Wilhelm Wundt
Erlebtes und Erkanntes
Wilhelm Wundt

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50.

Meine Ethik von 1886. Meine Völkerpsychologie. Die ethische Aufgabe der Völkerpsychologie. Die Gemeinschaft und die Einzelpersönlichkeit. Die sittliche Bedeutung des Staates. Die Vergangenheit der Naturvölker. Die deutsche Kultur und der deutsche Idealismus. Die Zukunft der Kultur. Die drei Entwicklungsphasen der neuen deutschen Kultur. Die deutsche Rechtsentwicklung. Der deutsche Idealismus des 19. Jahrhunderts. Der Wandel der Wissenschaften. Die Geisteswissenschaften der Gegenwart. Bildungsbestrebungen der Gegenwart. Die Bildungsbestrebungen der deutschen Arbeiter. Dreimaliger Einfluß des Utilitarismus im 19. Jahrhundert. Zukunftsberuf des deutschen Volkes.

Als im Jahre 1886 zum ersten Male meine »Ethik« erschien, war ich bereits zu der Überzeugung gelangt, daß die Normen der Ethik nicht aus ihr selbst zu entnehmen, sondern daß sie ihr durch Voraussetzungen gegeben seien, nach denen sie von vornherein orientiert werden müsse, wenn sich diese Wissenschaft nicht in unbestimmten und willkürlichen Annahmen bewegen solle. Es schien mir aber zweifellos, daß die wesentlichsten dieser Voraussetzungen die objektiven geistigen Güter des Lebens seien, zu denen die materiellen nur als die Hilfsmittel und die Vorbedingungen ihrer Entstehung angesehen werden könnten. Darin lag zugleich eingeschossen, daß die Gemeinschaft in dem Sinne zu verstehen sei, in welchem schon im Altertum die sokratische Schule diesen Begriff klar und unzweideutig festgestellt hatte, oder daß, wie dereinst Plato sich ausgedrückt, die »Gemeinschaft früher sei als der einzelne«, d. h. daß die geistigen Güter des Lebens als die objektiven, zunächst an die nationale und staatliche Gemeinschaft gebundenen angesehen werden müssen, durch die erst dem Streben und Wirken des einzelnen seine Lebensaufgaben vorgezeichnet seien. Das ist der Grundsatz des philosophischen Idealismus geblieben von Plato an bis auf unsere Tage, und durch ihn gewinnt erst das Verhältnis des einzelnen zum Staat seinen wahren Inhalt. Denn als Mitarbeiter an den Aufgaben des gemeinschaftlichen Lebens empfängt erst der einzelne seinen sittlichen Wert und damit in seiner Zugehörigkeit zunächst zur politischen Gemeinschaft und durch diese schließlich zur Gemeinschaft der Kulturvölker seine Lebensaufgaben, die an ihn die Forderung stellen, an der Erhebung der bis dahin kulturlosen Völker zur Kultur mitzuwirken, soweit es seine Stellung zuläßt. Keine Weltanschauung gibt es daher, die verkehrter ist als diejenige, die in der Gemeinschaft oder schließlich sogar in der Gesamtheit der lebenden Menschen nichts anderes sieht als die Summe dieser Menschen und daher in der staatlichen und schließlich in der allgemeinen Völkergemeinschaft nur einen aus Verträgen und Vereinbarungen hervorgegangenen Verband erblickt, der lediglich dazu bestimmt sein soll, das Glückbedürfnis der einzelnen zu befriedigen. Dies ist aber die Anschauung des egoistischen Utilitarismus, der in Jeremias Bentham seinen noch für die Gegenwart maßgebenden Vertreter gefunden hat, und der noch heute, wie eine überwältigende Zahl von Zeugnissen beweist, zur allgemeinen populären Überzeugung der Völker geworden ist. In der Kritik des egoistischen Utilitarismus und der Nachweisung seiner unter jedem wahrhaft sittlichen Gesichtspunkt unhaltbaren Konsequenzen besteht daher die wesentliche Tendenz jenes Werkes über die Ethik, das sich im übrigen darauf beschränkte, teils aus der Geschichte der Sitte, teils aus der Entwicklungsgeschichte der philosophischen Weltanschauungen unterstützende Belege für den Standpunkt des wirklichen ethischen Idealismus beizubringen.

Ich konnte mich nicht darüber täuschen, daß eine derartige Darstellung, die gewissermaßen mit dem Ende der Probleme beginne, nicht geeignet sei, ein größeres Publikum für sich zu gewinnen. Dagegen schienen mir meine gegen diese Anschauung gerichteten Argumente, bei denen ich mich bemüht hatte, streng den Standpunkt der Erfahrung festzuhalten, einleuchtend genug, um wenigstens damit auf einen kleineren Kreis philosophisch Gebildeter wirken zu können. Meine Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie und der Einzelwissenschaften hat mich seitdem überzeugt, daß dies von vornherein ein Irrtum gewesen war, bei dem das öffentliche Leben ebenso wie der Einfluß der Einzelwissenschaften und der aus ihnen hervorgegangenen philosophischen Strömungen außer Rechnung blieben. Mehr und mehr konnte ich nicht umhin, mich zu überzeugen, daß gerade hier in dem überwältigenden Einfluß der äußeren Faktoren des sittlichen Lebens die notwendige Bedingung zur Erzeugung und fortwährenden Verstärkung eben jenes egoistischen Utilitarismus gelegen sei, der in unserer heutigen Kultur nicht minder wie in dem Verkehr der einzelnen und der Völker zur Herrschaft gelangt ist. Und dies ist, wie ich schließlich wohl gestehen darf, die Hauptabsicht gewesen, die mich bei dem umfangreichen Unternehmen meiner Völkerpsychologie geleitet, und die der einsichtige Leser dieses Werkes schwerlich verkannt hat, abgesehen davon, daß natürlich das Thema an und für sich mir eine wichtige Aufgabe der heutigen psychologischen Wissenschaft zu sein schien.

Zunächst darf ich dabei wohl auf den Zusammenhang des Ganzen hinweisen, wie er, um dies deutlicher hervortreten zu lassen, in dem letzten Bande noch einmal in kurzen und nach manchen Seiten ergänzenden Umrissen dargestellt worden ist. Überblickt man hier die Gesamtentwicklung der Kultur, so ist unzweideutig ein zwischen manchen Neben- und Abwegen sich bewegendes, aber im letzten Grunde durchaus einheitlich als auf ihr letztes Ziel gerichtetes Streben zu erkennen, das auf die Unterwerfung der Natur unter den Willen des Menschen, auf ihre Umwandlung in ein Werkzeug für seine Zwecke ausgeht, die mit den materiellen Zwecken des Lebens beginnen, um mit ihrer Hilfe sich zu den höchsten geistigen Gütern zu erheben. Gerade diese aber bewähren sich in dieser Entwicklung als die höchsten und letzten, weil sie allein die bleibenden sind, diejenigen, in denen die gesamte geistige Kultur der Vergangenheit noch in uns lebendig ist und über uns hinaus in alle Zukunft, soweit das Dasein der Menschheit reicht, lebendig bleiben wird, während ihnen gegenüber die materiellen Gestaltungen des Lebens einem fortwährenden, von den mannigfaltigsten Nebeneinflüssen bestimmten Wechsel unterworfen sind. Es kann niemals die Aufgabe eines einzelnen oder auch nur eines einzelnen Volkes sein, an dieser großen Kulturmission, wie sie uns die Entwicklungsgeschichte der Kultur offenbart, Nennenswertes mitzuarbeiten, ohne daß sie selbst aller der Vorbedingungen teilhaftig sind, die die vorangegangene Kultur des eigenen Volkes und dann weiterhin die allgemeine Stufe, die die menschliche Kultur erreicht hat, ihnen bieten. Gerade im Hinblick auf den Wert, den in dieser Zusammenarbeit die einzelne Persönlichkeit für das Ganze besitzt, dem sie angehört, gewinnt ober jener platonische Satz, daß die Gemeinschaft früher sei als der einzelne seine richtige Bedeutung. Bildet doch seine Kehrseite der andere, daß es keine Gemeinschaft gibt ohne die einzelnen und ihr Zusammenwirken in dem Ganzen, dem sie zugehören,

Das einleuchtendste Zeugnis für diesen geistigen Zusammenhang der Einzelpersönlichkeit mit der Gemeinschaft, aus der sie entsprungen ist und an der sie fortan durch ihr Leben und Wirken teilnimmt, liefert uns die Grundfunktion des menschlichen Geistes, die Sprache. Sie bezeichnet am augenfälligsten die Grenzen, innerhalb deren sich zunächst das geistige Leben einer Gemeinschaft bewegt, und daneben die Abhängigkeit, in der überall der einzelne von dieser Gemeinschaft steht, sowie die Macht, mit der er wieder auf sie zurückwirkt; und sie lehrt uns zugleich in ihrer Geschichte die geistigen Wandlungen kennen, die die Kultur dieser Gemeinschaft samt den Wechselwirkungen, in die sie mit anderen Völkern getreten, durchlebt hat. Weitere Kreise, innerhalb deren die einzelne Nation nur ein Glied bildet in einem umfassenderen Völkerverkehr, ziehen die Religion und die Kunst, die weitesten endlich die Wissenschaft, die erst im eigentlichsten Sinne diejenige Stufe erreicht, die wir eine internationale zu nennen berechtigt sind. In allen diesen Kreisen des gemeinsamen Lebens hat aber der einzelne je nach der Arbeit, die er für das Ganze und damit für sich selber leistet, seinen Wert. Der Arbeiter ist für die Kulturgemeinschaft eben so notwendig wie der Industrielle und der Gelehrte. In nichts tritt diese Gleichwertigkeit der Persönlichkeit mehr zutage als in jenen für alle gemeinsamen und darum schließlich für alle in einem gewissen Grade unentbehrlichen geistigen Güter des Lebens: in Sprache, Religion, Kunst und Wissenschaft, in der Sprache am augenfälligsten, in den andern Gebieten meist in verborgenerer Weise, aber schließlich doch in dem Zusammenspiel der geistigen Kräfte und in den mannigfaltigen Ausstrahlungen, in denen sich ihre Wirkungen entfalten, in allen jenen geistigen Gütern zumal, die der Sittlichkeit ihren Wert geben, indem sie ihr die Normen vorschreiben nach denen sich das Leben entfalten muß, wenn es überhaupt ein Sittliches, die Lebenden wie die kommenden Geschlechter beglückendes sein soll.

Die höchste Zusammenfassung dieser geistigen Kräfte ist aber der Staat, in welchem materielles und geistiges Leben zu einer organischen Einheit verbunden werden. Er ist nicht vom Himmel gefallen oder, wie der Individualismus späterer Zeiten ihn zu konstruieren versucht, aus einem Vertrag der einzelnen hervorgegangen, oder ein solcher Vertrag kann doch höchstens sekundär in die bereits vorhandenen Staatenbildungen eingreifen, nachdem diese aus der vorangegangenen Stammesentwicklung entstanden sind. In den letzten, von der Gesellschaft handelnden Abschnitten der Völkerpsychologie habe ich daher die mannigfaltigen Gestaltungen, in denen dieses geschieht, an der Hand namentlich ihrer anfänglichen Bildungen, wie sie uns bei den sogenannten Naturvölkern begegnen, zu schildern versucht. Gerade diese relativ frühen Formen überraschen uns ebenso sehr durch ihre Vielgestaltigkeit wie durch die Gleichförmigkeit in der Wiederkehr gewisser Grundformen des staatlichen Lebens, die von jenen Anfängen bis zu den Kulturvölkern heranreichen. Ein augenfälliges Zeugnis hierfür bieten die afrikanischen Sudanstämme, bei denen uns die Formen der Monarchie von dem äußersten Despotismus bis zu Bildungen entgegentreten, die man annähernd als konstitutionell beschränkte Einheitsstaaten bezeichnen könnte, und nach einer andern Seite die amerikanischen Verfassungen, die von den primitivsten Stammesbildungen durch Familienverbände, aus Stammesverfassung und Staat gemischten Formen bis zu Bundesstaaten emporreichen. Alle diese Erscheinungen sind unwidersprechliche Belege für den Satz, daß alle politische Entwicklung von der Gemeinschaft einer durch Abstammung, Sprache und Sitte verbundenen Gruppe ausgeht, um von da aus sich allmählich in Sippen, Familien und schließlich in einzelne selbständige Individuen zu gliedern, während zugleich jede solche Gemeinschaft neben ihren allgemeingültigen, in gewissen Grundzügen bei den verschiedensten Völkern übereinstimmenden Eigenschaften wiederum ihre Eigenart besitzt, so daß es so wenig zwei Stämme oder vollends zwei Staaten wie zwei Menschen auf der Erde gibt, die miteinander völlig identisch sind.

Was uns so die vergleichende Betrachtung der verschiedenen Stufen der Stammes- und Staatenentwicklung lehrt, das dürfen wir nun aber für die Vergangenheit aller Kulturvölker aus manchen Resten, die bei ihnen aus früheren Stufen ihrer Entwicklung erhalten geblieben sind, mit der größten Wahrscheinlichkeit schließen. Hier gibt es jedoch eine Nation, in der sich die Erinnerung an die Zustände einer frühen Vergangenheit so lebendig erhalten hat und in der zugleich die Zusammenhänge mit der späteren Entwicklung so deutlich vor Augen liegen, daß Sie in dieser Beziehung eine einzigartige Stellung in dem Kreis der Kulturvölker einnimmt: das ist die deutsche. Dank den Schilderungen der römischen Schriftsteller, die dereinst die Zustände der deutschen Stämme auf einer Stufe der Kultur kennen lernten, über die ihre eigenen Völker längst hinausgeschritten waren, und dank der Kontinuität der Entwicklung, die bei dem deutschen Volke in die späteren Gemeinschaftsbildungen, wenn auch zumeist in allmählich sich ändernden Formen, herabreicht, gibt es heute keine europäische Nation mehr, von der wir wie von dieser sagen könnten, sie biete uns ein Bild politischer Entwicklung von ihren mit der Einwanderung der Deutschen in ihre heutigen Wohnsitze beginnenden Anfängen an bis herab zu der Gegenwart. Und mit dieser Kontinuität der Entwicklung trotz aller wechselnden Schicksale des Völkerlebens, die auch hier nicht gefehlt haben, hängt wohl zugleich, wie wir annehmen dürfen, die Eigenart des deutschen Volkes so eng zusammen, daß sie noch heute der unveränderten Übertragung ihm ursprünglich fremder Institutionen mehr widerstreitet, als dies namentlich von den beiden großen Völkergruppen gesagt werden kann, die heute mit den Deutschen die Hauptträger der Kultur sind, von den Romanen und Angelsachsen. Im 9. Bande der Völkerpsychologie habe ich diese Eigenart des deutschen Geistes nach zwei Seiten hin zu verfolgen versucht: zunächst nach den Wirkungen, die sie auf die deutsche Philosophie ausgeübt und die zuletzt in dem deutschen Idealismus des 19. Jahrhunderts ihren Ausdruck gefunden haben. Sodann, in der zweiten Hälfte des Bandes, in der Darstellung der Anfänge und der nächsten Entwicklung der deutschen Rechtsordnungen. Ich habe in meinen Ausführungen keinen Zweifel darüber gelassen, daß ich diese zweite Hälfte für die wichtigere halte, weil es sich hier um die Schilderung einer tatsächlichen Rechtsordnung in ihrer relativ ursprünglichen Gestaltung handelt und Tatsachen immer wichtiger sind als philosophische Theorien. Ein Kritiker dieses Bandes hat gemeint, es sei doch merkwürdig, daß ich das deutsche statt des römischen Rechts gewählt habe. Wenn ich nicht annehmen dürfte, daß dieser Kritiker nach der verbreiteten Gewohnheit der Berufsrezensenten bloß die ersten Seiten gelesen und den Rest als selbstverständlich vorausgesetzt habe, so müßte ich sagen, daß mir ein größeres Mißverständnis wie dieses in meinem Leben kaum begegnet ist. Daß gerade das römische Recht, das einen so tiefgreifenden Einfluß auf die Ausbreitung der individualistischen Denkweise gehabt hat, das für den vorliegenden Zweck ungeeignetste gewesen wäre, springt in die Augen. Kam es doch vielmehr darauf an, an diesem einzigartigen, das ursprüngliche Rechtsbewußtsein eines Volkes widerspiegelnden Zeugnis des deutschen Rechtes zu zeigen, daß ein alle Gebiete des Lebens umfassender und zugleich mit Sitte, Religion und sozialer Kultur eng verbundener Kollektivismus der Anfang aller Rechtsordnung sei.

Nachdem uns nun aber die Geschichte der Kultur gezeigt hat, daß der Individualismus und in seinem Gefolge schließlich der egoistische Utilitarismus durch eine Reihe ineinander greifender Motive mit zwingender Notwendigkeit dem heutigen extremen Individualismus den Sieg über jene Anfänge verschafft hat, sollen wir da nicht vielmehr annehmen, daß damit das Ende der Kulturentwicklung erreicht ist, über das ein weiterer Fortschritt und vollends die Rückkehr zu einem dereinst vorhanden gewesenen Zustand überhaupt nicht mehr möglich sei? Das würde freilich ein trostloses Ende sein, doch wir müßten uns darein fügen im Hinblick darauf, daß jede Kultur der Vergangenheit irgend einmal ein Ende erreicht hat und daß dieses Ende darum unabweislich auch der Kultur der europäischen Völker beschieden ist. Gleichwohl, wenn wir uns umblicken in der europäischen Welt, so begegnen uns Zeugnisse genug, die uns ermutigen dürfen, über diesen trostlosen Ausblick uns zu erheben und uns eine Zukunft vor Augen zu führen, in der eine Regeneration der europäischen Kultur in fernerer oder näherer Zeit eintreten wird. Ja, vielleicht ist gerade die in den letzten Jahren erlebte Weltrevolution, die mit mehr Recht, als wie dereinst von Hobbes der Anfang der Kultur, ein »Kampf aller gegen alle« genannt werden kann, die große Schule gewesen, die die europäischen Völker zu dieser Wiedergeburt erzogen hat. Sicherlich aber ist es ein schwerwiegender Irrtum, wenn heute, in dem sichtlichen Übergangszustand, in dem wir uns befinden immer noch von einer großen Zahl von Menschen in der fortdauernden Pflege des egoistischen Utilitarismus, in dem ausschließlichen Streben nach wirtschaftlichen Gütern, in neuen Friedensverträgen und Völkerbündnissen der Weg zu diesem Ziele gesehen wird. Eine Weiterverfolgung dieses Weges, der nach allen Zeugnissen der Geschichte in die Irre geführt hat, kann immer nur dem Abgrund näher führen, nicht vor ihm retten. Nur eine Umkehr, die dem herrschenden egoistischen Utilitarismus gegenüber sein volles Gegenbild, jenen Idealismus, der dem einzelnen gegenüber die Gemeinschaft und in ihr die geistigen Güter zur Herrschaft bringt, kann eine neue Zukunft der europäischen Kultur herbeiführen. Und wenn es eines unter den europäischen Völkern gibt, das in seiner Geschichte die Zeugnisse für eine solche Wendung der Gesinnung erblicken darf, so ist es das deutsche.

Dreimal im Verlaufe unserer Geschichte haben wir eine Umkehr erlebt, ähnlich der, die uns der eben erlebte Weltkrieg in Aussicht stellt. Das erstemal war es die deutsche Reformation, die eine allgemeine Wiedergeburt der Kultur herbeiführte, aus der die Befreiung des modernen Denkens aus den Fesseln der mittelalterlichen Scholastik hervorging und die Wiedergeburt der dereinst in der antiken schon einmal errungenen Freiheit der individuellen Persönlichkeit, mit ihr zugleich die Wiedergeburt der Religion, der Wissenschaft und der Kunst. Ein zweites Mal war es der furchtbare Krieg, der dreißig Jahre lang die deutschen Lande verwüstet hatte, an dessen Ende abermals eine neue Vertiefung des religiösen Denkens, ein neuer Anfang deutscher Wissenschaft entstand und die deutsche Kunst zu ihrer höchsten bisher erreichten Blüte emporstieg. Ein drittes Mal ist es der soeben erlebte Weltkrieg gewesen, der jedem der an ihm beteiligten Völker den Gedanken nahebringen mußte, daß nicht der Fortschritt auf den bisher gegangenen Wegen, sondern der Übergang zu einer neuen Erkenntnis der wahren Güter des Lebens, der geistigen Werte, zu deren pflege alle Kulturvölker berufen sind, heute das einzige Mittel bleibt, jene Regeneration der Weltkultur herbeizuführen, die wir alle, sei es bewußt, sei es in unbewußtem blindem Drang, erstreben.

Hier aber ist es wiederum das deutsche Volk, dem durch seine Vergangenheit dieser Gedanke vor anderen nahegelegt ist und dem die Verwirklichung desselben daher als seine Mission vor der aller anderen Völker erscheinen muß, nicht um sie für sich allein zu erfüllen, sondern durch sie vorbildlich auf die anderen Völker, deren jedes in der heutigen Kulturwelt seine eigenen Aufgaben hat, zu wirken. Und wir dürfen sagen, daß lange vor dieser erschütternden Kulturkatastrophe unter uns bereits zu wiederholten Malen Kräfte lebendig geworden sind, die diesem Ziele zusteuerten. Am Eingang der neuen Geschichte steht für uns Luther als der Befreier der Gewissen und damit als der gewaltige Regenerator der Wissenschaft und Kunst. Am Anfang der neuen Wissenschaft steht Leibniz, der unsere Wissenschaft zur Weltwissenschaft erhoben hat, und der zugleich der Schöpfer des neuen deutschen Idealismus gewesen ist. Denn wer ihn zu lesen und aus so manchen scholastischen Trübungen, die er aus seiner Zeit aufgenommen hat, zu befreien versteht, dem muß in die Augen springen, daß in einem zuerst uns fremdartig anmutenden Gewand alle idealistischen Grundgedanken bereits enthalten und mit der älteren deutschen Mystik eines Johann Eckart und Jakob Böhme wie nicht minder mit der deutschen Reformation in enge Beziehung gebracht sind. Endlich hat der deutsche Idealismus des 19. Jahrhunderts noch einmal den Versuch gewagt, den Grundgedanken des deutschen Geistes, wie er uns in der ursprünglichen Kultur unseres Volkes entgegenleuchtet, zu klarem Bewußtsein zu erheben. Allen voran ist es hier Johann Gottlieb Fichte gewesen, der unserem Volke den Weg in seine eigene Zukunft und in die der mit ihm an der Kulturarbeit der Menschheit beteiligten anderen Kulturvölker gewiesen hat. Schelling und Hegel haben nur seine Arbeit weitergeführt, sie haben nichts wesentlich Neues hinzugebracht. Freilich darf man nicht, wie es noch heute die Gewohnheit deutscher Philosophen ist, in die systematischen Schriften dieser Denker, in Fichtes Wissenschaftslehre oder in Hegels Logik, den eigentlichen Wert ihrer Lebensarbeit verlegen. Er ruht ganz in der Arbeit an den Hauptproblemen der Philosophie. In Fichtes Naturrecht, das eine so merkwürdige Wendung von der veralteten rationalistischen Rechtsphilosophie zu einer neuen, den Geist der Zukunft in wunderbarer Intuition vorausnehmenden Form vollzieht, in seiner Bestimmung des Menschen, der Bestimmung des Gelehrten, den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters, der Anweisung zum seligen Leben, endlich in den Schriften über den Staat liegen Schätze verborgen, die, freilich noch in einer durch die Einflüsse der Zeit unserem eigenen Denken nicht mehr adäquaten, aber in den Grundgedanken noch immer überzeugenden Gestalt, den Idealismus in seiner die nähere Zukunft beherrschenden Form siegreich zur Geltung bringen. Ist doch der Sozialismus, der in so mannigfachen Gestaltungen in das kommende Jahrhundert überging, zum erstenmal von diesem Denker in seiner vollen Konsequenz entwickelt worden, ist er es doch, der den Begriff der Nation und den heute allverbreiteten Gedanken vom Wesen der Nation und von dem Beruf der verschiedenen Nationen in ihrem Zusammenwirken, endlich von dem schwerwiegenden Verhältnis zwischen Nation und Staat zum erstenmal, wenn auch hier wieder in einer durch das romantische Zeitalter gefärbten Form, zu einleuchtender Klarheit gebracht hat. Und wenn Hegel in seinen Ausführungen über die Sittlichkeit als einem Ideal der Gemeinschaft gegenüber der individuellen Moral in treffendster Weise die notwendigen Grenzen zieht, um auf dieser Grundlage die andern geistigen Güter des Lebens, Religion, Kunst, Wissenschaft, Recht und Staat in unnachahmlicher Tiefe zu behandeln, so tragen freilich auch diese Schöpfungen überall die Züge der Zeit und Umgebung, aber ihr bleibender Wert wird davon nur wenig berührt. Aus meiner Jugend erinnere ich mich, einer großen Professorengesellschaft beigewohnt zu haben, die ihre gesellige Vereinigung als einen »engeren Senat« bezeichnete und in der ein mit einer trefflichen Singstimme begabter Pastor Lieder von Viktor Scheffel vorzutragen pflegte. Er erntete bei jedem seiner Lieder reichen Beifall, den reichsten aber bei demjenigen, in welchem dieser Dichter die Werke Hegels mit den Leistungen der zum Besten des Böblinger Bauern wirkenden Vögel der Guanoküste vergleicht. Ein einmütiger Applaus lohnte den Sänger. So etwas würde, wie ich wohl sagen darf, heute nicht mehr möglich sein, wenigstens nicht, ohne daß sich daneben auch ein leises Pfui vernehmen ließe.

Diese Zeiten der sogenannten »Blüte der Wissenschaft«, die im wesentlichen darin bestand, daß keine Wissenschaft von der andern etwas wußte, daß die Kunst als eine Beschäftigung für solche galt, die dazu Zeit hätten, und schließlich in der Religion ein überlebter Aberglaube gesehen wurde, sie sind vorüber und, wie wir vielleicht hoffen dürfen, für immer vorbei. Ist es doch bezeichnend genug, daß heute von Naturforschern und Juristen ungleich mehr über die philosophischen Probleme der Gegenwart spekuliert wird als von den eigentlichen Fachphilosophen, die viel zu viel mit den Philosophen der Vergangenheit zu tun haben, als daß sie sich in jene vertiefen könnten, und denen es daher nicht selten begegnet, daß sie in solchen vergangenen Systemen das für die Hauptsache halten, was für unser gegenwärtiges Denken zu einer durch vergängliche Nebeneinflüsse bedingten Beigabe geworden ist. Daß die Einzelwissenschaften einander wechselseitig und schließlich alle ebenso der Philosophie bedürfen, wie diese hinwiederum mit dem Stand der Einzelgebiete vertraut sein muß, das ist heute, abgesehen von einigen Vertretern älterer Generationen, zur allgemeinen Überzeugung durchgedrungen. Vielleicht gibt es kein sprechenderes Zeugnis hierfür als die merkwürdige Erscheinung, daß mehrere Vertreter derjenigen Wissenschaft, der man noch vor kurzem höchstens eine Art Zwischenstellung zwischen Wissenschaft und Handwerk angewiesen, der Technologie, unabhängig voneinander die Überzeugung ausgesprochen haben, die Technologie sei eigentlich keine Natur-, sondern eine Geisteswissenschaft (Völkerpsychologie, Bd. 10, S. 307). Dieses Urteil ist wohl kaum zutreffend, aber es beleuchtet scharf die enge Beziehung, die in unseren Tagen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften eingetreten ist. So ist es gekommen, daß es heute durchweg nicht die Philosophen sind, die sich mit den Problemen der Gegenwart und Zukunft beschäftigen, sondern Männer aus anderen Berufen, die sich einen offenen Blick für die Aufgaben bewahrt haben, die uns bevorstehen, wenn sie auch freilich immer noch verkehrte Wege einschlagen, um das ersehnte Ziel zu erreichen. Denn in Wahrheit liegt dieses Ziel nicht in dem Streben, es in der Pflege der wirtschaftlichen Güter unseren Gegnern gleich zu tun, indem wir sie nachahmen. Das ist in der Tat der Weg, der uns in die Sklaverei geführt hat und uns, wenn wir ihn weiter verfolgen, immer tiefer in sie verstricken wird. Man braucht sich nur die Projekte näher anzusehen, die heute unter uns wie Pilze aus der Erde schießen. Da soll bald eine Einheitsschule, die alle Unterschiede der Bildung aus der Welt schafft, bald die Ersetzung der Religion durch einen rationalistischen Moralunterricht, bald die Beschränkung der Bevölkerungsziffer durch ein staatlich geleitetes Abtreibungssystem, insbesondere aber der unbeschränkteste, jeden auf seine eigenen Interessen einengende Individualismus das Heil der Zukunft in sich bergen, und in diesem Sinne soll vor allem der unserem Volkscharakter völlig inadäquate, fremden Vorbildern folgende und damit zur Parteiherrschaft entartete Parlamentarismus dabei hilfreich mitwirken. Es gibt gegenwärtig wohl hauptsächlich zwei Generationen, die von dieser Verblendung bewahrt geblieben sind; das sind auf der einen Seite die älteren des Geschlechts, die die Entwicklung aller dieser Dinge mit erlebt und größere Zeiten mit eigenen Augen gesehen haben, und das ist auf der andern Seite die gebildete Jugend, die, zum Teil kaum dem Knabenalter entwachsen, in diesen Krieg zog, und die in ihm zu Männern geworden ist. Ihnen stehen viele unter uns befremdet und verwundert gegenüber, weil in dieser Jugend fast allein die Erinnerung an den alten Idealismus des deutschen Volkes noch lebendig ist und sie in feiner Wiedererneuerung wirklich die Rettung aus der Not erblickt. Und doch ist gerade dies eine notwendige Folge des großen Kriegs und der unmittelbaren Frische der Eindrücke, die sie aus ihm in die Heimat mitgebracht hat. Eben darum aber dürfen wir in dieser Jugend, auf der unsere Zukunftshoffnungen ruhen, die Vorbilder sehen, denen unser Volk mit innerer Notwendigkeit in kürzerer oder längerer Zeit aus einem auf die Dauer nicht mehr zu unterdrückenden Trieb heraus folgen wird.

In der Tat regen sich, wenn wir um uns blicken, überall schon deutlich die Symptome einer auf das gleiche Ziel gerichteten Umkehr der Gesinnungen. Das bedeutsamste Vorzeichen dieser Umkehr ist. Sicherlich das Streben nach Verallgemeinerung und Vertiefung der geistigen Bildung, die sich aller Stufen und Stände der Bevölkerung bemächtigt hat. Gehört doch die Organisation von Volkshochschulkursen, die Aufklärung durch Wanderredner und aus eigenem Antrieb in Stadt und Land wirkenden Männern und Frauen heute zu einer der verbreitetsten Erscheinungen. Ein nicht geringes Verdienst hat sich in dieser Beziehung selbst die Sozialdemokratie erworben. An ihr haben wir eines der merkwürdigsten Beispiele jener Heterogonie der Zwecke erlebt, die einen so bedeutsamen Bestandteil der Kulturentwicklung überhaupt bildet. Unentwegt hat die Sozialdemokratie an der Bildung des Arbeiterstandes gewirkt, nicht um der Gemeinschaft als solcher, sondern nur um sich selber zu dienen, und man muß anerkennen, daß Sie in dieser Beziehung ein Ziel erreicht hat, hinter dem die Arbeiterbevölkerungen aller andern Länder weit zurückgeblieben sind. Wir besitzen, das erkennen auch die uns feindlichen Völker an, die gebildetste Arbeiterklasse der Welt, Im gleichen Maße, in welchem sie sich zu dieser Höhe erhoben hat, muß sie aber auch allmählich aufhören, sich als eine den übrigen Gliedern der Gemeinschaft feindlich gegenüber stehende Klasse zu fühlen. Die Elite unserer Arbeiterschaft beginnt daher bereits aus einer der Gesellschaft feindselig gegenüberstehenden Klasse zu einem mitten innerhalb dieser Gemeinschaft stehenden Stande zu werden, der so gut wie jeder andere seine Pflichten zu erfüllen hat. Keine bessere Schule könnte es aber für diesen Stand geben als die Verpflichtung gegen das Vaterland, die er durch die Übernahme der Regierung auf sich genommen, zu erfüllen. Heute behilft er sich noch notdürftig bei der Erfüllung dieser Verpflichtung mit einer stattlichen Zahl ihm untergeordneter Mitarbeiter aus andern Parteien, und so sind wir unter dieser Herrschaft der Sozialdemokratie zu dem merkwürdigen Aufbau einer Verfassung gelangt, bei welcher die täglichen Geschäfte zumeist von beliebigen Sachverständigen Beamten besorgt werden, während sich die nichtsachverständigen Leiter der Ministerien in den wichtigeren Fällen die Entscheidung vorbehalten. Das sind Einrichtungen, die von Tag zu Tag ihre völlige Unhaltbarkeit so einleuchtend beweisen, daß sie nur noch eine kurze Dauer haben können. Damit hat sich aber die Sozialdemokratie noch ein zweites unbeabsichtigtes Verdienst erworben: sie hat glänzend bewiesen, daß auf Grund der Parteiherrschaft ein Staat nicht existieren kann. Um so mehr dürfen wir erwarten, daß nicht, wie heute manche Pessimisten glauben, die Revolution, die gegenwärtig noch keineswegs ihr Ende erreicht hat, erst in einer fernen, vielleicht Jahrhunderte fordernden Zukunft der Not steuern wird, in der wir uns gegenwärtig befinden, sondern daß wir dem Ende dieser Not um so früher entgegensehen dürfen, je verwirrter und unhaltbarer die Zustände geworden sind, die uns die Gegenwart gebracht hat.

Dreimal im Verlauf des letzten Jahrhunderts haben wir in kürzerer Zeit eine Umkehr erlebt, die dem oben erwähnten großen Kulturwandel unserer Geschichte analog, aber in der entgegengesetzten Richtung erfolgt ist und uns damit immer tiefer in den egoistischen Utilitarismus verstrickt hat. Das erste Mal geschah dies im Gefolge der Befreiungskriege, nach denen eine finstere Reaktion über uns hereinbrach und die Jugend, die einer besseren Zukunft entgegenstrebte, von dem politischen Leben sich abwenden und ganz nur den materiellen Interessen des Tages sich widmen ließ. Das war die Zeit, in welcher der aufblühende Idealismus der ersten Hälfte des Jahrhunderts zerstört wurde, um einem von außen importierten Utilitarismus Platz zu machen. Ein zweites Mal folgte das gleiche Schicksal der Revolution vom Jahre 1848. Als sie gescheitert war, wanderten die Besten unseres Volkes aus oder zogen sich völlig vom politischen Leben zurück, um nur noch den eigenen egoistischen Interessen zu leben. Das dritte Mal war es der allzu leicht errungene Sieg über unsere Nachbarn in den Jahren 1870 und 1871, der unsere Weltstellung begründete, nun aber durch diese um so mehr die Jagd nach äußerer Macht und die Konkurrenz um die materiellen Güter des Lebens in den Vordergrund drängte. Vielleicht ist es gerade dieser Wandel in einen Weltstaat, zu dem das deutsche Volk ohne eigenes Verdienst geworden ist, der am verhängnisvollsten gewirkt hat. Um so mehr dürfen wir die schwere Schule, die wir alle in der Umwälzung dieser letzten Jahre erlebt haben, als ein Feuer der Läuterung ansehen, das uns mit innerer Notwendigkeit endlich dem oft erstrebten, aber noch nie erreichten Ziele entgegenführen wird: die führende Macht der Kulturvölker in dem Streben nach der Gewinnung und Befestigung der geistigen Güter zu sein, an denen alle Kulturvölker, jedes an der ihm durch Begabung und Geschichte angewiesenen Stelle, mitzuarbeiten berufen sind.


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