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Einen wesentlich anderen Charakter nahm meine Erziehung an, als etwa mit meinem achten Lebensjahre der Vikarius Friedrich Müller diese und mit ihr einen regelmäßigen Unterricht übernahm, bei dem das Lateinische zu den Gegenständen der Volksschule hinzutrat. Diese Erziehung bildete den vollen Gegensatz zu jener allerdings nur zeitweise mir zuteil werdenden des Großvaters. Ich erinnere mich nicht, von diesem meinem geliebten und bewunderten Lehrer Müller jemals eine Strafe erlitten zu haben. Der Unterricht fand alltäglich außer Sonntags auf seinem Zimmer statt, das zugleich Tag und Nacht mein eigenes Zimmer war. Da aber mein Lehrer außerdem seinem Pfarrberuf nachzugehen hatte, so war er genötigt, mich während eines großen Teils der Zeit mir selbst zu überlassen, nachdem er mir meine Aufgaben gestellt hatte. So kam es, daß ich mich sehr bald an einsames Arbeiten gewöhnte, und noch mehr, daß ich während der meisten Zeit, während deren ich meine Aufgaben erledigen sollte, mich mit diesen überhaupt nicht beschäftigte, sondern mit freiem Phantasieren zubrachte. Ich wartete gelegentlich mit Sehnsucht darauf, daß mich mein Lehrer verließ, um mich dann sofort allerlei erdichteten Erlebnissen hinzugeben, die nicht selten von einem auf den anderen Tag sich fortsetzten. Gewöhnlich nahm ich die neben mir liegende Feder zur Hand, bewegte sie rhythmisch auf und ab, während ich starr in das vor mir liegende Buch blickte, ohne irgend etwas darin zu lesen. Diese Phantasiespiele wurden allmählich zur Leidenschaft, und ich zog mir damit eine immer größer werdende gewohnheitsmäßige Unaufmerksamkeit auf alles, was um mich her vorging, zu. Sie hat mich dann noch in meine spätere Schulzeit und durch diese hindurch in die große Mehrzahl meiner Universitätsvorlesungen begleitet, so daß ich mich eigentlich nur weniger unter diesen erinnern kann, die ich mit Ausdauer infolge des besonderen Interesses, das in mir der Vortragende erregte, verfolgt habe. Hauptsächlich stehen mir als solche Ausnahmen zwei Vorlesungen in lebendiger Erinnerung, die übrigens sehr verschiedene Gegenstände behandelten: die eine war ein Kolleg des Physikers Jolly, eines Dozenten, der als Forscher unbedeutend war, aber eine eminente Lehrgabe besaß, die zweite ein solches meines Lehrers Ewald Hasse über pathologische Anatomie. Andere von meinen Mitzuhörern viel bewunderte Vorlesungen gingen an mir spurlos vorüber. Besonders begegnete mir das auch bei dem einzigen philosophischen Kolleg, das ich während meiner Studienzeit gehört habe: bei der Vorlesung über Ästhetik von Friedrich Theodor Vischer, die dieser als damaliger Professor in Tübingen während meines ersten Semesters hielt, ausgenommen die wenigen Stunden, in denen Vischer den eben erschienenen und von mir mit großem Interesse gelesenen Roman von Karl Gutzkow »Die Ritter vom Geist« besprach.
Dagegen ging im gemeinsamen Unterricht das einsame Phantasieren im allgemeinen in gewöhnliche, regellos hin und her schweifende Zerstreutheit über. Natürlich ist das nicht eine individuelle Eigenschaft, sondern sie kommt gewiß manchen Kindern zu; aber sie tut es, wie man an den begleitenden Gebärden beobachten kann, vorzugsweise bei dem einsamen, nicht dem gemeinsamen Spiel, und von ihm aus überträgt sie sich auf die einsame Arbeit, während sie durch das Zusammenspiel und ebenso durch Zusammenarbeiten in der Schule verdrängt wird. Immerhin mag es sein, daß derartige reine Phantasiespiele des einsamen Kindes ihrerseits als Übungen der Phantasie einen gewissen Wert haben. Wenn man aus den diese Spiele begleitenden Gebärden schließen darf, so ist übrigens die Neigung und Anlage zu diesen einsamen ebenso wie zu den gemeinsamen Spielen wieder eine sehr verschiedenartige bei verschiedenen Kindern. Jedenfalls ist aber die einsame Erziehung durch die Begünstigung dieser Eigenschaft in besonderem Grade dazu angetan, den Unterricht zu erschweren.
Daß mein guter Lehrer Müller nicht imstande war, die hieraus entspringenden Hemmnisse zu überwinden, erwies sich nun freilich, als ich in meinem 13. Lebensjahre in die 4. Klasse des Gymnasiums zu Bruchsal aufgenommen wurde. Die Aufnahmeprüfung war eine übertrieben milde, so daß ich dadurch ebenso wie durch die Umgewöhnung an gemeinsamen Unterricht hinter meinen Mitschülern zurückblieb und so von Anfang an dazu verurteilt war, in der Klasse sitzen zu bleiben. Dazu kamen die besonderen Verhältnisse des nur sieben, nicht die normalen neun Klassen umfassenden Gymnasiums. Dieses war nämlich im wesentlichen, in Erinnerung daran, daß Bruchsal dereinst eine bischöfliche Residenz gewesen, eine katholische, nur von wenigen protestantischen Schülern besuchte Anstalt. Einige Lehrer, darunter namentlich einer der an meiner Klasse unterrichtenden, waren Priester, und ein unverhältnismäßig großer Teil der Schüler bestand aus Bauernjungen der Umgebung, die auf den künftigen Kaplan studierten, und von denen die paar Protestanten, die der Klasse angehörten, sich erzählten, sie besuchten regelmäßig diesen Lehrer, und berichteten ihm über alles, was in seiner Abwesenheit in der Klasse vorkomme. Darin spiegelten sich die Nachwirkungen der alten Bischofsstadt, die noch immer eine große konfessionelle Mannigfaltigkeit dieser Gegend zurückgelassen hatte, so daß z. B. Bruchsal selbst in seiner Majorität katholisch, das nur eine Wegstunde entfernte Heidelsheim aber protestantisch und außerdem mit sehr vielen Juden bevölkert war, von denen sich die reicheren mit Pferdehandel, die ärmeren mit Hausierhandel beschäftigten. Sie sollen seitdem ganz aus diesem Ort verschwunden und nach den größeren Städten verzogen sein. Nun hatten mich zwar meine Eltern in Bruchsal bei einem protestantischen Diakonus untergebracht, bei dem ich im ehemaligen bischöflichen Schloß wohnte, aber jene für den Pfarrersohn unerfreulichen konfessionellen Gegensätze der Schule neben dem Gefühl der Unzulänglichkeit gegenüber meinen Mitschülern machten mir namentlich den Winter dieses Gymnasiums zu einer Schule des Leidens, und eines Tages ergriff ich die Flucht, um zu meinen Eltern heimzukehren, was mir freilich nichts half, da ich von meiner Mutter wieder zurückgebracht wurde. Auch empfand ich in Erinnerung an die Liebe, mit der ich an meinem Lehrer Müller gehangen, die Geringschätzung doch im ganzen tief, mit der ich von den Lehrern behandelt wurde, obgleich ich wohl das Bewußtsein hatte, diese Behandlung zu verdienen. Sie selbst war übrigens je nach dem Charakter dieser Lehrer eine verschiedene. Unser Klassenlehrer, der an eine etwas massive Bestrafung der Schüler gewöhnt war, regalierte mich mit Vorliebe mit Ohrfeigen, von denen mir manchmal stundenlang die Wange brannte.
Ein mir im ganzen recht wohlwollender Geschichtslehrer behandelte mich mehr mit Mitleid. Noch erinnere ich mich einer Rede, die er mir vor versammelter Klasse hielt, und in der er mir versicherte, daß nicht jeder Sohn eines studierten Herrn ebenfalls studieren müsse. Es gäbe Berufe genug, die ganz ehrenhaft seien, aber die Mühe des Studiums nicht voraussetzten. Insbesondere riet er mir als einen solchen das Postfach an. Dazu ist zu bemerken, daß dieses zu jener Zeit allerdings besondere Ansprüche nicht stellte, sondern daß die Stellen in ihm entweder an durchgefallene Kandidaten oder an solche vergeben zu werden pflegten, die auf der Schule zurückgeblieben waren.