willen eine spezifische Gewohnheit des mittel- und norddeutschen Stadtbewohners ist. Der Süddeutsche geht nicht, ohne sich einen bestimmten Vergnügungsort als Ziel seiner Wanderung zu setzen, und der geborene Schweizer kennt wohl weit sich erstreckende Bergwanderungen, aber der gewöhnliche Spaziergang ist ihm so gut wie unbekannt. Das Äußerste an Anspruchslosigkeit habe ich in dieser Beziehung in Schleswig-Holstein erlebt, wo manche der in den rein agrarischen Gebieten liegenden Gutshöfe nur auf Wegen zugänglich sind, die, um die auf den umgebenden Wiesen lagernden Ochsen und Kühe abzuhalten, rechts und links von übermannshohem Buschwerk abgesperrt sind. Man sieht nichts als Himmel und Erde, aber die Familie des Gutsherrn versäumt es doch nicht, alltäglich ihren Spaziergang auf diesen Wegen zu machen. Auch in Leipzig begegnet man noch heute nicht bloß in den jetzt zum Teil zu schönen Parkanlagen umgestalteten Wäldern des Südens und Nordens, sondern nicht minder auf den völlig reizlosen Straßen der östlichen Umgebung des Sonntags Scharen von Spaziergängern. Der Mensch, so könnte man vielleicht sagen, liebt die freie Natur um so mehr, je ärmer diese Natur selbst ist.
Im Jahr 1875 war Leipzig noch eine Stadt von mäßigem Umfang. Sie zählte kaum mehr als 100000 Einwohner. Die meisten der heute mit ihr zusammengewachsenen Vordörfer waren noch durch ziemlich weite Strecken von ihr getrennt. Von dem ungeheuren Wachstum, das in verhältnismäßig kurzer Zeit eingetreten ist, kann man sich ein anschauliches Bild machen, wenn man etwa die drei Stadtpläne der Zeit nach dem dreißigjährigen Krieg, der Großstadt von heute und der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts nebeneinanderlegt. Dann erscheint der Unterschied zwischen dem Leipzig aus dem Anfang der Gründung des Deutschen Reichs von dem des 17. Jahrhunderts erheblich kleiner als zwischen jener Zeit und der heutigen Großstadt. Mehr noch als von der Stadt im ganzen gilt das jedoch von den Verhältnissen der Universität. Hier machte sich überall geltend, daß mit dem rapiden Wachstum, das durch den Zustrom der Studierenden und durch die besondere Fürsorge, die König Johann und sein Minister von Falckenstein der Hochschule zuwandten, eingetreten war, die äußeren Hilfsmittel unmöglich Schritt halten konnten. Von den heute einen eigenen Stadtteil bildenden Naturwissenschaftlich-medizinischen Instituten existierte, abgesehen von den im städtischen Krankenhaus zu St. Jakob untergebrachten Kliniken, als Vorbote künftiger Größe nur das nach den Plänen Carl Ludwigs erbaute physiologische Institut, das aber jetzt ebenfalls durch beträchtliche Anbauten über seinen ursprünglichen Umfang hinausgewachsen ist. Das Zentrum der Universität hatte zwar seit dem Jahre 1831, wo die seit ihrer Gründung durch die aus Prag eingewanderten 400 Magister und Studenten bestandene völlige Autonomie derselben der staatlichen Verwaltung Platz gemacht hatte, durch den Bau des Augusteum einen, wenn auch nicht künstlerisch besonders wertvollen, so doch durch seine Lage und durch seine Verbindung mit der Paulinerkirche charakteristischen Ausdruck gewonnen. Um so mehr bot das Augusteum selbst samt seinen durch einige An- und Innenbauten ergänzten Resten des alten, dereinst von Herzog Moritz der Universität geschenkten Dominikanerklosters ein Bild der räumlichen Bedrängnis, in welche die Universität geraten war. Im Augusteum hatten außer der das Mittelgebäude einnehmenden Aula nicht weniger als drei Institute, das physikalische, das zoologische und schließlich das Physikalisch-chemische, Platz gefunden, außerdem im Parterre eine Anzahl von Auditorien, die, um den Straßenlärm zu vermeiden, nach der durch die dahinter liegenden Gebäude verdunkelten Hofseite gerichtet waren. Das Äußerste an Zusammendrängung bot ober der vom Kreuzgang des alten Klosters aus zugängliche Hinterbau des Augusteums, wo übereinander bis dahin die Anatomie, die eben jetzt erst ihren Umzug in den Neubau an der Nürnberger Straße vollzogen, und wo für noch eine längere Reihe von Jahren die Universitätsbibliothek Unterkunft gefunden hatte, wozu schließlich als ein Kuriosum hinzukam, daß von dem vor allem auf Geldersparung bedachten Rentmeister der Universität der Keller des Gebäudes an ein großes Petroleumlager vermietet war. Ergänzend traten außerdem zu diesen Kreuzganggebäuden auf der einen Seite der Neubau des für größere Auditorien bestimmten Bornerianum, so genannt nach einem um die Universität besonders verdienten Rektor des 16. Jahrhunderts, Caspar Borner, und auf der anderen Seite das Konviktgebäude, in dessen unteren Räumen täglich mehrere hundert ärmere Studenten gespeist wurden, während in dem oberen Stockwerk einige kleine und ein größeres Auditorium eingerichtet waren. In diesem Konviktauditorium habe ich selbst jahrelang meine Vorlesungen abgehalten, und eins der kleinen Auditorien des gleichen Stockwerks war mir zur Unterbringung meiner psychophysischen Instrumente überwiesen worden: es ist die Geburtsstätte des Leipziger psychologischen Instituts gewesen und bietet vielleicht im Vergleich mit den etwa dreißig Räumen des jetzigen Instituts ein besonders drastisches Beispiel für den Wandel, den die allmähliche Anpassung unserer Hochschule an ihre wachsenden Bedürfnisse herbeigeführt hat.
Übrigens ist es nicht bloß das rasche Wachstum der Universität an Studierenden und Lehrkräften gewesen, das jenes auffallend lange Zurückbleiben der äußeren Hilfsmittel verursacht hat, sondern es war vor allem auch der Umstand, daß gerade in dieser Zeit erst der für Leipzig besonders wichtige Übergang zur Begründung von offiziell vom Staat unterstützten Arbeitsinstituten begonnen hatte, unter denen namentlich die naturwissenschaftlichen Laboratorien in zunehmendem Maße die Raumbedürfnisse steigerten. An Seminarübungen hatte es zwar seit dem Anfang des Jahrhunderts nicht gefehlt, aber sie waren zum größten Teil Privatunternehmungen der Dozenten, die außer den Auditorien weder besondere Räume, noch in erheblichem Maße öffentliche Mittel in Anspruch nahmen. Dies gab wiederum dem Verhältnis namentlich der älteren Professoren zur Universität ein sozusagen intimeres Gepräge. Es bestand darin, daß die Universität selbst, die über einen reichen Hausbesitz besonders in ihrer Umgebung verfügte, die Wohnungen in diesen Häusern mit Vorliebe an Professoren vermietete. Es war eine Tradition, die einigermaßen an die »Bursen« der alten Universitäten erinnerte. In einem dieser Häuser habe ich noch den damaligen ehrwürdigen Senior der Universität Ernst Heinrich Weber besucht, und seine Wohnung ist nach seinem drei Jahre später erfolgten Tode die meinige über dreißig Jahre gewesen. Ähnliche Universitätswohnungen hatten in der Nähe zahlreiche Kollegen namentlich aus der philosophischen Fakultät. Dieses Zusammenwohnen erleichterte und vereinfachte natürlich den gesellschaftlichen Verkehr in einer Weise, die einen scharfen Kontrast zu den in den Universitäten anderer Großstädte, z. B. Berlin, bestehenden Verhältnissen bot, und die freilich auch gegenwärtig in Leipzig im Schwinden begriffen ist. Denn hier ist es gerade das Bedürfnis der Beschaffung besonderer Seminarräume für die verschiedensten Fächer der philosophischen Fakultät, das mehr und mehr die Umwandlung dieser Privatwohnungen der Professoren in Seminargebäude bewirkt hat, so daß jene schließlich ein mit Rücksicht auf die Lage im Zentrum der Stadt überaus nützliches Vorstadium ihres räumlichen Wachstums gewesen ist.
War ich sozusagen als Fremdling nach Leipzig gekommen, so erleichterten diese Verhältnisse des Zusammenlebens meine Eingewöhnung um so mehr, als man mir von allen Seiten freundlich entgegenkam. Auch machte die Einmütigkeit, die in der Fakultät selbst herrschte, einen wohltuenden Eindruck gegenüber dem, was ich anderwärts erlebt hatte. In dieser Beziehung boten in der Tat die drei Universitäten, die ich kennen gelernt, bemerkenswerte Kontraste, die vielleicht typisch für die damalige Mannigfaltigkeit der Zustände an verschiedenen Orten gewesen sind und es teilweise noch jetzt sein mögen. In Heidelberg hatten die naturwissenschaftliche und die historisch-philologische Abteilung der Fakultät ein Ganzes gebildet, aber zwischen beiden Teilen hatten keineswegs immer friedliche Zustände gewaltet. Noch erinnere ich mich, wie sich hier die Historiker über die »Apotheker« beschwerten, die sich ohne Sachkenntnis in die Angelegenheiten der Geisteswissenschaften einmischten. Da war denn doch für Männer wie Bunsen und Kirchhoff der Ehrenname der Apotheker gewiß kein besonderes Friedenszeichen. In Zürich hatte sich die philosophische Fakultät in zwei völlig selbständige Fakultäten getrennt, die sich im Grunde viel ferner standen als manche der übrigen, so daß z. B. die Beziehungen der sogenannten philosophischen, d. h. im wesentlichen rein geisteswissenschaftlichen zur theologischen Fakultät, mit der sie einen großen Teil der Zuhörer gemeinsam hatte, tatsächlich nähere waren als zu der naturwissenschaftlichen. Ich selbst hatte z. B. häufigeren Verkehr mit A. E. Biedermann und Alexander Schweizer, den bekannten Führern der liberalen Theologie, während ich kein einziges Mitglied der naturwissenschaftlichen Fakultät kennen lernte. Demgegenüber machte nun die in Leipzig damals noch in hohem Grade erhalten gebliebene Einheit der Fakultät einen wohltuenden Eindruck, der eben auch darin zum Ausdruck kam, daß ich bei Mitgliedern beider Gruppen, bei einem Wilhelm Hankel dem Physiker und Rudolf Leuckart dem Zoologen ein ebenso freundliches Entgegenkommen fand wie bei einem Georg Curtius, Friedrich Zarncke, den Philologen, und Wilhelm Roscher dem Nationalökonomen. Das lag aber nicht etwa daran, daß ich wissenschaftlich gewissermaßen eine Zwischenstellung einnahm, sondern, wie ich glaube, hauptsächlich daran, daß hier weit mehr als anderwärts die allgemeinen Zustände der Hochschule die Erhaltung der alten Einheit der philosophischen Fakultät bewirkten. Der Hauptgrund für diese trotz des Wachstums an Mitgliedern und der Scheidung der Gebiete erhalten gebliebenen Einheit war aber wohl der, daß auch in dieser Beziehung die frühere Autonomie der Hochschule immer noch nachwirkte, indem es zahlreiche in die Verwaltung der Universität eingreifende Interessen gab, die allen Mitgliedern gemeinsam waren, und daß die Scheidung nach Fachstudien infolge der einheitlicheren Organisation des damals einen noch größeren Teil der Studierenden umfassenden Oberlehrerberufs eine weniger ausgeprägte war als heute. Das wirkte natürlich wieder auf die einzelnen Teile des Lehrkörpers zurück, da trotz des auch hier bestehenden Übergewichts der Spezialstudien die Vertreter disparater Fächer mehr als anderwärts einander in ihrer Berechtigung anerkannten. Einen gewissen Anteil hatte an der Herstellung dieses Verhältnisses wohl auch die in Leipzig herrschende Richtung der Philosophie. Diese war hauptsächlich durch den Einfluß des unter ihren Lehrern hervorragendsten Vertreters, Drobisch, die Herbartsche Schule. Sie hatte aber nach dem Vorbild ihres Stifters stets nach einer den positiven Wissenschaften zugewandten Stellung gestrebt und sich deshalb in lebhaftem Widerstreit gegen die anderwärts herrschenden Richtungen der idealistischen Philosophie, besonders Hegels, befunden. Dadurch hatte wiederum die Philosophie hier viel weniger unter der sonst bestehenden Mißachtung von Seiten der Vertreter der Fachwissenschaften gelitten als sonst. Drobisch selbst war in seinen Anfängen von einer mathematischen zur philosophischen Professur übergegangen. Außerdem übte er in der philosophischen Fakultät durch die Rolle, welche die Pädagogik infolge der Zulassung der tüchtigeren Volksschullehrer zum Universitätsstudium spielte, einen nicht zu unterschätzenden Einfluß aus, indem in der Pädagogik noch mehr als in der Philosophie das Herbartsche System zur Herrschaft gelangt war. Infolgedessen wirkte zugleich das Bekenntnis zu Herbart ausgleichend auf die Stellung, welche die Studierenden der Pädagogik gegenüber den vom Gymnasium gekommenen Studierenden der philosophischen Fakultät einnahmen, wie ich das z. B. an dem Unterschied von dem in Zürich bestehenden Verhältnis bemerken konnte, wo die gleiche Einrichtung der Zulassung von Volksschullehrern zu einem vorübergehenden Universitätsstudium bestand, diese aber weit mehr eine gesonderte, in keiner Weise als gleichberechtigt anerkannte Abteilung bildeten. Damit hing dann zugleich zusammen, daß in Leipzig nicht selten bei diesen ursprünglichen Pädagogen ein Übergang zu einem vollberechtigten Oberlehrer-Studium durch die Nachholung eines Abiturientenexamens stattfand. Neben Drobisch, der sich später auf die systematischen Hauptfächer der Philosophie beschränkte, wirkte bei meiner Ankunft in Leipzig namentlich Ludwig Strümpell im Sinne der Herbartschen Philosophie nach den beiden Richtungen der Pädagogik und der Philosophie. Er war, nachdem er seine Professur in Dorpat niedergelegt, zum Honorarprofessor bei der Leipziger Fakultät ernannt worden und entfaltete als solcher eine ausgebreitete, nach allen Seiten anregende Lehrtätigkeit, in der er in ähnlicher Weise wie Drobisch in einem dem Geist der positiven Wissenschaft verwandten Sinne auf die Studierenden einwirkte. So wenig ich selbst der Herbart'schen Philosophie zugeneigt war oder von den Vertretern dieser als einer der ihrigen angesehen worden wäre, kann ich doch nicht umhin, dankbar anzuerkennen, daß sie durch die unabhängige Stellung, die sie viele Jahre in Leipzig behauptete und in der sie die Tradition eines befreundeten Verhältnisses der Philosophie und der positiven Wissenschaften aufrecht erhielt, mir den Eintritt in mein philosophisches Lehramt und dadurch die weitere Wirksamkeit in diesem erleichtert hat. Die Herbart'sche Schule hat, wie man wohl sagen darf, nicht wenig dazu beigetragen, jenes Verhältnis wechselseitiger Anerkennung wiederherzustellen, das in früheren Zeiten zwischen der Philosophie und den Einzelwissenschaften bestanden hatte, und dadurch eine Zeit vorzubereiten, in der diese nicht mehr, wie durchgehends um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, als eine vorübergegangene Wissenschaft galt, sondern wiederum, wie zu Kant's Zeiten, eine geachtete Stellung einnahm,
Was für die Zeit vor fünfzig Jahren zutraf, das gilt aber freilich nicht mehr für die Gegenwart, und noch weniger vielleicht für die Zukunft. Wenn insbesondere in Leipzig in den gemeinsamen Interessen des Lehrbetriebs die alte Autonomie der Universität nachwirkte, so hat auch hier mit innerer Notwendigkeit die staatliche Fürsorge ihre Rechte geltend gemacht und die Mitwirkung der Fakultät selbst auf die rein wissenschaftlichen Interessen, die in den verschiedenen Gebieten zumeist verschiedene Wege gehen, eingeschränkt. Vor allem aber hat hier die wachsende Differenzierung der wissenschaftlichen Berufe und damit zusammenhängend der Wissenschaften selbst eine veränderte Lage geschaffen. Ihren Ausdruck hat diese zuerst in den technischen Hochschulen gefunden, wo diese Differenzierung auch in die Einzelgebiete eingedrungen ist. Besonders charakteristisch ist hier gerade das Fach, das äußerlich noch am meisten dem Polytechnikum mit der Universität gemeinsam zu sein scheint: die Mathematik. Der Lehrbetrieb, der den Techniker auf seinen Beruf vorbereiten soll, ist heute in vielen Beziehungen ein anderer als derjenige, der die Mathematik als allgemeine theoretische Wissenschaft im Auge hat, so daß dadurch die Auswahl der Lehrkräfte mitbestimmt wird. Dies hängt aber innig zusammen mit dem Fortschritt der Technik selbst und mit der Rückwirkung, die dieser seinerseits auf die Ausbildung bestimmter mathematischer Gebiete ausgeübt hat. Eine frühere Zeit mochte die Befriedigung solcher Sonderbedürfnisse dem Privatstudium des Technikers überlassen. Heute ist das nicht mehr der Fall oder wenigstens darf es nicht mehr als allgemein maßgebend angenommen werden, wenn nicht der Zweck der Berufsausbildung darunter leiden soll. Das ist aber wieder von weitreichender Bedeutung für die allgemeine Kultur. Schwerlich würde die Technik in Deutschland die hohe Stellung einnehmen, die sie im Vergleich mit anderwärts bestehenden Verhältnissen gewonnen hat, wäre nicht hier die Gründung der technischen Hochschulen dieser Entwicklung zu Hilfe gekommen. Wenn sich diese ergänzende Bedeutung vornehmlich im Gebiet der physikalischen Technik geltend gemacht hat, so liegt dies wohl hauptsächlich darin begründet, daß, der weitgehenden Differenzierung der chemischen Technik entsprechend, die Ausbildung in den großen chemischen Fabrikbetrieben ergänzend eingetreten ist. Gewiß war es ein glücklicher Fortschritt, daß in den deutschen technischen Hochschulen mehr und mehr zugleich auf die Bedürfnisse allgemeiner wissenschaftlicher Vorbildung durch geeignete Erweiterung des Lehrbetriebs Rücksicht genommen wurde. Aber gerade in diesen der allgemeineren Geistesbildung dienenden Erweiterungen offenbart sich zugleich die Verschiedenheit der Bedürfnisse beider Formen der Hochschule. Das Polytechnikum stellt an den Historiker und den Philosophen andere Anforderungen als die Universität. An dieser soll der Historiker wie der Philosoph Lehrer und Forscher zugleich sein, und es kann daher ein hoher Wert auf Leistungen und auf die Arbeit in bestimmten Richtungen gelegt werden, die für die allgemeine Bildung nicht in Betracht kommen. Dem Lehrer an der technischen Hochschule muß vor allem eben diese für die allgemeine Geistesbildung wesentliche Seite seines Gegenstandes vor Augen stehen, wenn er seinen Beruf erfüllen soll. Auch hier ist daher die manchmal allzu geringe Berücksichtigung der Persönlichkeiten bei der Auswahl für diese verschiedenen Stellungen nicht zu billigen. Alles dies weist aber deutlich darauf hin, daß es allzu verschiedene Bedürfnisse sind, denen diese wissenschaftlichen Hochschulen dienen sollen, als daß ihre Verschmelzung zu einer einheitlichen Universität nicht die Aufgaben einer jeden von ihnen beeinträchtigen müßte.
Was für das Verhältnis von Universität und Polytechnikum, das ist nun womöglich in erhöhtem Maße für das der Universität zu den andern ähnlich den spezifischen Berufsbildungen bestimmten Lehranstalten, wie den landwirtschaftlichen Schulen, den Forstakademien, Tierarzneischulen usw. maßgebend, die an einigen großen Universitäten von selbst die Stellung äußerlich ihnen aggregierter Institute einnehmen. Dagegen läßt sich nichts einwenden, wo das Nebeneinander in einer und derselben Stadt und die Vielseitigkeit der Universitätsstudien eine solche Ergänzung der spezifischen Berufsanstalt durch gewisse der allgemeinen Bildung angehörende Universitätsfächer leicht möglich macht, wogegen allerdings, wenn, wie bei manchen unserer neu entstandenen Handelshochschulen, eine solche Aushilfe nicht zu Gebote steht, die Ergänzung durch Fächer, die der allgemeinen Bildung dienen, diesen wieder eine ähnliche Stellung anweist, wie sie bei den technischen Lehranstalten entstand.
Ist das Bedürfnis nach einer wachsenden Scheidung der einer höheren Fachausbildung dienenden Anstalten ein unabweisliches, so steht dem freilich jene zunächst von der Lehrerwelt ausgegangene, dann aber auch in weiteren Kreisen verbreitete politische Strömung im Wege, die auf eine möglichste Ausgleichung der Unterschiede auch im Gebiet des Unterrichtswesens hindrängt. Diese Strömung hat ihre Berechtigung darin, daß es sicherlich unzulässig ist, wenn man, wie das nur zu oft geschah, für den Wert der verschiedenen Berufsausbildungen die spezifische wissenschaftliche Bildung, welche die Universität gewährt, zum Maßstabe nimmt. Vielmehr darf, ganz im Gegensatz zu dieser einseitigen Schätzung, jeder Beruf, sofern er in dem Zusammenwirken der Kulturgebiete seine berechtigte, in dem öffentlichen Bedürfnis zum Ausdruck kommende Stellung einnimmt, auch den gleichen Wert beanspruchen. In sozialpolitischer Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen dem Handarbeiter, dem Techniker und dem Gelehrten, so verschieden auch die Fachbildung sein mag, deren jeder von ihnen bedarf. Wohl aber ist hier die Allgemeinbildung maßgebend, die, eben weil sie durchaus nicht mit der fachlichen Berufsbildung zusammenfällt, schließlich jedem Staatsbürger gleich zugänglich sein sollte und deren möglichste Ausgleichung daher eine vollberechtigte Forderung wird, soweit sie nicht an den nie ganz zu überwindenden Unterschieden der individuellen Begabung und der Lebensschicksale ihre Grenzen findet, wobei nicht zu vergessen ist, daß diese individuellen Lebensschicksale zu einem nicht geringen Teile das Werk der eigenen Willensenergie sind. Die Berufsausbildung, die sich in fortschreitendem Maße nach den Bedürfnissen der Kultur gliedern muß, und die allgemeine Bildung, die umgekehrt mehr und mehr dem Ideal der Allgemeingültigkeit zustrebt, sind eben zwei wesentlich verschiedene Dinge. Sie sind es auch insofern, als die Höhe der spezifischen Fachausbildung keineswegs notwendig mit einer wünschenswerten Allgemeinbildung zusammenfällt, und es ist gewiß eine Schattenseite unserer gegenwärtigen Kultur, daß ein hoher Grad spezifischer Berufsbildung mit einem sehr geringen Grad von allgemeiner Bildung zusammen bestehen kann. Gibt es doch selbst Gelehrte, die in ihrer Wissenschaft Hervorragendes leisten, mit deren Allgemeinbildung es aber außerordentlich dürftig bestellt ist. Zu dieser gehören aber einerseits Gebiete, die ein allgemeingültiges geistiges Interesse besitzen, wie vor allem Philosophie und Geschichte, auf der andern Seite solche, die innerhalb der Kulturbedürfnisse der einzelnen Nation und der Gesellschaft unentbehrlich sind, wie die allgemeine Rechtskunde, die Grundlagen der Wirtschaftslehre und die sittlichen Grundlagen des gesellschaftlichen und des staatlichen Lebens. In diesem Sinne ist daher die Begründung von Volkshochschulen zweifellos ein Desiderat der Zukunft. Ihr Wesen aber müßte nicht darin bestehen, daß sie, wie das bei den Unternehmungen der Fall ist, die gegenwärtig unter diesem Namen gehen, eine dürftige Sammlung von Entlehnungen aus spezifischen Fachwissenschaften sind, sondern daß sie eine ihren eigensten Bedingungen entsprechende Organisation besitzen. Auch müßte der Begriff Volk bei ihnen nicht die Bedeutung haben, daß er bloß die außerhalb der Fachbildungsanstalten stehenden, sondern daß er alle Teile des Volkes umfaßte, und die Teilnahme an ihnen dem Universitätslehrer unter Umständen ebenso selbstverständlich erschiene wie dem Kaufmann, dem Techniker und schließlich dem Arbeiter.
Daß es mir vergönnt war, in Leipzig die zwei Männer kennen zu lernen, die mehr als irgendwelche andere, die ich zu nennen wüßte, durch ihre Arbeiten auf meine eigenen psychologischen Studien von Einfluß gewesen sind, Ernst Heinrich Weber und Gustav Theodor Fechner, habe ich stets als eine besondere Gunst des Schicksals betrachtet. Mit Fechner durfte ich noch mehrere Jahre lang verkehren. Der unvergeßlichen Stunden dieses Verkehrs habe ich in meiner im Auftrag der sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften am 11. Mai 1901 gehaltenen Rede zur hundertjährigen Wiederkehr seines Geburtstages dankbar gedacht (Reden und Aufsätze, S. 254 ff.). Ernst Heinrich Weber hat der um wenige Jahre jüngere Fechner den »Vater der Psychophysik« genannt. Ich bin zweifelhaft, ob dieser Name zutreffend ist. Der Schöpfer der Psychophysik ist jedenfalls Fechner selbst. Weber aber würde ich eher den Vater der experimentellen Psychologie nennen. Das ist vom Standpunkt unserer heutigen Psychologie aus gesehen erheblich mehr, es ist aber jedenfalls ganz etwas anderes. Den Gedanken der Messung psychischer Größen und der Aufstellung exakter Beziehungen zwischen ihnen als der erste erfaßt und ausgeführt zu haben, das ist Webers großes Verdienst. Ja nicht bloß das, sondern er ist es auch gewesen, der als der erste das in unserer Zeit so viel erörterte Prinzip der Relativität in seiner allgemeinsten Geltung im Gebiet der Sinnesempfindungen erkannt hat -- eine Erkenntnis, die, so einfach sie auf den ersten Blick erscheinen mag, doch im Grunde die notwendige Anwendung dieses Prinzips auf die gesamte physische Welt in sich schließt, da uns alle äußere Erfahrung in unseren Sinnesempfindungen gegeben ist. Das von Weber gefundene Gesetz der Empfindungen sagt aber aus, daß wir die Empfindungen immer nur in ihrem Verhältnis zu einander, niemals nach ihrem absoluten Werte auffassen, daß für uns also z. B. zwei Druckempfindungen, die durch die zwei Gewichte von 10 und von 5 Grammen verursacht werden, in ihrem Verhältnis zu einander zwei anderen entsprechen, die durch 100 und durch 50 Gramm entstehen. Daß dieses Prinzip der Relativität gerade in seinen psychologischen Gestaltungen so überaus einfach ist, tut hier nichts zur Sache. Nicht darauf kommt es an, noch weniger darauf, daß im Gegensatze hierzu die Bedingungen der physikalischen Beobachtung seine Nachweisung erschwert oder sogar längere Zeit ganz verhindert haben. Vielmehr liegt sein Wert darin, daß dieses in der Psychologie noch heute als das »Webersche Gesetz« bezeichnete Prinzip wahr ist. Zu der Erkenntnis, daß es dies ist, wesentlich mit beigetragen zu haben, ist allerdings auch ein Verdienst Fechners, und eben hierin haben Weber wie Fechner der unzulänglichen Form, in der das Prinzip zunächst in der Physik aufgestellt worden ist, von Anfang an vorgebeugt. Denn solange man in dieser unter der Einführung des Relativitätsprinzips bloß die Substitution des Lichtes an Stelle der Gravitation betrachtete, war offenbar das sogenannte Relativitätsprinzip nichts anderes als die Einführung eines neuen absoluten Maßstabes für den Verlauf der Naturvorgänge. Das »Webersche Gesetz« schließt dagegen nach seiner erkenntnistheoretischen Bedeutung von vornherein alle Erscheinungen, die physischen so gut wie die psychischen, in sich, die ja beide zu einander in unabänderlichen Beziehungen stehen.
Für Fechner lag jedoch in dem Prinzip der Relativität nicht die wesentliche Bedeutung der von ihm geschaffenen Psychophysik, sondern für ihn hat das »psychophysische Grundgesetz«, wie er die in dem Weberschen Gesetz nach seiner Ansicht ausgedrückte Beziehung zwischen einem physischen Reize und einem diesem entsprechenden psychischen Werte nennt, eine ungleich weiter reichende metaphysische Bedeutung. Es ist das allgemeinste Weltprinzip, das in ihm zutage tritt; denn es beherrscht die gesamten Beziehungen zwischen der materiellen und der geistigen Welt. Seine Auffassung beruht also auf einem Dualismus zwischen Körper und Seele, von dem das Relativitätsprinzip, das an sich einen rein erkenntnistheoretischen Inhalt hat, nichts weiß, dessen Wesen vielmehr gerade darin besteht, daß es alle Erfahrung beherrscht, von den Dingen aber, die jenseits der Erfahrung liegen, ganz abstrahiert. Umgekehrt betrachtet Fechner sein »psychophysisches Grundgesetz« durchaus nur unter dem Gesichtspunkt, daß es im letzten Grunde uns Aufschluß über die »Dinge des Diesseits und des Jenseits« gibt, deren Beziehung zu einander der unmittelbaren Erfahrung unzugänglich ist, in die es uns einen Einblick eröffnet. So ist denn auch die Psychophysik nach Fechners Auffassung gar nicht eine Grundlage oder etwa ein Teil der Psychologie, sondern sie gehört zur Metaphysik, wie das deutlich das Hauptwerk Fechners, der »Zentavesta« zeigt, der ausdrücklich die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit von psychophysischen Grundgesetzen höherer Ordnung statuiert, die mit dem Relativitätsprinzip ebensowenig wie mit dem Weberschen Gesetz etwas zu tun haben. Es ist hier nicht der Ort, die bedeutsame Stellung zu erörtern, die Fechner durch seine im religiösen Gefühl wurzelnde Weltanschauung in der Philosophie dieser Zeit einnimmt. Aber es begreift sich aus dieser Stellung, daß der Begründer der Psychophysik, der dieser als solcher einen ganz anderen Inhalt gegeben, als er selbst beabsichtigte, demnach in Wahrheit der Begründer einer exakten psychologischen Methodik geworden ist -- ein scheinbarer Widerspruch, mit dem zugleich die merkwürdige Tatsache zusammenhängt, daß er persönlich für die Psychologie nur wenig Interesse hatte. Die Macht der religiösen Weltanschauung, die er sich gebildet, war in ihm so gewaltig, daß für ihn eigentlich nur die Fragen Wert besaßen, die unter diesem Aspekt betrachtet werden konnten. Das waren aber die Fragen der Psychophysik in seinem Sinne, in der wiederum die Frage der Bestätigung des psychophysischen Grundgesetzes die zentrale Stellung einnahm. Andere psychologische Probleme, wie z. B. die des zeitlichen Verlaufs der psychischen Vorgänge, des Zeitbewußtseins, der Kontrastphänomene usw., die mich damals gerade beschäftigten, interessierten ihn nicht im geringsten. Auf Arbeiten dieser Art, die man ihm zusandte, reagierte er daher in der Regel nicht, während er andere, die irgendwie das Webersche Gesetz berührten, stets mit ausführlichen, meist kritische Bemerkungen enthaltenden Briefen beantwortete. Denkwürdig für diese Konzentration des Interesses auf das engere Gebiet ist mir besonders sein Erstaunen über den Plan, den ich ihm eines Tages auseinandersetzte, in Leipzig ein psychologisches Institut gründen zu wollen. »Dann werden Sie ja,« meinte er, »in einigen Jahren mit der ganzen Psychologie fertig sein.«
Ich konnte natürlich diese den Standpunkt einer in sich abgeschlossenen Metaphysik widerspiegelnde Meinung nicht teilen. Im Gegenteil, abgesehen von der unbeschränkten, über alle Grenzen fortschreitenden Entwicklungsfähigkeit jeder empirischen Wissenschaft, glaubte ich schon in den bisherigen bescheidenen Ergebnissen der experimentellen Psychologie Aufforderungen genug für die Weiterverfolgung der in ihnen bearbeiteten und aus ihnen neu entsprungenen Probleme zu finden. So begann ich zuerst in dem kleinen Raum, der mir in der Universität zur Unterbringung meines mitgebrachten Instrumentariums durch die Güte der Universitätsverwaltung angewiesen war, mit einer Anzahl treuer Arbeitsgenossen aus der Zahl meiner älteren Zuhörer einige der, wie mir schien, brennenden Fragen zum Thema unserer Untersuchungen zu nehmen. Da war es zunächst die Gründung der großen medizinischen und naturwissenschaftlichen Institute, die in der Universität selbst, in der sie bisher untergebracht waren, neuen Arbeitsgebieten Platz schafften. Ein glücklicher Zufall war es, daß eines dieser Institute an unseren Experimentierraum angrenzte. Ein weiteres Entgegenkommen der Regierung gewährte dann der experimentellen Psychologie den Zugang zu den von der Pharmakologie verlassenen Räumen, woran auch bald die Anerkennung des psychologischen Instituts als eines der Seminare der philosophischen Fakultät und die Anstellung eines Assistenten sich anschloß. Wieder mehrere Jahre später geschah der entscheidende Schritt, der das Institut zu einer selbständigen Stellung überführte, in der es zugleich eine den verschiedenen Richtungen der experimentellen Arbeiten mehr als bisher entsprechende Organisation gewann. Abermals war durch den Neubau eines großen medizinischen Instituts, der gynäkologischen Klinik, nicht nur eine Anzahl von Zimmern, sondern ein ganzes der Universität zu Gebote stehendes Haus vakant geworden. Die Gelegenheit wurde benutzt, um nunmehr dem großen Plan eines Umbaus und zumeist Neubaus der Universität selbst näherzutreten. In der Zwischenzeit aber bot jenes von der Medizin geräumte Gebäude, das alte »Trierianum«, so genannt nach dem Leipziger Bürger, welcher dereinst dieses Haus der Universität gestiftet hatte, für die provisorische Unterkunft von Auditorien und Instituten eine willkommene Aushilfe. Es gelang mir, das oberste Stockwerk dieses Hauses ganz für das psychologische Institut zu gewinnen. Jetzt bildete dieses zum ersten Male ein geschlossenes Ganzes, das durch seine baulichen Verhältnisse die Gelegenheit bot, für besondere Zwecke ihnen entsprechende Einrichtungen zu schaffen. So entstanden ein größeres Lesezimmer, eine Anzahl von experimentellen Arbeitsräumen, die planmäßig durch elektrische Leitungen sämtlich miteinander und einer zugehörigen in einem eigenen Raume untergebrachten elektrischen Zentrale verbunden waren, ein Direktorial-, ein Assistentenzimmer, ein für optische Versuche bestimmtes Dunkelzimmer mit Einrichtungen für die auf dem angrenzenden Balkon anzubringenden heliostatischen Apparate. Es waren im ganzen elf Räume, über die nun das Institut verfügte. In diesem Stadium seiner Entwicklung ist es in dem in offiziellem Auftrag von W. Lexis aus Anlaß der Weltausstellung in Chicago herausgegebenen Buch über die deutschen Universitäten näher von mir beschrieben worden. (Bd. 2, S. 452 ff.)
In diesem Interimsgebäude hat das psychologische Institut fünf Jahre lang, von 1892-97, zugebracht. Es ist eine Zeit inneren Wachstums gewesen, für dieses um so fruchtbarer, je mehr es nach außen in sich abgeschlossen war. Indem es nunmehr, dank dem Entgegenkommen der Regierung, über Mittel verfügte, die, seinem Wachstum entsprechend, die frühere kleine Beihilfe überschritten, wuchs die Zahl und Vollkommenheit der erforderlichen Apparate, wozu als günstiger Umstand hinzukam, daß es in dem Präzisionsmechaniker Emil Zimmermann eine Kraft gewann, die hier den Bedürfnissen dieses neuen Zweiges experimenteller Technik mit besonderem Talent zu Hilfe kam und von da die weiteren Jahre bis zum Ausbruch des Krieges sich um das Institut große Verdienste erworben hat. Aus seiner Werkstätte sind während einer Reihe von Jahren nicht bloß für das unsere, sondern für zahlreiche auswärtige Institute der experimentellen Psychologie die erforderlichen instrumentellen Hilfsmittel hervorgegangen.
Der Umstand, daß das Institut im Trierianum ein provisorisches war, brachte aber noch einen anderen Vorteil mit sich. Diese provisorische Unterbringung, die doch durch ihre Ausdehnung und Abgeschlossenheit allen wesentlichen Zwecken genügte, machte es möglich, die Einrichtungen, die in dem künftigen definitiven Institut getroffen werden sollten, sorgfältig zu erproben. Unter der Beihilfe des Baumeisters Arwed Roßbach, der den Neubau der Universität herzustellen hatte, war ich jetzt in der Lage über den in diesem Neubau dem Institut zur Verfügung gestellten Raum hinsichtlich der Zimmereinteilung, der elektrischen und Gasleitungen sowie der anderen schon beim Bau vorzusehenden Einrichtungen vollkommen frei zu verfügen, so daß, als das Institut seine neuen Räume im Herbst 1897 bezog, alle Vorbereitungen getroffen waren, um sofort mit den Arbeiten und Übungen beginnen zu können. Es ist das jetzt noch bestehende Laboratorium für experimentelle Psychologie, das seitdem in diesen Räumen tätig ist, und das sich aus vier größeren und zehn kleineren Zimmern zusammensetzt, wobei, abgesehen von einem Direktorial- und zwei Assistentenzimmern, eine nach der Südseite gerichtete Flucht von Räumen speziell optischen Untersuchungen, eine nach der Hofseite gerichtete und durch Doppelfenster gegen äußere Geräusche geschützte den anderen Zwecken dient, während außerdem ein größeres Lesezimmer und eine kleine mechanische Werkstätte als Hilfsräume zur Verfügung stehen. Ein Dunkelzimmer mit schwarzgestrichenen Wänden und Möbeln und ein Stillezimmer, hergestellt durch Doppelwände mit zwischenliegender Schuttschicht, ergänzen diese Einrichtungen.
Im Jahr 1913 hat endlich das Institut noch einen letzten Schritt zu seiner Vervollständigung getan. Es verdankt ihn der Initiative des verstorbenen Historikers Karl Lamprecht. Er hatte, von einer Reise nach Amerika zurückgekehrt, den Plan gefaßt, die Bürgerschaft Leipzigs zu einer Stiftung anzuregen, die, auf deutsche Verhältnisse übertragen, hier das in ihr bestehende und oft schon betätigte Interesse an unserer Hochschule in ähnlicher Weise durch eine großartige Stiftung zum Ausdruck bringen sollte, wie dies in Amerika nicht selten durch die Gründung teils von Universitäten teils von einzelnen Universitätsanstalten geschehen war. Ein näherliegendes Beispiel bot hier überdies die wenige Jahre zuvor entstandene Kaiser-Wilhelm-Stiftung in Dahlem bei Berlin, durch die eine größere Zahl naturwissenschaftlicher Institute von einem die gewöhnlichen Mittel der Universitäten überschreitenden Umfang ins Leben gerufen worden war. Für Leipzig, wo seit alter Zeit die Pflege der Geisteswissenschaften im Vordergrund der Wirksamkeit des Universitätsunterrichts gestanden hatte, lag der Gedanke nahe, in Parallele zu diesem für Preußen verwirklichten Unternehmen ein Forschungsinstitut für Geisteswissenschaften zu begründen, wobei dann noch allerdings als ein auszeichnender Zug hinzukam, daß dieses Institut aus der freien Leistung privater Personen hervorgehen sollte, die der Universität ihr besonderes Interesse zuwandten. Indem die sächsische Regierung dieses Unternehmen in ihren Schutz nahm, hatte sie jedoch weiterhin zu dem bedeutenden Kapital, das auf diese Weise zusammenkam, eine ansehnliche jährliche Beihilfe hinzugefügt, so daß das neu erstandene und wohl in seiner Art einzigartige Forschungsinstitut beträchtlich über den anfangs geplanten Umfang ausgedehnt werden konnte. Während die Leitung der verschiedenen Abteilungen dieses Forschungsinstituts, soweit die betreffenden Fächer durch mehrere akademische Lehrer vertreten sind, der gemeinsamen Direktion dieser übertragen wurde, genoß das psychologische Institut neben einigen anderen den Vorzug, der ständigen Direktion des Leiters des Universitätsinstituts unterstellt zu werden. Dazu wurde demselben ein ansehnliches Kapital von einem der an dieser Stiftung beteiligten Leipziger Bürger, Geheimen Kommerzienrat Reh-woldt, zugewandt, als eine Stiftung zum Andenken an seinen verstorbenen Sohn, der ein mehrjähriger treuer Mitarbeiter des Instituts gewesen war.
Damit waren die Mittel des Instituts auf einem Punkte angelangt, wo an die Verwirklichung eines letzten Planes gedacht werden konnte, welcher in der bisher noch auf lange Zeit für unerfüllbar gehaltenen Begründung einer völkerpsychologischen Abteilung bestand. Auch diesem letzten Unternehmen kam die sächsische Regierung wohlwollend entgegen. Dies geschah durch den Aufbau eines Stockwerkes über dem größeren Teil des bisherigen Instituts, durch welchen diesem eine Anzahl von Bibliotheks-, Lese- und Arbeitszimmern sowie ein für Seminarkurse und kleinere Vorlesungen bestimmter größerer Raum hinzugefügt wurden. Diese im obersten Stock des Paulinum untergebrachte Abteilung war ausschließlich für die Pflege der Völkerpsychologie bestimmt.
Aber das alte Wort, daß alles menschliche Wirken Stückwerk bleibt, hat sich schließlich auch hier bestätigt. Ich konnte von vornherein kaum daran denken, die Übungen und Arbeiten, die in dieser völkerpsychologischen Abteilung unternommen werden sollten, selbst noch zu leiten, ich hoffte aber den Ausbau noch soweit zu Ende führen zu können, daß mein Nachfolger die Stätte bereitfinde, auf die den künftigen Psychologen die heutigen Bedürfnisse unserer Wissenschaft hinweisen. Es ist mir nicht beschieden gewesen, dieses Ziel ganz zu erreichen. Mit der Unterbringung der völkerpsychologischen Räume in diesem obersten Stockwerk verband sich die Absicht, einen davon abliegenden Zweig der experimentellen Psychologie, nämlich die experimentelle Psychophysik, ähnlich in einem besonderen Raum der gegenwärtig sich über die Nebenhäuser der Universität erstreckenden Seminargebäude unter einem geeigneten Direktor unterzubringen, wie dies schon für die experimentelle Pädagogik unter einem besonderen Assistenten mehrere Jahre zuvor geschehen war. Da kam der Weltkrieg, der einer sofortigen Ausführung dieser Absicht in den Weg trat und dazu nötigte, dieser psychophysischen Abteilung eine provisorische Unterkunft in einigen für das völkerpsychologische Institut bestimmten Zimmern zu gewähren. Das ist im Hinblick auf die völlig verschiedenen Zwecke dieser Gebiete und auf die Beschränkung, die dadurch dem Ausbau der Völkerpsychologie gesetzt ist, ein auf die Dauer unhaltbarer Zustand. Erst, wenn er überwunden ist, wird das Leipziger psychologische Institut zu dem geworden sein, was mir dereinst vor 40 Jahren als ein fernes, freilich damals kaum erhofftes Zukunftsbild vor Augen schwebte.
Mit der räumlichen Erweiterung des Instituts hat selbstverständlich auch die Teilnahme der Studierenden sowie der älteren Mitarbeiter gleichen Schritt gehalten, oder, wie man es wohl zutreffender ausdrücken müßte, diese weitere äußere Ausgestaltung ist den Bedürfnissen gefolgt, die durch die Zunahme der Teilnehmer an seinen Übungen und Arbeiten entstanden. Von den drei bis vier Arbeitsgenossen der ersten Semester ist Sie allmählich auf 30 bis 40 angewachsen, von denen freilich nur eine kleinere Zahl selbständige Arbeiten ausführte, während die meisten nur durch Teilnahme an den von den Assistenten geleiteten Einführungskursen und als Versuchspersonen bei den solche fordernden Arbeiten einen genaueren Einblick in die Psychologie zu gewinnen suchten, als ihn die theoretische Vorlesung trotz der begleitenden Demonstrationen und Experimente zu gewähren vermochte. Die Mehrzahl der so Teilnehmenden gehörte von Anfang an zu dem Kreise der Studierenden der Mathematik und Naturwissenschaften, zu denen dann noch einzelne der an der Leipziger Universität ziemlich zahlreichen Pädagogen hinzukamen. Daneben bildeten besonders in den beiden ersten Jahrzehnten eine wachsende Zahl von Ausländern einen erheblichen Bestandteil meist bereits fortgeschrittener junger Gelehrter, die, nachdem sie an einer ihrer heimischen Hochschulen ihre Studien beendet, sich die experimentelle Psychologie zu eigen machen wollten. In erster Linie hat hier Amerika, wo das neue Gebiet einen besonders fruchtbaren Boden fand, wie sich dies in der Gründung der dort entstehenden zahlreichen Institute zeigte, in zweiter haben die Balkanländer und Rußland ein erhebliches Kontingent zu den Mitgliedern geliefert. Es würde zu weit führen, hier auch nur diejenigen unter meinen Mitarbeitern zu nennen, die sich durch besonders wertvolle Arbeiten ausgezeichnet haben. Allein die drei frühesten dieser meiner Arbeitsgenossen möchte ich anführen, die der experimentellen Psychologie auch in ihrem späteren Beruf, direkt oder in ihren Anwendungen, treu geblieben sind, und deren Teilnahme in eine Zeit zurückreicht, in der das Institut noch auf zwei bis drei kleine Zimmer beschränkt war und als mein Privatunternehmen der offiziellen Anerkennung von seiten der Universität entbehrte. Sie sind: Emil Kraepelin, der berühmte Münchener Psychiater, der in den letzten Jahren die Gründung eines umfassenden deutschen psychiatrischen Forschungsinstituts in die Wege geleitet hat, Alfred Lehmann, der Vertreter der experimentellen Psychologie an der dänischen Universität in Kopenhagen, und James Mackeen Cattell, Professor der experimentellen Psychologie an der Columbia-Universität in Amerika. Kraepelin hat bis zum heutigen Tage an der psychiatrischen Klinik eine psychologische Abteilung beibehalten und in dieser eine Reihe experimenteller Methoden zur Anwendung gebracht, in denen er die für die praktische Anwendung des psychologischen Experiments unerläßlichen Vereinfachungen und spezifischen Ausgestaltungen einführte, Vorbilder, wie sie in den in neuester Zeit vielfach geübten Arbeiten zur Erforschung der individuellen Begabung und Leistungsfähigkeit teils befolgt teils nach verschiedenen Richtungen ausgestaltet worden sind. Alfred Lehmann hat sich eine besondere Domäne experimenteller Forschung in seinen umfassenden Untersuchungen über die Veränderungen der Herz-, Atmungs- und Blutgefäßinnervation in den mannigfaltigsten Gefühls- und Affektzuständen geschaffen, die für die gesamte Gefühlspsychologie von epochemachender Bedeutung sind. Cattell hat von Anfang an den zeitlichen Verlauf der psychischen Funktionen zu seinem Hauptthema gewählt; er hat ebenfalls schon in seiner Leipziger Zeit eine Fülle von Material in dieser Richtung gesammelt, das die ersten Grundlagen für alle späteren Arbeiten aus dem Gebiet der chronometrischen Psychologie gebildet. Cattell ist zugleich mein erster Assistent gewesen. In den ersten Jahren entbehrte ich eines solchen überhaupt, und selbst mit einem Institutsdiener, mit dessen Pflichten einer der Universitätsaufwärter betraut wurde, war es nur kümmerlich bestellt. Da trat eines Tages Cattell an mich heran und erklärte mit bekannter amerikanischer Entschlossenheit: »Herr Professor, Sie bedürfen eines Assistenten, und ich werde Ihr Assistent sein!« Er versah dieses Amt in der Tat, natürlich unentgeltlich, bis die Universität durch die offizielle Anstellung eines besoldeten Assistenten helfend eingriff.
Als ich mich in der Zeit, in der das psychologische Institut festere Wurzeln zu fassen begann, nach einer Zeitschrift umsah, die zur Veröffentlichung der in demselben entstandenen Arbeiten geeignet sei, war ich zunächst in einiger Verlegenheit. In einem der physiologischen Organe würden diese Arbeiten des zwischen ihnen bestehenden Zusammenhangs durch die Fülle des andersartigen physiologischen Inhalts verlustig gegangen, und noch mehr würde das bei der Einsendung an eine der namentlich in jener Zeit den verschiedensten Richtungen der Philosophie ihre Spalten öffnenden philosophischen Zeitschriften geschehen sein. Ich entschloß mich daher, die Arbeiten des Instituts in besonderen Heften herauszugeben und wählte für diese den Titel »Philosophische Studien«. Philosophische, nicht psychologische nannte ich sie, weil es nötig schien, auch einzelne, namentlich von mir selbst geschriebene Abhandlungen aufzunehmen, die teils der theoretischen Begründung des Standpunktes dieser Arbeiten teils der zusammenfassenden Übersicht bestimmt waren. Zugleich war aber dieser Titel ein Kampftitel. Denn die experimentelle Psychologie begegnete in den ersten Jahren des bestehens unseres Instituts lebhaften Angriffen von seiten mancher Philosophen, denen freilich das damals noch verbreitete Mißverständnis zugrunde lag, diese neue Psychologie wolle auf einem Umwege den alten, durch das epochemachende Werk Albert Lange's gründlich abgefertigten Materialismus wieder einführen, jedenfalls aber handle es sich hier um physiologische, nicht um eigentlich psychologische Studien. Mit dem Titel »Philosophische Studien« sollte daher unzweideutig ausgedrückt werden, daß diese neue Psychologie den Anspruch erhebe, ein Teilgebiet der Philosophie zu sein. So sind denn vom Jahre 1883 an bis 1902 20 Bände dieser Veröffentlichungen erschienen. Sie würden natürlich mit demselben Recht »Psychologische Studien« genannt worden sein, um so mehr, da die andersartigen Inhalte, die, soweit sie von mir selbst herrührten, später in dem 2. Band meiner »Kleinen Schriften« abgedruckt worden sind, nur einen wenig umfangreichen Teil des Gesamtinhalts ausmachten. Als daher die Absicht, von nun an die Arbeiten des Instituts in einer der inzwischen ins Leben getretenen psychologischen Zeitschriften zu veröffentlichen, aus ähnlichen Gründen wie die frühere, eine der älteren philosophischen Zeitschriften zu wählen, sich als unzweckmäßig erwies, wurde für die Fortsetzung dieser Veröffentlichungen der veränderte Titel gewählt. Vom Jahre 1906 an bis zu ihrem Abschluß im Jahre 1917, der Zeit meines Rücktritts vom Lehramt, sind von diesen »Psychologischen Studien« 10 Bände erschienen.
Am l. Oktober 1875 traten Max Heinze und ich als neu berufene Professoren der Philosophie bei der philosophischen Fakultät in Leipzig unser Amt an. Unsere philosophische Vergangenheit war eine sehr verschiedene. Heinze war ein Schüler Trendelenburgs und hatte sich von frühe an der Geschichte der Philosophie, insbesondere der antiken, gewidmet. Er hatte mit seltener Schnelligkeit die übliche Laufbahn des akademischen Dozenten zurückgelegt. Nachdem er sich in Leipzig habilitiert, war er innerhalb weniger Semester zuerst nach Basel, dann nach Königsberg berufen worden, um darauf endgültig dem Ruf nach Leipzig zu folgen. Daß Heinze in erster Linie die philologisch-historische Seite der Philosophie zu vertreten hatte, während mir die naturwissenschaftliche zugedacht war, lag schon in unseren wesentlich abweichenden Vorbereitungen zur akademischen Laufbahn begründet. Gleichwohl war es mir sehr willkommen, als mir mein neuer Kollege vorschlug, wir wollten uns durchaus nicht auf eine strenge Begrenzung der Fächer beschränken, sondern jeder solle nach freier Wohl die verschiedenen Gebiete in seinen Vorlesungen behandeln, so daß Heinze sowohl die Psychologie gelegentlich vortrage, wie es mir frei stehe, auch über Gegenstände zu lesen, für die er hauptsächlich berufen war. Mir war das namentlich deshalb willkommen, weil ich zwar eingehendere historisch-philologische Arbeiten in meinem Studienplan als zuweit abliegend von meinen sonstigen Lebensaufgaben nicht beabsichtigte, aber gleichwohl nur ungern darauf verzichtet hätte, die Geschichte der Philosophie in akademischen Vorlesungen zu behandeln. Bot sich doch auf diesem Wege, wie ich meinte, schon eine reiche Gelegenheit, in die geschichtliche Entwicklung der Philosophie einzudringen, ungleich mehr, als dies durch ein bloßes Privatstudium geschehen kann. Diese Vermutung hat sich mir im Lauf der Jahre vollauf bestätigt. Bereits in meinem 3. Leipziger Semester kündigte ich, dem Beispiel zahlreicher Dozenten folgend, die Geschichte der Philosophie in einer einzigen Vorlesung an, erkannte aber sofort, daß diese Stundenzahl unzulänglich sei, wenn man in freiem Vortrag die Aufgabe bewältigen und zugleich einen wünschenswerten Wechsel der Behandlung bei der Wiederholung des gleichen Themas eintreten lassen wollte. Bietet Sich doch dieser von selbst dar, da ein erneutes Studium immer auch Veränderungen der Darstellung mit sich führt. Ich empfand daher immer mehr, wie hier die Geschichte der Philosophie als Gegenstand akademischer Vorlesungen einen großen Vorzug gegenüber den andern sogenannten systematischen Fächern besitzt. Entbehren auch diese selbstverständlich einer solchen Modifikation infolge des Fortschritts der betreffenden Wissenschaft wie der eindringenderen Studien des Vortragenden niemals, so bleiben Sie doch weit mehr an einen endgültig bestehenden Stoff gebunden, weshalb selbst die Psychologie trotz der großen Veränderungen, die sie in ihrer heutigen Gestalt als eine verhältnismäßig neue Wissenschaft erfahren hat und noch fortwährend erfährt, davon kaum eine Ausnahme macht. Daran ist zugleich der weitere Vorteil gebunden, daß es in Anbetracht des ungeheuren Umfangs der Geschichte dem Dozenten hier in viel höherem Grade als bei andern Gebieten frei steht, in den verschiedenen der gleichen Periode gewidmeten Wiederholungen bald die eine bald die andere Seite der einzelnen Richtungen der philosophischen Entwicklung abwechselnd in den Vordergrund zu stellen. Das ist ein Vorzug, der dem Dozenten selbst ebenso wie den Zuhörern zustatten kommt, die darum, wie ich beobachtet habe, hier weit häufiger als bei andern Gegenständen die gleiche Vorlesung in deren Wiederholungen zu besuchen pflegen, ein Erfolg, der wiederum eine anregende Wirkung auf den Vortragenden ausübt. So kam es, daß im Laufe der Zeit die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, also über das Thema, das gerade den in meinen eigenen Werken behandelten Gegenständen am fernsten lag, mir die liebsten unter allen meinen akademischen Vorlesungen geworben sind.
Zu diesen mehr subjektiven Vorzügen, welche die Geschichte der Philosophie als akademischer Unterrichtsgegenstand mit sich führt, kommen nun aber objektive, die namentlich bei freiem Vortrag einem dem Fortschritt der Studien oder der Wahl des Vortragenden überlassenden Wechsel sich einstellen und die bei der Gebundenheit an ein ausgearbeitetes Heft mehr oder minder verloren gehen. Ein erster besteht darin, daß die Entwicklung des philosophischen Denkens allein in ihrer Geschichte mit voller Deutlichkeit hervortritt, indem diese die Abhängigkeit der späteren Gestaltungen von den vorangegangenen ebenso in den allgemeinen Richtungen wie in den Beziehungen der einzelnen bestimmte Weltanschauungen vertretenden Denker zu ihren Vorgängern zutage treten läßt. Dadurch bietet die Geschichte die wirksamste Berichtigung des aus den dogmatischen Gebieten leicht entspringenden Vorurteils, ein fest gegebener Zustand sei der einzig mögliche und endgültig erreichte, oder sie widerlegt mindestens jene weit verbreitete Bevorzugung der Gegenwart vor der Vergangenheit, die aus einer ungerechtfertigten Übertragung gewisser äußerer Fortschritte der Kultur, wie der technischen Hilf mittel, des wirtschaftlichen Verkehrs usw. auf die geistigen Werte des Lebens entspringt, während doch diese zwar mit jenen in einem gewissen Zusammenhang stehen, aber darum keineswegs mit ihnen unbedingt zusammengehen. Darum ist gerade dies ein besonderer Vorzug der Philosophiegeschichte, daß sie der durch andere Gebiete geschichtlicher Entwicklung allzu leicht erweckten Vorstellung eines unumschränkten Fortschritts der Kultur entgegenwirkt, eine Vorstellung, die an sich ebenso verkehrt ist wie die Hypothese eines Rückschritts derselben. Beide sind eben Erzeugnisse einer einseitigen Betrachtung der Dinge, die niemals einer allseitigen Würdigung der Kultur gerecht wird.
Ein zweiter Vorzug hängt mit diesem nahe zusammen. Er ist aber, wie dieser auf die Vergangenheit, so auf die Zukunft gerichtet. Zeigt jener, daß der Philosophie in allen Stadien, die sie bis dahin zurückgelegt, selbst in solchen, denen man, wie gewissen von der Beharrungstendenz religiöser Anschauungen beeinflußten Epochen, eine relative Stabilität zuzuschreiben pflegt, doch in Wahrheit nicht minder wie andern Gebieten eine innere, oft sehr bedeutsame Entwicklung nicht fehlt, so bildet ein augenfälliges Beispiel des hier durch die Vermengung der religiösen und anderer Kulturmotive mit den philosophischen Anschauungen verschuldeten falschen Gegensatzes das Verhältnis, das man der sogenannten scholastischen Philosophie gegenüber derjenigen der Renaissancezeit anweist, während doch die Motive, die diese letztere bestimmen, bereits nach allen ihren Richtungen in der Entwicklung jener sich vorbereiten. Gerade in der Philosophie ist aber, wie Leibniz sich ausdrückte, zu jeder Zeit die Gegenwart bereits erfüllt mit der Zukunft; doch gerade dadurch, daß diese Zukunft in ihr immerhin erst vorbereitet, noch nicht erreicht ist, empfängt sie ihr eigentümliches Gepräge. Daß dieses Motiv eines jeder endgültigen Abgeschlossenheit widerstrebenden Werdens in ihr weit mehr hervortritt als in irgendeiner andern Seite der geistigen wie der materiellen Kultur, dies hängt aber sichtlich mit der freien Bewegung des Geistes zusammen, die in ihr ungleich weniger durch äußere Bedingungen gehemmt ist als in andern Gebieten, während doch jeder Fortschritt innerhalb dieser letzteren auf die philosophischen Gedankenentwicklungen zurückwirkt und sie dann zumeist wiederum über die Schranken des Erreichten in den Vorausnahmen der Zukunft, die allezeit offen stehen, hinausreicht.
Damit hängt endlich ein drittes Moment zusammen, vielleicht das wichtigste, das der geschichtlichen Betrachtung gegenüber den in der Philosophie selbst niemals einer relativen Beharrungstendenz ganz entbehrenden systematischen Gebieten eigen ist. In diesen ist im allgemeinen das System ursprünglich das Werk eines einzelnen Denkers, in welchem, mag er auch noch so sehr von der philosophischen Vergangenheit und von den Kulturbedingungen der Zeit abhängig sein, doch eben jene Abgeschlossenheit fehlt, die dem System mehr oder minder eigen ist. Denn in der Philosophie wie in der Dichtung und in dem Kunstwerk ist es stets der einzelne, der, wenn er nicht unmittelbar der Schöpfer des Ganzen ist, doch mindestens die Teile, die er vorfindet, zu einem Ganzen zusammenfaßt, weil dieses ein individuelles Selbstbewußtsein als eine der Einheit jenes Ganzen entsprechende subjektive Einheit des Denkens voraussetzt. In diesem Sinne hat jedes philosophische System selbst den Charakter eines Kunstwerks, das allerdings mehr als andere Werke der Kunst die Spuren kollektiver Kräfte der nationalen Gemeinschaft, auf der es ruht, an sich zu tragen pflegt, aber zu seinem endgültigen Abschlusse der schöpferischen Tätigkeit der individuellen Persönlichkeit nicht entraten kann. Hier ist es eben die geschichtliche Entwicklung, in der sich mehr als in irgendeinem andern Erzeugnis des menschlichen Geistes jener Zusammenhang zwischen Gemeinschaft und Individuum, auf dem alles geistige Leben ruht, am deutlichsten ausprägt.
Zu diesen allgemeinen Bedingungen kommt schließlich noch ein besonderes Motiv, das die Geschichte der Philosophie mehr als die aller andern Gebiete in nähere Beziehungen zu der allgemeinen wissenschaftlichen Entwicklung bringt. Es besteht in ihrer spezifischen Affinität zu der Gesamtheit der einzelnen Wissenschaften, deren allgemeinster Ausdruck sie sein muß, wenn sie ihrem Beruf gerecht werden soll. Denn die Philosophie ist nicht bloß, wie etwa die Kunst im engeren Sinne dieses Worts oder das religiöse Bewußtsein, ein der Wissenschaft parallelgebendes Erzeugnis ihrer Zeit, sondern sie ist selbst eine Wissenschaft, in der sich, weil sie die allgemeinste ist, der gesamte wissenschaftliche Zustand eines Zeitalters spiegelt. In diesem Sinne ist sie die Vertreterin einer Geschichte der Wissenschaft überhaupt. Mag auch die besondere Geschichte einer Einzelwissenschaft eine dieser zufallende Aufgabe sein, so muß sich diese doch, abgesehen von einzelnen wichtigen Einflüssen speziellerer Art, ein Eingehen auf das allgemeine Problem des wissenschaftlichen Denkens in seinem ganzen Umfange versagen, da die volle Bewältigung dieses Problems eine Aufgabe ist, die schließlich auch die Philosophie immer nur teilweise zu leisten vermag. Denn eben darin ist auch sie ein Spiegelbild des Geistes der Zeit, daß in ihrer Geschichte naturgemäß jeweils diejenigen Wissenschaften im Vordergrund stehen, die für diesen Geist der Zeit besonders kennzeichnend und deshalb für die spezifische Gestaltung der anderen Einzelwissenschaften bestimmend sind. Diese Eigenschaft, Stellvertreterin einer allgemeinen Geschichte des wissenschaftlichen Denkens zu sein, tritt besonders deutlich dann zutage, wenn wir uns innerhalb der Hauptepochen dieser Geschichte die Richtungen des wissenschaftlichen Denkens vergegenwärtigen, die uns als die jeweils den Geist der Zeit beherrschenden entgegentreten. So bildet überall der Übergang des mythologischen in das begriffliche und damit in das wissenschaftliche Denken den Anfang der Philosophie, die auf dieser Stufe mit dem Anfang der Wissenschaft überhaupt zusammenfällt. Innerhalb der abendländischen Philosophie ist es die der Griechen, in der dieser gemeinsame Ursprung der Philosophie und der Einzelwissenschaften, begünstigt durch den raschen Übergang des mythologischen in das begriffliche Denken, besonders deutlich sich ausprägt. Vermittelnd zwischen Mythus und Wissenschaft steht die Kunst, die auf der einen Seite dem mythologischen Denken ihre Motive entnimmt, auf der andern als freie Schöpfung der Phantasie das wissenschaftliche Denken in den Formen anschaulicher Gestaltungen vorausnimmt, -- eine vermittelnde Stellung, die deutlich darin zutage tritt, daß die beginnende Wissenschaft, wo sich ihr die Hilfe der Begriffe versagt, oder wo diese ihrerseits der Hilfe der Anschauung nicht entraten können, den künstlerisch gestalteten Mythus als Ergänzung und Stellvertretung verwendet. So bieten sich wieder in der griechischen, aber nicht minder in eigenartiger Form in der indischen Philosophie zuerst in enger Verbindung mythologisch-begrifflicher Gestaltungen, dann in einem Nebeneinander beider Bestandteile stetige Übergänge, die uns den Ursprung der Philosophie als Wissenschaft aus dem Mythus vor Augen führen. Hier vor allem ist für uns die Entwicklung des griechischen Denkens von seinen Kosmos-logischen Anfängen an über Platos Vermittlung zwischen Wissenschaft und künstlerischer Ergänzung durch mythologische Dichtung bis zur strengen wissenschaftlichen Form bei Aristoteles und seinen Nachfolgern ein typisches Beispiel und Vorbild der Entwicklung. Sie ist es auch insofern, als in ihr bereits die Hauptrichtungen zur Ausbildung gelangt sind, die die späteren Gestaltungen der Philosophie wie der hauptsächlichsten Einzelwissenschaften bestimmt haben.
Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, darüber eingehendere Rechenschaft zu geben, wie ich im Laufe einer langen Reihe von Jahren, in denen ich in Leipzig die Geschichte der Philosophie vortrug, diesen mir von Anfang an vorschwebenden Aufgaben nachzukommen versucht habe; aber ich darf wohl in einigen kurzen Umrissen die Gesichtspunkte hervorheben, nach denen ich schließlich in der letzten Gestalt, die diese Vorträge beim Abschluß meiner akademischen Tätigkeit gewonnen, den umfangreichen Stoff zu gliedern versuchte. Diese Übersicht wird zugleich deutlich machen, wie auf diese Darstellung in fortschreitendem Maße meine sonstigen mehr systematischen Arbeiten, insbesondere die historischen Studien zur Logik auf der einen und zur Völkerpsychologie auf der anderen Seite, von Einfluß gewesen sind. Dabei sind es hauptsächlich die Anfänge und das vorläufige Ende dieser Geschichte, auf die ich eingehen werde: die Anfänge, weil bei ihnen die Mannigfaltigkeit der Faktoren, aus denen sich in jedem Zeitalter der allgemeine Charakter der Philosophie als ihrer aller Resultante zusammensetzt, deutlich hervortritt; das bis dahin erreichte Ende der Philosophie, weil es am unmittelbarsten die Aufgaben der nächsten Zukunft erkennen läßt.
Hat die griechische Philosophie vor allem in ihren Anfängen darin, daß Sie der Entwicklung der bildenden Kunst wie der Dichtung parallel geht, die Spuren ihres Ursprungs aus dem mythologischen Denken bewahrt, so tritt mit dem Übergang in die wissenschaftliche Aera unter den zahlreichen Problemen des Denkens eines als das herrschende hervor: das Problem der Gemeinschaft in ihrem Verhältnis zum individuellen Dasein. Hier sind es die zwei in die gesamte weitere Entwicklung tiefeingreifenden Gegensätze des Individualismus und des Kollektivismus, wie sie uns in dem Kampf der Idee der Gemeinschaft, die die ursprüngliche Volkssitte beherrscht, und in den sie erneuernden sokratischen Schulen, allen voran in der platonischen Philosophie, mit der Sophistik entgegentritt, um von da an als ein Kampf dieser Richtungen in die späteren Gestaltungen des philosophischen Denkens sich fortzusetzen. Innerhalb der in diesem Streit der Weltanschauungen sich vollziehenden Weiterentwicklung, in der alle anderen Probleme diesem herrschenden sich unterordnen, ist es vornehmlich die römische Kultur in ihren den praktischen Aufgaben des Staatslebens in erster Linie zugewandten Richtungen, die dem Individualismus in Sitte und Recht zu einem Sieg verhilft, der sich mit der Verbreitung der von Rom ausgehenden Rechtswissenschaft über die gesamte europäische Kulturwelt erstreckt hat und bis zum heutigen Tage in seinen Nachwirkungen bestehen geblieben ist. Das Motiv der entscheidenden Rolle, die hier der von den römischen Juristen begründeten Rechtswissenschaft zukommt, liegt offenkundig in der Schwierigkeit, die der Streit der Individuen über Besitz- und Vertragsrechte je nach ihren besonderen Bedingungen mit sich führt, während dagegen die Pflichten und Rechte der Gemeinschaft gegenüber dem einzelnen noch auf lange hinaus den Überlieferungen der Sitte überlassen bleiben. So haben sich denn auch die Rechte eines solchen durch die Sitte geregelten Gemeinschaftsrechtes bei allen Völkern noch auf lange Zeit erhalten: So insbesondere bei den Römern selbst in der Bewahrung des Ager publicus als Gemeinschaftsrecht und der Heiligung des Vertrags nach Treu und Glauben im Vertragsrecht der einzelnen. Den Germanen allein kommt aber hier eine bedeutsame Ausnahmestellung zu, weil bei ihnen auch der sonstige Streit der einzelnen bis zur Herrschaft, die das römische Recht bei den germanischen Völkern gewann, den Volksgerichten überlassen geblieben ist, die nach dem Herkommen, also nach den Traditionen der Sitte, entschieden. So ist dieses Festhalten an der Sitte gegenüber dem »Jus strictum«, wie es Leibniz nannte, auf lange hinaus ein spezifisches Merkmal des deutschen Geistes geblieben, in welchem in einer besonders eindringlichen Form die Überordnung der Gemeinschaft über den einzelnen zum Ausdruck kam.
Neben diesem die sinnliche Wirklichkeit beherrschenden Individualismus hat sich nun aber in der Kultur des römischen Kaisertums ein zweites Motiv in den Vordergrund gedrängt, das teils jenes das weltliche Leben beherrschende zurücktreten ließ, teils ihm ergänzend an die Seite trat. Aus dem Kampf der Religionen, der dieses ganze Zeitalter, in ihm vor allem die Zeit der Severer erfüllt, erhebt sich als ein neues, mächtig in die Wissenschaft eingreifendes Problem das des religiösen Bewußtseins. Es ergreift das populäre Denken in dem Streben nach einer neuen, den Forderungen der Zeit entsprechenden Religion, die aus den miteinander kämpfenden religiösen Überlieferungen diejenigen herausnimmt, die den Anschauungen über Recht und Staat als eine vollgültige Ergänzung zur Seite treten können. Da ist es nun auf der einen Seite der jüdische Monotheismus, der ebenso dem aristotelischen Weltprinzip wie dem Individualismus der römischen Rechtswissenschaft als eine wahlverwandte religiöse Richtung entspricht. Auf der andern Seite bietet die platonische Ideenlehre eine dem religiösen Bedürfnis nach seinen verschiedenen und vor allem nach den in das sinnliche Leben eingreifenden Richtungen entgegenkommende Grundlage, die nicht minder dem aus der ursprünglichen mythologischen Weltanschauung hervorgegangenen philosophischen Denken gerecht zu werden sucht. Aus der Synthese dieser Bestandteile erhebt sich ebenso die Philosophie des Neuplatonismus, der nach der überwiegenden Macht der platonischen Lehre, die in ihr zum Ausdruck kommt, ihren Namen trägt, wie sie auf die schließlich alle anderen religiösen Strömungen zurückdrängende Religion einwirkt, auf das Christentum. Damit wird, indem beide Motive mehr und mehr sich assimilieren, der Neuplatonismus in seiner durch die jüdisch-christliche Tradition bestimmten Gestaltung zur christlichen Philosophie, die zunächst in den durchaus der Entwicklung des Neuplatonismus angehörenden gnostischen Sekten sich äußert und mit jenem spezifisch christlichen Lehrbegriff abschließt, der als eine neue, die gesamte Weiterentwicklung beherrschende Philosophie erscheint. Nachdem die großen philosophischen Denker diesem Lehrbegriff zum Teil in einem Kampf, in welchem sich einigermaßen der Streit der Religionen selbst wiederholt, seine Gestaltung gegeben, ist es die sogenannte Scholastik, die ihn weiter zu bilden und mit der weltlichen Wissenschaft zu einer Einheit zu verschmelzen strebt.
Enthält die Scholastik in ihrem Namen den Begriff einer »Schulphilosophie«, weil sie die in den Anfängen des Christentums und vor allem in den Schriften des größten der älteren christlichen Philosophen, des Augustin, niedergelegten Lehren übernimmt und weiterbildet, so entspringen nun aber daraus zugleich neue Motive, die teils einen Wandel der religiösen Anschauungen überhaupt teils eine Scheidung derselben in verschiedene Richtungen mit sich führen. Unter ihnen treten uns namentlich zwei als die bedeutsamsten und für die weitere Entwicklung der Philosophie einflußreichsten entgegen. Ihnen hat die Tradition einen im ganzen wenig passenden Ausdruck gegeben, indem sie die von frühe an hier einander bekämpfenden Schulen als die des Realismus und des Nominalismus bezeichnete -- Namen, die verhältnismäßig äußerlichen Nebenmerkmalen entlehnt sind. Denn der Name des Realismus ist vor allem an die aus dem Platonismus und die aus ihm hervorgegangene durch die Assimilation an die monotheistische christliche Tradition entstandene Trinitätslehre gebunden. Mit dem Namen Nominalismus bezeichnet dagegen die Scholastik die zu verschiedenen Zeiten hervortretenden Abweichungen von dem allgemeiner gültigen realistischen Lehrbegriff, die teils in höherem Grade der Erfahrung zugewandt sind, teils im Zusammenhange damit vorzugsweise an die aristotelische Logik und an die in ihr waltende Betrachtung der sprachlichen Formen des Denkens anknüpfen.
Als die für den Einfluß des Christentums auf die Philosophie entscheidende Richtung steht von diesen beiden der sogenannte scholastische Realismus durchaus im Vordergrunde. Er ist es vorzugsweise, in welchem die mannigfachen Einflüsse zusammenfließen, die schließlich diejenige Weltanschauung gestalten, die wir die spezifisch christliche Philosophie nennen können. Innerhalb des Realismus sind dann wieder durch den Eintritt des germanischen Denkens zwei bedeutsame Richtungen entstanden, deren eine, die ursprüngliche, unmittelbar aus der Wechselwirkung des römischen Individualismus mit dem jüdischen Monotheismus entsprungen ist, die in der Auffassung der Gottheit als einer einheitlichen und darum als einer individuellen, nach Analogie des weltlichen Imperiums alles sein und Geschehen beherrschenden, aber nach ihren Eigenschaften doch zugleich in einer begrifflichen Dreiheit erscheinenden Persönlichkeit ihren Ausdruck findet. Die andere hat sich aus der Umgestaltung entwickelt, die in der bedeutsamen Einwirkung ihren Ursprung hat, welche der Islam und die in ihm wurzelnde arabische Philosophie vornehmlich vom 13. Jahrhundert an auf die christliche Lehre und ihre Ausprägung in den Systemen der Scholastik ausgeübt hat. Vorbereitet durch die seit den Kreuzzügen sich entwickelnde Wechselwirkung zwischen der orientalischen und der abendländischen Kultur hat die Einwirkung der arabischen Philosophie schließlich in den großen scholastischen Systemen eines Albertus Magnus und in abschließender Form in dem des Thomas von Aquino ihren Ausdruck gefunden, und hier ist es wieder besonders die Schule des Dominikanerordens, die diesem Einfluß gefolgt ist. Die erste zunächst zur dauernden Herrschaft gelangte Richtung hat den schon bisher einem objektiven Monotheismus zugewandten Motiven der christlichen Philosophie ein neues hinzugefügt, das den Einfluß der vorzugsweise von den Arabern gepflegten Tradition der aristotelischen monotheistischen Metaphysik mächtig verstärkte, zugleich aber eine zweite, auf den Neuplatonismus zurückgehende Tradition zu erneuter Geltung gelangen ließ: das war diejenige Gestaltung des Monotheismus, die jener herrschenden objektiven eine subjektive Gottesidee gegenüberstellte. Hier ist es nun bedeutsam für die ganze weitere Folge der religiösen Entwicklung, daß diese auch in den inneren religiösen Erlebnissen, wie sie sich in der menschlichen Seele als deren eigenste Schöpfung offenbaren, vor allem innerhalb der germanischen Lande unter der Führung der Schulen des Dominikanerordens Wurzel gefaßt haben. In den großen deutschen Mystikern, allen voran in Johann Eckart und seinen Nachfolgern trifft diese nach innen gewandte Auffassung des christlichen Lehrbegriffs, wie man wohl vermuten darf, mit einer Tendenz zusammen, die ihre letzte Quelle in der allgemeinen Geistesrichtung des Germanentums hat, wie sie seit alter Zeit in Sitte und Recht und dementsprechend in dem religiösen Bewußtsein der deutschen Stämme sich ausspricht. Dieser Grundzug des germanischen Geistes besteht darin, daß in dem Bewußtsein des Deutschen der einzelne sich als Glied der Volksgemeinschaft fühlt, der er sein eigenes Leben und Streben unterordnet. Ihm ist daher die Götterwelt ebenso eine in verschiedenen Gestaltungen sich offenbarende Einheit der übersinnlichen wie die Sitten- und Stammesgemeinschaft eine solche der sinnlichen Welt. Eckart, den die vornehmlich in Predigt und Seelsorge wirkenden Mystiker des 14. und 15. Jahrhunderts ihren Meister nennen, ist wahrscheinlich noch ein Schüler Alberts des Großen, der zuerst den objektiven Monotheismus und den ihn ergänzenden Trinitätsbegriff samt seinen im Marien- und Heiligenkultus in einen überreichen Polytheismus ausartenden Weiterbildungen in ein System zusammengefaßt hat. Dieses von Thomas von Aquino weitergebildete System verbindet den aristotelischen Monotheismus und die arabische Philosophie mit den den Elementen der neuplatonischen Tradition entlehnten polytheistischen Ergänzungen und mit dem fortwirkenden Einfluß des römischen Imperiums. Es ist das philosophische System, das bis zum heutigen Tage die unverrückbare Grundlage des katholischen Lehrbegriffs geblieben ist, die ihre abschließende Einheit in dem aus dem Übergang des politischen Imperiums in das Papsttum entstandenen religiösen Imperium gefunden hat. Unter den zahlreichen Bestandteilen, die dieses System zusammensetzen, sind es vor allen andern die neuplatonischen Ideen, die Eckart mit dem religiösen Gemeinschaftsgedanken des Germanentums verschmilzt und dadurch zu einer folgenreichen Umgestaltung der orthodoxen Lehre entwickelt, die mit innerer Notwendigkeit die in jener herrschende Transzendenz einer Immanenz der Gottheit und ihre dieser entsprechende Einheit mit dem menschlichen Geiste, damit aber zugleich einem teilweise von den polytheistischen Zugaben der transzendenten katholischen Lehre gereinigten Monotheismus entgegenführt. So hält die deutsche Mystik an der überlieferten christlichen Tradition in dem Sinne fest, daß sie alle in dieser als objektive transzendente Wesenheiten enthaltenen Ideen in Symbole umwandelt, durch die sich die menschliche Seele das geistige Wesen der an sich eine unteilbare Einheit bildenden Gottesidee veranschaulicht.
Unverkennbar sind es die Gedanken dieser älteren deutschen Mystik, die, freilich zum Teil in veränderter Gestalt, in der deutschen Reformation des 16. Jahrhunderts wieder aufleben und die durchaus die mystische Bewegung des 13. als eine Vorläuferin erscheinen lassen, die dem gleichen religiösen Grundzug des germanischen Geistes entstammt. Ja es läßt sich nicht leugnen, daß das religiöse Bekenntnis Eckarts der Religion des Protestantismus, der Luther das Gepräge seines Geistes gegeben hat, durch die konsequente Anwendung des Symbolbegriffs, durch die er den Polytheismus der orthodoxen Kirche überwunden hatte, überlegen ist. Was bei ihm eine die göttliche Transzendenz durch eine sie ersetzende Immanenz der Gottheit in der menschlichen Seele gewesen war, das bleibt freilich bei Luther ein Nebeneinander, das in seiner Herübernahme zahlreicher Bestandteile der alten Lehre dem neuen Bekenntnis den Charakter einer bloßen Reformation, nicht einer Regeneration verleiht. Aber in zwei Punkten entspricht diese Reformation durchaus dem Wesen jener älteren deutschen Mystik: sie beseitigt in der völligen Loslösung von dem Papsttum gründlicher, als es jene getan, die darin den Charakter einer katholischen Sekte bewahrt hatte, die Herrschaft des römischen Imperiums, und sie eröffnet damit die zwei Wege, auf denen das Luthertum jene Macht der Befreiung des Geistes entfaltet hat, welche die Wissenschaft und damit die Philosophie der neuen Zeit entstehen ließ. Der eine dieser Wege ist der, daß Luther an die Stelle der Obergewalt des Papsttums die religiöse Gemeinschaft setzte, ein Schritt, der den gleichen Geist der Gemeinschaft erneuert, welcher das deutsche Altertum und die ältere deutsche Mystik beseelt hatte. Der andere entspricht, indem Luther das Gewissen des einzelnen Menschen als das Zeugnis eines unmittelbaren Verkehrs mit Gott auffaßt, nicht minder dem Grundgedanken derselben, durch den sich diese schon von anderen mystischen Geistesströmungen geschieden hatte, durch die sie aber erst durch die Loslösung von der Herrschaft einer unbedingten religiösen Obergewalt die persönliche Überzeugung zur Richtschnur des menschlichen Handelns machte. Darum, wenn man von Luther gesagt hat, er gehöre nach seiner geistigen Bedeutung weit mehr dem Mittelalter als der Neuzeit an, so mag dies für viele seiner Gedanken zutreffend scheinen. Gerade in denen, die die kommende Entwicklung des Protestantismus und seine fortschreitende Befreiung von den Banden des mittelalterlichen Denkens bewirkt haben, hat die Reformation nicht eine bloße Erneuerung des Dogmas, sondern eine neue Religion geschaffen, ebenso wie die sogenannte Renaissance nicht eine bloße Wiedergeburt, sondern in Wissenschaft und Kunst eine Neuschöpfung des modernen Geistes ist. So ist es denn auch der Geist des Protestantismus, der die kommende Philosophie hervorgebracht hat, und der in einem Descartes und Gassendi nicht weniger wie in einem Bacon und Hobbes lebendig ist; denn wenn die ersteren versichern, daß sie ihre Lehren der Autorität der Kirche unterordnen, so bleibt dies offenkundig eine äußere Formel, mit der ihre wirklichen Überzeugungen nichts zu tun haben.
Hier liegen die Quellen, aus denen das moderne Denken, natürlich nicht seinem ganzen Inhalte nach, wohl aber in den Anfängen seiner noch heute nicht abgeschlossenen Entwicklung seinen Ursprung nimmt. Ein lebendiges Zeugnis für diesen Ursprung aus der Befreiung der Geister, die der Protestantismus mit seiner die Idee der Gemeinschaft mit dem Recht der persönlichen Überzeugung vereinenden Lebensauffassung erzeugte, liegt in der Fülle der von nun an teils sich ergänzenden, teils einander bekämpfenden geistigen Strömungen, die uns in der modernen Wissenschaft und Philosophie begegnen. Dabei haben in diesem Nebeneinander und Nacheinander die aus der Vergangenheit herübergenommenen philosophischen Richtungen neue Formen angenommen. So hat sich der scholastische Realismus mit seiner auf eine transzendente Wirklichkeit gerichteten Tendenz, in dem Ontologismus eines Spinoza und in modifizierter Gestalt in dem Rationalismus der späteren Jahrhunderte in verweltlichter Form erneuert. Der scholastische Nominalismus hat sich teils in den Empirismus und den sogenannten Positivismus der neueren Philosophie fortgesetzt, teils ist er in wenig veränderter Form für jene Richtung erhalten geblieben, die die Philosophie auf rein formale und allenfalls noch praktische Aufgaben in einer außerhalb der übrigen Wissenschaft stehenden Begriffs- und Wortlogik und in einer die Grundfragen der Moral beiseite lassenden ethischen Kasuistik beschränkt. Neben allem dem ist schließlich in diesem Streit der Richtungen des modernen Denkens diejenige im ganzen die Siegerin geblieben, die den Einzelwissenschaften in der Aufstellung wie in der Lösung der philosophischen Probleme die führende Stellung anwies. Hier aber ist es aus begreiflichen Gründen um ihrer theoretisch einfacheren und praktisch unmittelbar nutzbringenden Eigenschaften willen die Naturwissenschaft gewesen, die nach dem Kampf der in der Renaissancezeit nebeneinander hergehenden geistigen Strömungen über alle anderen obgesiegt und so den Geist der neueren Philosophie vornehmlich bestimmt hat. Alle ihre Richtungen, mögen Sie nun rationalistischer oder empiristischer Art oder aus beiden Faktoren gemischt sein, bleiben, wie auf der einen Seite ein Descartes und Spinoza, auf der andern ein Locke und Hume oder schließlich der moderne Materialismus und Positivismus zeigen, im Banne eines durch die Naturwissenschaft bestimmten Denkens.
Zum erstenmal tritt uns demgegenüber in Leibniz eine moderne Erneuerung der platonischen Ideenlehre entgegen, in der zugleich die tiefsten Gedanken der deutschen Mystik, der Vergangenheit anklingen, und die in dem deutschen Idealismus des 19. Jahrhunderts fortwirkt, in welchem die Probleme der Geisteswissenschaften, vor allen anderen Staat, Recht und Gesellschaft neben Kunst und Religion, zu Hauptproblemen der Philosophie geworden sind. Hier ist es Kant, dessen epochemachende Bedeutung nicht zum wenigsten darauf beruht, daß er beides zugleich ist: Vertreter der von Newton geführten neueren Naturphilosophie und des Leibniz'schen Idealismus. In dieser Mischung der Elemente seines Denkens besteht das Wesen jenes »transzendentalen Idealismus«, wie er sein kritisches System benennt. Das weist ihm aber eine Übergangsstellung an, die seiner Philosophie unmöglich, wie es der Neukantianismus behauptet, eine endgültige Bedeutung verleihen konnte.
Darum ist es vielmehr der aus Kant seine ersten Anregungen schöpfende, aber seinen Dualismus beseitigende moderne deutsche Idealismus, der in Wirklichkeit zum erstenmal eine konsequente, auf die Grundprobleme der Geisteswissenschaften zurückgehende Philosophie entwickelt und diese im Sinne einer neuen, die zerstreuten Gedanken der älteren deutschen Mystik und der Leibniz'schen Philosophie sammelnden Richtung zu vollenden versucht hat. Fichte, nicht Kant, ist in Wahrheit der bahnbrechende Denker dieser neuen Philosophie. Wenn er selbst behauptet hatte, seine Philosophie sei nichts anderes als die Kant'ische in veränderter Form, so ist das einer jener Irrtümer, die auch sonst vorkommen, und bei denen die erste Anregung, die ein Philosoph empfängt, von ihm selbst oder noch öfter von anderen, die ihn beurteilen, mit seiner wirklichen Leistung verwechselt wird. Die Anregung zu der die drei logischen Prinzipien der Identität, des Widerspruchs und des Grundes verknüpfenden dialektischen Methode hat allerdings Fichte von Kant empfangen, aber die Art, wie er seine Wissenschaftslehre weitergebildet und noch mehr die Gedanken, die er auf ihrer Grundlage über die Probleme der Wissenschaft, Sittlichkeit und Religion sowie von Staat und Gesellschaft entwickelt hat, stehen eher im Gegensatz zu Kant's kritischer Philosophie, als daß sie eine Fortbildung derselben genannt werden könnten.
Auf Fichte hat Schelling weiter gebaut und zugleich in seiner ersten, im wesentlichen mit dem »System des transzendentalen Idealismus« abschließenden und für die weitere Entwicklung des deutschen Idealismus allein in Betracht kommenden Gestaltung seines Denkens eingegriffen. Was er zu dieser Entwicklung hinzubringt, besteht in zwei bedeutsamen Motiven. Das eine liegt in dem Rückgang auf die in den älteren Vorbereitungen des Idealismus, bei Kant namentlich in dessen Kritik der Urteilskraft und bei Leibniz in den Gedanken über den Zusammenhang von Natur und Geist gegebenen Vorausnahmen; das andere in den neuen Entdeckungen der Naturwissenschaft um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts, die er in das Ganze der idealistischen Weltanschauung einzuordnen bemüht ist. Keiner der Vertreter dieses neueren deutschen Idealismus ist wohl ungerechter beurteilt worden als Schelling, wenn man auch zugestehen mag, daß er in seinen Spekulationen die Phantasie allzu sehr vorwalten läßt, indem sie ihn von frühe an zu immer neuen Wandlungen seiner Weltanschauung weitertreibt, bis er schließlich in einer von der älteren Mystik beeinflußten Theosophie endet. Aber man hat bei der abfälligen Beurteilung, die er in der folgenden Zeit gefunden, allzu sehr vergessen, daß ein Philosoph niemals bloß von dem Standpunkt einer späteren, sondern zunächst von dem seiner eigenen Zeit gewürdigt werden muß. Und hier dürfen wir nicht übersehen, daß dieser Mann nicht nur in der Schar der Gebildeten aller Stände, darunter besonders der philosophisch gerichteten Akademiker und Ärzte, sondern auch unter hervorragenden Naturforschern, wie Oersted, J. W. Richter, Fechner, Anhänger und Nachfolger gefunden hat. Es war eine Zeit, in der die neuen Entdeckungen im Gebiet der Elektrizität und des Magnetismus, in der Physiologie der Pflanzen und Tiere die Physiker und Physiologen vor völlig neue Probleme stellten, denen die hergebrachte mechanische Weltanschauung nicht standhielt, während gleichzeitig der Entwicklungsgedanke in allen Gebieten, in den Naturwissenschaften durch den älteren Darwin und Lamarck, in den Geisteswissenschaften durch die Begründung der vergleichenden Methode in Sprachwissenschaft und Mythologie Wurzel faßte. Da war es Schelling, der allen diesen Bedürfnissen zu genügen suchte, indem er schließlich den Grundgedanken des Idealismus folgerichtig durchführte, daß die geistige Welt und als ihr letzter Abschluß die im menschlichen Geist zur Ausbildung gelangte Intelligenz die Macht sei, welche die Welt als einen allumfassenden, von der Gottheit als der allgemeinen Weltvernunft beseelten Organismus zusammenhalte. Es war ein verfrühter und, wie alles Verfrühte, in die Irre führender Gedanke, aber es war ein Gedanke, der vielleicht mit einer Art innerer Notwendigkeit aus der Lage der Zeit entsprang, die hier in Schelling ihren geistvollsten Interpreten fand. Auch ist nicht zu vergessen, daß daneben seine auf dem gleichen Wege gewonnenen geschichtsphilosophischen Ideen, seine Betrachtungen über die Aufgaben der künftigen Wissenschaft wie nicht minder seine Religionsphilosophie noch weit in die künftige Zeit herübergewirkt haben.
Daß er sich in seinem System, insoweit es auf seinen eigenen umfassenden Studien beruhte, auf das eigentliche Gebiet der Geisteswissenschaften beschränkte, das war es, was schließlich dem dritten großen Vertreter dieses neueren deutschen Idealismus, Hegel, den Vorrang über seine Vorgänger auch darin verschaffte, daß er die bleibendsten Wirkungen auf die weitere Entwicklung der Philosophie ausgeübt hat. Denn es ist Hegel, der nicht zum wenigsten eine epochemachende Bedeutung dadurch besitzt, daß er zuerst den Kant'ischen Dogmatismus in entscheidenden Punkten überwunden hat: das war einerseits der Begriff des »Dinges an sich« gewesen, der bei Kant die gesamte Erscheinungswelt einer transzendenten und als solche allezeit unerkennbaren Wirklichkeit gegenüberstellte, andererseits aber die individualistische Moral, die Kant zur schöpferischen Kraft nicht nur der gesamten sittlichen Welt erhoben, sondern als die letzte Quelle des religiösen Bewußtseins betrachtet hatte. Der Gedanke, daß eben in der Erscheinungswelt und in ihr allein die Wirklichkeit sich offenbare, verschaffte nun der Weltanschauung Hegel's jene auf die Gesamtheit insbesondere der Geisteswissenschaften herüberwirkende Macht, durch die sie sich zugleich nach den verschiedensten Richtungen, die das Bedürfnis der Zeit forderte, entwickeln konnte. So sind das orthodoxe Luthertum nicht weniger wie die liberale moderne Theologie und schließlich der aus dieser sich abzweigende Atheismus, in welchem mit dem in der Naturwissenschaft nachwirkenden Materialismus diese idealistische Entwicklung zusammentraf, aus Hegel hervorgegangen. Am tiefsten eingegriffen in das Bewußtsein der kommenden Zeiten und noch in das der Gegenwart haben aber die Wirkungen Hegel's in den beiden entgegengesetzten Richtungen der deutschen Soziologie, die in Ferdinand Lassalle auf der einen und in Karl Marx auf der andern Seite ihre Vertreter fanden. Freilich wird bei Lassalle schon der Staatssozialismus Fichte's, von dem er seine ersten Impulse empfing, durch den Kampf der Gesellschaftsklassen getrübt, in welchem er im einseitigen Interesse der Arbeiterklasse seine Agitation ausführte. Karl Marx aber ist es, der, indem er den Standpunkt egoistischer Moral, der damit bereits sich anbahnt, konsequent weiter verfolgt, zur Aufhebung der Staatsidee überhaupt und damit zum Postulat einer neuen Gesellschaft geführt wird, in welcher die bisherige Herrschaft der besitzenden Klassen durch die des besitzlosen Proletariats ersetzt werden soll.
Hiermit ist auf der Grundlage der Hegel'schen Dialektik der Individualismus in seiner extremen, bis zur Grenze des Egoismus gesteigerten Form zum Ausdruck gelangt. Als die zwei letzten Gestaltungen des in Hegel kulminierenden deutschen Idealismus des 19. Jahrhunderts sind auf diese Weise in der modernen Soziologie zwei Strömungen zutage getreten, die an sich Gegensätze darstellen, in ihrer Vermengung mit den praktischen Forderungen der Zeit aber ineinander übergegangen sind. Auf ihre letzten philosophischen Grundlagen zurückverfolgt, sind es die gleichen Gegensätze, mit denen im griechischen Altertum in dem Kampf des platonischen Idealismus mit der Sophistik der Widerstreit der philosophischen Anschauungen über das Wesen des menschlichen Zusammenlebens begonnen hatte. Denn dieser Widerstreit führt auf die Frage zurück: ist die Gemeinschaft, wie sie im Staate ihren Ausdruck findet, durch die geistigen und sittlichen Güter, die sie erzeugt, den einzelnen übergeordnet, die an ihr teilnehmen, oder ist umgelehrt die staatliche Gemeinschaft nur das Mittel, das dem einzelnen die freie Betätigung seines Willens ermöglichen soll? Das sind im letzten Grunde dieselben Fragen, die sich in dem heutigen Kampf der Parteien als die durchschlagenden und für die Zukunft der Kultur und damit zugleich der Philosophie als die vor allen anderen entscheidenden erheben.
Die Historiker des 19. Jahrhunderts pflegten die drei Hauptrepräsentanten des deutschen Idealismus, Fichte, Schelling und Hegel als die Romantiker in der Philosophie zu bezeichnen. Nichts kann aber eigentlich, wenn man die gesamte Stellung dieser epochemachenden Philosophen näher betrachtet, irriger sein als dieser Ausdruck. Höchstens Schelling berührt sich in seinen der Kunst zugekehrten Bestrebungen mit der Romantik. Fichte und Hegel stehen ihr von Anfang an eher als Gegner gegenüber, und auch Schelling's Entwicklung liegt, wenn man sie als Ganzes betrachtet, außerhalb derselben. Wenn einzelne der Romantiker von dem Idealismus, namentlich von der idealistischen Naturphilosophie beeinflußt worden sind, so hat dies mit der eigentlichen Bedeutung dieser Philosophie, die nach einer ganz anderen Seite, in erster Linie nach der geschichts- und religionsphilosophischen liegt, nur wenig zu tun. Viel eher kann man sagen, daß die romantische Literaturströmung in einzelnen jenem Idealismus abgeneigten Denkern ihren Ausdruck findet, wie etwa in Christian Krause, dem lebenslänglichen Privatdozenten, der aber immerhin trotz der phantastischen Verstiegenheit seiner religions- und rechtsphilosophischen Ideen namentlich in der juristischen Welt manche Anhänger fand. Für ihn wirkte vor anderen Heinrich Ahrens durch sein Lehrbuch des Naturrechts (1850) und durch seine auf der letzten Stätte seiner Tätigkeit, in Leipzig, gehaltenen Vorlesungen über die verschiedensten Teile der Philosophie. Bei meiner Ankunft dort, wo er kurz zuvor gestorben war, begegneten mir noch zahlreiche Verehrer dieses gemäßigten Krausianers.
Ungleich stiller und bescheidener lebte hier zu dieser Zeit noch ein Mann, der am ehesten zur Romantik hätte gezählt werden können, wäre er dazu nicht allzu selbständige Wege gegangen, überdies aber als Physiker außerhalb des Kreises der eigentlichen Philosophen gestanden. Das war Gustav Theodor Fechner, der Schöpfer der Psychophysik, der durch sein Werk »Zendavesta« oder »über die Dinge des Himmels und des Jenseits« (1851) neben zahlreichen kleineren Schriften ohne Frage die Stellung des originellsten Denkers dieses ganzen Zeitalters einnimmt. In einer Zeit, in der das öffentliche Ansehen und der Einfluß der Philosophie überhaupt im Niedergang begriffen waren, fand er aber wenig Beachtung. Seinen Fachgenossen, den Naturforschern, blieb das geistvolle Werk zumeist unbekannt, die Philosophen standen ihm verständnislos gegenüber. Wenn wir ihn heute in die Richtungen der vergangenen Philosophie einordnen wollen, so ist es vor allem die ältere Mystik, der seine Gedanken verwandt sind. Doch schlagen die Werke Fechner's ihre durch die Naturwissenschaft der Zeit beeinflußte, dabei aber in ihrem ganzen Aufbau durchaus eigenartige, mehr durch die lebendige Phantasie dieses originellen Denkers als durch die Rücksicht auf überkommene philosophische Lehren bestimmte Richtung ein. Wenn man einen diesem bedeutendsten Mystiker neuerer Zeit verwandten Denker zur Vergleichung herbeiziehen wollte, so würde es etwa Jakob Böhme, der Görlitzer Schuster des 17. Jahrhunderts sein, an den man denken könnte, so fern sich auch im einzelnen gerade durch ihre Unabhängigkeit wie nicht minder durch die Zeitbedingungen, diese beiden großen Mystiker der deutschen Philosophie stehen.
Alle diese um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Leipzig als der großen antiidealistischen philosophischen Zentrale Deutschlands, wie man damals Leipzig nennen konnte, vereinigten Richtungen überwog übrigens weitaus der Einfluß Johann Friedrich Herbart's und seiner Schule, der noch bis an die Grenze des Jahrhunderts nachwirkte. Das ist um so bemerkenswerter, als die Herbart'sche Philosophie in ihrem streng individualistischen und intellektualistischen Aufbau nicht weniger zu dem von ihr besonders heftig bekämpften Idealismus wie zu den gegen denselben gerichteten geschichts- und rechtsphilosophischen Strömungen einen scharfen Gegensatz bildet. Was aber zwischen ihnen und dem Idealismus selbst immerhin ein geistiges Band ist, das ist die Tatsache, daß alle diese schon durch die Mannigfaltigkeit ihrer Gestaltungen sich auszeichnenden Richtungen der deutschen Philosophie durchweg der Metaphysik zugewandt sind. Darum hängen, abgesehen von den nebenbei allmählich sich geltend machenden Einflüssen englischen und französischen Denkens in den spezifisch deutschen Systemen die übrigen philosophischen Probleme, vor allem Erkenntnistheorie und Ethik, eher mit dem vorherrschenden metaphysischen Gedankenkreis zusammen, als umgekehrt, wie in dieser Zeit vornehmlich in der westeuropäischen Philosophie die logischen und ethischen Fragen maßgebend für die Philosophie überhaupt sind.
Hier hat nun im Laufe des 19. Jahrhunderts eine der merkwürdigsten Umkehrungen in der allgemeinen Geltung der philosophischen Richtungen stattgefunden, die wohl jemals gesehen worden sind. Um die Mitte des Jahrhunderts war der Idealismus, wie er vornehmlich durch die drei hervorragendsten Vertreter desselben, Fichte, Schelling und Hegel, repräsentiert ist, so sehr zurückgetreten, daß er in dem ganzen Bereich der Wissenschaften fast nur noch als eine überwundene Abirrung betrachtet wurde. Jeder, der überhaupt philosophische Bedürfnisse empfand, hatte sich irgendeiner der sonst geltenden Lehren zugewandt. Namentlich von dem Herbartianismus als dem strengsten Gegner des Idealismus konnte es eine Zeitlang scheinen, als sei er dazu bestimmt, die künftige deutsche Philosophie gegenüber der Wissenschaft der anderen europäischen Völker zu vertreten. Da wandte sich plötzlich unter dem Einfluß einer zunächst nur leise beginnenden Rückkehr zu Kant völlig die Situation. Diese abweichenden Richtungen deutscher Metaphysik hatten jedoch bald ihre Rolle ausgespielt, und in dem Maße als sie im Kampfe miteinander vom Schauplatz zurücktraten, erlangten die idealistischen Strömungen, zunächst zum Teil selbst gegeneinander gerichtet, dann aber mehr und mehr miteinander in Verbindung tretend, ihr verlorenes Ansehen wieder. Schon gegen Ende des 18., vornehmlich aber vom Beginn des 19. Jahrhunderts an waren die auseinanderstrebenden Richtungen realistischer und mystisch-phantastischer Metaphysik im vollen Niedergang begriffen. Der anscheinend auf Kant weiterbauende Idealismus in seinem Zusammenhang von Fichte bis Hegel war mit einer gewissen Plötzlichkeit als der letzte große Erwerb der deutschen Philosophie seit Leibniz zur Anerkennung gelangt. Deutsche Philosophie und deutscher Idealismus begannen nun, als die einzigen in diesem Zeitalter errungenen Werte in der ganzen Zeit von Leibniz an als die großen Schöpfungen des germanischen Denkens im Gebiete der Metaphysik anerkannt zu werden, hinter denen die anderen deutschen metaphysischen Systeme beinahe als vergängliche Schattenbilder zurücktraten, zuletzt unter ihnen das System Herbart's, das nicht lange mehr dieser Neuerhebung des eigentlichen Idealismus, in welchem man schließlich doch die wahre Fortsetzung nicht bloß der Kant'ischen, sondern auch der Leibniz'schen deutschen Philosophie erkennen mußte, standhielt.
Eine einzige Gestalt machte hier vermöge der durch die eigentümliche Lage der Einzelwissenschaften gebotenen Bedingungen eine gewisse Ausnahme: das war Friedrich Schleiermacher. Seine Philosophie blieb eine längere Zeit die einzige, die namentlich dem während einer kurzen Periode omnipotenten System Hegels gegenüber im Kreise der religionsphilosophisch gerichteten Männer der Wissenschaft und daneben in gewissen innerhalb der populären philosophischen Strömungen verbreiteten Metaphysik, die dem Idealismus von mehr einheitlichen Standpunkten aus widerstrebte, eine eigentümliche, wesentlich abweichende Stellung einnahm. Es war nicht eigentlich eine einheitliche Philosophie, die Schleiermacher gegenüber den sonstigen zeitgenössischen Richtungen behauptete, sondern es war höchstens der unbestimmte psychologische Begriff des »Abhängigkeitsgefühls«, den er in sinnreicher Weise zu einer Art Verschmelzung seiner beiden Betrachtungsweisen anwandte, der bei ihm diese scheinbare Einheit bewirkte. In Wahrheit war aber sein erstes, auf das allgemeine Problem der Religion gerichtete System, wie er es in den »Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern« von 1801 dargestellt hatte, eine nebenbei nur künstlich mit der Betrachtung auch des Christentums verbundene Untersuchung des religiösen Problems überhaupt, die in dieser Jugendschrift niedergelegt war. Ein ganz anderes Ziel verfolgte dagegen sein zweites religionsphilosophisches Werk, »Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche« von 1821. In ihm handelte es sich ihm nicht um die Religionswissenschaft überhaupt, sondern er wollte, wie aus den verschiedenen Einleitungen zu diesem Werk hervorgeht, lediglich eine Darstellung der Art und Weise geben, in der er selbst seiner Aufgabe eines auf dem evangelischen Standpunkte stehenden Religionslehrers gerecht zu werden suchte. Das erste Werk war also, wie man sich wohl am treffendsten ausdrücken könnte, eine allgemeine und dabei populäre Religionswissenschaft, das zweite ein Lehrbuch der Religionsphilosophie für evangelische Theologen. Diesem Lehrbuch schlossen sich dann die übrigen seiner Schriften, neben der von ihm selbst herausgegebenen über die Sittenlehre die aus seinem Nachlaß erschienenen über die anderen Teile der Philosophie, namentlich die Metaphysik, an. So teilte sich denn auch in Wahrheit die Anhängerschaft dieses zweiseitig gerichteten philosophierenden Theologen in zwei Teile. Der eine umfaßte neben einzelnen Theologen ein allgemeineres Publikum, das der Fachtheologie ferne stand, der andere die studierende evangelische Jugend, und dem entsprechend zerfiel auch die spätere Anhängerschaft Schleiermacher's, die noch während einer längeren Zeit den Einflüssen der Wirksamkeit Hegel's die Waage hielt, nach diesen zwei Richtungen, von denen sich die eine in der allgemeinen, namentlich auch der romantischen Literatur verbreitete, während die andere streng auf die Gefolgschaft seiner christlichen Glaubenslehre beschränkt blieb. Dieser zweite Teil ist es aber, der wesentlich allein diejenige Richtung der Philosophie des 19. Jahrhunderts zusammensetzt, die man die philosophische Schule der »liberalen Theologie« nennen kann. Darum ist es im letzten Grunde vielmehr eine theologische Richtung, die sich unter dem Namen dieser Schule der wissenschaftlichen Geltung des idealistischen Systems entgegenstellt, als daß die Anhängerschaft der Schleiermacher'schen Philosophie selbst die Vertretung eines unabhängig bestehenden philosophischen Systems genannt werden könnte.
Zu allen diesen Strömungen, dem Idealismus, den ihm widerstrebenden antiidealistischen Resten vorangegangener oder gleichzeitiger metaphysischer Systeme, den Nebeneinflüssen der Theologie Schleiermachers ist nun endlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwa von derselben Zeit an, in der sich der früher erwähnte Ruf der Rückkehr zu Kant erhob, ein letzter Einfluß hinzugetreten, der der nunmehr beginnende und bis zum heutigen Tag noch nicht ganz vollendete Einfluß der Philosophie der westeuropäischen Völker zuerst allmählich vorbereitet und der dann zu einer wachsenden Zersetzung des ursprünglichen Gehalts dieser Philosophie geführt hat. Im Gegensatze zu den metaphysischen Richtungen des deutschen Denkens ist es gerade die vorherrschende Bedeutung, die in England und Frankreich, besonders in England, das sich infolge der äußeren Kultur dieses Landes sehr bald zur Herrschaft über die französische Geistesbildung erhoben hatte, die Fragen des materiellen Lebens und eben unter ihrem Einfluß die Probleme der Erkenntnis, des menschlichen Verkehrs und des sittlichen Lebens gewonnen hatten, die in ihrem Übergewicht über die im eigentlichen Sinne geistige Kultur auch in die deutsche Philosophie mehr und mehr ihren Einzug gehalten haben. Schon im 17. Jahrhundert hatte in dieser Beziehung Samuel Pufendorf als der Hauptanhänger der Lehren von Thomas Hobbes über den Ursprung von Staat und Gesellschaft der Rezeption des durch und durch individualistisch und intellektualistisch gerichteten römischen Rechts und der gesamten auf diesem Recht aufgebauten westeuropäischen Weltanschauung im Sinne der Angleichung der deutschen an diese zu wirken gesucht und vor allem in dem juristischen Gelehrtentum diesem Streben eine mächtige Gefolgschaft gewonnen. In England selbst hatte es von Bacon an bis zu Cumberland und Shaftesbury nicht an Männern gefehlt, die neben dem strengen Individualismus dem Gemeinwohl sein gebührendes Recht zuteil werden ließen. Doch über alle diese vermittelnden Richtungen hatte schließlich das in der öffentlichen Moral sie überwindende, ganz und gar auf den natürlichen Egoismus gegründete System des Thomas Hobbes den Sieg davongetragen. Es war, wie man wohl sagen darf, namentlich in der Praxis des öffentlichen Lebens, wie sie mit nur wenigen scheinbaren Konzessionen in der Philosophie John Locke's zum Ausdruck gekommen war, gleichzeitig zur allgemeinen Philosophie und zum Inhalt der Sitte und ihrer Ergänzungen durch die öffentliche Meinung und durch die praktische Religion geworden. Das gestaltete diese nun, teilweise durch die über ganz Europa sich erstreckende Aufklärungsphilosophie vorbereitet, zum mächtigsten Verbündeten einer europäischen Universalphilosophie, die bei den Philosophen ihre etwaigen Sonderrichtungen begleitete, in der öffentlichen Meinung aber mehr und mehr zur wirklichen Universalphilosophie geworden ist. Konnte sich doch selbst ein Leibniz, so sehr er die geistigen Güter fortan als die höchsten rühmte, die auch der Staat zu fördern habe, doch in dem einen Punkte der überwältigenden Macht der von der Pufendorf'schen Schule ausgehenden unitarischen Bewegung nicht entziehen, daß er das strenge Recht (Jus strictum) als die schließlich maßgebende Norm für alles menschliche Handeln anerkannte, neben der er die beiden anderen Motive, die Billigkeit (Aequitas) und die Frömmigkeit (Pietas), als die zwar mehr äußerlichen auffaßte, sie aber doch als ihre notwendigen Ergänzungen anerkannte. Damit ist schließlich der Zustand erreicht worden, den heute mehr noch als die deutsche Philosophie die deutsche Ethik namentlich in ihrer Gestaltung im öffentlichen Leben gewonnen hat, und in der sich die Überwältigung des deutschen Idealismus durch den Individualismus der an Kultur älteren europäischen Nationen bekundet.
Die Frage, ob die Gemeinschaft früher als der einzelne sei und darum diesem die Normen vorzuschreiben habe, die für die Zwecke des Einzellebens maßgebend sind, oder ob der einzelne früher als die Gemeinschaft und darum diese sich nach den Zwecken zu richten habe, die für die Erhaltung und Förderung des Einzellebens nötig sind, steht am Anfang der Philosophie. Sie wird von der Sitte, die ursprünglich im Leben selbst aller Philosophie vorausgeht, im Sinne der unbedingten Überordnung der Gemeinschaft über den einzelnen und zugleich in dem der Übereinstimmung beider, der individuellen und der gemeinschaftlichen Lebenszwecke entschieden. Mit dem Zweifel an der Gebundenheit des individuellen Handelns an die Normen der Gemeinschaft und mit dem auf die Wiederherstellung der ursprünglichen Unterordnung des einzelnen unter den Gesamtwillen gerichteten Streben beginnt daher alle Philosophie als ein Streit dieser beiden Anschauungen, und um die Entscheidung dieses Streites bewegt sich im tiefsten Grunde die ganze Entwicklung derselben. Aber auf lange hinaus tritt dieses früheste Problem in den Hintergrund, indem die wechselnden Einflüsse der Kultur selbst zu den das menschliche Denken beherrschenden Problemen werden und die nach ihnen orientierten Anschauungen des Laufs der Dinge jenes Problem aller Probleme zurückdrängen, um dabei zugleich Motive hervorzubringen, die der subjektiven Überordnung des einzelnen über die Gemeinschaft derart das Übergewicht verschaffen, daß der letzteren höchstens ein beschränkter Umfang von Normen übrigbleibt, die der einzelne als objektiv maßgebend und darum als zwingend für ihn selbst anerkennt. Diese Anerkennung bewegt sich aber wieder bei den verschiedenen Individuen, da die Philosophie ein Ausdruck individueller Überzeugungen bleibt, innerhalb eines weiten Spielraums. Doch ist es eine Richtung, die in dem Fortschritt der Kultur unverkennbar infolge der Macht, welche die äußere, materielle Kultur gegenüber dem inneren Wert der Kulturgüter ausübt, die herrschende Bedeutung gewonnen und schließlich in der Gegenwart den das praktische Leben bestimmenden Weltanschauungen ihr Gepräge gegeben hat, dergestalt, daß man die Geschichte der Ethik nahezu als eine Geschichte der allmählichen Umwandlung des ursprünglich durch die Sitte die menschliche Gemeinschaft beherrschenden Gesamtwillens in eine ebenso unbedingte oder nur dürftige Reste des ursprünglichen Zustandes zurücklassende Herrschaft des Individualwillens bezeichnen kann.
Diese einseitige Richtung, welche die Ethik überhaupt, namentlich aber in den praktischen Fragen des Lebens durch Jahrhunderte hindurch einschlug, hat nicht zum wenigsten ihre Quelle darin, daß in der Wissenschaft wie im Leben die äußeren, auf die Beherrschung der Natur gerichteten Fortschritte der Kultur in dieser wieder die überwiegenden gewesen sind. Demzufolge hat auch die dem materiellen Fortschritt in erster Linie dienende Wissenschaft, die Naturwissenschaft, die philosophischen und mit ihnen die ethischen Richtungen bestimmt, während die daneben vorhandenen Interessen an den geistigen Gütern als für sich bestehende, darum aber auch im Grunde ethisch gleichgültige Werte betrachtet wurden. In nichts spricht sich wohl diese unabwendbare Macht, mit der sich im Lauf der Geschichte der Individualismus gegenüber der Anerkennung der notwendigen Überordnung der Gemeinschaft durchgesetzt hat, deutlicher aus als in der Verlegenheit, die es uns bereitet, wenn wir gegenüber der Selbstverständlichkeit, mit der heute der Individualismus seine Stellung errungen hat und fortan behauptet, einen entsprechenden allgemeingültigen Ausdruck für jene Überordnung der Gemeinschaft finden sollen. Würde doch für diesen Gegensatz der Begriff des Sozialismus an sich vielleicht der angemessenste sein. Aber wie schon Karl Marx und Friedrich Engels für die spezifische Richtung, die bei ihnen die sozialistische Tendenz gewonnen, diesen Ausdruck verwarfen, um in ihrem Manifest von 1848 dem Wort Kommunismus den Vorzug zu geben, so ist in der kurzen Zeit der Verkündung dieses Manifests verflossenen Zeit das Wort Kommunismus womöglich noch unhaltbarer geworden, weil es durch seine ausschließlich gegen den Kapitalismus oder die Vorherrschaft des Besitzes gerichtete Spitze einen zwischen den verschiedensten Bedeutungen schwankenden Inhalt gewonnen hat. So bliebe allenfalls noch das Wort Kollektivismus übrig, weil es in Wahrheit unter den zur Wahl gestellten Begriffen vielleicht am wenigsten verbraucht ist. Gleichwohl besteht die Gefahr, daß auch ihm dieses Schicksal in der Zukunft bevorstünde. Darum hat die Philosophie für den gleichen Gegensatz mit einem sicheren Instinkt die Bezeichnung herausgegriffen, welche nach derjenigen philosophischen Weltanschauung benannt ist, die zum erstenmal in der Geschichte diese unbedingte Überordnung der Gemeinschaft über die Einzelpersönlichkeit zum entscheidenden Ausdruck gehracht hat; das ist die platonische Ideenlehre, aus der in diesem wesentlichen Punkte der Idealismus in seinen Hauptgestaltungen hervorging und bis zum heutigen Tage diese Bedeutung bewahrt hat. Wohl hat es auch in der Geschichte des Idealismus nicht an Abweichungen gefehlt, die bestrebt waren, diese ursprüngliche Wurzel desselben in den Hintergrund zu drängen oder ganz zu beseitigen: so in dem ausschließlich nach seiner psychologischen Bedeutung orientierten Idealismus eines Berkeley oder in dem nach seiner transzendenten Metaphysik sogenannten transzendentalen Idealismus eines Kant. Aber durch diese vereinzelten Abweichungen konnte doch die Hauptbedeutung der platonischen Ideen, die eben in jener Überordnung besteht, wie sie eindringlich Plato's Werk über den Staat verkündet, niemals aufgehoben werden. Darum sind für uns Individualismus und Idealismus die wahren Gegensätze geworden, um die sich heute noch der alte, dereinst zwischen der Sophistik und dem ursprünglichen Bekenntnis der sokratischen Schule entstandene Kampf bewegt. Denn dieser Kampf hatte in dem Streben dieser Schule nach der die ursprüngliche Sitte der Völker wieder belebenden Weltanschauung seine ursprüngliche und in den späteren Wiederholungen dieses Kampfes gegen den sophistischen Idealismus seine immer wieder sich erneuernde Quelle.
Der erste Schritt zu dem Siege, den der Individualismus über den Idealismus in der Weiterentwicklung der griechischen Philosophie gewonnen hatte, bestand in dem Übergewicht, das der Realismus der aristotelischen Ethik namentlich in der zur Herrschaft gelangten nikomachischen Ethik in der Folgezeit errang. Denn die Tendenz dieser Ethik liegt in der völligen Indifferenz gegenüber jenem Hauptmotiv des platonischen Idealismus. Mit Recht ist diese Tendenz eine rein empirische genannt worden, und in diesem Sinne kann wohl von ihr gesagt werden, daß sie den Staat zu den selbstverständlichen, von außen gegebenen, durch die Bedingungen des politischen Lebens entstandenen Gütern zählt, und daß daher Aristoteles, wenn er die eigene Arbeit des Menschen neben der Gunst der äußeren Bedingungen als ein wesentliches Hilfsmittel betrachtet, das zur Verwirklichung der Glückseligkeit diene, damit auch den platonischen Idealismus als eine letzte, aber jenseits der Ethik liegende metaphysische Voraussetzung festhält. Dagegen ist dem Wandel der Kultur, wie er vornehmlich auch in der Entwicklung der politischen Ordnungen zutage tritt, die Sittlichkeit selbst unterworfen, und es kann daher nicht davon die Rede sein, daß sie an sich bestimmte Normen enthalte, nach denen sich das Zusammenleben in Staat und Gesellschaft dauernd zu richten habe. Greifen doch bei Aristoteles die ethischen Gegensätze des Guten und Schlechten auch in ihre Erscheinungen, wie die Herrschaft der Tyrannis und der Ochlokratie zeigen, überaus bedeutsam ein, so daß hier ein normativer Wert solcher Formen gegenüber der individuellen Ethik, in der für ihn der Wert der Ethik überhaupt besteht, nicht in Betracht kommen kann. Schritt für Schritt weiter rücken in der Geltendmachung dieses Standpunktes der Indifferenz des Sittlichen gegenüber den Zwecken der Gemeinschaft die späteren Schulen der griechischen Philosophie. So zunächst der Kynismus in dem rein negativen Verhältnis, das er der Ethik gegenüber dem gemeinsamen Leben durch den Standpunkt der relativen Gleichgültigkeit des politischen für den einzelnen anweist. Ihm folgt in der Erweiterung der Begriffe der Stoizismus, indem er zwei Begriffe als die Grenzpunkte der sittlichen Stufenreihe ansieht, in der sich das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen, zu dem er gehört, ausprägt: die individuelle Persönlichkeit als Naturwesen auf der einen und die Gemeinschaft in ihrem allgemeinsten, die ganze Menschheit umfassenden Sinne auf der andern Seite. Wie daher nach ihm logisch der Einzelbegriff und der allgemeine Begriff des Seins einander fordern, so ethisch das Individuum und die Menschheit, in der sich das Ganze der Natur und mit ihm die Gottheit zur Einheit verbinden.
Erweitert sich so die aristotelische Auffassung in der Lehre des Stoizismus derart ins Unbegrenzte, daß damit zugleich die Forderung der Glückseligkeit als ein ganz den zufälligen schwankungen des Naturlaufs überlassender Bestandteil verschwindet, so wird vollends der Staat zu einem zufälligen Gebilde, und die Gemeinschaft bleibt nur in jenem höchsten Sinne bestehen, in welchem sie für die Beziehung des Menschen zum Menschen oder für die des einzelnen zur Menschheit ihre letzte Grundlage hat, die auch hier wieder eine metaphysische ist. Hat sich in dem Stoizismus das Sittliche selbst zu einem unbestimmten Begriff verflüchtigt, in welchem als der feste Punkt, der dem individuellen Handeln seine Ziele anweist, nur die Beziehungen der einzelnen zu einander übrig geblieben sind, so bringt nun demgegenüber das System Epikurs diesen als unvertilgbaren Rest zurückgebliebenen Individualismus unmittelbar und, darin dem Kynismus verwandt, als positive Forderung zur Geltung, indem es zu der Idee der individuellen Glückseligkeit als dem entscheidenden ethischen Grundbegriff zurückkehrt. In diesem Sinne greift es aus den Beziehungen, in denen im Zusammenleben der Menschen der einzelne zum einzelnen stehen kann, diejenige heraus, die in den Traditionen der griechischen Sitte sich allen Gemeinschaftsbegriffen gegenüber als eine dauernde und der Freiheit des einzelnen den unbeschränktesten Spielraum gewährende erhalten hat: die der Freundschaft des Menschen zum Menschen. Nicht mit der unbegrenzten Gesamtheit der Menschen, sondern mit der eng begrenzten, ihm gleich gesinnter in beglückender Übereinstimmung zu leben, ist ihm das Ziel menschlichen Strebens, und hier trifft ihm dieses Streben mit den Naturgesetzen zusammen, die sich in den konkreten Erscheinungen der Natur als die wirksamen Naturkräfte erweisen. So wird für Epikur die Naturphilosophie Demokrit's zu der seine ethische Lebensanschauung ergänzenden und, wie man auch aus Demokrit's uns erhaltenen ethischen Aussprüchen schließen darf, innerlich mit seiner hedonistischen zusammenhängenden Lebensauffassung. Denn unter diesem Gesichtspunkt ist nicht etwa, wie die überlieferte Geschichte der Philosophie anzunehmen pflegt, die Glückseligkeitslehre Demokrit's eine zufällige Begleiterscheinung seiner Atomistik, sondern eine notwendige Anwendung der in dieser zum erstenmal zur Durchführung gelangten unbeschränkten Geltung des Naturbegriffs für das menschliche Leben.
Ist bis dahin die griechische Ethik ein Spiegelbild des Verlaufs der griechischen Kultur überhaupt, so bleibt aber in ihr ein dauernder Charakterzug bestehen, der, nachdem zuerst Aristoteles die sittlichen Ideen vom Himmel auf die Erde verpflanzt hatte, auf jeder der Stufen der griechischen Kultur wiederkehrt und so als der bleibende Zug des Griechentums selbst betrachtet werden kann. Er besteht subjektiv in der Glückseligkeit als dem Zweck des sittlichen Strebens, objektiv hat er seinen Sitz in der menschlichen Seele. Damit ist nun aber zugleich die Sittlichkeit als ein Gebiet bezeichnet, das an sich, da in der Seele das Gute und das Böse, Glück und Unglück als wechselnde Bestandteile vereint sind, das Sittliche dem Reich des ewig Dauernden entzieht, in welches ihn der platonische Idealismus erhoben hat. Mit dem Menschen selbst ist das sittliche Leben in das Gebiet der schwankenden und wechselnden Erscheinungen verwiesen, welche die empirische Welt zusammensetzen. Damit drängt die griechische Ethik bei ihrem Ende wiederum einer befriedigenden Lösung dieses Widerspruchs mit ihrem Ausgangspunkt zu, und sie findet schließlich diese Lösung in der inmitten dieser empirischen Widersprüche sich immer und immer wieder hervordrängenden Verbindung des äußeren Handelns mit der Gottesidee, also in der Rückkehr zu einer Grundlage, in der sich der platonische Idealismus als das Unveränderliche in allem Wechsel dieser Wandlungen erhält. So lenkt die griechische Ethik bei ihrem Ende mit innerer Notwendigkeit zu ihrem Ausgangspunkte zurück. Sie wird im Neuplatonismus zur religiösen Stimmung, die sich gegen alle Schwankungen des äußeren Lebens und der seelischen Erregungen als das unabänderlich Dauernde behauptet, und hier findet der neue Idealismus in der neuen Religion, die sich ihm in dem Christentum als die Siegerin im Kampfe der religiösen Richtungen der Zeit offenbart, jene Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, die einst der platonische Idealismus in der Volkssitte mit dem sie tragenden religiösen Kultus gefunden hatte.
Doch die weltlichen Motive, die das wirkliche Leben durchdringen und die die antike Philosophie in die verbreiteten philosophischen Weltanschauungen hinübergetragen hatte, ließen sich nicht auf die Dauer zurückdrängen. Indem der Nominalismus welcher den platonisierenden scholastischen Realismus bekämpfte, die transzendenten Ideen mehr und mehr, wie der Wechsel des Namens es andeutet, durch Mächte der sinnlichen Wirklichkeit ersetzte, wandelte sich das Christentum in eine Religion um, die an sich einer übersinnlichen Welt angehörte und als solche auch die sittlichen Gesetze in diese übersinnliche Welt verwies. Für die Beziehung dieser übersinnlichen Welt der Religion zum menschlichen Denken und Handeln, die zuerst mit folgerichtiger Klarheit der aristotelische Realismus als den alleinigen Inhalt des Sittlichen bezeichnet hatte, blieben nur zwei Wege offen: der eine, den schließlich das katholische Glaubenssystem als den unbedingt gebotenen feststellte, betrachtet die innerhalb der sinnlichen Welt wirksame Religion als eine dieser Welt selbst angehörige, die in der Autorität der Kirche als der Stellvertreterin und Verwalterin der übersinnlichen religiösen Güter auch das Richteramt über das sittliche Denken und Tun des Menschen zu üben habe. Indem die Reformation diesen Zwang der Autorität aus dem sittlichen Leben verbannte, blieb ihr dann wieder ein doppelter Weg übrig, der von ihren verschiedenen Konfessionen und deren Vertretern eingeschlagen wurde. Sie konnte in die religiöse Gemeinschaft, die in diesem Fall zugleich als eine sittliche betrachtet wurde, die Wahrung der sittlichen Gesetze verlegen: diesen Weg ist der Calvinismus gegangen und hat daraus dann die weitere Folgerung gezogen, daß er, dem Beispiel der in der Gesamtkirche zur Herrschaft gelangten individualistischen Ausprägung des Autoritätsprinzips folgend, den Willen der religiös-sittlichen Gemeinschaft einem persönlichen, dem Papsttum in kleinerem Umfange nachgebildeten Gemeindehaupt übertrug. Oder sie konnte, wie es der Protestantismus Luthers tat, das sittliche Gewissen des einzelnen Menschen zum Richter über sein Denken und Handeln erheben. Seine letzte philosophische Gestaltung hat dieser Standpunkt der sittlichen Freiheit des einzelnen in dem kantischen Idealismus gefunden, der die Gottesidee und das Sittengesetz in dem Sinne zur Einheit verband, daß ihm das Sittengesetz selbst als das entscheidende Zeugnis für die transzendente Wirklichkeit der Gottheit galt.
Nachdem die antike Wissenschaft in ihrer Rückkehr zur Einheit von Religion und Sitte auf der einen und zum platonischen Idealismus auf der andern Seite ihren Kreislauf vollendet, hat aber mit dem Sieg des Christentums und der Wiedererstehung einer dem religiösen Bewußtsein angepaßten Erneuerung des platonischen Idealismus eine Wiederholung dieses Kreislaufs in der deutschen Mystik und in dem Protestantismus begonnen. Sie setzt in der Renaissanceperiode ein, und wir sind noch heute in ihr begriffen, ohne ihren Abschluß anders als in dem Sinne voraussagen zu können, daß auch er dereinst einmal nur unter der Erhaltung der bleibenden Güter des menschlichen Lebens eintreten kann. Der Beweis für dieses Ende, das demnach entweder eine Erneuerung oder einen Untergang der Kultur bedeuten würde, liegt nun gerade in jenem Verhältnis zwischen den subjektiven und den objektiven Kulturwerten, die in der modernen Kulturentwicklung und demzufolge in der Geschichte der neueren Philosophie in fortwährend sich steigerndem Maße zum Ausdruck kommen. In dem aller Entwicklung immanenten Gesetz, daß die sinnlichen Substrate des geistigen Lebens die geistigen Inhalte vorbereiten müssen, wie es uns in dieser ganzen Entwicklung in der lange dauernden Herrschaft der Naturbegriffe über die Philosophie entgegentritt, liegt es aber begründet, daß auch die subjektive Schätzung der Lebensinhalte, die zunächst alle ethischen Werte beistimmt, ihre Maßstäbe den subjektiven Wirkungen entnimmt, die das äußere Leben in den materiellen Inhalten des Daseins auf das Leben des einzelnen ausübt. Darum bleibt alle Ethik, solange die Normen, nach denen sie sich richtet, rein auf sich selbst gestellt sind, notwendig der individuellen, also der subjektiven sinnlichen Schätzung der sittlichen Werte anheimgegeben. Damit ist zugleich gesagt, daß die Ethik aus sich selbst oder aus dem, was sie etwa als unmittelbare Inhalte sittlicher Gesetze feststellen könnte, niemals einen Aufschluß über den wahren Inhalt des sittlichen gewinnen kann, sondern daß sie diesen als einen objektiv gegebenen, damit aber als eine Voraussetzung anerkennen muß, aus der sie erst die weitere Entwicklung der sittlichen Gesetze zu schöpfen hat.
Auf dieser Grundlage habe ich es versucht, in meiner »Ethik« vom Jahre 1886 (4. Aufl. 1912) die Normen zu entwickeln, die innerhalb der verschiedenen sittlichen Lebensgebiete als individuelle, soziale und humane unterschieden werden können. In dieser Einteilung liegt ausgesprochen, daß die humanen Normen diejenigen sind, die in einer solchen der Ethik selbst entlehnten Einteilung die letzte und gerade darum aber in ihrem die ganze Ethik beherrschenden Werte die entscheidende Stellung einnehmen, weil von ihnen aus alle übrigen in ihrer Richtung unabänderlich bestimmt sind. Indem jede sittliche Norm eine objektive und eine subjektive Seite hat, wobei jene, abstrahierend von der in alles menschliche Handeln eingehenden subjektiven Schätzung, den rein objektiven Wert des sittlichen Handelns feststellt, ist es aber dieser objektive Begriff, der schließlich über die Ethik selbst hinausweist, und den diese ihrerseits nur als ein gegebenes aus ihr niemals abzuleitendes Ideal zu betrachten hat. Ich habe diese höchste, außerhalb ihrer liegende Norm in dem Satz ausgedrückt: Du sollst dich selbst dahingeben für den Zweck, den du als deine ideale Aufgabe erkannt hast. Schon die subjektive Ergänzung, die diesem objektiven ethischen Wert gegenübersteht, und die den einzelnen nötigt, sich als Werkzeug im Dienste jenes Ideals anzusehen, führt demnach erst in die eigentliche Ethik, indem sie auf die einzelnen Gebiete hinweist, innerhalb deren dann weiterhin die einzelnen sittlichen Gesetze nach ihrem Werte sich abstufen: so zunächst die Idee der Gemeinschaft, die den einzelnen als das ihm übergeordnete Pflichtgebiet umgibt, und dann die des Nebenmenschen, dem er als gleichberechtigtes und gleichverpflichtetes Glied dieser Gemeinschaft gegenübersteht. Die Ethik für sich allein kann niemals weiterkommen, als bestenfalls empirisch auf den überwiegenden Wert auch in subjektiver Hinsicht hinzuweisen, den hier die geistigen Güter des Lebens deshalb einnehmen, weil sie von den Mängeln frei sind, die den materiellen Hilfsmitteln anhaften.
Dies hat jedoch die unausbleibliche Folge, daß die neuere Wissenschaft in ihrem Suchen nach einem der Ethik selbst zu entnehmenden Prinzip um so mehr scheitern muß, je umfassender die sittlichen Güter werden, welche die Kultur mit sich führt. Denn die geistigen als die spezifisch sittlichen Güter werden nun immer und immer wieder mit jenen unabänderlich gegebenen metaphysischen Voraussetzungen alles sittlichen Lebens, sondern den sekundären Inhalten entnommen. So eröffnet sich hier jener Streit der sittlichen Weltanschauungen, welcher daraus entspringt, daß die erst in der Reflexion auf das einzelne Handeln wurzelnden Triebfedern desselben als autonome Grundvoraussetzungen alles Sittlichen anzusehen sind. Sie sind aber in Wahrheit eben nicht dieses, sondern sie stellen vielmehr nur eine fortan mit dem Wachsen der Kultur zunehmende Fülle von Motiven dar, die von der wahren metaphysischen Grundlage des Sittlichen ablenken, um an die Stelle dieser irgendwelche einzelne empirische Kulturinhalte und die äußeren Motive ihrer Entstehung zu setzen. Jedes dieser Motive ist dann aber wieder gemäß dem allgemeinen Charakter des sittlichen Handelns, daß es aus dem Willen des einzelnen entspringt, ein individualistisches, weil ihnen allen das Merkmal gemeinsam ist, daß sie sich auf das individuelle Handeln beziehen. So liefert die neuere Philosophie zahlreiche Antriebe, die sämtlich darauf ausgehen, die Ethik ihren objektiven Grundlagen zu entfremden, um ihnen jene nur äußerlich der Sittlichkeit zugänglichen Antriebe zu substituieren, die aus den wechselnden Richtungen der subjektiven Bevorzugungen nebensächlicher Kulturmomente entspringen. Ihrer aller resultierende Wirkung ist dann mit innerer Notwendigkeit der Sieg der egoistischen und in weiterer Konsequenz bestenfalls rein individualistischen Lebensmaximen über alle objektiven geistigen Güter, ohne die diese Maximen ihren Wert notwendig verlieren. In diesem Sinne verbindet sich dann regelmäßig zugleich der ethische Individualismus mit dem durch die herrschenden Richtungen der Philosophie gepflegten Intellektualismus, der natürlich gerade da am meisten versagt, wo er über seinen eigenen Ursprung und über die allgemein menschlichen Zwecke dieses Ursprungs Rechenschaft geben soll.
In nichts tritt dies deutlicher zutage als in denjenigen Richtungen der Philosophie, die den Versuch gemacht haben, in ähnlichem Sinne, wie dies in der antiken Wissenschaft zuerst Aristoteles durch seine Theorie der sittlichen Affekte getan hat, aus dem Gefühlslehen als einer besonderen, der allezeit egoistischen Intelligenz gegenüberstehenden spezifisch ethischen Anlage des Menschen dem Sittlichen seine Stellung anzuweisen. Besonders charakteristisch ist hier vor andern die englische Moralphilosophie in ihrer Entwicklung von Shaftesbury und Hutcheson an bis auf die spätere in David Hume und Adam Smith kulminierende schottische Moralphilosophie. Hier ist überall dem sittlichen Gefühl sein selbständiger und im allgemeinen dem natürlichen Egoismus widerstreitender Charakter in einem altruistischen Sympathiegefühl gewahrt. Aber dieses Gefühl hat an sich mit den natürlichen und darum allein wirklichen Motiven des menschlichen Handelns, die ausschließlich aus der Verbindung von intellektuellen und egoistischen Antrieben stammen, überhaupt nichts zu tun. Wenn daher von den deutschen Beurteilern dieser Philosophen nicht selten ihre Lehren in der Weise interpretiert worden sind, daß man annahm, beide, Intelligenz und Gefühle seien gleichberechtigte und darum eventuell einander kompensierende sittliche Mächte, so gibt sich das deutlich darin als ein Irrtum zu erkennen, daß bei den Vertretern der schottischen Gefühlsmoral, in denen jene Entwicklung kulminiert, dem praktischen Leben gegenüber ein solcher Standpunkt nicht die geringste Geltung hat. Für Hume wie für Smith hat als natürliches und darum für das praktische Leben allein maßgebendes, also sittliches Prinzip des Handelns nur der egoistische oder höchstens, insoweit es sich um den Egoismus der Nationen in ihrem wechselseitigen Verkehr handelt, der erweiterte individualistische Standpunkt der nationalen Macht eine die wirkliche Welt beherrschende Geltung. In der Tat entspricht dies auch nicht nur der Wirkung, die das abschließende System dieser Richtung, die Theorie von Adam Smith, auf die Folgezeit geübt hat, und in der diese in voller, von der theoretisch sie begleitenden psychologischen Gefühlsmoral scheidenden Form von Ricardo ausgebildet worden ist, sondern in der sie auch von der gesamten nationalökonomischen Wissenschaft bis zum heutigen Tage verstanden wird. Ich habe noch keinen Vertreter der Volkswirtschaft kennengelernt, der der Gefühlspsychologie von Adam Smith irgendeine Stellung innerhalb seiner ökonomischen Theorie angewiesen hätte; ich habe dagegen manche kennen gelernt, die sie überhaupt nicht gelesen hatten.
Aus der klassischen auf den reinen Egoismus gegründeten Ethik des menschlichen Verkehrs und der Motive des praktischen menschlichen Handelns von Adam Smith und seinen Nachfolgern ist als letztes Erzeugnis dieser Ethik diejenige hervorgegangen, die sich wohl als die den heutigen Standpunkt der individualistischen Ethik am treuesten widerspiegelnde Phase dieser Entwicklung betrachten läßt: die Moralphilosophie Jeremias Benthams. Sie ist von einem Nachfolger Benthams, von John Stuart Mill, zuerst als die Ethik des Utilitarismus oder der Nützlichkeitsmoral bezeichnet worden. Ihr ethisches Grundprinzip lautet: handle so, daß die Maxime deines Handelns darauf gerichtet ist, möglichst viel Glück hervorzubringen. Das ist das berühmte Prinzip der »Maximation der Glückseligkeit«, und es soll in dem Grundsatz aller Gesetzgebung seine Wurzel haben, nach welchem dieses Streben nicht darin bestehe, daß das Glück nicht bloß für ein einzelnes Individuum und nicht einmal für einen beschränkten Teil der Menschheit, sondern in seiner Ausdehnung auf die Gesamtheit der Menschen, gleichgültig welcher Kultur und welcher Nation sie angehören, Geltung besitze. Seine Beleuchtung empfängt dieses Gesetz durch zwei weitere Voraussetzungen, die in den spezifisch ethisch gerichteten Schriften Benthams ausdrücklich betont sind: erstens darin, daß unter der Gesamtheit der Menschen im Anschluß an die englische Glückseligkeitsmoral lediglich die Summe aller einzelnen Menschen zu verstehen ist, und zweitens darin, daß das Einzelglück immer als ein sinnliches, also durch materielle Hilfsmittel zu erreichendes Gut anerkannt wird, weil andere Güter jedenfalls in Leben und Verkehr und so vor allem auch in der für die Menschheit gültigen allgemeinsten Gesetzgebung nicht in Betracht kommen. Bentham hat dieser Voraussetzung einen entscheidenden Ausdruck gegeben, indem er in einer seiner ethischen Hauptschriften ein Hilfsprinzip aufstellte, das insbesondere für alles äußere Handeln maßgebend sein soll. Dieses Hilfsprinzip besteht darin, daß das allgemeinste Maß des Glücks, das wir uns selbst oder einem andern verschaffen können, in dem Geldwert bestehe, durch welchen dasselbe erworben oder ersetzt werden könne. Dies schließe daher als letzte Folgerung insbesondere für den Gesetzgeber die ein, daß diejenige Gesellschaftsordnung die beste sei, welche auf die möglichste Gleichheit des Besitzes aller einzelnen ausgehe. Freilich gilt das immerhin nur als ein ideales, höchstens annähernd zu erreichendes Ziel, weil seine wirkliche Erreichung im buchstäblichen Sinne mit dem allgemeinen Friedenszustand der Gesellschaft, der hierbei wegen der natürlichen Konkurrenz der einzelnen in Gefahr geraten würde, nicht erreichbar sei, wenn auch so weit als immer möglich erstrebt werden müsse.
Für die tatsächliche Bedeutung, welche das Bentham'sche Moralprinzip in der heutigen Gesellschaft behauptet, ist es nun im höchsten Grade bemerkenswert, daß ein deutscher Philosoph im Laufe des letzten Krieges den Mut gefunden hat, nicht nur die Bentham'sche Schrift über die Grundsätze eines künftigen Völkerrechts, die sich auf diese Moral in den übrigen Schriften des hervorragenden englischen Juristen stützt, zu veröffentlichen, sondern auch zu behaupten, daß sie an theoretischem wie praktischem Wert der Moral Kant's eigentlich überlegen sei, weil Bentham alle Menschen, nicht bloß den einzelnen, der in seinem Gewissen und allenfalls noch in der Religion, zu der er sich bekennt, das Regulativ seines Handelns finde, als die Träger einer objektiven Sittlichkeit betrachtet. (Oskar Kraus, Jeremy Benthams Grundsätze für ein künftiges Völkerrecht und einen dauernden Frieden, 1915.) Die deutsche Philosophie hat mit dieser Verbeugung vor dem englischen Utilitarismus, mit der sie dessen Superiorität über die deutsche Wissenschaft anerkennt, eigentlich schon vorausgenommen, was die Waffenstillstands- und Friedensverträge unserer Regierungen in die Tat umgesetzt haben, indem sie unbedingt die Maximen, welche die Völker der Entente, bei denen man in der Wirklichkeit die Prinzipien der Bentham'schen Moral und Gesetzgebung als die herrschenden betrachten darf, auch uns Deutschen gegenüber als selbstverständliche, auch für uns gültige anerkennt.
Daß die Moral Benthams in ihren praktischen Folgerungen, vor allem aber in dieser materialistischen Begründung ein krasser Widerspruch gegen jede ernste sittliche Anschauung ist, hat niemand energischer betont als ein Landsmann Benthams: Thomas Carlyle. Seine Stimme ist aber ungehört verhallt, und wenn Carlyle in dem deutschen Geist die Hilfe gesucht hat, die ihm als das geeignete Gegengift gegen die landläufige Herrschaft des Utilitarismus erschien, so hat er sich darin nicht nur im Hinblick auf seine Nation in einem schweren Irrtum befunden. Die Sklaverei, in die sich die deutsche Kultur in der Wertschätzung der wahren Güter des Lebens gegenüber der in ihrer Wurzel egoistischen und im besten Falle unbeschränkt individualistischen Philosophie begeben, hat lange zuvor schon in Deutschland in der weiten Verbreitung des Utilitarismus ihren Ausdruck gefunden. Besonders ist das in der Form geschehen, in welcher dieser bei uns eingeführt wurde und in der er schon in England eine Kompensation seiner materialistischen Folgerungen zu gewinnen versucht hatte. Dies ist vor allem dadurch vermittelt worden, daß der Schriftsteller, der dem Utilitarismus seinen Namen gegeben, John Stuart Mill, ihn ergänzen zu können meinte, indem er neben den nach Geldwerten zu schätzenden Lebensgütern auch solche als zulässig bezeichnete, für die, weil sie rein geistige Güter seien, dies nicht zutreffe. In dieser nachträglichen Kompensation wiederholt sich aber nur dieselbe Erscheinung, die uns schon in der schottischen Philosophie entgegengetreten ist. Wie bei Adam Smith das Sympathiegefühl ein für sich bestehendes Motiv blieb, das auf die praktischen Folgerungen seines Systems des egoistischen Wirtschaftslebens gar keinen Einfluß ausübte, so herrscht überall da, wo im praktischen Leben der Utilitarismus zur Geltung gelangt ist, in Wahrheit dieser in der ursprünglichen Bentham'schen Form. Daß sich darin die deutschen Philosophen, die für die Verbreitung des Utilitarismus eingetreten sind, einer Selbsttäuschung hingaben, wird schwerlich zu bezweifeln sein. Aber ebensowenig wird sich bestreiten lassen, daß in der Wirkung auf die allgemeinverbreiteten sittlichen Anschauungen überall, auch bei uns, schließlich doch nur die materialistischen Grundanschauungen, wie sie in ihren von diesen nachträglichen Zugaben unabhängigen Sätzen Bentham formuliert hat, übrig geblieben sind.
Daß auch Bentham, obgleich er sich ausdrücklich in seinem System der Glücksgüter auf die materiellen Werte beschränkt, nach einer gewissen Kompensation gesucht hat, wird sich übrigens nicht bestreiten lassen. Nur ist diese freilich noch ungenügender als die durch Mill eingeführte der nebenhergehenden geistigen Werte. Sie besteht nämlich darin, daß er nachdrücklich die objektive Allgemeingültigkeit der womöglich durch die Gesetzgebung herzustellenden Gleichheit der Güter oder mindestens des Rechtes auf dieselben betont. Nicht bloß die eigene Nation in allen ihren Mitgliedern, unabhängig von der Stellung der letzteren innerhalb dieser nationalen Kultur, soll an den Gütern derselben teilnehmen, sondern nach dem Prinzip der gerechten Verteilung sollen irgendwelche Grenzen zwischen den verschiedenen Völkern der Erde überhaupt nicht gezogen werden. Wenn sich gegen Mills Kompensation durch die jedem freistehende subjektive Teilnahme an den geistigen Gütern des Lebens einwenden läßt, daß sie auf subjektive Gefühlswerte beschränkt bleibt, die außerhalb der Motive des praktischen Handelns stehen, so ist es nun aber augenscheinlich, daß diese Bentham'sche Kompensation einer etwaigen tatsächlichen Einschränkung auf einzelne Menschen oder Völker durch die prinzipielle Ausdehnung auf die gesamte Menschheit nicht ernsthaft gemeint sein kann, weil eine solche Erweiterung nicht nur praktisch unmöglich ist, sondern auch mit der Wirklichkeit der menschlichen Kultur und ihrer Anforderungen im Widerspruch steht. Zu behaupten, daß der primitive Mensch, der von den Gütern der Kultur überhaupt keine Vorstellung besitzt, oder auch daß ein nur in einzelnen beschränkten Gebieten allenfalls an ihnen teilnehmender barbarischer Volksstamm vor dem Forum der Gerechtigkeit als völlig gleichstehend den Kulturmenschen anzusehen sei, ist offenbar entweder eine absurde Behauptung oder eine inhaltsleere Phrase. So ist es denn auch vollkommen verständlich, daß eine solche universelle Gerechtigkeit, die den Grundsatz der Gleichheit uneingeschränkt auf die ganze Menschheit ausdehnt, mit der in aller Kulturentwicklung zum Ausdruck kommenden Gliederung dieser Menschheit nicht bloß in ihren allgemeinen physischen wie geistigen Eigenschaften, sondern insbesondere auch in den Aufgaben der Kultur und demzufolge an der tatsächlichen Mitarbeit der sittlichen Werte in den äußersten Widerspruch geraten würde. Die Mitglieder der eigenen Nation müssen uns vermöge dieser Zusammenarbeit gerade an den allgemeinen Kulturaufgaben der Menschheit näher stehen als die Mitglieder fremder Völker, und innerhalb der eigenen Nation sind es dann nicht minder wiederum die besonderen Kulturaufgaben der einzelnen Gruppen und ihrer durch die Verhältnisse des äußeren Lebens wie der geistigen Interessen bestimmten Sonderverbände je nach ihren spezifischen Aufgaben, die eine unabänderliche Vorbedingung des allgemeinen Strebens nach der Verwirklichung der geistigen Güter sind. Daß es neben diesen den besonderen Gliederungen der Menschheit zufallenden sittlichen Gütern und Aufgaben weitere gibt, die eine Zusammenarbeit in größeren Verbänden, eine Mehrheit an ihr teilnehmender Völker und schließlich der Gesamtheit der Kulturvölker erfordern, ist selbstverständlich und liegt in dem allgemeinen Charakter menschlicher Kulturgemeinschaft begründet, den man wohl am zutreffendsten als eine geistige Gemeinschaft höchster Ordnung bezeichnen kann, die in dem Organismus des einzelnen Menschen als einer physischen und geistigen Einheit ihr einfachstes Vorbild hat. Daß gerade die wertvollsten Güter dieser Glieder der sittlichen Gemeinschaft der Völker mißachtet werden, wenn solche Begriffe wie die einer allgemeingültigen Gleichheit die tatsächlichen Unterschiede des sittlichen Lebens durch ein Scheinideal verdrängen, das schließlich als praktische Lebensmaxime wiederum nur das egoistische Streben an Stelle der wirklichen Sittlichkeit zurückläßt, ist augenfällig.
Hier hat nun die neuere Entwicklungstheorie, wie sie sich bekanntlich von der Naturwissenschaft aus allmählich über alle Gebiete und insbesondere durch die moderne Soziologie verbreitete, eine folgenreiche Wendung in den Grundlagen und Folgerungen auch des egoistischen Utilitarismus hervorgebracht. Von dem Augenblick an, wo man eine Stufenfolge der Völker in der Ausbildung ihrer Zivilisationen anerkannte, konnte natürlich von einer Gleichheit derselben in den Ansprüchen an die Güter des Lebens im Sinne der Bentham'schen Moral nicht mehr die Rede sein, sondern es war eine notwendige Folgerung, daß auch jene Ansprüche sich abstufen sollten nach der erreichten Höhe der Kultur, und die letzte Konsequenz war es, daß das in seiner Zivilisation bei einem Maximum angelangte Volk über allen anderen den Vorzug behaupte. Hier ist nun nicht mehr Stuart Mill, der sich noch nicht zu diesem Gedanken erhoben hat, sondern der Hauptvertreter des Evolutionsprinzips in der neueren Philosophie, Herbert Spencer, der Führer des Utilitarismus in dieser neuen Form geworden. Er ist vielleicht nicht der hervorragendste, aber jedenfalls der einflußreichste und berühmteste Führer des neueren utilitarischen Evolutionismus. Ihm aber gilt es als selbstverständlich, daß die englische Nation die Repräsentantin dieser höchsten bis dahin erreichten Zivilisation sei, und daß sich nach ihrem Vorbild mit innerer Notwendigkeit alle anderen Völker in der Zukunft entwickeln werden. Daß er hierbei dieses Vorbild nach seiner eigenen Auffassung englischer Verhältnisse schildert, ist naheliegend, und ebenso, daß, wenn man sich diesen Standpunkt in eine andere Kultur übertragen denkt, derselbe wahrscheinlich ein anderer sein würde. Wir besitzen in der Tat ein Beispiel solcher Verschiedenheit in der Art, wie sich dieser Einfluß bei verschiedenen Völkern gestalten kann in den Äußerungen zweier Philosophen über eine und dieselbe Frage. Es handelt sich um das Problem der Erziehung. In einer der Altersschriften Kant's, in denen bei ihm noch so manche Züge des banalen Rationalismus des 18. Jahrhunderts wiederkehren, meint er, da die Eltern ihre Kinder ohne deren Willen in die Welt gesetzt haben, so sei es auch ihre Pflicht, ihnen durch eine gute Erziehung ein möglichst glückliches Dasein zu verschaffen. Mit diesem Ausspruch möchte ich sicherlich nicht die von dem hohen Ernst sittlicher und zugleich religiöser Pflicht getragene Ethik Kant's belasten; um so mehr bleibt sie ein Zeugnis der schädlichen Wirkungen eines egoistischen Utilitarismus, zu dem ja schon jener veraltete Rationalismus hingeneigt hatte. Ganz anders noch steht aber doch Herbert Spencer in seiner Soziologie dem gleichen Problem gegenüber. In einer seiner kleineren soziologischen Schriften meint er, die Kinder seien durch den Willen ihrer Eltern in die Welt gesetzt, folglich sei es dem Willen dieser Eltern anheimgegeben, wie und ob sie ihnen überhaupt eine Erziehung erteilen lassen, jedenfalls aber habe die Gemeinschaft oder der Staat dabei nicht drein zu reden. Vielleicht gibt es auch in England nicht viele, die diese Ansicht teilen. In den allgemeineren politischen Fragen ist die Meinung noch nicht verschwunden, daß die englischen Sitten und Institutionen maßgebend für alle Völker seien, gleichgültig wie sonst deren eigene Kultur beschaffen ist; ja noch mehr: bei diesen anderen Völkern und unter ihnen namentlich bei uns Deutschen hat die gleiche Überzeugung noch immer ihre Vertreter. Hier aber liegt dann die weitere Folgerung nicht mehr allzu fern, daß, wenn diese Völker die Initiative zur Nachahmung dieses Vorbildes nicht ergreifen sollten, schließlich der Nation, der nun einmal durch den Gang der Geschichte die Führerstellung angewiesen sei, das Recht zustehe, den erforderlichen Zwang auszuüben. Dann unterscheidet sich also dieser Einfluß des Entwicklungsgedankens auf den egoistischen Utilitarismus von den alten psychologischen und religiösen Beschwichtigungsmitteln wesentlich dadurch, daß er überhaupt nicht mehr auf sittlichem Gebiete liegt, sondern daß es sich bei ihm lediglich um eine Machtfrage oder bestenfalls um eine Nützlichkeitsfrage handelt. Doch muß anerkannt werden, daß auch diese philosophischen Beeinflussungen in dem praktischen Leben nicht wesentlich in Betracht kommen, sondern daß hier eigentlich immer noch die ursprüngliche Form, die ihnen Bentham gegeben hat, vielleicht mit dem vollen Bewußtsein ihrer Bedeutung, aber jedenfalls in ihrer instinktiven Befolgung die maßgebende geblieben ist. Hier gibt es zwei Wege, auf denen wir uns über die Folgen Rechenschaft geben können, die diese zunehmende Herrschaft des egoistischen Utilitarismus herbeigeführt hat. Den einen dieser Wege zeigen uns die Beispiele im großen, die uns hier vornehmlich in der Wirtschaftsgeschichte der Völker entgegentreten; der andere besteht in der Geschichte gewisser politischer Anschauungen im einzelnen, die die eigene nationale Kultur der Völker in den Hintergrund zu drängen und die allgemeine Kultur zu uniformieren bestrebt sind.
Jene Beispiele im großen liefert uns vor allem Amerika, das von Anfang an in seinen staatlichen Verhältnissen wie in den diese beherrschenden Schöpfungen der Gesellschaft unter der Macht einer rein utilitarischen Moral stand. Darin liegt nicht im allergeringsten ein Vorwurf gegen die geborenen Amerikaner als solche. Sind es doch zu einem großen Teil Eingewanderte, die an der das öffentliche Leben beherrschenden Moral mitgearbeitet haben, während es zahlreiche geborene Amerikaner gibt, die von dieser nichts wissen wollen und sich darum der Teilnahme an den gemeinsamen Angelegenheiten von Staat und Gesellschaft überhaupt entziehen. Einen Beleg für eine solche gesteigerte Utilitätsmoral bietet in erster Linie die Herrschaft des Kapitalismus.
Nichts ist für diese Herrschaft des Geldes bezeichnender, als daß gerade die zu gemeinsamem Gewinn gestifteten Verbände durchweg zugleich Unternehmungen sind, deren einzelne Mitglieder nebenbei so viel als möglich einander zu übervorteilen und sich dadurch aus ihrer Vorherrschaft zu verdrängen bemüht sind. Das ist aber offenbar eine Folge davon, daß hier der Staat selbst einen unbeschränkten Spielraum für den Streit um Besitz und damit für die Anhäufung des Reichtums in den Händen einzelner bietet. Man braucht nur die Zahlen anzusehen, bis zu denen in fortschreitendem Maße die amerikanischen Geldmagnaten ihre Vermögen gesteigert haben, die in dem Werk von Gustav Myers über die »Geschichte der großen amerikanischen Vermögen« angeführt sind (deutsche Übersetzung 1916), um sich zu sagen, daß auf einem irgendwie noch moralisch zu nennenden Wege Milliarden von diesem überwältigenden Umfang von einem einzelnen Menschen nicht gewonnen werden können. Und wenn man den Unternehmungen näher nachgeht, durch die diese Vermögen entstanden sind, so ist man versucht, diese Geldmagnaten als eine Reihe von Verbrechern zu bezeichnen, die teils den Staat und die Gesellschaft teils sich selbst wechselseitig betrogen und bestohlen haben. Daß darüber viele der gebildeten Amerikaner nicht anders denken, dafür lieferte der Leiter eines neubegründeten Krankenhauses in Boston einen sprechenden Beleg, indem er einen Millionenbeitrag des berühmten Carnegie zurückwies, weil er Bedenken trug; für eine Wohltätigkeitsanstalt eine Unterstützung aus Geldmitteln anzunehmen, die auf unmoralischem Wege gesammelt seien. Dieses Motiv wirft zugleich ein bezeichnendes Licht auf einen Ausspruch, der von jenem Geldkönig berichtet wird, und nach welchem dasjenige Leben das glücklichste sein soll, welches im Ansammeln von Reichtum bestehe, aber mit Armut anfange und mit Armut ende. Ob der Urheber dieses Ausspruches selbst seiner Maxime treu geblieben ist, mag dahingestellt bleiben. Auf die Motive seiner in der Tat großartigen Freigebigkeit wirft die Handlung eines anderen Geldmagnaten ein bezeichnendes Licht. Dieser hatte aus eigenen Mitteln eine Universität gegründet, die sich eines raschen Aufblühens erfreute. Aber nach 10 Jahren hatte er die Freude an seiner Schöpfung verloren und erklärte, daß er seine Beihilfe von nun an einstellen werde, so daß der Untergang drohte. Da verfiel der Präsident dieser Akademie auf ein sinnreiches Mittel zur Abwendung der Gefahr. Er veranstaltete ein zehnjähriges Stiftungsjubiläum, zu dem er zahlreiche amerikanische und europäische Gelehrte zu Festvorträgen einlud. Die gehaltenen Vorträge wurden in einem stattlichen Bande gesammelt, an dessen Eingang das Porträt des Stifters der Akademie prangte. Damit gab sich dieser zufrieden, die Geldmittel flossen von neuem und die Zukunft der Universität war wenigstens vorläufig gesichert. Das Motiv solcher Spenden des Reichtums ist eben bei diesen amerikanischen Utilitariern nicht die Begeisterung für die Wissenschaft, sondern die Eitelkeit, wenn nicht das Streben, durch den Glanz solcher Handlungen neuen Geldunternehmungen zu Hilfe zu kommen. Wohltaten, die aus unlauteren Motiven entspringen, wirken aber unvermeidlich korrumpierend auf ihre Empfänger zurück. Und nicht alle Gelehrte denken wie jener Leiter des Krankenhauses in Boston, sondern sie behelfen sich mit dem bekannten Grundsatz ,,Non olet«.
Ein solches unbeschränktes Walten des Egoismus, wie es diesen Kapitalismus größten Stils erzeugt hat, würde nun aber nicht möglich gewesen sein, wenn nicht bereits die vorangegangene europäische Zivilisation mindestens im kleinen die Vorbilder geliefert hätte, nach denen unter dem Schutze einer überragenden Gunst der äußeren Verhältnisse sich diese Erscheinungen entwickelten, und wenn nicht zum Teil die allgemeinen politischen Traditionen ein solches Wachstum ins Große begünstigt hätten. Die Piraterie Englands und die Besitzverhältnisse der großen englischen Latifundien haben dereinst die Vorbilder für die frühesten amerikanischen Unternehmungen im Seehandel und im Landgewinn abgegeben, mit denen der amerikanische Milliardenkapitalismus begann, um dann in den verschiedensten Zweigen der modernen Industrie ein ins Groteske gesteigertes Nachbild jener Anfänge zu schaffen, wie es noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts für eine nur in phantastischen Träumen zu verwirklichende Erscheinung angesehen werden konnte.
Hier liegt nun zugleich die Lösung des Rätsels, das die moderne, in vielen Richtungen auf Europa zurückstrahlende amerikanische Zivilisation der Kulturgeschichte aufgegeben hat. Die gleiche unbeschränkte Betätigung des Individualismus und egoistischen Utilitarismus, die heute in den allgemeinen Wirtschaftsverkehr und durch ihn in eine von vielen Seiten noch immer verteidigte Wirtschaftstheorie eingedrungen ist, entstand in Amerika als ein von der ursprünglichen englischen Einwanderung importiertes Prinzip der vom Staat teils direkt angeordneten teils von ihm geschützten Zustände. Hier bilden diese Erscheinungen außerdem einen der augenfälligsten Belege für die Unabhängigkeit der Religion, in der diese im Laufe der Zeit in den allgemeinen Anschauungen eventuell zu einem äußeren ornamentalen Deckmantel einer rohen Egoismusmoral geworden, tatsächlich aber, genau so wie die Gefühls- und Sympathiemoral in der europäischen Philosophie ohne allen Einfluß auf das wirkliche Handeln gewesen ist.
Niemand anders als die Begründer der amerikanischen Gesellschaftsordnung und der aus ihr entsprungenen Sitten, die eingewanderten Puritaner, sind die Schöpfer zweier der größten moralischen Versündigungen, die eine in der allgemeinen Zivilisation fortgeschrittenere an einer relativ zurückstehenden Bevölkerung begangen hat. Die erste dieser Versündigungen liegt uns offen vor Augen in den Verträgen, welche die nordamerikanischen, der Union vorausgehenden Staatengebilde sowie schließlich die Regierung der Union selbst mit den Indianerstämmen geschlossen haben, um die von diesen bevölkerten Gebiete für sich zu gewinnen, während durch diese Verträge die Indianer auf immer kleinere Gebiete eingeschränkt und dadurch in eine Art sklavischer Abhängigkeit von den eingewanderten Weißen und ihren Abkömmlingen gebracht worden sind. Das ethnologische Bureau des Smithsonian Institution hat das Verdienst, die Reihe dieser schmählichen Denkmäler der Ausbeutung und Mißhandlung in einem für die Geschichte der Kultur höchst interessanten Werke ungescheut veröffentlicht zu haben (18. Bericht des Instituts, 1896--97). Beim Durchblättern dieser Aktenstücke wird man geneigt, ihre Veröffentlichung für eine schwere Anklage zu halten, die hier die Amerikaner von heute gegen ihre Ahnen, die einstigen puritanischen Einwanderer und ihre Nachkommen erheben. Das ist natürlich nicht zutreffend. Eher wird man wohl annehmen dürfen, daß in dem heutigen Angloamerikanismus noch hinreichend viel von dem alten Puritanismus erhalten geblieben ist, um sich über alle etwaigen Bedenken mit der Erwägung hinwegzuhelfen, daß das werktätige Handeln und die Religion verschiedenen Seiten unseres Lebenskontos angehören, die nichts miteinander zu tun haben oder von denen höchstens die eine dazu da ist, um die Schulden auszugleichen, die auf der anderen verzeichnet sind. Bedeutsam ist hierbei besonders ein Wandel des Unsterblichkeitsglaubens, der uns schon bei den alten Puritanern entgegentritt und von dem man wohl sagen kann, daß er heute zu allgemeiner Verbreitung gelangt ist. Ausgehend von der Vorstellung der Belohnung des Guten und der Bestrafung des Bösen im Jenseits hat dieser Glaube mehr und mehr der Erwartung einer allgemeinen Glückseligkeit in der jenseitigen Welt Platz gemacht, bei welcher der Vergeltungsgedanke keine Rolle mehr spielt, sondern jeder an der künftigen Seligkeit teilnimmt, wie immer er auch sein gegenwärtiges Leben verbracht hat. So ist nicht zum wenigsten unter der Wirkung der Utilitätsmoral der Unsterblichkeitsgedanke zum Gegenteil von dem geworden, was er ursprünglich gewesen: aus einer Mahnung zu einer Beruhigung des Gewissens. Übrigens ist nicht zu übersehen, daß es sich bei den amerikanischen Rothäuten keineswegs um Stämme handelte, die etwa den asiatischen und afrikanischen Waldstämmen oder auch den Sudannegern, da wo diese von frühen asiatischen Kulturmischungen unbeeinflußt blieben, zu vergleichen sind, oder überhaupt um primitive oder weit zurückgebliebene Menschen, sondern um Völker, die sich selbständig jedenfalls schon vor der Einwanderung der weißen Rasse zu einer eigenartigen, gerade auch in ihrer humanen Richtung bedeutsamen Stufe erhoben hatten. Das beweist nicht nur die anfängliche Hilfsbereitschaft, mit der besonders der fortgeschrittenste dieser Indianerstämme, die Sioux, unter denen wiederum die Irokesen hervorragen, den Einwanderern entgegenkamen, sondern ein Zeugnis hierfür liefert vielleicht auch der große Krieg, in dem sich schließlich gerade die Sioux gegen die fortschreitende Bedrückung und Entrechtung von seiten der Weißen zu wehren versuchten,
Dieser Krieg bietet immerhin eine gewisse Analogie zu der Versklavung der in den Grundlagen ihrer geistigen Bildung zum Teil die ihrer Unterdrücker weit überragenden indischen Bevölkerungen. Was aber den Kampf der Sioux vor anderen, ähnlichen Erscheinungen auszeichnet, das ist ein Zug, der mit der verhältnismäßig niedrigen Stufe der Kultur derselben, wenn man diese etwa mit der der eingeborenen Inder, der Schöpfer des Brahmanismus und des Buddhismus vergleichen wollte, zusammenhängt. Die Sioux haben, um sich eine vollwichtige Grundlage für diesen Kampf in Religion und Sitte zu schaffen, dem Christentum ihrer Bedränger einzelne Züge entlehnt, mit denen Sie dann allerdings, wie man sich wohl ausdrücken könnte, um so mehr ihre Gegner ad absurdum führten. Insbesondere war es das Erlösungsdogma und der Glaube an die Wiederkunft des dereinst zur Befreiung seines Volkes kommenden Erlösers, das sie bereitwillig aufnahmen. Als einen solchen Erlöser betrachteten sie einen Angehörigen ihres eigenen Stammes, auf den sie dann auch in der Mythologie, die sie auf dieser Grundlage schufen, die sittlichen Eigenschaften Jesu Christi übertrugen. Mögen also die Sioux die christliche Tradition des erlösenden Gottes von außen entlehnt haben, sie ist dann von ihnen in jener dem naiven Volksglauben entsprechenden Einheit des religiösen Glaubens mit dem menschlichen Handeln, das auch ihren Kriegsbräuchen nicht fehlte, bewahrt worden, in der sie den frommen Puritanern abhanden gekommen war.
Schlimmer ist es aber noch mit einer anderen Erscheinung bestellt, mit der als einer der sittlich verwerflichsten Kriegsgewohnheiten und ihrer Auswüchse die europäische Tradition die rote Rasse Amerikas Jahrhundertelang belastet hat. Das ist die Sitte der nicht bloß im Krieg, sondern mitten im Frieden geübten Kopfjagd und des aus ihr hervorgewachsenen Skalpierens der Kopfhaut des Gegners oder des als Beute behandelten Stammesfremden. Georg Friederici hat in seinem vor wenigen Jahren erschienenen Werke »Über Skalpieren und ähnliche Kriegsgebräuche in Amerika« (1906) überzeugend nachgewiesen, daß nicht die Rothäute, sondern die puritanischen Einwanderer und ihre nächsten Nachkommen die wahren Urheber der Kopfjagd und der aus ihr entsprungenen Skalpiersitte sind. Nicht als ob den Indianern die Vorbedingungen gänzlich gefehlt hätten, aus denen sich diese scheußlichen Sitten entwickeln konnten. Sie finden sich bei allen barbarischen Völkern und bestehen darin, daß unter den Trophäen, die der Sieger aus dem Kriege heimbringt, neben der Waffe des Feindes auch der Kopf desselben nicht fehlt. Solche als Siegestrophäen verwendete Beutestücke sind wahrscheinlich auch bei den barbarischen Urahnen der heutigen Kulturvölker vorgekommen. Sie bilden in der Geschichte der Kultur einen Ausgangspunkt, als dessen letzte Reste die erbeutete Fahne und die Waffe stehen geblieben sind. Zur Kopfjagd sind aber in Amerika diese allverbreiteten Kriegssitten durch die eingewanderten Weißen geworden. Sie haben zuerst Prämien ausgesetzt für die Köpfe, die ihnen, gleichgültig, ob diese aus dem Kriege stammten oder sonst irgendwie, also im gemeinen Mord inmitten des Friedens gewonnen waren, geliefert wurden, und als abgekürztem Verfahren haben sie wahrscheinlich auch zuerst dem Skalp vor dem Kopf den Vorzug gegeben. Damit waren Kopf und Skalp aus Kriegstrophäen zu auch im Frieden verwendbaren Handelsobjekten und, worauf es den Eingewanderten vor allem ankam, zu einem der wirksamsten Mittel für die erstrebte Ausrottung der Eingeborenen geworden. Diese Nachweise Friedericis sind nicht etwa einseitige oder übertriebene Schilderungen, sondern sie sind von den erfahrensten Amerikanisten unter den Ethnologen, darunter von einem in der Vorgeschichte der amerikanischen Union besonders bewanderten Mitglied des Smithsonian Institution bestätigt worden.
Wenn diese äußersten Auswüchse einer unbeschränkten egoistischen Moral, die sich daneben mit der Schaustellung einer durch besondere Glaubensreinheit sich auszeichnenden Religiosität verbindet, heute verschwunden sind, so sind nun die Wirkungen des egoistischen Utilitarismus im kleinen, wie ich sie oben genannt habe, und auch sie nicht ohne anderweitige sittliche oder religiöse Beruhigungsmittel, weit verbreitete Erscheinungen geblieben. Es mag hier genügen, auf einige hinzuweisen, die der neuesten politischen Entwicklung angehören: auf die Wirkungen, die das Dogma von der Uniformität des Parlamentarismus ausgeübt hat als einer Einrichtung, welche vermöge der allgemeinen Gleichheit der Zivilisation überall von wesentlich gleicher Beschaffenheit sein soll. Hier kann Herbert Spencer als der führende Philosoph gelten. Für ihn besteht kein Zweifel, daß der englische Parlamentarismus die einzig konsequente und darum für die Zukunft allgemeingültige Form sei, in welcher das Prinzip der Volkssouveränität in seiner notwendigen Verbindung mit dem der Vertretung des Volkes durch ein Wahlparlament zur Verwirklichung gelangen könne. Daß das englische Parlament eine Geschichte hinter sich hat, die innerhalb keiner Nation auch nur in ähnlicher Weise dieselbe ist, kümmert ihn nicht. Und doch haben die Erfahrungen der letzten Vergangenheit einleuchtend gezeigt, daß gerade auf diesem Gebiet eine solche Übertragung unvermeidlich Änderungen herbeiführt. So ist der französische Parlamentarismus ein wesentlich anderer geworden als der englische, der italienische bietet wiederum seine eigenartigen Züge usw.. Die schädlichen Wirkungen des Strebens nach Uniformität mögen wohl in allen diesen Staaten sich geltend gemacht haben. Das krasseste Beispiel liefert aber hier offenbar das deutsche Reich, und das ist unzweifelhaft die Wirkung der eigenartigen Kultur, die die Folge der deutschen Geschichte und ihres Einflusses auf die Gegenwart und damit auf den Charakter der deutschen Volksart ist. Von dem deutschen Parlament kann man wohl sagen, daß es vermöge dieser Geschichte notwendig ein völlig anderes werden mußte als das seines englischen oder überhaupt irgendeines sonstigen Vorbildes. Was die deutsche Eigenart vor allem kennzeichnet, ist die große Mannigfaltigkeit gewesen, die die verschiedenartige Kultur der deutschen Stämme und die spezifisch politische Vergangenheit der verschiedenen staatlichen Ordnungen erzeugt. Dies hat bis in die Gegenwart ein Übergewicht des Einzellebens der deutschen Stämme über die Einheit des deutschen Volkes mit sich geführt. Wohl haben die Tage des beginnenden großen Kriegs vom August 1914 vorübergehend ein Gemeinschaftsgefühl hervorgebracht, das selbst in den Tagen der Freiheitskriege nicht erlebt war, aber es ist rasch genug vorübergegangen, um die alte Vielgestaltigkeit wieder herzustellen. Sie trat leider bald genug darin hervor, daß sich in dem deutschen Parlament von Anfang an niemals das gemeinsame Interesse des deutschen Staates zur Vorherrschaft erhob, sondern daß die Parteien die eigentlichen Mächte geblieben sind, die das staatliche Leben beistimmten und das Parlament in eine bloße Vielheit überlieferter Parteien verwandelten. Es ist oft genug darüber verhandelt worden, was denn eigentlich der Grund der deutschen Niederlage in diesem Kriege gewesen sei. Man hat diese und jene äußere Ursache dafür verantwortlich gemacht: die unzulängliche Vorbereitung, die Fehler der Regierung, die schwankenden Entschlüsse und den Eigenwillen des Kaisers usw.. Aber der tiefste Grund lag doch darin, daß das deutsche Parlament zu einem Nebeneinander sich bekämpfender Parteien wurde, das es zu einer Überordnung des Gesamtwillens über die Parteigegensätze nicht kommen ließ. Dies war aber eine spezifische Eigenschaft des deutschen Parlaments, in der es hinter den Volksvertretungen der gegen uns verbündeten Völker zurückstand. War es doch der an Zahl überwiegenden demokratischen Arbeiterpartei und zumeist auch den konfessionellen und kirchlichen Strömungen weit weniger um das Gesamtinteresse des deutschen Staates als eben um die Herrschaft im Staate zu tun. Selbstverständlich sollen diese Bemerkungen nicht gegen den Parlamentarismus überhaupt gerichtet sein, sondern nur gegen die Uniformität eines solchen, die vornehmlich in Deutschland seine Entartung zu einer Vertretung nicht des Volks, sondern der Parteien herbeigeführt hat. In dem letzten, die Zukunft der Kultur behandelnden Kapitel meiner Völkerpsychologie habe ich mit besonderer Rücksicht auf das deutsche Reich auszuführen versucht, wie etwa eine parlamentarische Volksvertretung beschaffen sein könnte, wenn sie nicht dem Prinzip der Uniformität, sondern umgekehrt dem der Verschiedenheit der nationalen Kulturen Rechnung tragen würde. (Bd. 10, S. 452.) Dann würde man hier neben dem aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Volkshaus ein Staatenhaus nicht entbehren können, da selbst noch die heutige republikanische Verfassung des Reichs eine Mehrheit nach gewissen Richtungen namentlich des inneren Verfassungslebens relativ selbständiger Staaten bewahrt hat; und als ein dritter parlamentarischer Körper sollte eine Vertretung der Hauptberufe, bei der Zeit alter Zeit lebendig gebliebenen Eigenart des Zusammenschlusses zu Berufsverbänden, als eine wichtige Ergänzung des parlamentarischen Lebens nicht fehlen. Einen ähnlichen Vorschlag hat schon Karl Binding in seiner kleinen Schrift über »Die staatsrechtliche Verwandlung des deutschen Reichs« (1919) gemacht; doch wirkte offenbar auch bei ihm das englische Vorbild des Dualismus von Ober- und Unterhaus nach, indem er Staats- und Berufsverband zu einer einzigen Körperschaft verschmilzt, ein Vorschlag, der mir den wesentlich verschiedenen Aufgaben beider zu widerstreiten scheint. Das Volkshaus dagegen würde als eine Vertretung des ganzen Volks durch Männer des allgemeinen Vertrauens vielleicht zweckmäßig bei uns jenes Volksreferendum ersetzen, dessen bedenkliche Seiten sich in der Schweiz deutlich offenbart haben. Die Volksmajorität klebt in der Regel am Hergebrachten, alles Ungewohnte widerstrebt ihr, mag es auch noch so zweckmäßig sein. So ist denn auch die Wahl von Persönlichkeiten des allgemeinen Vertrauens die einzig angemessene, nicht das Listensystem, das an die Stelle von wahren Volksvertretern unbekannte Parteiführer setzt. Darum konnte es in diesem Widerstreit der Parteien nicht ausbleiben, daß schließlich diejenige zur Herrschaft gelangte, die nach ihrer Zahl und Organisation die erste Stelle einnahm und die alle anderen um so mehr in den Hintergrund drängte, als es die Regierung selbst an einem planmäßigen und energischen Handeln fehlen ließ, weil auch ihr das alte Vorbild des englischen Parlamentarismus und mit ihm in wachsendem Maße das Streben nach Versöhnung mit dem führenden der Ententestaaten im Vordergrund stand. Wie sehr alle diese Motive von Anfang des Krieges an, ja im Grunde schon vor dem Krieg eine schwere Gefahr für die Zukunft des deutschen Reiches bildeten, das war einzelnen, die den regierenden und parlamentarischen Parteien näherstanden, schon lange bewußt, wie wir aus den Erinnerungen des Schöpfers und Organisators der deutschen Flotte, Tirpitz (1919), sehen. Ein hervorragender deutscher Historiker der Vergangenheit pflegte solchen Erscheinungen gegenüber das Wort im Munde zu führen, »es mußte so kommen, und es kam so«. Es läßt sich vollgültig auf die Geschichte dieses Kriegs anwenden. Sein Ausgang ist eine notwendige Folge der Unzulänglichkeit der Regierung, daneben aber nicht zum wenigsten der Umwandlung des Parlamentarismus in einen Kampf der Parteien um die Herrschaft gewesen, und diese Momente zusammen haben zu dem widerstreitenden Ergebnis geführt, daß derjenige Staat seinen Feinden unterlag, der militärisch den Sieg errungen hatte: der deutsche.
Man hat im Hinblick auf dieses Ergebnis gesagt, dieser Krieg sei überhaupt kein Krieg, sondern eine Völkerrevolution gewesen. Dieses Wort hat sich vor allem nach den weiteren Folgen, die dieser Kampf der Völker mit sich führte, als vollkommen zutreffend herausgestellt. Die Not dieses Krieges ist allen europäischen Völkern gemeinsam, und selbst Amerika ist nicht ganz von ihr unberührt geblieben. Die erste Überhebung, in der sich die Rachegefühle unserer Feinde ergingen, und in denen namentlich die Franzosen schwelgten, beginnt aber bereits der Erkenntnis Platz zu machen, daß die wahnsinnigen Forderungen, die sie an das deutsche Volk gestellt, unerfüllbar sind, und daß sie als schwere Folgen auf sie selber zurückwirken. In gleichem Maße beginnt aber ein Geist des Friedens und der allgemeinen Herstellung geordneter Zustände wiederzukehren, der gebieterisch einem Zusammenarbeiten der Völker bei der neuen Ordnung zustrebt. Darum ist diese große Völkerrevolution noch nicht vorüber. Wir leben noch mitten in ihr, und je gewaltiger sie ist, um so mehr ist zu erwarten, daß sie einer Neugestaltung des politischen Lebens entgegenführt, innerhalb deren auch das deutsche Volk berufen ist, sich eine ihm gebührende Stellung in der europäischen Völkergemeinschaft zu gewinnen. Deshalb ist es verkehrt, unsere Zukunft nur im Lichte der betrübenden Zustände der Gegenwart zu sehen. Im Gegenteil, je gewaltiger die Umwälzung ist, die diese Revolution in der europäischen Kultur herbeigeführt hat und weiterhin herbeiführen wird, um so hoffnungsreicher dürfen wir in die Zukunft blicken, und um so mehr muß die deutsche Nation bestrebt sein, die ihm eigenen Volkskräfte für die Wiedergeburt der europäischen und vor allem seiner eigenen Kultur einzusetzen.
Worin aber bestehen diese Volkskräfte? Wenn man die Äußerungen liest, die allverbreitet in den Tagesblättern, in den Wahlprogrammen der verschiedenen Parteien und schließlich in den Auseinandersetzungen der Nationalökonomen uns entgegentreten, so könnte man glauben, sie bestünden in der möglichsten Betätigung desselben egoistischen Utilitarismus, mit dem wir in diesen Kampf der Völker eingetreten sind und der bis dahin bei ihnen wie bei uns gewaltet hat. Wir sollen gleich ihnen möglichst unsere wirtschaftlichen Interessen verfolgen und dadurch mehr und mehr die eigene Macht, die uns noch geblieben, zu heben und so die verlorene Geltung im Rat der Nationen wieder zu gewinnen suchen. Wenn man diese Äußerungen liest, So könnte man die Vorstellung gewinnen, der Staat sei lediglich eine Gesellschaft zur wechselseitigen Hilfe in der Erwerbung äußerer Glücksgüter, ein Schutzverband, der nichts ist als die Summe der einzelnen Menschen, aus denen er sich zusammensetzt. Daß es Güter der gemeinsamen Kultur gibt, und daß ohne diese Güter das Leben und Streben der einzelnen keinen höheren Wert hat, davon ist kaum irgend einmal die Rede. Die gegenwärtig herrschende Wissenschaft bestätigt, wo sie nur immer kann, diesen noch immer allverbreiteten Grundsatz der Bentham'schen Moral. Wir sollen mit anderen Worten möglichst nach den Grundsätzen handeln, von denen unsere Gegner bis dahin geleitet waren. Wenn das richtig wäre, so würden wir in der Tat nur mit trüben Aussichten in die Zukunft blicken können, und die Pessimisten unter uns würden wohl recht behalten, wenn sie überzeugt sind, daß es Jahrhunderte dauern kann, bis wir bei dem in Aussicht gestellten Ziele angelangt sind, ja es würde überhaupt zweifelhaft sein, ob wir dazu jemals gelangen könnten. Würde doch die Parteiherrschaft, zu der uns der unserer Geschichte und Volksart widerstrebende, von außen importierte Parlamentarismus geführt hat, ein fortwährendes Hindernis auf dieser Bahn bleiben, da uns unter seiner Einwirkung gerade das abhanden gekommen ist, was unseren Gegnern in diesem Kampf die Konzentration ihrer politischen Macht bewahrt hat: ein alle Parteiinteressen überwiegendes nationales Einheitsbewußtsein. Keine Erscheinung liefert für diese betrübende Tatsache ein sprechenderes Zeugnis als gerade die Geschichte der numerisch stärksten und darum machtvollsten unserer politischen Parteien: der Sozialdemokratie. In den außerdeutschen Ländern hat sie jedesmal dann ihren Einfluß verloren, wenn der Gedanke an das Interesse der Erhaltung der Macht der Nation in Frage kam. Bei uns ist in ihr die alte Tradition ihrer internationalen Mission allezeit erhalten geblieben, und sie hat daher fortan während dieser Jahre die Tendenz verfolgt, unserem nationalen Interesse möglichst entgegenzuwirken, in der Meinung, dadurch um so mehr ihre internationalen Ziele zu fördern. Auf diese Weise ist sie zu einer internationalen Partei geworden, die eigentlich nur noch in unserer eigenen Nation existierte und sich so dieser gegenüber mit innerer Notwendigkeit in eine antinationale umwandelte. So sind wir schließlich unterlegen, nicht weil uns unsere Gegner besiegten -- davon ist bekanntlich bis gegen Ende des Krieges, wo dieser zersetzende Einfluß unvermeidlich in die Armee selbst eindrang, nirgends die Rede gewesen --, sondern wir sind geschlagen worden, weil die bei uns herrschende Partei planmäßig unsere staatlichen Kräfte untergrub, um sich selbst zur Herrschaft zu verhelfen, und eine notwendige Konsequenz davon war es schließlich, daß sich diese Partei und das sich ihr anschließende machtlose Parlament den schmählichen Waffenstillstands- und Friedensbedingungen fügten, unter denen sie den erstrebten Frieden allein gewinnen konnten.
Aber die Bäume wachsen bekanntlich nicht in den Himmel. Die naturnotwendige Reaktion gegen diesen drohenden Untergang ist freilich nicht von uns, sondern von unseren Gegnern ausgegangen. Nachdem diese ihren anfänglichen Haß durch immer mehr sich übersteigende Forderungen einigermaßen abgekühlt, wurden sie zu ihrem Schrecken gewahr, daß die zerstörenden Kräfte eines jahrelangen Krieges auch an ihnen nicht ohne nachhaltige Wirkungen vorübergegangen waren. Sie wurden von der gleichen Not, wenn auch nicht überall in dem gleichen Grad, ergriffen, die sie anfänglich nur uns Deutschen zu bereiten gemeint hatten. So ist es denn heute, wie man wohl sagen darf, zur allgemeinen Weltüberzeugung geworden, daß nur eine Regeneration an Haupt und Gliedern, deren alle europäischen Völker bedürfen, dem Übel gründlich steuern könne, in das sie nicht durch die Schuld eines einzelnen und wohl am wenigsten durch die des deutschen Volkes geraten sind. Denn niemand zweifelt mehr daran, daß dieser Krieg aller gegen alle, wie ihn dereinst der englische Philosoph Thomas Hobbes als den schrecklichsten aller Schrecken ersonnen hatte, zuerst von den außerdeutschen Nationen und darunter in erster Linie von der englischen und ihren führenden Staatsmännern geplant worden ist. So dringt denn auch mit unwiderstehlicher Macht allmählich überall die Überzeugung durch, daß, wie auf allen Teilnehmern dieses Kampfes die Schuld an seiner Entstehung, so auf allen die gleiche Pflicht zur Wiederherstellung eines dauerhaften Friedens ruht. Nur ein sinnloses Festhalten in ausgetretenen Bahnen kann aber heute noch glauben, mit wirtschaftlichen Verträgen und mit der stumpfsinnigen Pflege des von England aus über die Welt verbreiteten egoistischen Utilitarismus könne eine endgültige Besserung geschaffen werden. Denn eben dieser einseitig gepflegte und zu wachsender Stärke entwickelte Utilitarismus ist es, der schließlich der europäischen Welt dieses tragische Schicksal bereitet hat; und nur die Verbreitung einer diesen Egoismus von Grund aus beseitigenden Weltanschauung kann endgültig Hilfe schaffen. Hier aber ist es der unmittelbar nach den schweren Schicksalen des auf deutschem Boden wütenden dreißigjährigen Krieges in Deutschland geborene Idealismus, den zuletzt das 19. Jahrhundert noch vergeblich zu erneuern bemüht war, der der Zukunft die Wege zu weisen hat, auf denen die Hilfe aus dieser Not zu suchen ist. Daß sich das geschichtliche Leben in Gegensätzen bewegt, ist eines der wenigen Gesetze, welche die philosophische Betrachtung der Geschichte uns lehrt. So dürfen wir denn wohl auch hoffen, daß jene Regeneration der europäischen Welt, die wir heute erhoffen, nicht erst in einer fernen Zukunft liegt, sondern daß sie uns, je unhaltbarer die heutigen Zustände sind, um so näher bevorsteht. Trägt doch eben in der allgemeinen Not, die sich im Gefolge dieses Völkerkampfes verbreitet hat, dieser den Charakter nicht eines Krieges, sondern einer Revolution an sich. Nun pflegen sich Revolutionen zwar langsam vorzubereiten, jedoch um so schneller zu endigen, um neuen Ordnungen entgegen zu führen. Und hier ist es nun vor andern das deutsche Volk, das berufen ist, den Weg zu zeigen, auf dem diese Neuordnung entstehen muß.
Als im Jahre 1886 zum ersten Male meine »Ethik« erschien, war ich bereits zu der Überzeugung gelangt, daß die Normen der Ethik nicht aus ihr selbst zu entnehmen, sondern daß sie ihr durch Voraussetzungen gegeben seien, nach denen sie von vornherein orientiert werden müsse, wenn sich diese Wissenschaft nicht in unbestimmten und willkürlichen Annahmen bewegen solle. Es schien mir aber zweifellos, daß die wesentlichsten dieser Voraussetzungen die objektiven geistigen Güter des Lebens seien, zu denen die materiellen nur als die Hilfsmittel und die Vorbedingungen ihrer Entstehung angesehen werden könnten. Darin lag zugleich eingeschossen, daß die Gemeinschaft in dem Sinne zu verstehen sei, in welchem schon im Altertum die sokratische Schule diesen Begriff klar und unzweideutig festgestellt hatte, oder daß, wie dereinst Plato sich ausgedrückt, die »Gemeinschaft früher sei als der einzelne«, d. h. daß die geistigen Güter des Lebens als die objektiven, zunächst an die nationale und staatliche Gemeinschaft gebundenen angesehen werden müssen, durch die erst dem Streben und Wirken des einzelnen seine Lebensaufgaben vorgezeichnet seien. Das ist der Grundsatz des philosophischen Idealismus geblieben von Plato an bis auf unsere Tage, und durch ihn gewinnt erst das Verhältnis des einzelnen zum Staat seinen wahren Inhalt. Denn als Mitarbeiter an den Aufgaben des gemeinschaftlichen Lebens empfängt erst der einzelne seinen sittlichen Wert und damit in seiner Zugehörigkeit zunächst zur politischen Gemeinschaft und durch diese schließlich zur Gemeinschaft der Kulturvölker seine Lebensaufgaben, die an ihn die Forderung stellen, an der Erhebung der bis dahin kulturlosen Völker zur Kultur mitzuwirken, soweit es seine Stellung zuläßt. Keine Weltanschauung gibt es daher, die verkehrter ist als diejenige, die in der Gemeinschaft oder schließlich sogar in der Gesamtheit der lebenden Menschen nichts anderes sieht als die Summe dieser Menschen und daher in der staatlichen und schließlich in der allgemeinen Völkergemeinschaft nur einen aus Verträgen und Vereinbarungen hervorgegangenen Verband erblickt, der lediglich dazu bestimmt sein soll, das Glückbedürfnis der einzelnen zu befriedigen. Dies ist aber die Anschauung des egoistischen Utilitarismus, der in Jeremias Bentham seinen noch für die Gegenwart maßgebenden Vertreter gefunden hat, und der noch heute, wie eine überwältigende Zahl von Zeugnissen beweist, zur allgemeinen populären Überzeugung der Völker geworden ist. In der Kritik des egoistischen Utilitarismus und der Nachweisung seiner unter jedem wahrhaft sittlichen Gesichtspunkt unhaltbaren Konsequenzen besteht daher die wesentliche Tendenz jenes Werkes über die Ethik, das sich im übrigen darauf beschränkte, teils aus der Geschichte der Sitte, teils aus der Entwicklungsgeschichte der philosophischen Weltanschauungen unterstützende Belege für den Standpunkt des wirklichen ethischen Idealismus beizubringen.
Ich konnte mich nicht darüber täuschen, daß eine derartige Darstellung, die gewissermaßen mit dem Ende der Probleme beginne, nicht geeignet sei, ein größeres Publikum für sich zu gewinnen. Dagegen schienen mir meine gegen diese Anschauung gerichteten Argumente, bei denen ich mich bemüht hatte, streng den Standpunkt der Erfahrung festzuhalten, einleuchtend genug, um wenigstens damit auf einen kleineren Kreis philosophisch Gebildeter wirken zu können. Meine Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie und der Einzelwissenschaften hat mich seitdem überzeugt, daß dies von vornherein ein Irrtum gewesen war, bei dem das öffentliche Leben ebenso wie der Einfluß der Einzelwissenschaften und der aus ihnen hervorgegangenen philosophischen Strömungen außer Rechnung blieben. Mehr und mehr konnte ich nicht umhin, mich zu überzeugen, daß gerade hier in dem überwältigenden Einfluß der äußeren Faktoren des sittlichen Lebens die notwendige Bedingung zur Erzeugung und fortwährenden Verstärkung eben jenes egoistischen Utilitarismus gelegen sei, der in unserer heutigen Kultur nicht minder wie in dem Verkehr der einzelnen und der Völker zur Herrschaft gelangt ist. Und dies ist, wie ich schließlich wohl gestehen darf, die Hauptabsicht gewesen, die mich bei dem umfangreichen Unternehmen meiner Völkerpsychologie geleitet, und die der einsichtige Leser dieses Werkes schwerlich verkannt hat, abgesehen davon, daß natürlich das Thema an und für sich mir eine wichtige Aufgabe der heutigen psychologischen Wissenschaft zu sein schien.
Zunächst darf ich dabei wohl auf den Zusammenhang des Ganzen hinweisen, wie er, um dies deutlicher hervortreten zu lassen, in dem letzten Bande noch einmal in kurzen und nach manchen Seiten ergänzenden Umrissen dargestellt worden ist. Überblickt man hier die Gesamtentwicklung der Kultur, so ist unzweideutig ein zwischen manchen Neben- und Abwegen sich bewegendes, aber im letzten Grunde durchaus einheitlich als auf ihr letztes Ziel gerichtetes Streben zu erkennen, das auf die Unterwerfung der Natur unter den Willen des Menschen, auf ihre Umwandlung in ein Werkzeug für seine Zwecke ausgeht, die mit den materiellen Zwecken des Lebens beginnen, um mit ihrer Hilfe sich zu den höchsten geistigen Gütern zu erheben. Gerade diese aber bewähren sich in dieser Entwicklung als die höchsten und letzten, weil sie allein die bleibenden sind, diejenigen, in denen die gesamte geistige Kultur der Vergangenheit noch in uns lebendig ist und über uns hinaus in alle Zukunft, soweit das Dasein der Menschheit reicht, lebendig bleiben wird, während ihnen gegenüber die materiellen Gestaltungen des Lebens einem fortwährenden, von den mannigfaltigsten Nebeneinflüssen bestimmten Wechsel unterworfen sind. Es kann niemals die Aufgabe eines einzelnen oder auch nur eines einzelnen Volkes sein, an dieser großen Kulturmission, wie sie uns die Entwicklungsgeschichte der Kultur offenbart, Nennenswertes mitzuarbeiten, ohne daß sie selbst aller der Vorbedingungen teilhaftig sind, die die vorangegangene Kultur des eigenen Volkes und dann weiterhin die allgemeine Stufe, die die menschliche Kultur erreicht hat, ihnen bieten. Gerade im Hinblick auf den Wert, den in dieser Zusammenarbeit die einzelne Persönlichkeit für das Ganze besitzt, dem sie angehört, gewinnt ober jener platonische Satz, daß die Gemeinschaft früher sei als der einzelne seine richtige Bedeutung. Bildet doch seine Kehrseite der andere, daß es keine Gemeinschaft gibt ohne die einzelnen und ihr Zusammenwirken in dem Ganzen, dem sie zugehören,
Das einleuchtendste Zeugnis für diesen geistigen Zusammenhang der Einzelpersönlichkeit mit der Gemeinschaft, aus der sie entsprungen ist und an der sie fortan durch ihr Leben und Wirken teilnimmt, liefert uns die Grundfunktion des menschlichen Geistes, die Sprache. Sie bezeichnet am augenfälligsten die Grenzen, innerhalb deren sich zunächst das geistige Leben einer Gemeinschaft bewegt, und daneben die Abhängigkeit, in der überall der einzelne von dieser Gemeinschaft steht, sowie die Macht, mit der er wieder auf sie zurückwirkt; und sie lehrt uns zugleich in ihrer Geschichte die geistigen Wandlungen kennen, die die Kultur dieser Gemeinschaft samt den Wechselwirkungen, in die sie mit anderen Völkern getreten, durchlebt hat. Weitere Kreise, innerhalb deren die einzelne Nation nur ein Glied bildet in einem umfassenderen Völkerverkehr, ziehen die Religion und die Kunst, die weitesten endlich die Wissenschaft, die erst im eigentlichsten Sinne diejenige Stufe erreicht, die wir eine internationale zu nennen berechtigt sind. In allen diesen Kreisen des gemeinsamen Lebens hat aber der einzelne je nach der Arbeit, die er für das Ganze und damit für sich selber leistet, seinen Wert. Der Arbeiter ist für die Kulturgemeinschaft eben so notwendig wie der Industrielle und der Gelehrte. In nichts tritt diese Gleichwertigkeit der Persönlichkeit mehr zutage als in jenen für alle gemeinsamen und darum schließlich für alle in einem gewissen Grade unentbehrlichen geistigen Güter des Lebens: in Sprache, Religion, Kunst und Wissenschaft, in der Sprache am augenfälligsten, in den andern Gebieten meist in verborgenerer Weise, aber schließlich doch in dem Zusammenspiel der geistigen Kräfte und in den mannigfaltigen Ausstrahlungen, in denen sich ihre Wirkungen entfalten, in allen jenen geistigen Gütern zumal, die der Sittlichkeit ihren Wert geben, indem sie ihr die Normen vorschreiben nach denen sich das Leben entfalten muß, wenn es überhaupt ein Sittliches, die Lebenden wie die kommenden Geschlechter beglückendes sein soll.
Die höchste Zusammenfassung dieser geistigen Kräfte ist aber der Staat, in welchem materielles und geistiges Leben zu einer organischen Einheit verbunden werden. Er ist nicht vom Himmel gefallen oder, wie der Individualismus späterer Zeiten ihn zu konstruieren versucht, aus einem Vertrag der einzelnen hervorgegangen, oder ein solcher Vertrag kann doch höchstens sekundär in die bereits vorhandenen Staatenbildungen eingreifen, nachdem diese aus der vorangegangenen Stammesentwicklung entstanden sind. In den letzten, von der Gesellschaft handelnden Abschnitten der Völkerpsychologie habe ich daher die mannigfaltigen Gestaltungen, in denen dieses geschieht, an der Hand namentlich ihrer anfänglichen Bildungen, wie sie uns bei den sogenannten Naturvölkern begegnen, zu schildern versucht. Gerade diese relativ frühen Formen überraschen uns ebenso sehr durch ihre Vielgestaltigkeit wie durch die Gleichförmigkeit in der Wiederkehr gewisser Grundformen des staatlichen Lebens, die von jenen Anfängen bis zu den Kulturvölkern heranreichen. Ein augenfälliges Zeugnis hierfür bieten die afrikanischen Sudanstämme, bei denen uns die Formen der Monarchie von dem äußersten Despotismus bis zu Bildungen entgegentreten, die man annähernd als konstitutionell beschränkte Einheitsstaaten bezeichnen könnte, und nach einer andern Seite die amerikanischen Verfassungen, die von den primitivsten Stammesbildungen durch Familienverbände, aus Stammesverfassung und Staat gemischten Formen bis zu Bundesstaaten emporreichen. Alle diese Erscheinungen sind unwidersprechliche Belege für den Satz, daß alle politische Entwicklung von der Gemeinschaft einer durch Abstammung, Sprache und Sitte verbundenen Gruppe ausgeht, um von da aus sich allmählich in Sippen, Familien und schließlich in einzelne selbständige Individuen zu gliedern, während zugleich jede solche Gemeinschaft neben ihren allgemeingültigen, in gewissen Grundzügen bei den verschiedensten Völkern übereinstimmenden Eigenschaften wiederum ihre Eigenart besitzt, so daß es so wenig zwei Stämme oder vollends zwei Staaten wie zwei Menschen auf der Erde gibt, die miteinander völlig identisch sind.
Was uns so die vergleichende Betrachtung der verschiedenen Stufen der Stammes- und Staatenentwicklung lehrt, das dürfen wir nun aber für die Vergangenheit aller Kulturvölker aus manchen Resten, die bei ihnen aus früheren Stufen ihrer Entwicklung erhalten geblieben sind, mit der größten Wahrscheinlichkeit schließen. Hier gibt es jedoch eine Nation, in der sich die Erinnerung an die Zustände einer frühen Vergangenheit so lebendig erhalten hat und in der zugleich die Zusammenhänge mit der späteren Entwicklung so deutlich vor Augen liegen, daß Sie in dieser Beziehung eine einzigartige Stellung in dem Kreis der Kulturvölker einnimmt: das ist die deutsche. Dank den Schilderungen der römischen Schriftsteller, die dereinst die Zustände der deutschen Stämme auf einer Stufe der Kultur kennen lernten, über die ihre eigenen Völker längst hinausgeschritten waren, und dank der Kontinuität der Entwicklung, die bei dem deutschen Volke in die späteren Gemeinschaftsbildungen, wenn auch zumeist in allmählich sich ändernden Formen, herabreicht, gibt es heute keine europäische Nation mehr, von der wir wie von dieser sagen könnten, sie biete uns ein Bild politischer Entwicklung von ihren mit der Einwanderung der Deutschen in ihre heutigen Wohnsitze beginnenden Anfängen an bis herab zu der Gegenwart. Und mit dieser Kontinuität der Entwicklung trotz aller wechselnden Schicksale des Völkerlebens, die auch hier nicht gefehlt haben, hängt wohl zugleich, wie wir annehmen dürfen, die Eigenart des deutschen Volkes so eng zusammen, daß sie noch heute der unveränderten Übertragung ihm ursprünglich fremder Institutionen mehr widerstreitet, als dies namentlich von den beiden großen Völkergruppen gesagt werden kann, die heute mit den Deutschen die Hauptträger der Kultur sind, von den Romanen und Angelsachsen. Im 9. Bande der Völkerpsychologie habe ich diese Eigenart des deutschen Geistes nach zwei Seiten hin zu verfolgen versucht: zunächst nach den Wirkungen, die sie auf die deutsche Philosophie ausgeübt und die zuletzt in dem deutschen Idealismus des 19. Jahrhunderts ihren Ausdruck gefunden haben. Sodann, in der zweiten Hälfte des Bandes, in der Darstellung der Anfänge und der nächsten Entwicklung der deutschen Rechtsordnungen. Ich habe in meinen Ausführungen keinen Zweifel darüber gelassen, daß ich diese zweite Hälfte für die wichtigere halte, weil es sich hier um die Schilderung einer tatsächlichen Rechtsordnung in ihrer relativ ursprünglichen Gestaltung handelt und Tatsachen immer wichtiger sind als philosophische Theorien. Ein Kritiker dieses Bandes hat gemeint, es sei doch merkwürdig, daß ich das deutsche statt des römischen Rechts gewählt habe. Wenn ich nicht annehmen dürfte, daß dieser Kritiker nach der verbreiteten Gewohnheit der Berufsrezensenten bloß die ersten Seiten gelesen und den Rest als selbstverständlich vorausgesetzt habe, so müßte ich sagen, daß mir ein größeres Mißverständnis wie dieses in meinem Leben kaum begegnet ist. Daß gerade das römische Recht, das einen so tiefgreifenden Einfluß auf die Ausbreitung der individualistischen Denkweise gehabt hat, das für den vorliegenden Zweck ungeeignetste gewesen wäre, springt in die Augen. Kam es doch vielmehr darauf an, an diesem einzigartigen, das ursprüngliche Rechtsbewußtsein eines Volkes widerspiegelnden Zeugnis des deutschen Rechtes zu zeigen, daß ein alle Gebiete des Lebens umfassender und zugleich mit Sitte, Religion und sozialer Kultur eng verbundener Kollektivismus der Anfang aller Rechtsordnung sei.
Nachdem uns nun aber die Geschichte der Kultur gezeigt hat, daß der Individualismus und in seinem Gefolge schließlich der egoistische Utilitarismus durch eine Reihe ineinander greifender Motive mit zwingender Notwendigkeit dem heutigen extremen Individualismus den Sieg über jene Anfänge verschafft hat, sollen wir da nicht vielmehr annehmen, daß damit das Ende der Kulturentwicklung erreicht ist, über das ein weiterer Fortschritt und vollends die Rückkehr zu einem dereinst vorhanden gewesenen Zustand überhaupt nicht mehr möglich sei? Das würde freilich ein trostloses Ende sein, doch wir müßten uns darein fügen im Hinblick darauf, daß jede Kultur der Vergangenheit irgend einmal ein Ende erreicht hat und daß dieses Ende darum unabweislich auch der Kultur der europäischen Völker beschieden ist. Gleichwohl, wenn wir uns umblicken in der europäischen Welt, so begegnen uns Zeugnisse genug, die uns ermutigen dürfen, über diesen trostlosen Ausblick uns zu erheben und uns eine Zukunft vor Augen zu führen, in der eine Regeneration der europäischen Kultur in fernerer oder näherer Zeit eintreten wird. Ja, vielleicht ist gerade die in den letzten Jahren erlebte Weltrevolution, die mit mehr Recht, als wie dereinst von Hobbes der Anfang der Kultur, ein »Kampf aller gegen alle« genannt werden kann, die große Schule gewesen, die die europäischen Völker zu dieser Wiedergeburt erzogen hat. Sicherlich aber ist es ein schwerwiegender Irrtum, wenn heute, in dem sichtlichen Übergangszustand, in dem wir uns befinden immer noch von einer großen Zahl von Menschen in der fortdauernden Pflege des egoistischen Utilitarismus, in dem ausschließlichen Streben nach wirtschaftlichen Gütern, in neuen Friedensverträgen und Völkerbündnissen der Weg zu diesem Ziele gesehen wird. Eine Weiterverfolgung dieses Weges, der nach allen Zeugnissen der Geschichte in die Irre geführt hat, kann immer nur dem Abgrund näher führen, nicht vor ihm retten. Nur eine Umkehr, die dem herrschenden egoistischen Utilitarismus gegenüber sein volles Gegenbild, jenen Idealismus, der dem einzelnen gegenüber die Gemeinschaft und in ihr die geistigen Güter zur Herrschaft bringt, kann eine neue Zukunft der europäischen Kultur herbeiführen. Und wenn es eines unter den europäischen Völkern gibt, das in seiner Geschichte die Zeugnisse für eine solche Wendung der Gesinnung erblicken darf, so ist es das deutsche.
Dreimal im Verlaufe unserer Geschichte haben wir eine Umkehr erlebt, ähnlich der, die uns der eben erlebte Weltkrieg in Aussicht stellt. Das erstemal war es die deutsche Reformation, die eine allgemeine Wiedergeburt der Kultur herbeiführte, aus der die Befreiung des modernen Denkens aus den Fesseln der mittelalterlichen Scholastik hervorging und die Wiedergeburt der dereinst in der antiken schon einmal errungenen Freiheit der individuellen Persönlichkeit, mit ihr zugleich die Wiedergeburt der Religion, der Wissenschaft und der Kunst. Ein zweites Mal war es der furchtbare Krieg, der dreißig Jahre lang die deutschen Lande verwüstet hatte, an dessen Ende abermals eine neue Vertiefung des religiösen Denkens, ein neuer Anfang deutscher Wissenschaft entstand und die deutsche Kunst zu ihrer höchsten bisher erreichten Blüte emporstieg. Ein drittes Mal ist es der soeben erlebte Weltkrieg gewesen, der jedem der an ihm beteiligten Völker den Gedanken nahebringen mußte, daß nicht der Fortschritt auf den bisher gegangenen Wegen, sondern der Übergang zu einer neuen Erkenntnis der wahren Güter des Lebens, der geistigen Werte, zu deren pflege alle Kulturvölker berufen sind, heute das einzige Mittel bleibt, jene Regeneration der Weltkultur herbeizuführen, die wir alle, sei es bewußt, sei es in unbewußtem blindem Drang, erstreben.
Hier aber ist es wiederum das deutsche Volk, dem durch seine Vergangenheit dieser Gedanke vor anderen nahegelegt ist und dem die Verwirklichung desselben daher als seine Mission vor der aller anderen Völker erscheinen muß, nicht um sie für sich allein zu erfüllen, sondern durch sie vorbildlich auf die anderen Völker, deren jedes in der heutigen Kulturwelt seine eigenen Aufgaben hat, zu wirken. Und wir dürfen sagen, daß lange vor dieser erschütternden Kulturkatastrophe unter uns bereits zu wiederholten Malen Kräfte lebendig geworden sind, die diesem Ziele zusteuerten. Am Eingang der neuen Geschichte steht für uns Luther als der Befreier der Gewissen und damit als der gewaltige Regenerator der Wissenschaft und Kunst. Am Anfang der neuen Wissenschaft steht Leibniz, der unsere Wissenschaft zur Weltwissenschaft erhoben hat, und der zugleich der Schöpfer des neuen deutschen Idealismus gewesen ist. Denn wer ihn zu lesen und aus so manchen scholastischen Trübungen, die er aus seiner Zeit aufgenommen hat, zu befreien versteht, dem muß in die Augen springen, daß in einem zuerst uns fremdartig anmutenden Gewand alle idealistischen Grundgedanken bereits enthalten und mit der älteren deutschen Mystik eines Johann Eckart und Jakob Böhme wie nicht minder mit der deutschen Reformation in enge Beziehung gebracht sind. Endlich hat der deutsche Idealismus des 19. Jahrhunderts noch einmal den Versuch gewagt, den Grundgedanken des deutschen Geistes, wie er uns in der ursprünglichen Kultur unseres Volkes entgegenleuchtet, zu klarem Bewußtsein zu erheben. Allen voran ist es hier Johann Gottlieb Fichte gewesen, der unserem Volke den Weg in seine eigene Zukunft und in die der mit ihm an der Kulturarbeit der Menschheit beteiligten anderen Kulturvölker gewiesen hat. Schelling und Hegel haben nur seine Arbeit weitergeführt, sie haben nichts wesentlich Neues hinzugebracht. Freilich darf man nicht, wie es noch heute die Gewohnheit deutscher Philosophen ist, in die systematischen Schriften dieser Denker, in Fichtes Wissenschaftslehre oder in Hegels Logik, den eigentlichen Wert ihrer Lebensarbeit verlegen. Er ruht ganz in der Arbeit an den Hauptproblemen der Philosophie. In Fichtes Naturrecht, das eine so merkwürdige Wendung von der veralteten rationalistischen Rechtsphilosophie zu einer neuen, den Geist der Zukunft in wunderbarer Intuition vorausnehmenden Form vollzieht, in seiner Bestimmung des Menschen, der Bestimmung des Gelehrten, den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters, der Anweisung zum seligen Leben, endlich in den Schriften über den Staat liegen Schätze verborgen, die, freilich noch in einer durch die Einflüsse der Zeit unserem eigenen Denken nicht mehr adäquaten, aber in den Grundgedanken noch immer überzeugenden Gestalt, den Idealismus in seiner die nähere Zukunft beherrschenden Form siegreich zur Geltung bringen. Ist doch der Sozialismus, der in so mannigfachen Gestaltungen in das kommende Jahrhundert überging, zum erstenmal von diesem Denker in seiner vollen Konsequenz entwickelt worden, ist er es doch, der den Begriff der Nation und den heute allverbreiteten Gedanken vom Wesen der Nation und von dem Beruf der verschiedenen Nationen in ihrem Zusammenwirken, endlich von dem schwerwiegenden Verhältnis zwischen Nation und Staat zum erstenmal, wenn auch hier wieder in einer durch das romantische Zeitalter gefärbten Form, zu einleuchtender Klarheit gebracht hat. Und wenn Hegel in seinen Ausführungen über die Sittlichkeit als einem Ideal der Gemeinschaft gegenüber der individuellen Moral in treffendster Weise die notwendigen Grenzen zieht, um auf dieser Grundlage die andern geistigen Güter des Lebens, Religion, Kunst, Wissenschaft, Recht und Staat in unnachahmlicher Tiefe zu behandeln, so tragen freilich auch diese Schöpfungen überall die Züge der Zeit und Umgebung, aber ihr bleibender Wert wird davon nur wenig berührt. Aus meiner Jugend erinnere ich mich, einer großen Professorengesellschaft beigewohnt zu haben, die ihre gesellige Vereinigung als einen »engeren Senat« bezeichnete und in der ein mit einer trefflichen Singstimme begabter Pastor Lieder von Viktor Scheffel vorzutragen pflegte. Er erntete bei jedem seiner Lieder reichen Beifall, den reichsten aber bei demjenigen, in welchem dieser Dichter die Werke Hegels mit den Leistungen der zum Besten des Böblinger Bauern wirkenden Vögel der Guanoküste vergleicht. Ein einmütiger Applaus lohnte den Sänger. So etwas würde, wie ich wohl sagen darf, heute nicht mehr möglich sein, wenigstens nicht, ohne daß sich daneben auch ein leises Pfui vernehmen ließe.
Diese Zeiten der sogenannten »Blüte der Wissenschaft«, die im wesentlichen darin bestand, daß keine Wissenschaft von der andern etwas wußte, daß die Kunst als eine Beschäftigung für solche galt, die dazu Zeit hätten, und schließlich in der Religion ein überlebter Aberglaube gesehen wurde, sie sind vorüber und, wie wir vielleicht hoffen dürfen, für immer vorbei. Ist es doch bezeichnend genug, daß heute von Naturforschern und Juristen ungleich mehr über die philosophischen Probleme der Gegenwart spekuliert wird als von den eigentlichen Fachphilosophen, die viel zu viel mit den Philosophen der Vergangenheit zu tun haben, als daß sie sich in jene vertiefen könnten, und denen es daher nicht selten begegnet, daß sie in solchen vergangenen Systemen das für die Hauptsache halten, was für unser gegenwärtiges Denken zu einer durch vergängliche Nebeneinflüsse bedingten Beigabe geworden ist. Daß die Einzelwissenschaften einander wechselseitig und schließlich alle ebenso der Philosophie bedürfen, wie diese hinwiederum mit dem Stand der Einzelgebiete vertraut sein muß, das ist heute, abgesehen von einigen Vertretern älterer Generationen, zur allgemeinen Überzeugung durchgedrungen. Vielleicht gibt es kein sprechenderes Zeugnis hierfür als die merkwürdige Erscheinung, daß mehrere Vertreter derjenigen Wissenschaft, der man noch vor kurzem höchstens eine Art Zwischenstellung zwischen Wissenschaft und Handwerk angewiesen, der Technologie, unabhängig voneinander die Überzeugung ausgesprochen haben, die Technologie sei eigentlich keine Natur-, sondern eine Geisteswissenschaft (Völkerpsychologie, Bd. 10, S. 307). Dieses Urteil ist wohl kaum zutreffend, aber es beleuchtet scharf die enge Beziehung, die in unseren Tagen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften eingetreten ist. So ist es gekommen, daß es heute durchweg nicht die Philosophen sind, die sich mit den Problemen der Gegenwart und Zukunft beschäftigen, sondern Männer aus anderen Berufen, die sich einen offenen Blick für die Aufgaben bewahrt haben, die uns bevorstehen, wenn sie auch freilich immer noch verkehrte Wege einschlagen, um das ersehnte Ziel zu erreichen. Denn in Wahrheit liegt dieses Ziel nicht in dem Streben, es in der Pflege der wirtschaftlichen Güter unseren Gegnern gleich zu tun, indem wir sie nachahmen. Das ist in der Tat der Weg, der uns in die Sklaverei geführt hat und uns, wenn wir ihn weiter verfolgen, immer tiefer in sie verstricken wird. Man braucht sich nur die Projekte näher anzusehen, die heute unter uns wie Pilze aus der Erde schießen. Da soll bald eine Einheitsschule, die alle Unterschiede der Bildung aus der Welt schafft, bald die Ersetzung der Religion durch einen rationalistischen Moralunterricht, bald die Beschränkung der Bevölkerungsziffer durch ein staatlich geleitetes Abtreibungssystem, insbesondere aber der unbeschränkteste, jeden auf seine eigenen Interessen einengende Individualismus das Heil der Zukunft in sich bergen, und in diesem Sinne soll vor allem der unserem Volkscharakter völlig inadäquate, fremden Vorbildern folgende und damit zur Parteiherrschaft entartete Parlamentarismus dabei hilfreich mitwirken. Es gibt gegenwärtig wohl hauptsächlich zwei Generationen, die von dieser Verblendung bewahrt geblieben sind; das sind auf der einen Seite die älteren des Geschlechts, die die Entwicklung aller dieser Dinge mit erlebt und größere Zeiten mit eigenen Augen gesehen haben, und das ist auf der andern Seite die gebildete Jugend, die, zum Teil kaum dem Knabenalter entwachsen, in diesen Krieg zog, und die in ihm zu Männern geworden ist. Ihnen stehen viele unter uns befremdet und verwundert gegenüber, weil in dieser Jugend fast allein die Erinnerung an den alten Idealismus des deutschen Volkes noch lebendig ist und sie in feiner Wiedererneuerung wirklich die Rettung aus der Not erblickt. Und doch ist gerade dies eine notwendige Folge des großen Kriegs und der unmittelbaren Frische der Eindrücke, die sie aus ihm in die Heimat mitgebracht hat. Eben darum aber dürfen wir in dieser Jugend, auf der unsere Zukunftshoffnungen ruhen, die Vorbilder sehen, denen unser Volk mit innerer Notwendigkeit in kürzerer oder längerer Zeit aus einem auf die Dauer nicht mehr zu unterdrückenden Trieb heraus folgen wird.
In der Tat regen sich, wenn wir um uns blicken, überall schon deutlich die Symptome einer auf das gleiche Ziel gerichteten Umkehr der Gesinnungen. Das bedeutsamste Vorzeichen dieser Umkehr ist. Sicherlich das Streben nach Verallgemeinerung und Vertiefung der geistigen Bildung, die sich aller Stufen und Stände der Bevölkerung bemächtigt hat. Gehört doch die Organisation von Volkshochschulkursen, die Aufklärung durch Wanderredner und aus eigenem Antrieb in Stadt und Land wirkenden Männern und Frauen heute zu einer der verbreitetsten Erscheinungen. Ein nicht geringes Verdienst hat sich in dieser Beziehung selbst die Sozialdemokratie erworben. An ihr haben wir eines der merkwürdigsten Beispiele jener Heterogonie der Zwecke erlebt, die einen so bedeutsamen Bestandteil der Kulturentwicklung überhaupt bildet. Unentwegt hat die Sozialdemokratie an der Bildung des Arbeiterstandes gewirkt, nicht um der Gemeinschaft als solcher, sondern nur um sich selber zu dienen, und man muß anerkennen, daß Sie in dieser Beziehung ein Ziel erreicht hat, hinter dem die Arbeiterbevölkerungen aller andern Länder weit zurückgeblieben sind. Wir besitzen, das erkennen auch die uns feindlichen Völker an, die gebildetste Arbeiterklasse der Welt, Im gleichen Maße, in welchem sie sich zu dieser Höhe erhoben hat, muß sie aber auch allmählich aufhören, sich als eine den übrigen Gliedern der Gemeinschaft feindlich gegenüber stehende Klasse zu fühlen. Die Elite unserer Arbeiterschaft beginnt daher bereits aus einer der Gesellschaft feindselig gegenüberstehenden Klasse zu einem mitten innerhalb dieser Gemeinschaft stehenden Stande zu werden, der so gut wie jeder andere seine Pflichten zu erfüllen hat. Keine bessere Schule könnte es aber für diesen Stand geben als die Verpflichtung gegen das Vaterland, die er durch die Übernahme der Regierung auf sich genommen, zu erfüllen. Heute behilft er sich noch notdürftig bei der Erfüllung dieser Verpflichtung mit einer stattlichen Zahl ihm untergeordneter Mitarbeiter aus andern Parteien, und so sind wir unter dieser Herrschaft der Sozialdemokratie zu dem merkwürdigen Aufbau einer Verfassung gelangt, bei welcher die täglichen Geschäfte zumeist von beliebigen Sachverständigen Beamten besorgt werden, während sich die nichtsachverständigen Leiter der Ministerien in den wichtigeren Fällen die Entscheidung vorbehalten. Das sind Einrichtungen, die von Tag zu Tag ihre völlige Unhaltbarkeit so einleuchtend beweisen, daß sie nur noch eine kurze Dauer haben können. Damit hat sich aber die Sozialdemokratie noch ein zweites unbeabsichtigtes Verdienst erworben: sie hat glänzend bewiesen, daß auf Grund der Parteiherrschaft ein Staat nicht existieren kann. Um so mehr dürfen wir erwarten, daß nicht, wie heute manche Pessimisten glauben, die Revolution, die gegenwärtig noch keineswegs ihr Ende erreicht hat, erst in einer fernen, vielleicht Jahrhunderte fordernden Zukunft der Not steuern wird, in der wir uns gegenwärtig befinden, sondern daß wir dem Ende dieser Not um so früher entgegensehen dürfen, je verwirrter und unhaltbarer die Zustände geworden sind, die uns die Gegenwart gebracht hat.
Dreimal im Verlauf des letzten Jahrhunderts haben wir in kürzerer Zeit eine Umkehr erlebt, die dem oben erwähnten großen Kulturwandel unserer Geschichte analog, aber in der entgegengesetzten Richtung erfolgt ist und uns damit immer tiefer in den egoistischen Utilitarismus verstrickt hat. Das erste Mal geschah dies im Gefolge der Befreiungskriege, nach denen eine finstere Reaktion über uns hereinbrach und die Jugend, die einer besseren Zukunft entgegenstrebte, von dem politischen Leben sich abwenden und ganz nur den materiellen Interessen des Tages sich widmen ließ. Das war die Zeit, in welcher der aufblühende Idealismus der ersten Hälfte des Jahrhunderts zerstört wurde, um einem von außen importierten Utilitarismus Platz zu machen. Ein zweites Mal folgte das gleiche Schicksal der Revolution vom Jahre 1848. Als sie gescheitert war, wanderten die Besten unseres Volkes aus oder zogen sich völlig vom politischen Leben zurück, um nur noch den eigenen egoistischen Interessen zu leben. Das dritte Mal war es der allzu leicht errungene Sieg über unsere Nachbarn in den Jahren 1870 und 1871, der unsere Weltstellung begründete, nun aber durch diese um so mehr die Jagd nach äußerer Macht und die Konkurrenz um die materiellen Güter des Lebens in den Vordergrund drängte. Vielleicht ist es gerade dieser Wandel in einen Weltstaat, zu dem das deutsche Volk ohne eigenes Verdienst geworden ist, der am verhängnisvollsten gewirkt hat. Um so mehr dürfen wir die schwere Schule, die wir alle in der Umwälzung dieser letzten Jahre erlebt haben, als ein Feuer der Läuterung ansehen, das uns mit innerer Notwendigkeit endlich dem oft erstrebten, aber noch nie erreichten Ziele entgegenführen wird: die führende Macht der Kulturvölker in dem Streben nach der Gewinnung und Befestigung der geistigen Güter zu sein, an denen alle Kulturvölker, jedes an der ihm durch Begabung und Geschichte angewiesenen Stelle, mitzuarbeiten berufen sind.