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Bekanntlich gibt es Menschen, denen durch eine sei es angeborene, sei es durch äußere Erziehung erweckte Anlage, ihr künftiger Beruf von früher Jugend an vor Augen steht.
Das sind die Glücklichen, die unbekümmert ihre Straße wandern können, auch wenn sie sonst mancherlei Hindernissen begegnen. Als Justus Liebig unter der Schulbank chemische Experimente machte, ließ es ihn, wie man sagt, völlig gleichgültig, wenn ihn der Lehrer einen faulen Schüler nannte. Er hatte unentwegt sein Ziel vor Augen, das er, so vollkommen er es nur immer wünschen mochte, erreichte. Ich gehöre nicht zu diesen Glücklichen. Ich und, wie ich glaube, viele andere gerade unter denen, die zur Gelehrtenlaufbahn bestimmt waren oder sie gewählt haben, sind nicht durch ihre freie Neigung, sondern durch ein äußeres Motiv, das mit dieser nichts zu tun hatte, zu ihrer Wahl geführt worden. In vielen Fällen veranlaßte namentlich in früheren Zeiten der Zwang der Eltern oder das Herkommen den einzelnen, den väterlichen Beruf zu ergreifen. So war in der Familie meines Vaters, dessen Voreltern im 17. Jahrhundert wegen ihres Übertritts zum Protestantismus aus Steiermark eingewandert waren, bei dem in den rheinischen Gegenden angesiedelten Teil die Theologie der vorwiegende Beruf gewesen, wenn auch in manchen Fällen, wie z. B. bei meinem Großvater die Volkswirtschaft, noch ein zweites Fach, wahrscheinlich als das selbstgewählte Lieblingsgebiet, hinzutrat. Nachdem jedoch ein Bruder meines Vaters der Theologie untreu geworden war, wurde dieser zu ihr bestimmt, ohne daß er um seine Einwilligung gefragt worden wäre. Einen solchen Zwang habe ich nicht erfahren. Mein Vater war schon in meinem 14. Lebensjahr gestorben, würde übrigens einen Zwang schwerlich ausgeübt haben, und meine Mutter ließ mir vollkommen freie Wahl. Aber ich müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, die Medizin, die ich nach einigem Schwanken schließlich wählte, sei der Gegenstand meiner besonderen Vorliebe gewesen. Jedenfalls war sie das nicht, wenn man etwa die Beschäftigung in der dem Abgang zur Universität unmittelbar vorangehenden Zeit als das Merkmal einer solchen Wahl aus Neigung betrachten darf. Wäre die Medizin der erste Gegenstand meiner Sehnsucht gewesen, so würde ich wahrscheinlich dem Beispiel meines älteren als Student mit mir zusammenlebenden Vetters gefolgt sein, der schon während der Schulferien vor seinem Abiturium mit dem größten Eifer anatomische Abbildungen nachgezeichnet hatte. Derartige Vorübungen in meinem künftigen Fache lagen mir völlig fern, und gerade die Dinge, die mich in meinen Abituriumsferien beschäftigten, waren nicht einmal solche, die mir etwa auf der Schule besonders am Herzen gelegen hatten. Eher gebärdete ich mich, als wenn die klassische Philologie das Ziel meines künftigen Lebens werden sollte. Ich las mit Begeisterung Homer und Herodot; und besonders Horaz, dessen schönste Oden ich sehr bald auswendig wußte, zog mich um seiner Formvollendung willen an. Freilich würde ich mich auch zum Studium der Philologie schwerlich entschlossen haben. Denn hier war es wieder der lebenslängliche Schulberuf, der mich abstieß, nachdem ich das Verlassen der Schule als ein besonders glückliches Ereignis empfunden hatte.
So war es denn der reinste Zufall, den ich über meine künftigen Geschicke entscheiden ließ. Nicht nur die Schule, sondern auch die Stadt, das elterliche Haus, an die ich bis dahin gefesselt gewesen, endlich einmal als ein völlig freier Mensch zu verlassen, in neuer Umgebung mein eigenes Leben führen zu können, das wurde, wenn ich es auch kaum meinen Angehörigen offen eingestand, das höchste Ziel meiner Wünsche. Und da bot sich nun ein äußerer Anlaß, der diesen Wünschen glücklich entgegenkam. In Tübingen wirkte als angesehener Anatom mein Oheim, bei dem in den Anfangssemestern des Mediziners in die Schule zu gehen, für mich als eine selbstverständliche Sache galt. Nicht als ob es mir um diese Sache selbst eigentlich zu tun gewesen wäre, aber sie war ein Mittel meiner Befreiung, wie es sich günstiger nicht finden konnte. Unter anderen Umständen würde schwerlich ein auswärtiges Studium möglich gewesen sein. Meine Mutter als kümmerlich gestellte Pastorenwitwe hatte eigentlich kaum die Mittel aufzubringen, um mich auf einer auswärtigen Universität studieren zu lassen. Ich begrüßte es daher im geheimen sogar als einen günstigen Zufall, daß ich auf ein Stipendium, auf das ich sonst als der Angehörige einer alten pfälzischen Kirchenratsfamilie wahrscheinlich hätte Anspruch erheben können, wegen meines geringen auf der Schule bewiesenen Fleißes verzichten mußte, auch wenn ich in Heidelberg blieb. So wanderte ich denn wohlgemut nach der schwäbischen Universitätsstadt. Von Appenweier aus ging es zu Fuß in den ersten Tagen des Oktober über Oppenau nach dem freundlichen Freudenstadt und dann während der Nacht im Eilwagen über Nagold nach Tübingen, wo ich sofort einen Vorgeschmack der hohen Achtung bekam, deren sich der Student hier erfreute, als ich von dem Hausknecht des Gasthofes zur Rose mit der ehrerbietigen Anrede »Herr Baron« empfangen wurde.
Die deutschen Universitäten, besonders die kleineren Süddeutschen, wie Heidelberg, Freiburg, hatten schon vor einem halben Jahrhundert einen gesamtdeutschen Charakter. Studenten wie Dozenten boten eine gemischte, aus Angehörigen aller deutschen Lande zusammengesetzte Bevölkerung, und dieser Charakter der Rassenmischung hatte sich nicht ganz, aber doch bis zu einem gewissen Grade auf die übrige Einwohnerschaft dieser Städte übertragen. Vor allem gilt das für Heidelberg, das bereits um die Mitte des Jahrhunderts mehr auswärtige als im Land geborene Studenten zählte, und wo noch in höherem Grade die Anzahl der außerhalb Badens geborenen Professoren die der Inländer übertraf. Das rührte wohl daher, daß schon seit den Tagen des für die Wissenschaften besonders interessierten Großherzogs Karl Friedrich, des Regenerators der Universität zu Anfang des Jahrhunderts, Heidelberg namentlich durch die Berufung bedeutender Rechtslehrer, wie Thibaut, Vangerow, und durch die Beziehungen zur Romantik eine hochangesehene Universität geworden war. Das war in Tübingen anders, als ich im Herbst 1851 dahin wanderte. Es war noch vorwiegend Landesuniversität geblieben. Namentlich gilt das von den Studierenden, unter denen es nur wenige außerhalb der württembergischen Grenzen geborene gab, aber auch von den Dozenten, unter denen die Nicht-Schwaben, die, auch wenn sie aus dem übrigen Süddeutschland stammten, mit dem Kollektivnamen »Norddeutsche« bezeichnet wurden, eine kleine Minderheit bildeten. Die Universität spiegelte weit mehr, als es heute der Fall ist, die Eigenart des württembergischen Landes, einer Bevölkerung, wie sie vielleicht mehr als in Sprache und Sitte in einem Gefühl der Stammesgemeinschaft der Menschen sich kundgab. Es ließ den Nichtschwaben, auch wenn er übrigens ein guter Deutscher war, als einen Fremden ansehen, den der Schwabe darum im Gegensatz zu seinen Landsleuten als einen Ausländer betrachtete. In der Tat findet man dieses Stammesgefühl vielleicht heute noch so spezifisch wie bei den Schwaben kaum bei einem anderen Deutschen ausgeprägt. Es spricht sich darin aus, daß der Schwabe eigentlich immer Dialekt spricht, während der wirkliche Dialektdeutsche, etwa der Plattdeutsche oder Alemanne, zwischen Dialekt und Hochdeutsch zu wechseln pflegt. Eine unverkennbare Spur davon hat sich freilich auch bei dem Schwaben erhalten, aber er selbst scheint kaum etwas davon zu bemerken, wenn er auch unbewußt da, wo er sich etwa mit den deutschen »Ausländern« unterhält, seine Sprache ein wenig nach dem Hochdeutschen moduliert. Immerhin geschieht das so wenig, daß man auch den hochdeutschen Schwaben aus tausenden herauskennt, was bei dem Mecklenburger oder Holsteiner höchstens dann zutrifft, wenn man mit den plattdeutschen Dialekten auf das genaueste bekannt ist. Eine Annäherung bietet etwa noch der Sachse, während es bei den Gebildeten der übrigen deutschen Stämme mindestens sehr zurücktritt. Nun ist der Eindruck des Fremden, den der abweichende Dialekt hervorbringt, stets ein wechselseitiger, und wo die große Mehrheit einer Bevölkerung Dialekt spricht, da gewinnt daher jeder andere den Charakter eines Fremdlings, der sich gewissermaßen nur dem Grad, nicht der Art nach von den einer fremden Nation Angehörigen unterscheidet.
Betrachtete man um das Jahr 1850 das Tübinger Studentenleben im ganzen, so bot es Erscheinungen, in denen sich offenbar das deutsche Studentenleben früherer Jahrhunderte erhalten hatte. Die Leipziger Chronik des 17. Jahrhunderts erzählt von nächtlichen Schlägereien zwischen Studenten und Handwerksgesellen, und in den Schriften Christian Reuters, des bekannten akademischen Pasquillanten, sind uns charakteristische Bilder dieser Zustände erhalten geblieben. Streitigkeiten zwischen Studenten und Handwerkern gab es freilich in Tübingen nicht, weil dort das Handwerk überhaupt keine Rolle spielte. Tübingen war, als ich dort studierte, noch eine schwäbische Landstadt, in der die Kühe und Gänse auf der Straße herumliefen. Statt der Handwerksgesellen waren es aber Bauernburschen, zwischen denen und den Studenten noch um 1850 nächtliche Prügeleien vorkommen konnten, und die Anlässe zu solchen waren nicht so ganz selten. Sie bestanden in ländlichen Tanzvergnügungen, namentlich in bäuerlichen Hochzeiten, zu denen ein paar Studenten geladen waren oder zu denen sie sich manchmal auch selbst geladen hatten. Diese verliefen zwar gewöhnlich, wie es sich geziemt, in Frieden und Freundschaft. Aber es konnte doch auch vorkommen, wenngleich das Brautpaar es zu wehren suchte, daß Eifersuchtsszenen zwischen studentischen und ländlichen Gästen in Tätlichkeiten ausarteten. Einen anderen Anlaß zu einem Verkehr zwischen kleinbürgerlichen und studentischen Kreisen bot in selteneren Fällen wohl auch eine Gesellschaft von bürgerlichen Dilettanten, die sich »Janitscharia« nannte. Sie vergnügte sich zuweilen mit Tanzunterhaltungen, zu denen sie sich selbst die Musik machte. Studenten wurden dazu eigentlich nicht eingeladen, aber es kam wiederum vor, daß sie sich selbst einluden, und dann waren sie freundlich geduldet. Sie boten ein prächtiges Vergnügen für solche Studenten, denen es nicht gelang, zu den vornehmeren Tanzgesellschaften des hauptsächlich von den Professoren unterhaltenen Museums emporzudringen.
Bildeten jene ländlichen und bürgerlichen Beziehungen eine Spezialität von Tübingen, so war nun umgekehrt das Museum gewissermaßen als die Übertragung einer allgemeinen deutschen Universitätseinrichtung auf die schwäbische Universitätsstadt gegenüber andern Kleinstädten von ähnlicher Bedeutung eine Spezialität Tübingens. Für den Studenten war es hauptsächlich eine Stätte der Tanzvergnügungen, zu denen er von den Professoren, an die er empfohlen war, geladen wurde. Die Studentischen Gäste dieser Professorenbälle waren aber zum großen Teil Verbindungsstudenten, sowohl Korps wie Burschenschafter, je nach den gesellschaftlichen Beziehungen der einladenden Professoren. Da Korps und Burschenschaft feindliche Verbindungen bildeten, von denen der Korpsstudent den Burschenschafter verachtete, weil dieser nicht oder nur ausnahmsweise, wie der Ausdruck lautete, »losging«, auf alle Fälle eine Verpflichtung, sich zu schlagen oder eine Duellforderung anzunehmen, für ihn nicht bestand, umgekehrt aber der Burschenschafter den Korpsstudenten geringschätzte, weil dieser den patriotischen Überlieferungen der deutschen Burschenschaft fernstand, so fügte es sich, daß auch hier Streitigkeiten zwischen verschiedenen Teilen der jugendlichen Museumsgesellschaft vorkamen, die einigermaßen an die Zwiste der ländlichen Tanzvergnügungen erinnerten. Es gab zwar keine Prügelszenen, aber an gelegentlichen Duellforderungen oder, wie ihr mehr an die Prügeleien erinnernder akademischer Titel lautet, »Paukereien« fehlte es nicht. Nur bestand eine Eigenart dieser Zwiste höherer Gattung darin, daß sich die Damenwelt, einschließlich der Professorengattinnen und -töchter, an ihnen beteiligte. So erinnere ich mich lebhaft eines solchen Museumsballes, bei dem sich die feindlichen Parteien in zwei Hälften tanzender Paare geschieden hatten, deren jede eine Hälfte des nicht besonders großen Museumssaales einnahm. Auf der einen Seite tanzten die Korpsstudenten, auf der andern die Burschenschafter. Doch schloß man für künftige Fälle Frieden, weil die Bedrängnis für jeden dieser Zirkel zu groß war. Dafür griff man aber gelegentlich zu andern Aushilfen. Das Korps Suevia leistete sich z. B. einen besonderen Ball als geschlossene Gesellschaft mit zugehörigen Damen. Oder es hatte als Sonderaufführung ein Menuett eingeübt mit der berühmten Musik aus Mozarts Don Juan usw.. Eine alltägliche Erholung der Studentenschaft waren außerdem die Spaziergänge nach den benachbarten Bierdörfern: nach dem nahen Lustenau, nach Bebenhausen, nach dem Bade Niedernau oder bei weiteren Fahrten nach dem prächtig gelegenen Urach. Noch erinnere ich mich der Teilnahme an einem kühnen Unternehmen nach Stuttgart, wo ich mit ein paar Bekannten das Konzert der berühmten Violinspielerin Milanollo besuchte, um sie zu einem im Tübinger Museum abzuhaltenden Konzert einzuladen. Daß die um die Virtuosin gruppierten Studenten von einem Hochgefühl erfüllt waren, als hätten sie selbst ein Virtuosenstück vollbracht, läßt sich denken.
Einen besonderen Reiz bot in Tübingen das Schauspiel einer Paukerei oder »Bestimmungsmensur«, wie man die ohne besondere Ursachen verabredeten Duelle zwischen zwei einander an Übung ungefähr gleich geschätzten Korpsburschen verschiedener Korps nannte. Ich hatte schon als Gymnasiast der oberen Klassen manchen solchen Mensuren in Heidelberg als Zuschauer angewohnt, und es war daher für mich von hohem Interesse, diese Schaustellungen an beiden Orten zu vergleichen. Sie waren in der Tat sehr verschieden, und Tübingen hatte sich auch darin seine Eigenart bewahrt. In Heidelberg wurden die Schlägereien beinahe alltäglich vormittags in dem Wirtshaus zur Hirschgasse jenseits der Neckarbrücke abgehalten, wo sie wohl noch gegenwärtig ihren ständigen Sitz haben. Es ist und war früher wegen der mittlerweile erfolgten die Umgebung teilweise verdeckenden Bebauung der Landstraße noch in höherem Grade so gelegen, daß man schon aus weiter Ferne den Pedellen herannahen sah, der von dem akademischen Senat mit der Abfassung der Duellanten beauftragt war. Gerade wegen dieser in ziemlich weite Ferne sich erstreckenden Öffentlichkeit konnte aber dieser Zweck nur selten erreicht werden, weil der Pedell wegen der Vergeblichkeit seiner Bemühungen diese meist von selbst unterließ, so daß die Studentische Paukerei im allgemeinen als ein stillschweigend geduldetes Unternehmen gelten konnte. War doch vom ersten Anblick des Boten der Gerechtigkeit bis zu seinem Eintreffen am Tatort Zeit genug vorhanden, um die Werkzeuge der Schlägerei in einem sicheren Versteck unterzubringen. Dies verhielt sich in Tübingen ganz anders. Da gab es einen ähnlichen durch seine Öffentlichkeit gesicherten Ort durchaus nicht. Man mußte daher, um der Strafe zu entgehen, zu kostspieligeren Mittel greifen. Viele der Studentenwohnungen waren unmittelbar am Ufer des Neckars gelegen. Man mußte daher, um der Strafe zu entgehen, zu einem radikaleren, leider am Neckars gelegen Schauplatz gehen. Eine solche Privatwohnung wählte man als Schauplatz der Handlung, der in der Regel unbekannt blieb. Wurde er trotzdem einmal unglücklicherweise verraten, so konnte jedoch der Pedell erst sehr kurz vor seinem Eintreffen entdeckt werden, so daß keine Zeit mehr war, die Zeugnisse der Handlung zu verbergen. Es blieb daher nur übrig, die Waffen und alle sonstigen verräterischen Utensilien zum Fenster hinaus in den Neckar zu werfen. Mußte man zu diesem letzten Mittel greifen, so wurden aber dadurch die Schlägereien zu ziemlich kostspieligen Unternehmungen. Darum waren sie in Tübingen viel seltener als in Heidelberg. Das führte dann wiederum zu einer Art Kompensation, indem in Tübingen fast durchweg gefährlichere Waffen gewählt wurden. Der krumme Säbel spielte in dieser kleineren Neckarstadt eine viel größere Rolle als in der größeren, wo der Schläger die fast durchgehends gebrauchte Waffe blieb, die an Lebensgefahr dem zur bloßen Fechtübung gebrauchten Rapier nicht viel überlegen ist.