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Wie Tübingen als schwäbische Landstadt nicht unbeträchtlich von den meisten anderen Universitätsstädten sich unterschied, so auch die Universität von anderen deutschen Universitäten zu der Zeit, als ich sie besuchte. Vor allem bot sie in ihren einzelnen Fakultäten bemerkenswerte Unterschiede. Hier waren zunächst die Mitglieder der beiden theologischen Fakultäten, der katholischen und der evangelischen, sämtlich Württemberger. Beide hatten auch noch im Unterschied von allen andern deutschen Fakultäten der Theologie ihre alten Einrichtungen, die evangelische unter dem Namen des Stifts, die katholische unter dem des Konvikts bewahrt, ebenso wie die Repetenten als eine Art Mittelstellung zwischen Student und Dozent. Die philosophische Fakultät bestand wenigstens ihrer Majorität nach aus Württembergern, die Juristen und die Mediziner dagegen zum größten Teil aus deutschen Ausländern, zu denen auch noch, wahrscheinlich als Tradition an die frühere Zugehörigkeit zur medizinischen Fakultät, die Vertreter der Naturwissenschaften gehörten. Sie repräsentierten aber offenbar eine jüngere Generation von Universitätslehrern, die wohl vor nicht allzu langer Zeit zu den Einheimischen hinzuberufen worden waren. Zu diesen Berufenen gehörte auch der Kanzler der Universität, der zugleich die vornehmste juristische Professur innehatte, und als der zu meiner Zeit Gerber, vor ihm Wächter, beide später nach Leipzig berufene Professoren, Gerber dann auch späterer als sächsischer Kultusminister fungierte. Von den in Tübingen wirkenden Professoren der Philosophie waren, ebenfalls im Anschluß an die ältere deutsche Tradition, die meisten ehemalige Theologen. Wie Schelling und Hegel, die von Tübingen ausgegangenen berühmtesten Philosophen gewesen waren. So wirkte dort in meiner Studienzeit Albert Schwegler, der, auch darin ein Repräsentant der vielseitigen Gelehrsamkeit dieser Schwäbischen von der Theologie ausgegangenen Gelehrten, gleichzeitig Theologe, Historiker und Philologe war, ebenso wie die anderen späteren Tübinger Philosophen bis herab auf Zeller Schüler des Theologen Baur, des berühmten Hauptes der Tübinger Theologenschule. Neben ihm wirkte noch Friedrich Theodor Vischer, ebenfalls ursprünglich Theologe, aber frühe schon zur Philosophie übergegangen. Seine Vorlesung über Ästhetik in ihrer Winterhälfte ist das einzige philosophische Kolleg, das ich in Tübingen hörte. Außerdem besuchte ich die drei zur naturwissenschaftlichen Abteilung der philosophischen Fakultät gehörigen Kollegia der Botanik, Chemie und Physik: die Botanik bei Hugo von Mohl, der in der neu erbauten Universität vor dem Lustenauer Tore las. Es fehlte damals noch an einem besonderen botanischen Auditorium, und Mohl brachte daher meist einige Pflanzen auf das Katheder mit, die er bei den Zuhörern zirkulieren ließ. Schloßberger, der vor kurzem ein damals sehr geschätztes Lehrbuch der Chemie verfaßt hatte, las ebenfalls in der Universität, aber bloß theoretisch, da in derselben nicht experimentiert werden konnte. Zur Ergänzung bestellte er daher einmal wöchentlich die Zuhörer in ein mit einigen anderen Instituten und der Universitätsbibliothek auf dem Schloßberg gelegenes Gebäude, um die vorher in der Universität geschilderten chemischen Experimente nachzuholen. Reusch, der in seinem im gleichen Bau gelegenen physikalischen Institut auch das Kolleg las, begleitete dagegen dieses unmittelbar mit Experimenten. Aber da er erst kurz vorher sein Amt angetreten und sein Vorgänger Nörremberg das Instrumentarium etwas vernachlässigt hatte, pflegte Reusch meist vor dem Experiment darauf aufmerksam zu machen, daß dieses wahrscheinlich mißlingen werde. So erinnerten diese drei naturwissenschaftlichen Vorlesungen noch einigermaßen an die Zustände, in denen vor etwas längerer Zeit auch an andern deutschen Universitäten die naturwissenschaftlichen Fächer hinter den schon lange bestehenden theologischen und philologischen Seminarien zurückgeblieben waren.
In alldem trug, wie man sieht, in jenen Tagen die Universität Tübingen im wesentlichen den Charakter einer Landesuniversität an sich, die jedoch in einigen Einrichtungen, Neubauten und Neuberufungen in einem Übergang zu weiterem Fortschritt begriffen war. Teils folgte sie in ihren Neuerungen dem Beispiel der anderen, namentlich der preußischen Universitäten, teils hatte sie ältere, anderwärts längst abgeschaffte Einrichtungen, wie die an die mittelalterlichen Hochschulen erinnernden Konvikte und Stifte, beibehalten, wie ihr denn diese meines Wissens noch heute eigen geblieben sind. Dabei machte sich zugleich in der Zusammensetzung sowohl des Professorenkollegiums wie der Studentenschaft die Eigenart des schwäbischen Volksstammes unverkennbar in dem Übergewicht geltend, welches in der Originalität gewisser geisteswissenschaftlicher Studien zutage trat. Wenn in der mittelalterlichen deutschen Hochschule die Theologie unbedingt den ersten und in unmittelbarem Anschluß an diese die Philosophie den nächsten Rang einnahm, so hatte sich die Erinnerung an dieses der modernen Hochschule vorangegangene Stadium in Tübingen in manchen Beziehungen am deutlichsten bewahrt. Es läßt sich aber kaum verkennen, daß hier zwischen den im Lauf des vorigen Jahrhunderts eingetretenen Entwicklungen und der schwäbischen Geistesanlage eine gewisse Affinität bestand. Findet doch der Zusammenhang, in welchem die Theologie als Grundlage der Philosophie, vor allem des deutschen Idealismus sich in der Geschichte der neueren Philosophie offenbart hat, seine individuelle Ausprägung schon in der Tatsache, daß die Theologie der Tübinger Schule, wie sie zunächst an den Namen Chr. Fr. Baurs geknüpft ist, zugleich die Schule einer Reihe hervorragender Philosophen war.
Wie unter allen Ländern des Deutschen Reichs Württemberg dasjenige ist, das am meisten einem die verschiedensten Richtungen in sich bergenden Sektenwesen zuneigt, so ist wohl der Schwabe mehr als zumeist der andere Deutsche der Spekulation zugetan. Das gilt nicht bloß für solche Gebiete, wie die Theologie und Philosophie, sondern selbst für die Naturwissenschaften. Man denke nur, um Repräsentanten aus verschiedenen Zeitaltern zu nennen, an Johann Kepler, den großen Astronomen, und an Robert Mayer, den Entdecker des Prinzips der Erhaltung der Kraft. Daß Tübingen, vermöge seiner äußeren Rückständigkeit, wie z. B. der Trennung von mündlichem Vortrag und experimenteller Demonstration, gerade in den Naturwissenschaften keine für die vorbereitenden Semester des Mediziners günstige Stätte war, ist übrigens einleuchtend und aus dem, was es in den geisteswissenschaftlichen Fächern bot, wußte ich damals leider keinen Nutzen zu ziehen. Nichtsdestoweniger muß ich einer anderen Seite, die mehr indirekt mit dem Charakter dieser kleinen Universität zusammenhing und von der ich um so reichlicher Gebrauch machte, dankbar gedenken; das waren die Hilfsmittel der Lektüre aus der Literatur im allgemeinen, mit denen das Lesezimmer des Museums ausgestattet und in denen dieses dem mir schon bekannten, obgleich eigentlich dem Gymnasiasten versagten, Heidelberger Museum ähnlich war. In Heidelberg ist jetzt diese Anstalt untergegangen, oder sie führt doch höchstens ein Schattendasein ihrer früheren Blüte weiter. Ob sie überhaupt ein eigentümlicher Vorzug der kleinen Universitäten gewesen und darum auch Tübingen seitdem von diesem Untergang nicht verschont geblieben ist, weiß ich nicht zu sagen. Nur dies steht mir aus eigener Erfahrung fest, daß diese universell gerichteten, nicht bloß Zeitungen, sondern die allgemeine Literatur und die Wissenschaften umfassenden Leseanstalten für Professoren wie Studierende, die sie zu benutzen wußten, überaus förderliche Einrichtungen waren oder noch sind. Für mich ist das Tübinger Lesezimmer mehr gewesen als irgendeine Vorlesung. Insbesondere gilt das für den stillen Winkel, in welchem die Tübinger Sortimentsbuchhändler die Neuerscheinungen der Literatur zur Ansicht ausgelegt hatten. Hier las ich in »Ritter vom Geist« die Erstlingsdichtungen Paul Heyses, das spanische Liederbuch von Heyse in den Nachmittagsstunden neben dem in jenen Tagen viel besprochenen Roman Gutzkows »Die und Geibel«, Heines Romanzero und vieles andere, namentlich auch aus der historischen Literatur. Vor allem ist mir aber hier aus der Tübinger Zeit Richard Wagners »Oper und Drama« und die in der gleichen Zeit veröffentlichten Stücke aus dem Ring der Nibelungen in Erinnerung geblieben. Das Heidelberger Museum schloß sich diesen Tübinger literarischen Schätzen übrigens so unmittelbar an, daß ich in vielen anderen Fällen beide nicht mehr sicher auseinanderzuhalten vermag.