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Von der Totenfeier Karl Mathys, die ich in gewissem Sinn als den Abschluß meines politischen Lebens betrachten darf, kehre ich zu meinen Anfängen zurück. Wenn es etwas gab, was mich innerhalb meiner politischen Laufbahn an diese Anfänge manchmal erinnerte, so waren es die Beratungen über das badische Schulgesetz, an denen es mir vergönnt war, teilzunehmen. Nicht als ob ich bei diesen Beratungen meinen eigenen pädagogischen Erfahrungen etwas hätte entnehmen können. Denn mir war das Schicksal beschieden, abgesehen von jenen beiden frühesten Jahren der Volksschule, die wohl mancherlei Erinnerungen, aber kaum irgend erhebliche Erziehungsresultate in der Seele des Kindes zurückließen, meine Jugend im Elternhause ohne Geschwister und ohne Mitschüler zu verleben. Von meinen drei älteren Geschwistern waren zwei vor meiner Erinnerung gestorben, und der einzige überlebende Bruder hatte, acht Jahre älter als ich, das Elternhaus in meiner frühesten Jugend verlassen, um bei einer Schwester meiner Mutter in Heidelberg untergebracht zu werden, wo er von der untersten Klasse an das Gymnasium besuchte und zusammen mit deren beiden Kindern, einem Sohn und einer Tochter, erzogen wurde. Ich selbst blieb dagegen im Elternhause, um vom zweiten Schuljahr an von einem neuen Vikar unterrichtet zu werden, der sein Zimmer mit mir teilte. Dieser noch ziemlich jugendliche Hilfsgeistliche meines Vaters mit Namen Friedrich Müller war nun mein eigentlicher Erzieher. Mich verband mit ihm eine Liebe, wie sie selten zwischen einem Lehrer und seinem Zögling vorkommt. Er stand mir näher als Vater und Mutter, und als er nach mehreren Jahren auf eine eigene in der Nähe liegende Pfarre in dem Orte Münzesheim berufen war, wurde ich von so unnennbarem Heimweh ergriffen, daß meine Eltern auf seine Bitte sich entschlossen, das Jahr, das ich noch dem Gymnasium ferngehalten werden sollte, mich zu ihm übersiedeln zu lassen. So verlebte ich denn schon die Jahre in Heideisheim fast ohne Gefährten. Denn der allerdings beinahe tägliche Gefährte, den ich vor meinem Elternhaus anzutreffen pflegte, war ein Blödsinniger, etwas älter als ich, kaum der Sprache mächtig, aber unendlich gutmütig und sichtlich ebenso mir wie ich ihm zugetan. Außerdem verkehrte ich mit einigen Erwachsenen, die ich in ihren Wohnungen häufig besuchte. Da waren zunächst zwei ältere Frauen, die Töchter eines vormaligen Geistlichen des Ortes, mit ihrem etwas jüngeren Bruder, der den ihn nur wenig beschäftigenden Beruf der Buchbinderei betrieb. Er hinkte und war eine höchst originelle, in seiner Weise geistreiche Persönlichkeit. Er steckte voll abenteuerlicher Geschichten, die er dem Knaben erzählte und die er alle selbst erlebt haben wollte. Daneben war er jederzeit zu Scherzen, Verkleidungen und Komödienspielen bereit, so daß der Verkehr mit ihm um so mehr eine Quelle unaufhörlicher Unterhaltung war, als ich seine Geschichten doch immer halb und halb glaubte und er überdies in seinen bald erheiternden, bald staunenerregenden Bemühungen auch von den beiden Schwestern in etwas gemäßigterer Weise unterstützt wurde. Waren nach dem Hause dieses trefflichen Geschwistertrifoliums, das dem unseren gerade gegenüber lag, fast täglich einmal meine Schritte gerichtet, trotz der Gefahren, die mir auf dem Wege dahin über den Marktplatz von den verfolgenden Dorfgänsen drohten, so gab es noch einige andere Freundschaften, die ich zuweilen pflegte. Da war es besonders eine Judenfamilie, die nicht nur mit mir, sondern auch mit meiner Mutter einigen Verkehr hatte. Die Großmutter dieser Familie handelte mit allerlei Waren und verfehlte nicht, um die jüdische Osterzeit einige Osterbrote als Geschenk zu überbringen; der Vater wanderte Tag für Tag als Hausierer in der Umgegend herum. Für mich aber war es ein besonderes Fest, wenn ich ihn gelegentlich einmal in die Synagoge begleiten durfte oder wenn ich von ihm zu dem Laubhüttenfest in seine Wohnung geladen wurde. Noch stehe ich unter dem erhebenden Eindruck, den es auf mich machte, wenn der Mann, den ich sonst nur gebückt unter seinem über die Schulter gehängten Sack durch die Straßen gehen sah, aufrecht und feierlich, von schmückendem Laub umgeben, die Festgebete rezitierte.
Gegenüber solchem regelmäßigeren Verkehr bildete die Teilnahme an dem Spiel, namentlich dem Ballspiel, einer größeren Zahl zufällig auf dem Marktplatz zusammengelaufener Straßenjungen eine seltene Ausnahme, das mir übrigens auch wenig Freude bereitete, da meine Mitspieler mir an körperlicher Gewandtheit beträchtlich überlegen fühlten. Nur ein einziges alljährlich am Ostertag unter der Teilnahme der gesamten Dorfjugend stattfindendes Fest blieb auch mir nicht erspart: das war das Wettspiel der Ostereier am Ostermontag nach der Kirche. Vor dem Gottesdienst waren den Kindern die Ostereier, meist unter Blumen und Büschen versteckt, beschert worden; dann fand sich mit auserlesenen Eiern bewaffnet die Jugend in einem dichten Haufen auf dem Marktplatze ein, wo das Eierpicken begann. Der Junge, dessen Eispitze die des anderen zertrümmerte, erhielt dieses als Gewinn. Es pflegte aber unter den Wettenden niemals an solchen zu fehlen, die künstliche Eier hergestellt hatten, welche ihres Eiinhalts entleert und mit Pech gefüllt waren. Zwar entging dieses Verbrechen, wenn es entdeckt wurde, nicht einer tüchtigen Prügelstrafe. Aber es wurde doch oft genug nicht entdeckt, und namentlich der Pastorensohn ging in der Regel betrübt, weil eines beträchtlichen Teils seiner Eier auf diesem Wege beraubt, wieder nach Hause.
Meine früheste Erziehung lag hauptsächlich in den Händen meiner Mutter, die mich mit unendlicher Güte behandelte, es aber dabei doch auch nötigenfalls an einer empfindlichen körperlichen Strafe nicht fehlen ließ, wogegen ich mich von Seiten meines Vaters, abgesehen von der früher erzählten Schulstrafe, im Hause selbst an nicht seltene Liebkosungen erinnere, bei denen er sich manchmal der seltsamsten Kosenamen bediente. In der Familie waren meine Eltern wegen ihrer Neigung, Geselligkeit zu pflegen, berühmt, während sie doch beide wegen ihrer sonst sehr entgegengesetzten Eigenschaften, die Mutter wegen ihrer strengen Sparsamkeit, der Vater wegen seines Mangels an dieser bekannt waren. Von mir wurde infolgedessen schon in meiner frühen Jugend behauptet, die Neigung zur Geselligkeit sei auf mich von beiden Eltern, der Mangel an Wirtschaftlichkeit aber bloß vom Vater übergegangen.
Übrigens ist mir die Eigenart meines Vaters aus vielen einzelnen Zügen in lebhafter Erinnerung. Er war jederzeit zu Scherzen und zum Erzählen heiterer Anekdoten aufgelegt, Freigebig aber war er im Übermaß. Noch bestand zu jener Zeit die Einrichtung, daß das Gehalt des Geistlichen zu einem großen Teil in den Naturalien bezahlt wurde, die von dem Ertrag der verpachteten Pfarräcker entfielen. Keiner der Bäuerlein, die einen Teil dieses Ertrags zu liefern hatten, tat aber eine Fehlbitte, wenn er wegen der schlechten Zeiten um Erlaß seiner Jahresschuld bat, bis endlich wegen der bedenklichen Folgen dieser Freigebigkeit die Verwandten es durchsetzten, daß meine Mutter die Verwaltung übernahm.
Zuweilen wurde ich mitgenommen, wenn meine Eltern in der benachbarten Stadt ihre Einkäufe machten. Bei solchen Geschäften bestand nun die allgemeine Sitte, daß der Käufer an dem Preis etwas herunter handelte, und meine Mutter machte von dieser Sitte ziemlich reichlichen Gebrauch. Dabei geschah es denn, daß sich mein Vater in diesem Streit auf die Seite des Kaufmanns stellte, so daß dieser, der ein ehrlicher Mann war, gelegentlich wieder umgekehrt die Partei der Mutter nahm und ihm entgegnete: »Es geht schon an, Herr Pfarrer, daß ich den Preis etwas herabsetze!«
Dagegen reichte beider Teilnahme an meinem Unterricht nur in meine früheste Lebenszeit zurück, wo mein Vater zuweilen des Abends mir etwas Geographie beibrachte und meine Mutter mich mit französischen Wörtern oder Sätzen bekannt machte. Es mag sein, daß in beiden Fällen der eigene Jugendunterricht der Eltern nachwirkte. Mein Großvater väterlicherseits, den ich nicht mehr gekannt habe, war Pfarrer in dem Ort Wieblingen und daneben Professor der Landeskunde und Volkswirtschaft an der Universität Heidelberg gewesen; meine Mutter war in der späteren bayrischen Pfalz geboren und war dort unter der Leitung einer französischen Erzieherin des Französischen so mächtig geworden, daß sie, obgleich sie es später nicht mehr übte, doch noch als 40 jährige Frau mit einem gelegentlich das Dorf passierenden französischen Hausierer sich zu meinem Erstaunen trefflich zu unterhalten wußte.
Bei unserem jährlichen, meist einige Wochen dauernden Besuch bei meinem Großvater mütterlicherseits in Heidelberg griff übrigens dieser, der ein sehr strenges häusliches Regiment führte, in meine Erziehung ein. Er war Güterverwalter des ansehnlichen Besitztums gewesen, das die Universität vor der französischen Revolution jenseits des Rheins besessen, und war dann, als dieser Besitz an Frankreich verloren gegangen war, nach Heidelberg gezogen, wo er nun im emeritierten Zustand seinen Tag zwischen zwei Beschäftigungen teilte. Die eine Hälfte war einer mehrere Zimmer füllenden Blumenzucht, die andere dem Klavierspiel gewidmet. Seine musikalische Hinterlassenschaft, aus einem großen Teil der Werke Mozarts bestehend, erinnere ich mich noch in meiner Jugend gesehen zu haben. Er war ein Mann der größten Präzision und nahm es sehr übel, wenn die tägliche Ordnung nicht auf das genaueste festgehalten wurde. Seine Kinder, zwei Söhne, der eine der spätere bekannte Gehirnanatom Friedrich Arnold, der andere ein vielbeschäftigter Arzt und Titularprofessor Wilhelm Arnold, und drei Töchter, von denen die jüngste, unverheiratet geblieben, seinen Haushalt führte, redeten ihn nach der Sitte der Zeit mit dem ehrerbietigen »Sie« an, während er sie zeitlebens als Kinder behandelte. In den Wochen, die ich als Knabe bei ihm in Heidelberg zubrachte, in der Zeit meiner Erinnerung in dem Hause Ecke der Schiffgasse gegenüber dem Gasthof zum badischen Hof, pflegte er sich gründlich mit meiner Erziehung zu beschäftigen. Namentlich geschah das auf täglichen Spaziergängen in der Umgebung der Stadt. Unter diesen Spaziergängen spielte der »Pariser Weg«, eine schmale Gasse außerhalb der Stadt an der Stelle der jetzigen Anlage oder Leopoldstraße eine besondere Rolle. Denn dieser Weg führte zu dem Bahnhof, den mein Großvater und ich von seiner ersten Entstehung bis zu seiner Vollendung verfolgten. Noch entsinne ich mich deutlich des ersten Aktes dieser Entstehungsgeschichte. Er bestand in der Ausrottung eines größeren Weinberges, der hier vor der Stadt gelegen war, die von mehreren Frauen unter empörtem Weinen und Zanken über diese ihnen zugemutete Enteignung ausgeführt wurde. Dann, als der erste kleine Bahnhof errichtet war, sehe ich uns beide unter einer großen Zahl von Menschen, die sich hier angesammelt, um den ersten Bahnzug von Heidelberg nach Mannheim abgehen zu sehen. Noch sehe ich auf der kleinen Lokomotive den Lokomotivführer, von dem mir mein Großvater sagte, er sei ein Engländer und unterrichte die Deutschen in der Lokomotivführung. Eine längere Zeit wiederholten sich diese Spaziergänge täglich. Auch gab es eine große Zahl anderer Bewohner, die keinen Zug abgehen ließen, ohne ihn anzusehen. Ein zweiter Spaziergang war nach dem ebenfalls vor der Stadt gelegenen sogenannten »Arboretum«, dem jetzigen »Wredeplatz« gerichtet. Doch geschah dies häufiger nicht in Begleitung des Großvaters, sondern eines älteren Dienstmädchens, und in Zeiten, in denen die älteste Tochter meines Oheims zu Besuch war, die, etwas älter als ich, als Vorzugsperson behandelt wurde, und zu der ich selbst mit großem Respekt emporblickte. Weniger erfreulich als diese Spaziergänge war die häusliche Erziehung des Großvaters. Hier war er sehr streng und ließ es an empfindlichen Strafen nicht fehlen. So erinnere ich mich, von ihm wegen irgendeines Vergehens eines Tages in den vom Hausgang aus zugänglichen dunklen Ofenraum zu meinem Entsetzen eingesperrt worden zu sein, eine Strafe, die sogar das tiefste Mitleid meiner Mutter erregte.